Der Ort, an dem die Liebe wohnt

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War ich hier schon mal? Als Mary auf die traumhaft gelegene Ranch von Jonah Lanigan kommt, hat sie ein starkes Déjà-vu. Oder liegt das an den Blicken aus Jonahs rauchblauen Augen? Zum ersten Mal in ihrem Leben hat Mary das Gefühl, endlich dort zu sein, wo sie hingehört …


  • Erscheinungstag 28.11.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520782
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mary McHale nahm den Zettel mit der Wegbeschreibung zur Hand. Auf der Bleistiftskizze war weder eine Brücke noch ein Fluss zu erkennen.

Sie ließ den Blick über die bewaldeten Hügel schweifen und lauschte dem leise murmelnden Wasser unter der Holzbrücke. Alles zusammen wirkte so friedlich und idyllisch, dass sie gern noch ein wenig geblieben wäre.

Es war ein Ort zum Entspannen, um die Welt hinter sich zu lassen und zu sich selbst zu finden. Doch Mary musste weiter. Sie hatte versprochen, am Nachmittag einzutreffen. Außerdem brauchte Attila sein Futter und einen Trog Wasser.

Seufzend wendete sie ihren alten Jeep mit dem Pferdeanhänger und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen war. Irgendwo musste sie falsch abgebogen sein.

Nach etwa fünf Kilometern zweigte eine Schotterstraße ab, die sie zuvor wohl schlicht übersehen hatte. Auf einem handgemalten Wegweiser las sie den Namen des Ortes, zu dem sie unterwegs war, und atmete erleichtert auf.

Kurze Zeit später sah sie einen hölzernen Torbogen vor sich und darüber das Schild Towbridge-Ranch, erbaut 1899. Hinter dem Tor folgte Mary einem Kiesweg, der sich durch einen lichten Wald schlängelte. Zwischen den Nadelbäumen konnte sie Zelte und Wohnwagen erkennen. Grillplätze mit Tischen und Bänken luden zum Picknicken ein.

Endlich stand sie vor einem massiven Blockhaus, offenbar das Hauptgebäude der Ranch. Sie parkte den Wagen abseits neben einem Schuppen und nahm die Postkarte zur Hand, die sie im Touristenbüro in Lost Valley gekauft hatte. Darauf waren die sieben Bergspitzen zu erkennen, die den Gebirgszug The Seven Devils bildeten.

Sie richtete den Blick nach Westen, wo sich Die sieben Teufel bedrohlich erhoben. Hinter dem Gebirgszug ging gerade die Sonne unter – genau wie auf der Ansichtskarte in ihrer Hand. Der Himmel über dem Gebirgszug prangte in Rot- und Goldtönen und warf geheimnisvolle Schatten auf die bewaldeten Hügel. Plötzlich überfiel Mary eine seltsame Schwere – eine Traurigkeit, als ob ein schreckliches Unheil über allem schwebte und als ob sie schon einmal hier gewesen wäre …

Attilas leises Wiehern riss sie aus der beklemmenden Stimmung. Ich sollte mich jetzt lieber um mein Pferd kümmern, statt unsinnigen Gedanken nachzuhängen.

Nachdem sie den Hengst aus dem Anhänger befreit hatte, führte sie ihn zu einer kleinen Wiese neben dem Haus, auf der ein Wassertrog stand. Sie ließ das Pferd trinken und band es dann lose an den Zaun, um ihm genügend Platz zum Grasen zu geben.

Dann ging sie entschlossen auf das Blockhaus zu, um sich ihren neuen Chefs vorzustellen, Keith Towbridge und Jonah Lanigan.

Die Eingangstür stand offen, und Mary trat in eine mit Holz verkleidete Diele. Zur Linken befand sich ein Tresen, offenbar die Rezeption, dahinter war ein kleines Büro zu sehen. In einem Raum daneben waren Regale mit Konserven und Campingbedarf zu erkennen, vermutlich ein kleiner Laden für die Campingplatzgäste.

Ihr Blick schweifte nach rechts in einen großen gemütlichen Aufenthaltsraum mit hoher Decke und einem gemauerten Kamin, vor dem mehrere Sessel und ein Sofa standen. Das übrige Mobiliar bestand aus rustikalem Holz.

Von der Diele aus führte eine Holztreppe in den oberen Stock. Im Gang neben der Treppe befanden sich noch weitere Räume. „Hallo, ist jemand da?“, rief sie.

Es war so still, dass sie ihren eigenen Atem hören konnte. Leichte Panik ergriff sie. „Hallo!“, rief sie lauter.

„Hier in der Küche!“, meldete sich eine männliche Stimme.

Mary ging auf die beiden offenen Türen am Ende des Gangs zu. Hinter der einen befand sich ein Essraum mit mehreren Tischen, gegenüber lag die strapazierfähig eingerichtete Küche.

Ein Mann, dünn und langbeinig wie ein Präriewolf, musterte sie, ohne seine Arbeit am Spülbecken zu unterbrechen. Sein markantes Gesicht wirkte ernst, aber nicht unfreundlich.

Genau wie Mary trug er Jeans und Stiefel und ein weißes T-Shirt, darüber ein offenes Holzfällerhemd. Nur der Hut fehlte – Mary selbst hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr langes Haar unter einem alten grauen Stetson zu verbergen.

„Sind Sie die neue Ranchhelferin?“

„Ja.“

„Ich hoffe, Trek hat den Weg gut beschrieben.“

Trek Lanigan betrieb das Touristenbüro in Lost Valley, in dem er auch indianisches Kunsthandwerk verkaufte. Ein Pferdetrainer, den Mary von früher kannte, hatte zufällig das Stellenangebot in Treks Laden entdeckt und sie gleich angerufen.

„Sie müssen Jonah Lanigan sein. Sie sehen Trek sehr ähnlich.“

„Ja, er ist mein Cousin.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Wir haben miteinander telefoniert.“

Er ging zum Herd und schnippelte eine rohe Kartoffel in einen großen Suppentopf, dem ein verlockender Duft entstieg.

„Können Sie kochen?“, fragte er.

„Ja, aber davon stand nichts in der Stellenbeschreibung.“

Ihr Blick fiel in das Esszimmer gegenüber, und sie fragte sich, ob sie mit den Gästen zusammen essen und sich womöglich auch sonst um sie kümmern müsste. Es war nicht unbedingt ihr Ding, den ganzen Tag mit vielen Leuten zusammen zu sein. Sie arbeitete lieber für sich alleine.

„Keith Towbridge, mein Partner, wohnt im alten Farmhaus am anderen Ende der Ranch“, erzählte Jonah Lanigan, während er im Kochtopf rührte. „Er hat das Haus zusammen mit seiner Frau Janis renoviert, als er die Towbridge-Ranch übernommen hat. Die beiden haben einen kleinen Sohn, Keith Junior. Na, Sie werden die drei im Laufe der Woche ja bestimmt noch kennenlernen.“

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sein Haar war fast schwarz, seine Augen von einem rauchigen Blaugrau, hinter dem sich jede Regung verbarg. Er war um einiges größer als sie, obwohl sie nicht gerade klein gewachsen war und besonders in ihren Arbeitsstiefeln mit den dicken Sohlen so manchen Mann überragte. Es verunsicherte sie, dass sie zu ihm hochschauen musste.

„Ich … hm … muss mich um mein Pferd kümmern. Es braucht einen Stellplatz.“

„Die Ställe sind hinter dem Haus.“ Er runzelte die Stirn, als würde er überlegen. „Daneben gibt es eine Schlafbaracke, doch wir finden sicher auch ein Zimmer im Haus.“

„Die Baracke ist völlig in Ordnung“, wandte sie rasch ein. „Allerdings hätte ich gern einen eigenen Schlafraum.“

Er schüttelte den Kopf. „Es gibt dort nur ein Zimmer mit vier Stockbetten.“ Er überlegte kurz. „In der oberen Etage haben wir ein Einzelzimmer, das kaum benutzt wird. Stellen Sie Ihre Sachen für den Moment einfach dort ab, dann sehen wir weiter.“

„Okay.“ Sie ging nach draußen und atmete tief durch. Das wäre fürs Erste geschafft.

Attila wieherte, als Mary auf ihn zuging. Sie klopfte ihm beruhigend den Hals, bevor sie die Ställe hinter dem Haus in Augenschein nahm.

Im Pferdestall gab es acht Boxen, die alle leer standen. Offenbar hielten sich die Pferde irgendwo draußen auf. Eine der Boxen schien frei zu sein, denn es lag kein Stroh darin. Mary holte mit der Heugabel Stroh von einem Stapel in der Ecke und verteilte es auf dem Lehmboden. Dann band sie Attila los und führte ihn auf die Koppel neben den Ställen, um ihm noch etwas Auslauf zu gönnen.

Sein graubraunes Fell schimmerte in der Abendsonne. Er schien erschöpft zu sein, denn er hinkte noch stärker als gewöhnlich. Vor drei Jahren hatte sie den Hengst ersteigert. Niemand hatte ihn haben wollen, denn als Rennpferd hatte er versagt, und als Arbeitstier war der temperamentvolle Wallach nicht zu gebrauchen.

Doch Mary hatte sofort gesehen, was in Attila steckte. Sie kannte den Hengst bereits von dem Rennplatz, wo sie als Pferdetrainerin beschäftigt gewesen war, und hatte ihn spontan ins Herz geschlossen.

Neben der Blockhütte mit den Stockbetten, von der Jonah gesprochen hatte, entdeckte sie einen kleinen Anbau und ging neugierig hinein. Die Tür war nicht abgeschlossen, und sie trat ein. Das Innere wirkte sehr anheimelnd, doch es schien länger niemand dort gewohnt zu haben, denn alles war voller Staub und Spinnweben.

Mary fand, dass dieser Anbau genau die richtige Bleibe für sie wäre. Warum hatte ihr Boss ihn nicht erwähnt? Hier hätte sie doch genügend Platz und wäre ungestört. Zufrieden eilte sie zur Lodge zurück, um Jonah zu fragen, ob sie dort wohnen könnte.

Schon von Weitem hörte sie jemanden fluchen, und als sie zur Hintertür kam, sah sie Qualm aus dem Küchenfenster dringen. Gleich darauf kam Jonah aus der Tür. Mit Topfhandschuhen bewaffnet, trug er ein qualmendes Backblech vor sich her, auf dem nur noch schwarze Klumpen zu erkennen waren. Kurzerhand warf er das Blech samt Inhalt wütend auf die Wiese hinter dem Haus.

„Das Gras könnte anfangen zu brennen“, wandte Mary vorsichtig ein.

Er nickte und griff nach dem Wasserschlauch, der an einem Haken an der Hauswand hing. Er drehte den Hahn auf und besprengte das Küchenblech mit Wasser. „Zufrieden?“ Mürrisch stapfte er ins Haus zurück, und Mary folgte ihm.

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte sie vorsichtig, um ihn nicht noch weiter zu reizen.

„Können Sie Plätzchen backen?“

„J-Ja.“ Ihr Blick fiel auf eine Tüte Maismehl. „Oder vielleicht lieber Maisbrot? Das essen die meisten gern zur Suppe.“

„Ganz egal.“ Er lief aus der Küche, denn in seinem Büro klingelte gerade das Telefon.

Mary rührte einen Teig an und formte mehrere kleine Brotlaibe, die sie in den Ofen schob. Dann probierte sie die Suppe. Sie schmeckte nicht schlecht, nur ein wenig salzig. Sie fügte ein paar gelockte Nudeln dazu, um das Salz etwas aufzusaugen, und würzte die Suppe mit Pfeffer, Knoblauch und einer Prise Zucker nach.

Während die Suppe weiterköchelte, holte sie das verkohlte Backblech von der Wiese, schrubbte es mit einem Topfreiniger im Spülbecken sauber, trocknete es und stellte es in das Regal neben den Herd. Dann sah sie sich in der Küche um. Wenn sie hier auch als Köchin und Tellerwäscherin fungieren sollte, und es sah ganz danach aus, dann wäre es gut, sich mit dem Terrain vertraut zu machen.

„Kochen Sie jeden Abend?“, fragte sie, als Jonah zurückkam.

„Nur wenn wir Gäste im Haus haben. Im Moment wohnen hier sechs Geschäftsleute, die mit sportlichen Aktivitäten ihren Teamgeist stärken wollen. Sie reisen morgen früh wieder ab. Danach haben wir keine festen Buchungen, bis im nächsten Monat die Jagdsaison startet. Doch oft melden sich Leute kurzfristig an. Und natürlich haben wir auch immer Campinggäste da, aber die versorgen sich selbst.“

„Haben Sie keinen Koch?“

„Wir hatten eine Haushaltshilfe, aber die hat vor Kurzem gekündigt.“

Aus seiner Stimme klang Verärgerung. „Anscheinend war es ihr hier draußen zu einsam.“

„War sie nett?“

Er runzelte irritiert die Stirn. „Schon, aber nicht, was Sie vielleicht meinen.“

„War nur so eine Frage. Übrigens habe ich mir den Anbau neben der Schlafbaracke und dem Stall angesehen. Mir scheint, diese Hütte wird gar nicht benutzt.“

„Im Moment nicht, die meisten ziehen es vor, hier im Haus zu übernachten.“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich gern dort wohnen.“

Er schüttelte den Kopf. „Für den Sommer ginge das, aber im Winter ist es zu kalt. Es gibt nur den Holzofen und kein fließendes Wasser.“

„Das macht mir nichts aus.“

„Nein, das ist keine gute Idee. Sie würden viel zu viel Holz brauchen.“

„Ich kann es selbst hacken.“

Er bedachte sie mit einem unwirschen Blick. „Dazu werden Sie keine Zeit haben. Wenn wir Gäste haben, gibt es alle Hände voll zu tun.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Also gut, dann eben nicht.“ Sie würde sich wohl oder übel an die neuen Gegebenheiten anpassen müssen.

Noch vor drei Monaten hatte sie hochfliegende Pläne gehabt. Attila war gut im Springreiten, und sie hatte mit ihm für das große Turnier im nächsten Sommer trainieren wollen. In der Vorentscheidung hatten sie schon den zweiten Platz belegt. Doch dann verletzte sich Attila am Fußgelenk, und der Tierarzt verordnete eine mehrmonatige Übungspause.

Ihre feste Stelle auf der Rennbahn hatte sie daraufhin aufgegeben, um sich ganz Attilas Training widmen zu können. Sie brauchte also vorübergehend einen Job, wo sie ihr Pferd mitnehmen konnte. Die Stelle auf der Ferienranch in Idaho erschien ihr als perfekte Lösung.

Der Küchenwecker klingelte. Sie holte die goldbraun gebackenen Maisbrote aus dem Ofen und schob sie zum Abkühlen auf einen Rost. Nachdem sie das Blech gereinigt hatte, überlegte sie, was noch zu tun sei.

Sie erschrak, als sie plötzlich Jonah in der Tür stehen sah. Mit verschränkten Armen lehnte er am Türrahmen und musterte sie, wie sie fand, reichlich unverfroren. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, fragte sich aber, wieso dieser Mann sie so nervös machte.

An seinem attraktiven Äußeren konnte es nicht liegen. Beim Rodeo und auf der Rennbahn hatte sie häufig mit gut aussehenden Männern zu tun gehabt. Vielleicht war es der wache, halb spöttische Ausdruck in seinen Augen, als könnte er in sie hineinsehen.

„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte sie kühl.

„Gleich kommen die Geschäftsleute von ihrem Reitausflug zurück, dann können Sie sich um die Pferde und die Packesel kümmern. Keith hat gerade angerufen, dass er die Männer kurz vor dem Wald abgesetzt hat.“

Sie nickte und verließ die Küche – froh, seinem irritierenden Blick zu entkommen. Während sie über den Hof ging, sah sie die Männer aus dem Wald kommen. Sie sahen unrasiert und ein wenig abenteuerlich aus, als wären sie längere Zeit unterwegs gewesen.

„Hi, ich bin Mary“, stellte sie sich vor. „Ich kümmere mich um die Pferde. Sie können ruhig schon reingehen, das Essen ist fertig.“

„Das hört sich gut an!“, seufzte einer der Reiter. „Ich kann mich nicht erinnern, jemals so fertig gewesen zu sein.“

„Ja, das war eine ziemliche Gewalttour“, sagte ein anderer.

„Genau richtig zum Stressabbau“, bemerkte ein Dritter und brachte damit die anderen zum Lachen.

„Unser Boss wird sich wundern, wenn wir wieder im Büro sind“, sagte ein anderer und zwinkerte Mary zu.

Sie führte die Arbeitspferde und die Packesel auf die Koppel, nahm ihnen die Sättel ab und ließ sie trinken. Nachdem sie jedes Tier gestriegelt und die Hufe gesäubert hatte, brachte sie die sechs Pferde und die beiden Esel in den Stall und verteilte Futter in den Trögen.

Dabei stellte sie fest, dass mit den acht Tieren nun alle Boxen belegt waren. Sie musste Attila also woanders unterbringen. Unter dem Vordach des Schuppens bereitete sie ihm zwischen zwei Strohballen ein behelfsmäßiges Lager und beschloss, sich am nächsten Tag nach einem besseren Quartier umzusehen.

Ihr Gepäck war noch immer im Jeep. Sie holte die beiden Reisetaschen von der Rückbank und trug sie zum Blockhaus. Als sie die Treppe hochging, hörte sie aus dem Esszimmer die fröhlichen Stimmen der Geschäftsleute. Im Büro nebenan telefonierte Jonah. „Ja, sie ist angekommen.“ Unwillkürlich blieb sie stehen, denn offensichtlich ging es um sie.

„Sie hat sich schon ganz gut mit allem vertraut gemacht. Wusstest du, dass sie ein Pferd hat?“ Sein Gesprächspartner schien sich anerkennend zu äußern. „Ja, und sie kann kochen, stell dir vor“, fügte Jonah hinzu. „Ich weiß nicht, was sie mit der Suppe gemacht hat, aber die schmeckte hervorragend, genau wie ihr Maisbrot. Vielleicht haben wir ja diesmal mehr Glück.“

Mary hatte genug gehört. Ihr Boss hatte sie zwar gelobt, gleichzeitig war seine Skepsis deutlich herauszuhören. Doch wurde man nicht immer zuerst misstrauisch beäugt, wenn man irgendwo neu war?

„Sie ist dünn wie eine Bohnenstange“, hörte sie ihn noch sagen. „Wer weiß, ob sie die schwere Arbeit schafft.“ Ärgerlich stapfte Mary weiter die Treppe hoch.

„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass Sie hier sind!“, hörte sie Jonahs Stimme von unten.

Sie blieb stehen und zuckte mit den Achseln. „Die meisten Männer trauen Frauen eben nichts zu. Wir müssen uns immer wieder von Neuem beweisen.“

„Na ja, das ist schon ein besonders hartes Leben hier. Im Winter ist alles zugeschneit, und wir müssen die Wege freischieben. Vorher muss die Herde von der Bergweide heruntergebracht werden, und bald geht es mit den Jagdgesellschaften los.“

„Ich habe keine Angst vor schwerer Arbeit.“

Nur vor Menschen. Aber das verschwieg sie lieber.

„Dann sind Sie hier ja goldrichtig.“

Während sie weiterging, rief er ihr hinterher: „Ihr Maisbrot war übrigens eine Wucht! Die Gäste waren begeistert. Und die Suppe erst. Wie haben Sie die so toll hingekriegt?“

Sie sah ihn über die Schulter an. „Es gibt Gewürze.“

Sein Lächeln traf sie völlig unvorbereitet. „Sie müssen mir mal zeigen, wie Sie das machen.“

Mary spürte plötzlich ein Flattern im Bauch. „Gern“, erwiderte sie.

„Ach, und noch was“, sagte er. „Sie müssten mir noch ein Formular mit Ihren persönlichen Angaben ausfüllen. Ich lege es hier unten auf den Tresen, ja?“

„In Ordnung.“

Ihr Zimmer befand sich am Ende des Gangs, wie Jonah es ihr beschrieben hatte. Sie stellte ihr Gepäck ab und schloss die Tür hinter sich, dann atmete sie tief durch. „Ich schaffe es!“, sagte sie laut zu sich selbst. „Ich bin erwachsen und brauche vor nichts mehr Angst zu haben.“

Doch die Erinnerung ließ sich nicht so einfach zurückdrängen. Sie spürte plötzlich wieder die abgrundtiefe Verlassenheit, die ihr als Kind den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Wie hilflos sie sich den vielen fremden Menschen gegenüber gefühlt hatte, die über sie bestimmten, ohne auf ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen.

Ihr Vater hatte sie in einer Bar in Wyoming einfach sitzen gelassen. Sie hatte damals nur gewusst, dass sie drei Jahre alt war, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie wohnte, oder was mit ihrer Mutter passiert war. Und irgendwann war sie ins Waisenhaus gekommen, wo ihr das lockige dunkle Haar nahezu abgeschoren wurde. Danach hatte sie für lange Zeit aufgehört zu sprechen, denn es hatte sich so angefühlt, als hätte man ihr Selbst zerstört.

Ein richtiges Zuhause hatte sie nie kennengelernt, und so hielt sie es auch nie lange an einem Ort aus. Manchmal kam es ihr vor, als suche sie beständig nach dem kleinen Mädchen, das vor der Bar in Wyoming vergeblich auf ihren Vater gewartet hatte …

Seufzend setzte sie sich aufs Bett. Das Zimmer war hübsch eingerichtet und würde ihr für ein paar Monate Zuflucht gewähren – die Möglichkeit, sich von der Welt zurückzuziehen.

Irgendetwas an dieser Gegend ängstigte sie. Im Touristenbüro in Lost Valley hatte sie die indianische Legende von den sieben Teufeln gelesen, die den Fluss durchquert und alle Kinder gefressen hatten, bevor Coyote, der Geist der Nacht, sie in sieben Berggipfel verwandelt hatte. Sie fand die Geschichte gruselig und faszinierend zugleich. Vielleicht rührte das seltsame Gefühl einer drohenden Gefahr von dieser Legende.

Oder hatte es etwas mit dem großen, gut aussehenden Mann zu tun, der mit seinen rätselhaften blaugrauen Augen mehr zu sehen schien, als ihr lieb war?

2. KAPITEL

Jonah fand das ausgefüllte Formular am nächsten Morgen am Empfangstresen. Seine neue Helferin musste es in aller Frühe schon hingelegt haben. Rasch überflog er die Angaben.

Mary McHale war sechsundzwanzig Jahre alt und hatte im März Geburtstag. Als Anschrift hatte sie postlagernd Wyoming angegeben. Aufgewachsen war sie auf einer Ranch und hatte nach der Schule sechs Jahre lang bei Rodeoveranstaltungen Pferde betreut. Während dieser Zeit war sie immer wieder umgezogen. Zuletzt hatte sie zwei Jahre auf einer Pferderennbahn in Kalifornien gearbeitet, aber vor einiger Zeit gekündigt, um ihr Pferd für das nächste große Springreitturnier zu trainieren.

Ganz schön mutig, fand er.

In der Spalte nächste Angehörige hatte sie keine angegeben.

Die Adresse der Ranch, auf der sie aufgewachsen war, kam ihm irgendwie vertraut vor, aber woher? Ah ja, von dort bekam er immer wieder einmal Spendenaufforderungen, denn es handelte sich um ein Waisenhaus. Das erklärte, warum Mary keine Angehörigen angegeben hatte.

Unerwartet überkam ihn Mitleid. Wie einsam und verlassen musste ein Kind sich fühlen, das keine Familie hatte. Er selbst konnte sich das schlecht vorstellen, wenn er an all seine Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins dachte! Sowohl seine Mutter als auch sein Vater hatten einen ganzen Clan hinter sich, mütterlicherseits gab es indianische, väterlicherseits temperamentvolle irische Wurzeln.

Aber eigentlich gingen ihn die Familienverhältnisse seiner neuen Mitarbeiterin gar nichts an. Ihn hatten nur ihre Zeugnisse und ihre beruflichen Fähigkeiten zu interessieren, und bis jetzt arbeitete sie ausgesprochen gut. Bei seinem Rundgang gestern Abend hatte er nichts zu bemängeln gehabt. Er hatte auch ihr Pferd gesehen, dessen Bein bandagiert war. Mit dem Training für das Springreitturnier dürfte es vorerst nichts werden.

Er fragte sich, ob sie womöglich all ihre Hoffnungen auf den Hengst gesetzt hatte – so wie Keith und er Geld und Energien in die alte Ranch investiert hatten, die Keith von seinem Großvater geerbt hatte. Dafür hatte Jonah seinen gut bezahlten Job als Marketingmanager in New York aufgegeben und war nach Idaho zurückgekehrt.

Zehn Jahre lang hatte er in New York gelebt und neben seinem anstrengenden Job sogar noch einen Bestseller über Marketingstrategien veröffentlicht. Doch irgendwann fing ihn seine Arbeit zu langweilen an. Er nahm sich eine Auszeit und zog in die Gegend zurück, wo er aufgewachsen war. Als sein Cousin Keith ihm angeboten hatte, gemeinsam die alte Ranch seines Großvaters wieder auf Vordermann zu bringen, da hatte Jonah spontan zugesagt und seine Stelle in New York gekündigt.

Er gab Marys Daten in den Computer ein, legte ein Gehaltskonto an und füllte die Anmeldung für die Sozialversicherung aus.

Der Duft von Kaffee und frischgebackenen Muffins lockte ihn in die Küche. Er schenkte sich eine große Tasse Kaffee ein, nahm sich einen Muffin und ging nach draußen auf die Veranda. Er sah, dass die Arbeitspferde und die Packesel bereits auf der Koppel standen. Auch der Hengst war dabei.

In diesem Moment kam Mary um die Ecke.

„Guten Morgen“, sagte er, und sie zuckte zusammen.

„Hallo, ich habe Sie gar nicht bemerkt.“

Genau wie bei ihrer Ankunft am Tag zuvor trug sie eine Brille, die sich je nach Sonneneinstrahlung verdunkelte, und ihr Haar war unter dem Hut versteckt.

„Ihre Muffins schmecken köstlich. Wie lange sind Sie denn schon auf?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Ich war früh wach.“ Unschlüssig blickte sie auf ihre Stiefel.

„Übrigens sind die beiden Esel gern in einer Box zusammen“, sagte Jonah. „Sie können Ihren Hengst also in der freien Box unterbringen.“

„Danke.“ Sie stieg die Stufen zur Veranda hoch. „Ich frühstücke jetzt erst einmal.“

Er folgte ihr in die Küche. „Haben Sie was dagegen, wenn ich mir ein paar Eier brate?“, fragte sie, während sie sich Kaffee eingoss.

„Nein, fühlen Sie sich wie zu Hause.“

„Möchten Sie vielleicht etwas von meinem Omelett abhaben?“

„Hm, gern“, erwiderte er erfreut.

Sie holte Eier aus dem Kühlschrank, außerdem Butter und Käse. Dann entdeckte sie noch einen halben Räucherschinken und schnitt ein Stück ab. Kurz danach brutzelte ein duftendes Omelett in der Pfanne.

„Sie sind sehr geschickt in der Küche“, sagte er anerkennend und goss sich neuen Kaffee ein.

Autor

Laurie Paige
Laurie Paige lebte mit ihrer Familie auf einer Farm in Kentucky. Kurz bevor sie ihren Schulabschluss machte, zogen sie in die Stadt. Es brach ihr das Herz ihre vierbeinigen Freunde auf der Farm zurück lassen zu müssen. Sie tröstete sich in der örtlichen Bibliothek und verbrachte von nun an ihre...
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