Ein unerwartet heißes Wiedersehen

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Nach langer Zeit kehrt Jack Grantham zurück nach Calcott Manor, in das Haus seiner Familie. Hier will er herausfinden, wer hinter den Drohungen steckt, mit denen seine Großmutter erpresst werden soll. Und hier trifft er auch Peyton wieder – die rothaarige Schönheit, mit der er vor zwei Jahren eine leidenschaftliche Nacht verbracht hat. Zwischen ihnen knistert es noch genauso heftig wie damals, doch dann findet Jack heraus, dass Peyton tief in die Geheimnisse seiner Familie verstrickt ist …


  • Erscheinungstag 07.11.2023
  • Bandnummer 2315
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515863
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ich, Lady Avangeline Forrester-Grantham, bin schon manchmal in Schwierigkeiten gewesen, aber nie in so großen wie jetzt. Doch wenn meine Enkel mich weiter so behandeln, als wäre ich dumm, können sie was erleben. Ich weiß so viel wie sie. Wahrscheinlich mehr.

Jack Grantham war stinksauer auf seinen Bruder.

Er hatte geglaubt, er wäre auch früher schon wütend auf Fox gewesen – sie waren beide willensstarke, entschlossene Typen und gerieten oft aneinander –, aber das hier hatte eine neue Qualität.

Er war fuchsteufelswild und wusste nicht, ob ihr Verhältnis noch zu retten war. Im Augenblick hätte er es als Sieg betrachtet, das Gesicht seines Bruders und Geschäftspartners nie wieder zu sehen.

Jack lehnte die Stirn an das kühle Fenster seines Büros mit der unglaublichen Aussicht auf den Central Park. Er hatte schon seit Tagen pochende Kopfschmerzen und nicht den Eindruck, dass er sie bald loswerden würde.

Als er ein Klopfen an der einen Spaltbreit geöffneten Tür hörte, machte er sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. „Hau ab, Fox. Ich bin noch nicht bereit, mit dir zu reden. Vielleicht bin ich das nie mehr.“

„Falscher Bruder.“

Jack drehte sich um und brachte ein kleines Lächeln zustande. Merrick Knowles war zusammen mit ihm, seinem Cousin Soren und seinen beiden Brüdern Malcolm und Fox aufgewachsen.

Jacks und Sorens Eltern waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als er acht war.

Ihre Großmutter Avangeline, eine milliardenschwere Hotel- und Restaurantunternehmerin, hatte ihr Firmenimperium verkauft, um die vier Jungen, von denen noch keiner elf Jahre alt gewesen war, mit Unterstützung ihrer geliebten Haushälterin und vertrauten Freundin Jacinta Knowles großzuziehen.

Sie waren alle nach Calcott Manor gezogen, Avangelines weitläufiges Anwesen bei Hatfield, Connecticut. Und Jacintas achtjähriger Sohn Merrick gehörte bald zu ihnen. Merrick war nicht nur wie ein Bruder für ihn, sondern auch sein bester Freund.

Merrick ging zur Kaffeemaschine in der Ecke und schlug mit der Faust auf den Knopf, um zwei Tassen Espresso einlaufen zu lassen. Dann nahm er die winzigen Tassen, trug sie durchs Zimmer und reichte ihm eine.

Es war Jacks sechster Espresso an diesem Morgen, aber das Koffein in seinem Körper linderte seine Wut nicht. Er war am Boden zerstört, fühlte sich betrogen und konnte nicht fassen, dass ausgerechnet sein kaum älterer Bruder diese Gefühle in ihm ausgelöst hatte.

„Du weißt, dass Fox dich nur beschützen wollte“, sagte Merrick, setzte sich auf die Couch und streckte seine langen Beine aus.

Sie waren alle große Männer, aber Merrick übertraf sie mit seinen eins fünfundneunzig alle.

„Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, mich muss man nicht mehr beschützen.“ Jack ließ sich in seinen maßgefertigten Ledersessel fallen.

Vor einer Woche, als Fox ihn, Soren und Merrick zum Essen eingeladen hatte, war Jack noch davon ausgegangen, dass Fox sie nur darüber informieren wollte, ob es ihm während seines Aufenthalts in Calcott Manor gelungen war, ihre starrsinnige Großmutter zu überzeugen, ein Testament zu machen.

Avangeline war über achtzig und verfügte über die Vermögenswerte und die Kaufkraft eines kleinen Landes. Sollte sie ohne Testament sterben, blühte ihren Erben ein bürokratischer Albtraum. Er hatte gehofft, Fox hätte herausgefunden, was hinter ihrer Unvernunft steckte.

Außerdem hatte er erwartet, dass Fox in Erfahrung gebracht hatte, warum Alyson Garwood, die nach Malcolms Tod dessen Leber transplantiert bekam, sich bei Avangeline eingenistet hatte. Warum hatte sie von ihrem Job als Anwältin ein Sabbatjahr genommen und sich nach Calcott Manor zurückgezogen? Was wollte sie von Avangeline? Geld? Eine Immobilie?

Aber statt sie auf den neuesten Stand zu bringen, zerstörte sein Bruder seine Welt. Während Fox in Calcott Manor war, fand er heraus, dass ihre Großmutter erpresst wurde. Der Erpresser drohte, publik zu machen, mit wem Avangeline seit Langem ein Verhältnis hatte – warum sollte das ein Problem sein? – und, was wesentlich besorgniserregender war, dass ihre Eltern den verruchten Sadomaso-Club The Basement, der ihnen sogar gehört hatte, als persönliche Spielwiese missbrauchten. Die Eltern, die er innig geliebt, respektiert, ja sogar vergöttert hatte.

Von ihrem gefährlichen Doppelleben zu erfahren, war schockierend, aber was ihn bis ins Mark erschütterte, war, dass Fox ihm dieses Wissen jahrelang vorenthalten hatte.

Merrick stellte seine Tasse auf den Couchtisch und stützte die Unterarme auf die Oberschenkel. „Jack, seit ich dich kenne, hattest du ein extrem unrealistisches Bild von deinen Eltern. Für dich waren sie der Perfektion immer so nahe, wie zwei Menschen es nur sein können. Du hast sie übertrieben idealisiert und warst stolz darauf, dass sie alles richtig gemacht hatten.“

Jack strich sich übers Gesicht. „Das war eine Lüge epischen Ausmaßes. Und Fox wusste es. Er hat es mich weiter glauben lassen.“

„Worüber bist du eigentlich wirklich wütend? Dass deine Eltern auf eine etwas härtere Spielart von Sex standen oder dass sie nicht perfekt waren?“

„Ich bin wütend, weil Fox es mir nicht gesagt hat!“, blaffte Jack.

„Klar, dazu hast du auch jedes Recht“, antwortete Merrick so vernünftig wie immer.

Er war ihr selbsternannter Beschützer, der Kitt, der sie alle zusammenhielt. Jack hoffte, dass dieser Kitt superstark war, denn die klebrigen Fäden, die sie alle verbanden, waren bis zum Zerreißen gespannt.

„Ich verstehe, wieso er es getan hat, Jack. Es war dir immer unglaublich wichtig, dass das Vermächtnis deiner Eltern als Traumpaar – umwerfend gut aussehend, erfolgreich, verrückt nacheinander – gewahrt bleibt.“

„Red keinen Scheiß!“

Merrick zog eine Augenbraue hoch. „Junge, du hast vor ein paar Jahren eine Zeitung wegen übler Nachrede verklagt, weil ein Journalist in zwei Zeilen angedeutet hat, dass dein Vater seine Beziehungen zu Politikern ausgenutzt haben könnte, um einen Auftrag von der Regierung zu bekommen.“

„Den Prozess habe ich nicht gewonnen.“

Merrick ignorierte seine hitzige Antwort. „Du hast eine Stellungnahme abgegeben, als Vance Kane in seinen Memoiren enthüllt hat, eine Affäre mit einer wunderschönen blonden Society-Lady von der Ostküste gehabt zu haben – eine Anspielung auf deine Mom. Indem du darauf beharrt hast, dass deine Eltern wahnsinnig glücklich waren und einander nie betrogen haben, hast du einer Story, die sonst so gut wie unbemerkt geblieben wäre, viel Aufmerksamkeit verschafft. Der Ruf der beiden ist dein wunder Punkt. Ich habe mich schon immer gefragt, warum.“

Jack starrte in seine leere Espressotasse und erinnerte sich an das letzte Gespräch, das er mit seinem Dad am Morgen von dessen Todestag geführt hatte. Er hatte endlich den Mut gefunden, seinem Dad sein Zeugnis zu zeigen, das nur die beiden besten Noten A und B enthalten hatte. Sein Vater hatte die Zensuren überflogen, ihn mit kühlen grauen Augen angesehen und die sechs Wörter ausgesprochen, die von da an sein Leben bestimmt hatten.

Kannst du das etwa nicht besser?

Alles, sein Erscheinungsbild, sein Arbeitsethos, seine Erfolge in Beziehungen und im Geschäftsleben, musste sich seitdem an diesen Worten messen lassen. Das nächste Projekt, Date oder Geschäft musste immer besser sein als das vorherige. Oft kam er sich vor wie in einem Hamsterrad.

In seinen Augen waren seine Eltern perfekt gewesen, also musste er es auch sein.

Nur, dass sie gar nicht perfekt waren, und er hatte keine Ahnung, wie er mit dieser Information umgehen sollte. Es fühlte sich an, als hätte Fox seinen Überzeugungen das Fundament entzogen. Er war ins Schwimmen geraten.

Und wütend. Habe ich schon erwähnt, dass ich wütend bin?

Merrick trank seinen Espresso, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Du musst darüber hinwegkommen, Jack, und Fox verzeihen. Ihr habt doch nicht den Verlust eurer Eltern und dann Malcolms Tod durchgestanden, um das hier einen Keil zwischen euch treiben zu lassen.“

„Ich bin nicht derjenige, der meinem Bruder wichtige Informationen über unsere Eltern vorenthalten hat“, fuhr Jack ihn an.

„Aber du bist derjenige, der die beiden idealisiert hat und nicht die geringste Kritik an ihnen duldete. Du bist derjenige, der Spendensammlungen und Benefizveranstaltungen im Gedenken an sie organisiert und Schaum vor dem Mund bekommt, wenn er etwas liest oder hört, das seiner Heile-Welt-Version seiner Familie widerspricht. Du kannst sie doch weiterhin lieben und trotzdem akzeptieren, dass sie Fehler und Schwächen hatten.“

„Einen Sexclub zu besitzen, ist keine Schwäche. Es ist …“ Jack merkte, dass er laut wurde, und brach ab. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. „Die Sache hat mich bis ins Mark erschüttert, M.“

„Bro, du bist ausreichend in der Welt rumgekommen, um zu wissen, dass Leute manchmal einen kleinen Fetisch haben.“

Sicher, etwas über das Sexleben seiner Eltern zu hören, war eklig, doch er war alt und erfahren genug, um sich daran nicht zu stören. Es war der Rest, der ihm verdammt zu schaffen machte.

„Damit komme ich klar, aber es regt mich auf, dass sie so junge Sexarbeiterinnen engagiert haben, dass es nur knapp legal war. Und dass meine Mom sich im Darknet mit einer gefährlichen Gruppe eingelassen hat und sie in ihre Welt holen wollte, lässt mir jetzt noch das Blut in den Adern gefrieren. Das ist Wahnsinn. Und dumm.“

Seine Eltern waren keine dummen Leute gewesen. Was zum Teufel hatten sie sich also dabei gedacht?

„Und wie fühlst du dich dabei, dass sie sich anscheinend gehasst haben und kurz davor waren, sich scheiden zu lassen?“, fragte Merrick.

Dumm. Er fühlte sich dumm. Er hatte immer angenommen, sie wären das glücklichste Paar aller Zeiten. „Es erinnert mich daran, dass ich nicht das Offensichtliche glauben sollte und dass Leute ständig lügen.“

„Wir sind alle nur Menschen.“ Merrick sah ihm unverwandt in die Augen. „Pass auf, dass du nicht den Boten für die Botschaft büßen lässt. Du hast schon genug verloren. Noch einen Bruder zu verlieren, kannst du dir nicht leisten.“

Intellektuell verstand Jack das. Emotional? Er wollte dieses Gebäude mit bloßen Händen einreißen. „Ich brauche nur etwas Zeit, um alles zu verdauen, was passiert ist.“

„Die brauchst du. Und darüber, wer Avangeline erpresst, haben wir noch gar nicht gesprochen.“

Jack stöhnte. Das hatte er nicht vergessen, er hatte es nur für eine gewisse Zeit verdrängt. Er schnappte sich einen Notizblock und hielt ein paar Punkte schriftlich fest:

Avangeline hat schon lange eine(n) Geliebte(n) und sie korrespondieren über codierte Postkarten.

Niemand in der Familie weiß, wer es ist.

Warum bietet das Stoff für eine Erpressung? Wieso reicht es aus, ihr Testament zu beeinflussen?

Sie hat Millionen in einer Kryptowährung bezahlt – nicht nachverfolgbar – und weigert sich, die Polizei hinzuzuziehen.

Der Erpresser hat ihr sechs Wochen gegeben, ein Testament aufzusetzen und es notariell beglaubigen zu lassen.

Avangeline weiß – Gott sei Dank – nichts über den geheimen Sexclub.

Es gibt zu viele Geheimnisse!

Er schob die Liste über den Tisch zu Merrick, der nickte, nachdem er sie gelesen hatte. „Das stimmt in etwa“, antwortete er, runzelte dann aber die Stirn und bat um einen Stift.

Jack warf ihm einen zu. Merrick legte sich das Blatt Papier aufs Knie, kritzelte etwas drauf und gab es ihm zurück.

Warum ist Aly Garwood in Calcott Manor und was zum Teufel will sie?

„Denkst du, dass etwas an ihrer Behauptung dran ist, dass sie durch die Transplantation ein paar von Malcolms Gedanken, Erinnerungen, Vorlieben und Marotten geerbt hat?“

Jack sah Merrick finster an. „Bitte sag mir, dass du ihr nicht glaubst.“

Merrick verdrehte die Augen. „Natürlich nicht – das ist Bullshit. Aber Soren und Fox glauben ihr.“

„Seit beide sich verliebt haben, ist bei denen doch eine Schraube locker“, blaffte Jack. Wie konnten kluge, vernünftige Männer solchen Scheiß glauben? Seine Kopfschmerzen wurden bei dem Gedanken stärker und er fühlte sich, als versuchte sein Gehirn, aus seinem Schädel auszubrechen.

„Du musst nach Calcott Manor fahren und das klären, Jack.“

„Kümmert sich darum nicht Fox?“, fragte er sarkastisch.

Merrick ließ sich nicht provozieren. „Würdest du noch mit ihm sprechen, wüsstest du, dass er nach Malaysia geflogen ist, um ein Vorstellungsgespräch mit einem neuen Bilanzbuchhalter für die Niederlassung dort zu führen.“

Daran erinnere ich mich. Fox wollte sich mit seiner Verlobten Ru, die auf Weltreise war, in Kuala Lumpur treffen.

„Wenn ich nach Calcott Manor fahre, ist niemand mehr hier in der Zentrale“, sagte er, um einen Vorwand zu haben, nicht nach Hatfield zu müssen.

„Es gibt nichts, was du nur hier und nicht auch von dort aus tun kannst. Du hast exzellente Manager, Jack. Lass sie ihren Job machen. Sie kommen gut ohne deinen Perfektionismus und deine ständige Einmischung zurecht.“

Jack hätte gern widersprochen, konnte es aber nicht. Er verlangte viel von seinen Angestellten, und in seinem eigenen Leben strebte er nach Perfektion, indem er außerordentlich hart arbeitete und von sich selbst noch mehr forderte. Das war anstrengend, doch sein Drang, immer besser zu werden, hatte dafür gesorgt, dass man ihn zu den brillantesten Geschäftsleuten seiner Generation zählte, wie seinen Vater vor ihm.

Abgesehen davon, dass er es nicht den Managern überlassen wollte, das Gastronomieimperium zu führen, das Fox und er nach einer Idee von Malcolm aufgebaut hatten, hatte er keine Lust, ins Haus seiner Kindheit zurückzukehren. In Calcott Manor dachte er nicht nur ständig an seine Eltern, sondern jeder Aufenthalt in Hatfield erinnerte ihn auch an einen Rotschopf mit violetten Augen, der in seinen Träumen herumspukte.

Peyton Caron war Malcolms Verlobte gewesen, aber wenige Wochen vor dessen Tod vor zehn Jahren hatten sie ihre Hochzeit abgesagt. Verstieß es gegen den brüderlichen Ehrenkodex, mit der Ex-Verlobten des eigenen Bruders zu schlafen? Jack wusste es nicht.

Und es gab niemanden, den er fragen konnte, noch nicht einmal Merrick.

Was er jedoch wusste, war, dass sein One-Night-Stand mit Peyton vor zwei Jahren der beste Sex seines Lebens gewesen war. In Hatfield war die Erinnerung an sie und an die Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, überwältigend. Kein Wunder, dass er so selten wie möglich dorthin fuhr.

„Solange Fox in Übersee ist, muss jemand anders die Nachforschungen dazu übernehmen, wer Avangeline erpresst. Ich eröffne dieses Wochenende einen Diner in Cancún und nächste Woche einen in Seattle“, sagte Merrick.

Soren und Fox hatten beide schon Zeit auf dem luxuriösen Anwesen ihrer Großmutter in Hatfield verbracht, und jetzt war wohl er an der Reihe, gestand Jack sich widerwillig ein.

Scheiße.

„Also, wann fährst du los?“

Jack nahm einen seiner Anti-Stress-Bälle, drückte ihn zusammen und warf ihn an die gegenüberliegende Wand. Der Ball sauste an Merricks Ohr vorbei und dann zurück zu ihm. Er fing ihn aus der Luft.

Merrick zuckte mit keiner Wimper. „Wann?“, fragte er stattdessen noch einmal.

Jack sah seinen Computer an, den er bisher gar nicht angestellt hatte, dann seinen leeren Schreibtisch. Er hatte heute nichts geleistet, gestern kaum etwas und in den zwei Tagen zuvor absolut nichts. Wenn er schon nutzlos war, konnte er das genauso gut in Calcott Manor sein.

„Ich fahre gleich nachher“, lenkte er ein und fühlte sich wie ein uralter Mann.

Merrick schlug sich auf die Oberschenkel und stand auf. „Hervorragend – mein Werk hier ist getan.“ Er lächelte befriedigt. Auf halbem Weg zur Tür blieb er stehen und drehte sich um. „Und verlieb dich um Himmels willen nicht. Wenn ich als Einziger von uns noch Single bin, lässt Mom mir keine Ruhe mehr.“

Jack schüttelte den Kopf. Ihm würde Jacinta, quasi seine zweite Mutter, nicht mit so etwas auf die Nerven gehen. Da er sich immer nur halbherzig auf Liebesbeziehungen einließ, waren sie durchweg zum Scheitern verurteilt. Vielleicht hatte seine Furcht vor Intimität und Offenheit etwas damit zu tun, dass er sich nicht auf feste Bindungen einlassen konnte, aber er hatte keine Zeit – und kein Interesse daran – herauszufinden, warum er immer die Flucht ergriff.

Es war einfacher, Single zu bleiben und oberflächliche Begegnungen mit Frauen zu haben, die nichts als eine Nacht voll fabelhaftem Sex erwarteten.

Begehren verstand er, aber Liebe?

Nein, Liebe gab es nicht.

Peytons langer Zopf tanzte auf und ab, als sie die steile Treppe hinunterlief, die ihre Wohnung mit dem Erdgeschoss des Clancy’s verband, der Bar, die ihren besten Freunden Simon und Keene gehörte.

Keene hatte Noah, ihren Sohn, kurz nach sechs bei ihr abgeholt und ihr gesagt, dass er und Simon den Kleinen zum Strand mitnehmen würden. Sie war dankbar wieder ins Bett gegangen und hatte bis acht geschlafen. Dann hatte sie in aller Ruhe geduscht, sich die Haare gewaschen, ihre Beine rasiert und die geschenkte Zeit ausgekostet. Als alleinerziehende Mutter hatte sie nur selten den Luxus, es langsam angehen zu lassen.

Es war ein wunderschöner Tag Anfang August und ihr Sommerurlaub neigte sich dem Ende zu. Nicht mehr lange und sie würde von der Westküste nach Chicago umziehen, um ihre Stelle als Hilfskuratorin am Museum of Contemporary Art anzutreten. Diese langen, entspannten Sommertage wären dann nur noch eine ferne Erinnerung. Sie und Noah würden wieder allein sein, ein Zweierteam.

Nach einem Besuch in der Küche der Bar, um sich einen Becher Kaffee einzugießen, ging Peyton in den öffentlichen Bereich und entdeckte ihre beiden besten Freunde mit ihrem Sohn an einem Ecktisch. Noah war an Simons breiter Schulter eingeschlafen. Peyton holte tief Luft. Es war seltsam, manchmal sah sie plötzlich vor ihrem inneren Auge, wie Noah als Erwachsener aussehen würde. Genau wie sein Vater.

Ein Grantham durch und durch.

Sie hatte Fox, den mittleren Bruder, vor ein paar Wochen getroffen, und es hatte sich seltsam angefühlt, wieder mit dem Mann zu reden, der fast ihr Schwager geworden wäre. Fox sah Malcolm besonders ähnlich, wohingegen Jack, der jüngste Grantham-Bruder, blond und blauäugig war. Anders als Malcolm und Fox versuchte Jack nicht, sein lockiges Haar zu bändigen, indem er es kurz hielt. Er frisierte es sich nur aus dem Gesicht, ließ es aber bis zum Hemdkragen wachsen.

Du hast schon zwei von drei Grantham-Brüdern nackt gesehen …

Guter Gott, woher kam dieser Gedanke? Es musste daran liegen, dass sie wieder in Hatfield war, dem Tatort all ihrer Verbrechen in Sachen Männer. Es war ihre Heimatstadt, in der sie sich in Malcolm verliebt hatte, nur um später mit Jack zu schlafen.

Hatte sie Malcolm mit Jack betrogen? Nein, das war lächerlich. Zwischen Malcolm und ihrer Begegnung mit Jack hatten acht Jahre gelegen. Außerdem konnte man einen Toten nicht betrügen.

Verärgert über sich selbst, weil sie über die Vergangenheit nachgrübelte, ging Peyton durch die leere Bar, die erst in einer halben Stunde öffnen würde, und küsste Noah auf den Kopf. Ihr kleiner Junge regte sich nicht.

Sie ließ sich neben Keene auf die Bank gleiten und warf seinem Mann, der zugleich ihr fitnessbesessener ältester Freund war, einen gespielt bösen Blick zu. „Hast du ihn etwa dein Intensivtraining mitmachen lassen, Simon?“, zog sie ihn auf.

„Ja. Die Übung heißt ‚Möwen jagen‘. Das ist sein Lieblingsspiel“ Simon legte Noah seine freie Hand auf den Rücken.

Als sie hörten, dass sie den Sommer frei hatte, baten Simon und Keene sie, nach Hatfield zu kommen. Peyton nahm das Angebot der beiden gern an, während ihres Urlaubs in die Wohnung über der Bar zu ziehen. Immer wieder kümmerten die zwei sich um Noah, sodass sie viele Pausen hatte, um zu lesen, zu schlafen und einfach nur Zeit für sich zu genießen. Das bedeutete aber, dass sie jetzt genau wusste, was ihr fehlen würde, wenn sie nach Chicago zog.

Was sie allerdings nicht vermissen würde, waren die Erinnerungen an ihren Vater Harry, an Malcolm und an die Art, wie Jack ihren Körper zum Singen gebracht hatte.

Es war jedoch ein zu schöner Tag, um an die Vergangenheit zu denken. Die Sonne stand hoch am blauen Himmel, und sie war bei ihren besten Freunden.

Menschen, die sie liebten. Und, was noch wichtiger war, die auch ihren Sohn liebten.

Sie lächelte Simon und Keene an und dachte, dass das Leben gar nicht besser werden konnte. Wenn sie einen anständigen Job in Hatfield hätte finden können, wäre sie mit Freuden geblieben. Leider waren Kunstexpertinnen in dem Touristenort, der im Sommer gut besucht, im Winter wie ausgestorben war, aber nicht gefragt.

„Ihr seht sehr ernst drein“, bemerkte sie, als ihr die besorgten Mienen der beiden auffielen.

Simon und Keene tauschten einen langen Blick. Dann nickte Keene seinem Partner zu, als wollte er ihn ermuntern. Oje, das wird bestimmt unschön.

„Wir haben heute etwas gehört“, sagte Simon.

Er sah sie so ernst an, dass Peyton damit rechnete, er würde ihr gleich sagen, dass Harry gestorben war. Sie wusste nicht, was sie empfand. Erleichterung? Trauer? Gleichgültigkeit?

„Jack Grantham ist in Hatfield. Und wir wissen aus sicherer Quelle, dass er eine Weile bleiben will.“

Jack. Jack war wieder hier. In Hatfield. Mein Gott. Simon nahm sie bestimmt auf den Arm; das konnte nicht wahr sein. Sie hatte sich nur bereiterklärt, diesen Sommer nach Hatfield zu kommen, weil Simon, der Polizist war und alles über jeden wusste, ihr versichert hatte, dass Jack so gut wie nie nach Hatfield kam. Und wenn, dann nur, um kurz seine Großmutter Avangeline in Calcott Manor zu besuchen.

„Peyton, das ist doch lächerlich. Du musst es ihm sagen“, drängte Simon. „Abgesehen davon, dass du etwas finanzielle Unterstützung gebrauchen könntest, hat er ein Recht zu erfahren, dass er Noahs Dad ist. Es ist nicht fair, dass er es nicht weiß.“

Peyton wusste, dass Simon und Keene unbedingt ein Kind haben wollten und dabei waren, sich über Eizellen-Spenden und Leihmutterschaft zu informieren. Ihr war klar, dass sie es wichtig fanden, dass Noah seinen Dad kennenlernte, aber die beiden wussten nicht alles über ihre Vergangenheit mit der Familie Grantham. Sie hatten keine Ahnung, wieso Malcolm und sie sich getrennt hatten oder weshalb Avangeline ihr die Schuld an Malcoms Tod gab.

„Ich kann es Jack nicht sagen“, antwortete sie kopfschüttelnd. „Das kommt nicht infrage.“

Malcolm ist deinetwegen tot und ich werde dir nie verzeihen. Ich kann dich nicht davon abhalten, in Hatfield zu bleiben, aber du wirst dich von meinen Enkeln fernhalten. Du darfst zu Malcolms Beerdigung kommen, aber du wirst bei der Trauerfeier keine Rolle spielen und mit keinem Familienmitglied sprechen. Du wirst nie wieder Kontakt zu einem Grantham haben. Wenn doch, vernichte ich dich und alle, die du liebst.

Avangeline hatte diese Warnung in kaltem, hartem Ton ausgesprochen. Peyton wusste, dass es keine leere Drohung war. Die Milliardärin hatte genug Macht und Einfluss, um genau das zu tun, was sie angekündigt hatte. Sie, Peyton, war damals neunzehn gewesen und hatte eine Heidenangst gehabt. Inzwischen waren über zehn Jahre vergangen, doch sie hatte kein einziges Wort vergessen. Und sie zweifelte auch heute nicht daran, dass die alte Frau es ernst meinte.

Wenn Avangeline erfuhr, dass sie einen One-Night-Stand mit Jack gehabt hatte, würde sie durchdrehen. Gott wusste, was sie tun würde, wenn sie erfuhr, dass Noah ihr Urenkel war.

Peytons Herz hämmerte und ihre Hand zitterte, als sie den Kaffeebecher auf den Tisch stellte. Sie biss sich fest auf die Unterlippe und sagte sich, dass sie überreagierte, aber sie konnte es nicht glauben. Früher hatte Avangeline als eine der mächtigsten Frauen der Welt gegolten, und in diese Position war sie nicht durch ihr freundliches Lächeln gelangt.

Peyton wollte nicht riskieren, herauszufinden, ob ihre Drohungen ein Ablaufdatum hatten. Avangeline konnte ihr das Leben zur Hölle zu machen. Die Milliardärin besaß eine der hochkarätigsten Sammlungen außerhalb großer Museen und war in der Kunstwelt bekannt. Mit einem einzigen Anruf wäre die Frau in der Lage, ihren Ruf zu ruinieren und dafür zu sorgen, dass ihr die Kuratorinnenstelle in Chicago entzogen wurde.

Wenn Avangeline ihr genug grollte, konnte sie sogar sicherstellen, dass sie nie wieder in einem Museum oder einer Galerie Arbeit fand. Wahrscheinlich würde sie nicht mal mehr Souvenirs an Touristen verkaufen dürfen, wenn Avangeline mit ihr fertig war.

Peyton hatte keine Ahnung, wie Avangeline darauf reagieren würde, dass Jack einen Sohn hatte. Vielleicht würde sie ihn überreden, das Sorgerecht für Noah einzuklagen.

Sie dagegen hatte nicht die finanziellen Mittel für einen Kampf vor Gericht. Sie war eine gute Mutter, aber das war nicht genug, wenn man gegen eine Familie antrat, die unbegrenzt Kapital zur Verfügung hatte. 

Avangeline hatte gedroht, alle zu vernichten, die sie liebte, und das hieß, dass Simon und Keene, ihre Herzensfamilie, ebenfalls in Gefahr waren. Simon war als Polizist bei der Stadt Hatfield angestellt. Avangeline spendete regelmäßig großzügig an die Stadt und für den Wahlkampf der hiesigen Politiker. Ein Anruf von ihr, und Simon wäre seinen Job los, und wenn die alte Frau es wollte, konnten die städtischen Behörden Keene das Leben schwermachen: Kontrollen vom Gesundheitsamt, Steuerprüfungen, bürokratische Hürden aller Art. Man würde ihre Freunde aus der Stadt vertreiben.

In Avangelines Augen war sie Ungeziefer, das sich leicht zerquetschen ließ. Geld erkaufte einem Macht und Einfluss. Viel Geld erkaufte einem sogar die Kontrolle.

„Ich mache die Identität von Noahs Vater nicht öffentlich“, erklärte sie.

Autor

Joss Wood
<p>Schon mit acht Jahren schrieb Joss Wood ihr erstes Buch und hat danach eigentlich nie mehr damit aufgehört. Der Leidenschaft, die sie verspürt, wenn sie ihre Geschichten schwarz auf weiß entstehen lässt, kommt nur ihre Liebe zum Lesen gleich. Und ihre Freude an Reisen, auf denen sie, mit dem Rucksack...
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