Ein ungeahnt verführerischer Verehrer

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Ihr Ruf als unscheinbares Mauerblümchen ist Lady Grace Wyatt nur recht - so kann sie sich ungestört der Wissenschaft widmen. Bis sie in der Bibliothek einen attraktiven Naturforscher trifft, der ihr Herz höherschlagen lässt. Was kann sie bloß tun, damit er sie auch als Frau wahrnimmt? Ihre spontane Idee: Ihr guter Freund Sebastian Holloway soll ihr den Hof machen und dadurch die Aufmerksamkeit auf sie lenken. Natürlich bloß zum Schein! Doch kaum hat sie den schüchternen Sebastian als heißblütigen Verehrer herausgeputzt, sieht Grace ihn plötzlich mit anderen Augen und verspürt ungeahnt süßes Verlangen nach seinen Küssen …


  • Erscheinungstag 30.03.2021
  • Bandnummer 364
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500869
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Eton College, 1797

Es ist nur die Tür zur Bibliothek, nicht das Tor zur Hölle. Geh hinein!

Sebastian Holloway zerrte an den Manschetten seiner Collegejacke, aber sosehr er auch zupfte, seine knochigen Handgelenke schauten hervor und verrieten seine schlaksige Gestalt.

Natürlich wusste er, dass diese Zeit, Pubertät genannt, vorübergeht. Darüber waren zahllose Werke verfasst worden, und keiner der Autoren hatte je erwähnt, dass manche Knaben für immer vierzehn blieben. Also gab es Hoffnung, dass er irgendwann nicht mehr wie eine Stangenbohne in die Höhe schoss und seine Hosen ihm länger als zwei Monate passten.

„Geh endlich rein“, knurrte eine Stimme hinter ihm, „oder sollen wir den ganzen Tag hier stehen wie die Zinnsoldaten?“

Seb fuhr zu Theodore Curtis herum, der ihn unter seiner dunklen Haartolle finster anstarrte.

„Ich … ähem …“ Seb schluckte. Es waren die ersten Worte, die er je an Curtis gerichtet hatte. Für gewöhnlich machte er einen weiten Bogen um den Jungen, der gerne Schuleigentum zerstörte und Raufereien anzettelte.

„Verdammter Mist!“ Curtis verdrehte die Augen und griff an dem verdatterten Seb vorbei nach der Türklinke. „Wir handeln uns eine zusätzliche Strafe ein, wenn wir uns verspäten.“

Curtis sprach aus Erfahrung. Ständig wurde er zum Direktor gerufen wegen Verstößen gegen die Schulordnung, aber egal welche Strafen ihm auch aufgebrummt wurden, er zog keine Lehren daraus und behielt sein renitentes Verhalten bei.

„Tut mir leid“, murmelte Seb. „Ich bin zum ersten Mal hier.“

„Ich weiß.“ Curtis stieß die Tür auf. „Ich würde ja sagen, nimm dir ein Beispiel an mir, wovon ich dir allerdings abrate. Es sei denn, du hast nichts dagegen, dir den Hintern mit Stockhieben versohlen zu lassen.“

Seb folgte Curtis mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen in die Bibliothek, deren hohe Bücherregale ihn nicht zuversichtlich stimmten. Drei Schüler saßen an verschiedenen Tischen und drehten sich nach ihm um, als er in den Saal schlurfte.

Der Mund wurde ihm trocken beim Anblick der drei, die er nur dem Namen nach kannte. Sie waren alle im gleichen Haus in Block E wie er untergebracht, was nichts bedeutete – Seb hatte kaum Umgang mit ihnen. Er erkannte Noel Edwards, Lord Clair und Erbe des Duke of Rotherby. Clair und Seb waren gleichaltrig, wobei der andere Junge praktisch die gesamte Schule im Griff hatte, allerdings nicht mit Gewalt. Schüler und Lehrer richteten sich nach seiner Meinung. Wenn Clair Hammelpastete zu seiner Leibspeise erklärte, wollten alle Schüler Hammelpastete zum Dinner. Eines Tages erschien er zum Unterricht, ohne die Haare im Nacken gebunden zu haben, und am nächsten Tag trugen alle Schüler ihre Haare offen. Wer zu Clairs innerem Kreis gehörte, zählte zur auserwählten Elite.

Seb glaubte nicht, dass Clair seinen Namen kannte, und dessen gelangweilter Blick bestätigte ihm, dass seine Vermutung zutraf.

In seiner Nähe saß Duncan McCameron, zweitgeborener Sohn eines schottischen Earls. McCameron lächelte flüchtig in Sebs Richtung. Das Fußballmatch, in dem sie vor ein paar Tagen in der gleichen Mannschaft gespielt hatten, galt als Höhepunkt der Woche. Auf dem Platz fühlte Seb sich nicht wie ein auf den Mund gefallener Trottel, und mit den Toren, die er schoss und damit seiner Mannschaft zum Sieg verhalf, hatte er sich McCamerons Respekt verschafft.

Der dritte Junge nickte Seb knapp zu. Logisch. Seb und William Rowe waren nicht befreundet, aber beide waren Außenseiter. Seb hatte wenigstens ein paar Kameraden. Mit Rowe redete niemand. Er sprach nur selten, und wenn, kam nur unverständliches Gestammel aus seinem Mund. Manche hielten ihn für verrückt, die meisten nur für exzentrisch, weshalb sie sich mit ihm nicht befassten.

Seb nahm die Brille ab und wischte die Gläser am Revers seiner Jacke sauber. Eine Angewohnheit, die ihm nicht bewusst war.

Curtis ging an ihm vorbei, lümmelte sich in einen Stuhl und legte die Füße auf den Tisch.

„Setz dich, Holloway“, sagte McCameron nicht unfreundlich. „Eddings wird jeden Moment erscheinen.“

Seb rückte sich einen Stuhl zurecht und ließ sich darauf fallen. Eine angespannte Stille breitete sich aus.

Die Tür öffnete sich, und Eddings, ein Schüler der Oberstufe, stolzierte in die Mitte des Saals, stemmte die Hände in die Hüften und fixierte jeden einzelnen Schüler finster. Seb setzte sich aufrechter hin.

„Wie ihr euch denken könnt“, begann Eddings grußlos, „bin ich keineswegs erbaut, euch fünf Übeltäter zu beaufsichtigen, statt wie jeder andere in dieser verdammten Schule meinen freien Nachmittag zu genießen.“

Nie zuvor war Seb Übeltäter genannt worden. Gelegentlich Bücherwurm. Von seinen Brüdern und Cousins auch mal Sonderling. Aber mit dem rebellischen Theodore Curtis in einen Topf geworfen zu werden? Absurd.

Auch Clair schien diese Bezeichnung zu stören, denn er hob die Hand. „Sir, ich denke nicht, dass ich hierhergehöre.“

„Sie irren, Lord Clair.“ Eddings seufzte. „Wie die anderen Anwesenden haben Sie sich schwerwiegender Verfehlungen schuldig gemacht, und wie die anderen werden Sie Ihre Strafe absitzen. Können Sie sich denken, welche Strafe das sein könnte, Holloway?“

Aller Augen richteten sich auf Seb, den lähmende Panik ergriff. In seiner Befangenheit rang er nach Worten. Er fühlte sich zurückversetzt an den väterlichen Esstisch, und die schneidenden Worte seines Vaters klangen ihm in den Ohren.

Du wirst es zu nichts bringen im Leben, wenn du ständig in deinem Notizbuch herumkritzelst. Oder nur Maulaffen feilhalten willst. Keine Verantwortung tragen. Was hast du zu sagen? Rede endlich, Junge, oder du hast kein Recht, dich mein Sohn zu nennen.

Damals wie heute brachte Seb kein Wort über die Lippen. Er sah sich außerstande, auch nur einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen, und wusste nicht, was er sagen sollte.

„Sprache verloren, Holloway?“, spöttelte Eddings.

Clair bedachte den älteren Schüler mit einem scharfen Blick. „Geben Sie ihm eine Chance, nachzudenken.“

„Ganz ruhig, Holloway“, sagte McCameron erstaunlich milde. „Lass dir Zeit.“

Rowe nickte ihm aufmunternd zu.

Sebs Augen brannten, er blinzelte peinliche Tränen zurück. Diese vier Schüler, die ihn kaum kannten, zeigten Geduld und … Verständnis, das ihm seine eigene Familie nie entgegengebracht hatte.

Schließlich rang er sich die Frage ab: „Was ist unsere Strafe?“

„Da der House Master die Prügelstrafe für überholt hält, verfügte er, dass ihr fünf die nächsten …“ Eddings zog seine Taschenuhr. „Die nächsten acht Stunden und vierundfünfzig Minuten darüber nachzudenken habt, wieso ihr heute hier sitzt.“

Clair und McCameron stöhnten, Curtis schnaubte verächtlich. Rowe und Seb blieben stumm.

„Außerdem“, fuhr der ältere Schüler fort, die Proteste übertönend, „schreibt jeder einen Aufsatz, in dem ihr eure Gedanken darlegt, wer ihr zu sein glaubt. Der Aufsatz hat nicht weniger als tausend Wörter zu beinhalten.“

Seb wurde etwas leichter ums Herz. Schreiben war seine Stärke. Er verfasste gute Aufsätze, und es war nicht ungewöhnlich, dass Mitschüler ihn dafür honorierten, Aufsätze für sie zu formulieren. Mit diesem Geld konnte er die Bücher bezahlen, die er im dörflichen Buchladen bestellt hatte, Bücher, die sein Vater ihm nie gekauft hätte, da sie nichts mit Stahlindustrie zu tun hatten – den einzigen Wissensbereich, den John Holloway für wichtig erachtete.

„Damit lasse ich euch allein“, sagte Eddings und ging zur Tür.

„Sie bleiben nicht?“, fragte McCameron.

Eddings verharrte an der Schwelle. „Guter Gott, nein. Den Teufel werde ich tun und den ganzen Tag in der muffigen Bibliothek hocken. Aber ich schau immer mal wieder rein – in sporadischen Abständen. Kommt bloß nicht auf die Idee, euch davonzustehlen. Wenn ich oder eine Aufsicht einen von euch erwische, erwartet denjenigen eine wesentlich härtere Bestrafung. Dagegen werden euch Hiebe mit dem Rohrstock wie harmlose Klapse vorkommen.“ Er verzog die Mundwinkel säuerlich. „Guten Tag, Gentlemen.“

Die Tür fiel ins Schloss, und die Missetäter waren allein.

Curtis sprang auf und stellte sich mit seinem üblichen verächtlichen Grinsen vor seine Mitschüler. „Meine Güte! Wie komisch. Eingesperrt in der Bibliothek mit …“ Er sah Clair, McCameron, Rowe und Seb der Reihe nach an. „Lord Perfekt, dem ehrenwerten Korinther, Sir Bedlam und Professor Schlaksig.“ Er kicherte.

„Ein Poet und Rabauke“, meinte Clair gedehnt. „Bravo, Curtis. Oder soll ich dich Mister Newgate nennen, denn dort wirst du mal landen.“

„Halte dein gottverdammtes Maul!“ Curtis ging drohend auf den jungen Aristokraten los, der mit geballten Fäusten aufsprang.

McCameron schob sich zwischen die beiden Streithähne. „Ruhe! Beide! Sonst kommt Eddings und zieht uns den Rohrstock über den blanken Hintern.“

Es waren kaum fünf Minuten vergangen, und schon war die Hölle los. Seb warf einen Blick zu Rowe hinüber, der zusammengesunken auf seinem Stuhl hockte und vor sich hin murmelte.

Seb verzog das Gesicht. War die Nettigkeit der anderen Jungen ihm gegenüber nur ein Versehen? Oder waren sie lediglich zu unterschiedlich, um höflich, geschweige denn freundlich miteinander umzugehen?

Es sollte ein sehr langer Tag werden.

1. KAPITEL

London, 1817

Egal ob Reptil oder Mensch, beide Spezies machten sich in ihrem Paarungsverhalten zum Narren.

Nein, das war ungerecht – den Reptilien gegenüber.

Nehmen wir den östlichen Zaunleguan, Sceloporus undulatus als Beispiel.

In der Paarungszeit vollführt das Männchen charmante Neigungen des Kopfes, um seinen strahlend blauen Kehlsack und Bauch zu präsentieren. Dies geschieht in völligem Schweigen.

Während der Homo sapiens – genauer gesagt die aristokratischen Männer der Londoner Gesellschaft – sich in grellbunter Aufmachung an öffentlichen Plätzen zur Schau stellen und laute Geräusche von sich geben, um die Aufmerksamkeit aller in der Nähe befindlichen weiblichen Wesen auf sich zu ziehen.

Auf ihrem Weg zur Benezra Bibliothek in Kensington in Begleitung ihres Mädchens Katie konnte Grace Wyatts naturwissenschaftlich geschultes Auge nicht umhin, drei junge Herren zu beobachten, die sich an der Ecke Knightsbridge und Sloane Street versammelt hatten.

Dandium vulgaris. Der Gemeine Dandy.

Grace näherte sich den drei Stutzern im Alter zwischen einundzwanzig und fünfundzwanzig Jahren; sie waren von mittlerer Größe, mittelblond bis brünett, von durchschnittlichem Aussehen, beachtenswert nur durch teure Gehröcke und buntschillernde Westen, wodurch etwaige Bräute sich davon überzeugen konnten, dass zumindest für ihre materiellen Bedürfnisse gesorgt wäre.

Was allerdings ihre sexuellen und geistigen Bedürfnisse betraf … Das stand auf einem anderen Blatt.

„Habt ihr gestern bei den Haverfords auch Stielaugen bekommen bei der Auswahl an Schönheiten?“, blökte einer.

„Da waren wirklich ein paar Sahnetörtchen dabei“, bestätigte ein anderer.

„Prachtvolle Exemplare!“

„Ganz recht“, meinte der Dritte.

Im Näherkommen erkannte Grace ihre Gesichter, sie war ihnen bei Galas und anderen Festlichkeiten begegnet. Sie erinnerte sich an keinen Namen – ein degenerierter Lordling glich irgendwie dem anderen –, war sich aber sicher, dass sie mit zwei von ihnen getanzt hatte, da sie als potenzielle Heiratskandidatin in Betracht zu ziehen war.

Töchter von Earls waren selten, ihre Mitgift beträchtlich und ihr Stammbaum makellos. Mit sechsundzwanzig noch unverheiratet, galt sie als nicht mehr ganz jung, war aber bei guter Gesundheit. Allen Frauen ihrer Vorfahren, die ihren Gatten mehrere stramme Söhne und auch ein paar Töchter geboren hatten, war ein langes Leben beschert gewesen. Die meisten Söhne hatten das Erwachsenenalter erreicht, und es bestand Grund zu der Annahme, dass auch Grace dem Mann, dem sie ihre Gunst schenkte, gesunde männliche Erben gebären würde. Nachdem sie ihr Aussehen, das sich im Prozess des Erwachsenwerdens entwickelt hatte, einer genauen Prüfung unterzogen hatte, kam sie zum Schluss, dass sie – gemessen an den üblichen Maßstäben – leidlich attraktiv aussah.

All diese Faktoren machten sie zu einer guten Partie. Jeder Gentleman konnte sich glücklich schätzen, sie zu heiraten.

Aber wollte sie einen solchen Mann heiraten?

„Lady Grace“, säuselte einer, als sie sich näherte. Die drei Jungspunde verneigten sich.

„Gentlemen“, grüßte sie.

Der zweite Dandy fügte hinzu: „Sie sehen entzückend aus – wie immer. Unterwegs zu einem Einkaufsbummel?“

„Genau genommen unterwegs zur Bibliothek“, antwortete sie.

Die Herren machten verdutzte Gesichter.

„Ähem … zu Büchern?“, fragte der erste Dandy.

„Für gewöhnlich nennt man ein Haus, in dem sich Bücher befinden, eine Bibliothek.“

„Und sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber einen Hut kaufen wollen?“ Die Frage des dritten Dandys klang beinahe ratlos. „Meine Mutter und meine Schwestern lieben Hüte und können gar nicht genug davon haben.“

„Sosehr ich neue Hüte schätze, sie geben mir keinerlei Auskünfte über Amphibien oder Reptilien.“

„Das ist anzunehmen“, bestätigte der zweite Dandy irritiert.

Nach längerem Schweigen sagte Grace: „Danke für die reizende Konversation, aber ich muss weiter. In die Bibliothek. Zu Büchern. Keine Hüte.“

Die drei Herren verneigten sich, wünschten ihr einen guten Tag, und sie enteilte.

Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen. Ohne Zweifel versäumte sie wenig, wenn sie sich keinen Ehemann aus gehobenen Kreisen angelte.

Gemeinsam mit Katie stieg Grace die Steintreppe zur Benezra Bibliothek hinauf. Mit jeder Stufe wuchs ihre Vorfreude, sich in neue naturwissenschaftliche Werke vertiefen zu können.

Unter den Säulen des Portikus stieß sie die schwere Eichentür auf und betrat den Marmorboden des Foyers. Der Geruch nach Papier, Leder und der schwache Moschusduft von altem Pergament stiegen ihr in die Nase.

Ihr Lächeln war jetzt voller Freude. Mehr als in Ballsälen oder eleganten Salons fühlte sie sich hier zu Hause.

Leonidas Benezra war ein außerordentlich erfolgreicher Textilkaufmann, dessen Leidenschaft der Wissenschaft galt. Seine Privatsammlung naturwissenschaftlicher Werke war so umfangreich geworden, dass er sie in eine private Leihbibliothek umwandelte. Mr. Benezra traf persönlich die Auswahl der Mitglieder. Jeder, der aufgenommen wurde, erhielt Zugang zu historischen Werken und Neuveröffentlichungen in den Bereichen Botanik, Astronomie, Anthropologie und Zoologie, mit einigen Abhandlungen über Mechanik, Maschinenbau und Mathematik sowie Volkstanz, da Mr. Benezra sich rühmte, ein großer Liebhaber der Tanzkunst zu sein.

Was die Bibliothek so außergewöhnlich machte, war der Gleichheitsgedanke. Jeder war willkommen, ob Mann oder Frau, weiß oder schwarz, alt oder jung, arm oder reich, vorausgesetzt die Person, die sich um Mitgliedschaft bewarb, zeigte aufrichtiges und begründetes Interesse an der Wissenschaft.

Grace betrat die Bibliothek, ein ehemaliges herrschaftliches Stadthaus, das aufwendig umgebaut worden war, um die zahllosen Bücher zu beherbergen. Zwischenwände im Erdgeschoss waren entfernt und Stützpfeiler eingezogen worden, wodurch ein großer Saal entstanden war, dessen Wände bis zur Decke mit Bücherregalen bestückt waren. In der Mitte befanden sich quadratische Doppelregale. Lange Tische, an denen Besucher ungestört lesen konnten, vervollständigten die Einrichtung.

Im oberen Stockwerk, den ehemaligen Wohnräumen, befanden sich kostbare Erstausgaben verschiedener Fachbereiche, die von Benutzern eingesehen werden konnten oder auf Wunsch vom Bibliothekar vorgelegt wurden.

„Guten Tag, Lady Grace.“

„Guten Tag, Mr. Pagett.“ Sie nickte dem Bibliotheksgehilfen zu, der einen Bücherwagen durch den Mittelgang rollte.

„Schönen Tag, Lady Grace“, murmelte Mrs. Sanford an einem der Tische.

Grace blieb bei der älteren Dame stehen, deren helles Gesicht von Sommersprossen übersät war. Mit gedämpfter Stimme fragte Grace: „Wie kommen Sie mit Ihren Forschungen über den Strömungsverlauf von Gasen voran?“

„Nun, ich denke, dass Bernoulli nicht in allen Punkten richtigliegt.“ Mrs. Sanford legte eine Hand auf das aufgeschlagene Buch vor ihr. „Aber ich bin frohen Mutes. Ich komme der Sache schon auf den Grund. Nicht wahr, Khayyam?“ Sie kraulte die rot getigerte Bibliothekskatze, die es sich neben ihr auf einem Papierstapel bequem gemacht hatte.

„Ich habe vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten.“ Grace nickte ihr zu und strebte der Informationstheke zu.

„Ihre Eltern erwarten Sie zum Dinner mit Lord und Lady Pugh“, flüsterte Katie. „Soll ich Sie um drei abholen?“

„Wenn es sein muss.“

Katie begab sich wie üblich in die Leseecke, um sich in den Roman zu vertiefen, den sie mitgebracht hatte. Grace verkniff sich ein Lächeln, als sie das Pseudonym der Autorin las, einer Dame von zweifelhaftem Ruf. Auch Grace besaß vier Romane dieser Autorin, die sie wohlweislich in ihrem Nachtschränkchen verwahrte zu ihrer – heimlichen – nächtlichen Erbauung. Wenn Katie schwülstige Liebesgeschichten in der Öffentlichkeit las, nun gut, das war ihre Sache.

„Lady Grace.“ Chima Okafor, der Bibliotheksleiter, lächelte ihr hinter seiner Theke zu. Seine leise Stimme ließ den singenden Akzent der Igbo-Sprache seiner nigerianischen Heimat anklingen. Er verneigte sich. „Welche Freude.“

„Sie begrüßen mich jedes Mal, als sei ich zwölf Monate nicht hier gewesen, dabei waren es nur zwölf Stunden.“ Sie stellte ihre Tasche, aus der Schreibstifte und ein Notizheft ragten, auf die Theke.

„Weil ich mich immer wieder freue, unsere treueste Besucherin zu sehen.“

Sie lachte leise. „Ich weiß gar nicht, ob mir diese Ehre gebührt.“

Mr. Okafor neigte den Kopf zur Seite. „Es ist ein sehr kleiner Kreis, der um diesen Titel wetteifert.“

„Größte Leseratte wäre die treffendere Bezeichnung für mich.“

„Kein Wort über Leseratten in diesen Räumen. Mr. Benezra ist sehr besorgt um den guten Zustand seiner Bücher und hasst alles, was Papier und Klebstoff frisst.“

Sie breitete die Hände aus. „Nie wieder ein Wort davon. Ist meine Bestellung Le Règne Animal von Georges Cuvier schon eingetroffen?“ Cuviers Beobachtungen an einigen Tierarten waren umstritten, und sie interessierte sich sehr für die neuesten zoologischen Erkenntnisse, um ihr Wissen zu vertiefen.

„Ich würde sie Ihnen gern geben, aber …“

Eine Stimme hinter ihr sagte: „Ich fürchte, ich bin Ihnen zuvorgekommen.“

Der Klang der vertrauten Stimme beschleunigte ihren Herzschlag. Sie riss sich zusammen, bevor sie sich zu Mason Fredericks umdrehte, der einen dicken Band unter dem Arm trug.

„Sie sind wieder im Lande?“ Es war erstaunlich, dass sie die Worte herausbrachte, ohne zu stottern.

„Die Wildnis der Orkney Inseln ist faszinierend“, antwortete Mason mit einem belustigten Funkeln in den Augen. „Aber irgendwann neigen sich die Geldmittel eines Feldforschers dem Ende zu.“

„Man läuft ja auch nicht mit einer gefüllten Brieftasche durch die Wildnis.“ Sie lächelte und hoffte, ihr Gesicht war nicht so gerötet, wie es sich anfühlte. Ihre gelassene Schlagfertigkeit beim Gespräch mit den drei Dandys war wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte verzischt.

Wenigstens war sie noch so weit bei Verstand, um nicht damit herauszuplatzen, er, der Sohn eines Viscounts, habe es kaum nötig, jemanden um Geld für seine Forschungsreisen zu bitten. Sie war Masons Vater gelegentlich bei gesellschaftlichen Anlässen begegnet, und der Viscount hatte von seinem naturwissenschaftlich interessierten Sohn in höchsten Tönen geschwärmt. Mason musste gewiss keine Kürzung der Geldmittel befürchten.

„Ich will mit dem Katalogisieren unserer neuen Akquisitionen fortfahren, wenn Sie mich bitte entschuldigen.“ Mr. Okafor verneigte sich und ging.

Grace war mit Mason allein.

Ihr Mund war ausgetrocknet, ihr Puls jagte. Er sah umwerfend gut aus. Stundenlang könnte sie seinen schön geschwungenen Mund betrachten, Seite um Seite ihres Zeichenhefts mit Studien seines Gesichts und dem Grübchen an der linken Wange füllen. Er trug sein dunkelblondes Haar sorgsam über einer hohen, durchgeistigten Stirn gescheitelt. Seine grünen Augen betrachteten sie mit Sympathie.

Nur mit Sympathie.

Sie fasste Mut und sagte so unbekümmert wie möglich: „Da Sie nun wieder in London sind, hätten Sie Lust, heute Abend zum Dinner zu uns zu kommen? Wir haben ohnehin Gäste, und es macht keine Umstände, ein weiteres Gedeck aufzulegen.“ Ihr Puls trommelte – noch nie hatte sie Mason zum Dinner eingeladen.

„Leider kann ich nicht.“ Er klang ehrlich bedauernd. „Seit meiner Rückkehr ist mein Terminkalender brechend voll. Dazu kommt, dass ich bereits in zwei Monaten zu einer Grönland-Expedition aufbreche.“

Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter. „Verstehe.“

„Nichts würde mich mehr freuen als ein langes Gespräch mit Ihnen“, fuhr er fort. „Jeder Tag bringt neue Erkenntnisse in der Forschung, neue Veröffentlichungen mit neuen Theorien …“

„Wie die von Cuvier.“ Sie warf einen Blick auf das Buch in seiner Armbeuge.

„Richtig.“ Er seufzte. „Bedauerlicherweise werde ich heute zu nicht weniger als drei Dinners erwartet.“

„Und Sie sitzen neben jungen unverheirateten Damen“, sprudelte sie heraus und ärgerte sich sogleich über ihre Taktlosigkeit. Wieso musste sie das sagen?

Er lachte leise. „Wohl kaum. Wer möchte schon seine Tochter mit einem Naturforscher verheiraten? Keine junge Dame träumt davon, ihre Flitterwochen in der Ödnis der Antarktis auf den Spuren der Migrationsmuster der dortigen Tierwelt zu verbringen.“

„Das klingt wunderbar.“ Nur sie und Mason in der Eiswüste, tagsüber mit Forschungen und neuen Erkenntnissen beschäftigt. Und nachts …

Ihre Wangen glühten.

„Nur Sie können so denken.“ Er lächelte, und sie schmolz dahin. „Weil Sie eine echte Wissenschaftlerin sind. Aber leider kann keine potenzielle Braut sich dafür begeistern. Nein“, er wurde wieder ernst, „wenn ich die geeignete Frau zum Heiraten finde, kann ich nur hoffen, dass sie meine Arbeit toleriert. Wie auch immer. Irgendwo da draußen ist sie. Ich muss nur geduldig sein und hoffen, sie eines Tages zu finden.“

Grace rang sich ein Lächeln ab, aber in ihrem Innern starb alles, verwelkte wie Blumen im Spätherbst. „Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer Suche.“

„Vielen Dank.“ Er sah sie gefühlvoll an. „Es tut immer gut, mit Ihnen zu plaudern, Lady Grace. Sehen wir uns bei Creasys Gartenparty? Irgendwann nächste Woche, denke ich. Die Creasys wollen unbedingt, dass ich vorbeischaue.“

Sie hatte nicht vorgehabt, die Einladung anzunehmen. „Das Fest lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.“

„Dann sehen wir uns dort. Und ich beeile mich mit dem Cuvier.“ Er verneigte sich und ging mit dem Buch unter dem Arm davon.

Geknickt wanderte sie die mittleren Regale entlang, ohne einen Blick für den Bücherwald, der ihr sonst so tröstend erschien, bog in einen schmalen Seitengang ab, ohne auf die Schilder zu achten, die Auskunft über das jeweilige Wissensgebiet gaben.

Irgendwann blieb sie stehen und legte die Hand an den Rücken eines dicken Wälzers. System und Methodologie zur Erstellung Algebraischer Taxonomien. Ohne nennenswerte Kenntnisse über Algebra zu besitzen, zog sie das umfangreiche Werk aus dem Regal.

In der frei gewordenen Lücke erschien der Kopf eines Mannes auf der anderen Seite des Durchgangs.

Er blickte zerstreut von dem Buch in seiner Hand auf, senkte den Blick, schaute wieder auf, und dann lächelte er.

„Lady Grace.“

„Oh!“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als ein unsichtbarer Besucher zur Ruhe mahnte. Sebastian Holloways Anblick hob ihre trübe Stimmung, und sie brachte ein Lächeln zustande. „Sebastian. Sie wissen doch, dass es mir lieber ist, wenn Sie mich nur Grace nennen. Ich glaube kaum, dass es Ihrem Ruf schadet, wenn Sie auf vertrautem Fuß mit mir stehen.“

„Sind Sie sicher? Ich höre skandalöse Dinge über Sie.“ Er strich eine widerspenstige Locke seiner blonden Mähne aus der Stirn, die umgehend wieder nach vorne fiel. Das Licht vom Fenster spiegelte sich in seiner Brille, als er den Kopf zur Seite neigte. „Interessieren Sie sich neuerdings für Mathematik und numerische Systeme?“ Er zog die Brauen hoch.

Sie warf einen Blick auf das Buch in ihrer Hand. „Hatte ich je auch nur das geringste Interesse an Mathematik?“

„Nun, wenn ich bedenke, dass Sie immer noch mit den Fingern zählen …“

Sie furchte tadelnd die Stirn. „Was erlauben Sie sich, mein Herr!“

„Ich bitte untertänigst um Entschuldigung. Ich bin ein Bücherwurm und kenne mich mit gesellschaftlichen Umgangsformen nicht gut aus.“

„In England gelten Sie als Experte von Sitten und Brauchtum der Bewohner der Azoreninseln“, betonte sie.

Er verneigte sich. „Madam, Sie schmeicheln mir.“

Sie lächelten einander verschmitzt zu, und Grace’ Stimmung hob sich zusehends. In Sebastians Nähe fühlte sie sich wohl. Ihre Interessen galten zwar verschiedenen Fachbereichen, aber das war ohne Belang. Was sie beide verband, war das Streben nach Wissen.

Vor vier Jahren hatten sie sich in dieser Bibliothek kennengelernt. Sie hätte in dem hochgewachsenen blonden Hünen niemals einen der berühmtesten Anthropologen Englands vermutet – wobei gerade sie wissen müsste, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Aussehen und Begabung eines Menschen gab.

Seit damals waren die beiden befreundet. Man traf sich mindestens einmal wöchentlich, um einen Vortrag oder ein Museum zu besuchen oder einen Ausflug zu machen. Sebastian und sie verbrachten gern Zeit miteinander, beobachteten die Welt aus einem leicht ironischen Blickwinkel und tauschten sich darüber bei Kuchen und Tee in Cattons Teestube aus.

Im Lauf der Jahre hatte sie einiges über ihn erfahren. Seine Liebe zur Anthropologie und sein Studium ritueller Bräuche fremder Kulturen gründeten auf seinen Erfahrungen als Außenseiter – eine Erfahrung, die sie nachempfinden konnte.

„Wie verlief das Gespräch mit Ihrem Vater?“, fragte sie.

Er verzog den Mund zu einem ironischen Grinsen. „Oh, genau wie zu erwarten war. Ich stammelte ganze fünfzehn Minuten, er starrte mich verständnislos an, und dann zogen wir uns in verschiedene Ecken seines Arbeitszimmers zurück.“

„Oh nein.“

Sebastian stieß den Atem aus. „Es ist sinnlos, meinen Vater davon überzeugen zu wollen, dass sein ältester Sohn kein hoffnungsloser Fall ist.“ Er unterstrich seine Worte mit einem spöttischen Lachen, aber Grace hörte seinen verletzten Unterton.

„Mit dieser Meinung ist er völlig allein“, erklärte sie.

„Ich weiß.“ Er runzelte die Stirn. „Ich weiß. Aber …“

„Zu wissen, dass der eigene Vater kein Verständnis hat. Diese Kränkung ist schwer zu ertragen, nehme ich an.“

Sebastian schüttelte den Kopf. „Mittlerweile sollte ich daran gewöhnt sein.“

Seine Worte versetzten ihr einen Stich. „Gefühle kann man nicht erzwingen. Wissenschaftliche Gesetze lassen sich nicht auf Herzensangelegenheiten übertragen.“

Er schwieg eine Weile, dann sagte er: „Mein Vater sprach die reizende Drohung aus, wenn ich nicht bald einen Posten in seiner Firma antrete, habe ich keinen Penny von ihm zu erwarten, nur mein knapp bemessenes Taschengeld. Die reine Freude, diesen Mann zum Vater zu haben.“

„Haben Sie ihm erklärt, dass Sie ohne finanzielle Unterstützung keine Feldforschung betreiben können? Dass er Sie dazu verdammt, sich Ihr Wissen ausschließlich durch Fachliteratur anzueignen?“

Sebastian sah sie an. „John Holloway, Gründer und Eigner der Holloway Eisenwerke, ist ein … Ich glaube, der Fachbegriff lautet: elender Geizkragen.“ Er hüstelte. „Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise.“

„Ich bitte Sie, ein Geizkragen ist eben ein Geizkragen.“ Beinahe hätte sie durch die Lücke im Regal nach seiner Hand gegriffen.

Beinahe.

Sebastian mochte ein Naturphilosoph und ein guter Freund sein, er war auch ein junger unverheirateter Mann und sie eine unverheiratete Frau. Sie konnte nicht einfach einen Junggesellen anfassen; so etwas hatte Konsequenzen.

Und … wenn sie sich Sebastians Hände ansah, flatterte etwas in ihrer Magengegend. Er hatte große Hände mit langen sehnigen Fingern. Mehr als einmal hatte sie sich dabei ertappt, sich auszumalen, wie es sich anfühlte, würde seine Hand ihren Arm oder ihren Rücken streicheln oder sich zärtlich um ihren Hinterkopf wölben …

Sie schüttelte sich innerlich. Nein, sie würde nicht vier Jahre Freundschaft für ein paar flüchtige erotische Gedanken aufs Spiel setzen. Gut, als sie Sebastian kennenlernte, hatte sie vielleicht gehofft, es könnte mehr daraus entstehen. Aber er hatte sie stets mit ausgesuchter Höflichkeit als Kollegin und Vertraute behandelt.

Sie hatte genügend Zurückweisungen der Schönen und Reichen der gehobenen Kreise einstecken müssen, ähnliche Kränkungen wollte sie von Sebastian nicht riskieren. Also hatte sie sorgsam jede Anwandlung zärtlicher Gefühle im Keim erstickt und ihre Freundschaft frei von sündigen Gefühlen gehalten.

„Genug geredet von meinem grässlichen Vater.“ Er legte den Kopf schief. „Ich bin zwar etwas kurzsichtig, denke aber, Sie vor ein paar Minuten im Gespräch mit Mason Fredericks gesehen zu haben.“

Hitze schoss ihr ins Gesicht. „Ja, er ist von seiner letzten Expedition zurück.“

„Anzunehmen.“ Sebastian spähte durch die Lücke im Bücherregal. „Sie schienen sich angenehm mit ihm zu unterhalten. Doch dann …“ Sein Blick wurde mitfühlend. „… Nun ja, ich habe nicht allzu viel übrig für ihn.“

„Um Himmels willen, sprechen Sie leise.“ Sie warf unstete Blicke um sich, hoffte, dass niemand ihnen zuhörte.

„Verzeihung.“

„Ach, Sebastian“, seufzte sie und lehnte die Stirn gegen das Bücherregal. „Was soll ich nur tun?“

Eine Stimme zischte von irgendwoher: „Ruhe! Man will schließlich arbeiten.“

Beschämt ließ sie die Schultern hängen. Sie war ein hoffnungsloser Fall.

Statt sie teilnahmsvoll anzusehen, wurde Sebastians Blick undurchdringlich. Sie wusste nicht, was in ihm vorging. Es war vielleicht falsch, mit ihm über einen anderen Mann zu reden, allerdings hatte sie Mason zum ersten Mal erwähnt.

„Folgen Sie mir“, sagte Sebastian und ging.

Hatte sie ihren Freund gekränkt?

2. KAPITEL

Unsicher folgte sie Sebastian und hatte Mühe, sich seinen langen Schritten anzupassen.

Als sie die Theke der Buchausgabe passierten, hielt Mr. Okafor ein dickes Buch hoch. „Mr. Fredericks hat den ersten Band von Cuvier für Sie hinterlegt“, murmelte er.

Mason war gegangen, stellte sie mit einiger Erleichterung fest, da sie nun nicht mehr auf eine zweite zufällige Begegnung hoffen musste. „Legen Sie ihn mir freundlicherweise zurück?“

Sebastian war stehen geblieben und beugte sich über die Theke. „Können Lady Grace und ich den Besprechungsraum nutzen, falls er frei ist?“

Nach einem flüchtigen Blick zu Grace nickte der Bibliothekar. „Gerne. Mr. Graves hat sich den Raum erst um vier Uhr reservieren lassen.“ Stammkunden, die sich über Themen ihrer Interessensgebiete auszutauschen wünschten, stand ein kleiner Raum zur Verfügung, der häufig genutzt wurde.

Sebastian öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt. Wie immer, wenn Grace ihm nahe war, staunte sie über seine stattliche Körpergröße.

Sebastian musste von Nordmännern abstammen, die vor Jahrhunderten Britannien erobert hatten. Mit seiner Größe, den blonden Haaren und breiten Schultern könnte er ein Wikinger sein.

Die Einrichtung bestand aus einem runden Tisch und vier Stühlen; ein Fenster wies auf einen Innenhof. An der Wand hing ein Jugendbildnis von Mr. Benezras Mutter.

Sebastian betrachtete das Gemälde sinnend. „Die Dame hat im Lauf der Jahre gewiss viele interessante Gespräche zu hören bekommen.“

„Die Welt verändert sich schnell“, erwiderte Grace. „Wer weiß, wo wir in drei Jahren sind, geschweige denn in drei Jahrzehnten?“ Sie wandte sich ihm zu. „Wieso sind wir hier?“

„Es schien mir nicht ratsam, Ihre Gefühle über Mason Fredericks in der Bibliothek loszuwerden. Und“, fügte er verständnisvoll zu, „Sie sahen aus, als würden Sie jeden Moment die Regale zertrümmern oder in Tränen ausbrechen.“

Die Enge in ihrer Brust löste sich bei seinen mitfühlenden Worten. Auf ihn konnte sie sich stets verlassen. „Wie wäre es mit beidem?“

„Klar. Wenn Sie Hilfe beim Zertrümmern brauchen, findet sich gewiss ein Hammer irgendwo in einem Werkzeugkasten.“

Sie lächelte verkrampft und sank auf einen Stuhl. „Es ist zum Verzweifeln. Wissen Sie, was Mason mir vorhin sagte? Erstens, dass er in zwei Monaten nach Grönland aufbrechen wird. Und dann jammerte er darüber, dass er wohl nie eine Frau findet, die Verständnis für seine wissenschaftlichen Forschungen aufbringt. Dabei stand ich direkt vor ihm.“

„Na, so was!“ Sebastian machte ein finsteres Gesicht. „Das war verdammt gedankenlos von ihm.“

Ihr wurde warm ums Herz. „Finde ich auch. Aber in all den Jahren, die wir uns kennen, hat er in mir nie etwas anderes gesehen als eine Fachkollegin. Ständig ist er von koketten Schönheiten umgeben. Und Sie wissen ja, dass ich keine Schönheit bin, und ich will es auch gar nicht sein“, fügte sie heftig hinzu. „Aber es ist schwer, jemand auf sich aufmerksam zu machen, der ständig von funkelnden Feuerwerken umgeben ist, und ich bin nur ein schlichter Bunsenbrenner.“

Sie konnte nicht stillsitzen, sprang auf und wanderte aufgebracht in dem kleinen Raum hin und her. Sebastian stand ebenfalls auf und beobachtete sie besorgt.

„Ich will doch nur …“ Sie schüttelte den Kopf, im Versuch, ihre wirren Gefühle zu ordnen. „Ich will nur, dass er mich sieht. So wie ich bin. Nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern als Frau.“

„Er weiß mit Sicherheit, dass Sie eine Frau sind“, entgegnete Sebastian trocken.

„In einem abstrakten Sinn. Aber niemand will bei Vollmond mit einem abstrakten Wesen Händchen im Garten halten.“

Sebastian neigte den Kopf zur Seite. „Schon klar. Und er hat keine Ahnung, was Sie für ihn empfinden?“

„Sie und Jane Argyle sind die Einzigen, die davon wissen.“ Dieses Geheimnis konnte sie nur ihren zwei besten Freunden anvertrauen.

„Das weiß ich zu schätzen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte die Hüfte gegen den Tisch. „Er ist ein Idol, nicht wahr? Er ist bei seinem Wissenschaftskollegium ebenso hoch angesehen wie in der vornehmen Gesellschaft.“

„So habe ich das noch nie gesehen.“ Sie hatte ihn vom ersten Moment ihres Kennenlernens während ihres Debüts bewundert. Zugegeben, er sah gut aus, aber was sie in erster Linie für ihn eingenommen hatte, war sein Wesen. Er besaß alles, was sie sich ersehnte, sich aber scheute, es erreichen zu wollen.

„Ich habe nie davon gesprochen“, fuhr sie fort, „aber in den ersten Monaten meines Debüts habe ich mit anderen Debütantinnen und potenziellen Verehrern offen über mein Interesse an Reptilien und meiner Faszination für Amphibien geredet. Die Blicke, die ich dafür erntete, und das Gelächter …“ Sie schüttelte den Kopf, als könne sie damit die Kränkungen vertreiben. Die Brüskierungen nagten noch immer an ihr. „Nur Mason war freundlich zu mir. Nur er hörte mir zu, stellte Fragen und gab mir das Gefühl, etwas wert zu sein und ernst genommen zu werden.“

Damals war ihr Mason vorgekommen wie ein Leuchtturm in einem feindlich fauchenden, bedrohlichen Ozean.

„Ach, Grace.“ Sebastian sah sie mitfühlend an. „Ich … wir hier in der Bibliothek, wir schätzen Sie und nehmen Sie ernst.“

„Und dafür bin ich sehr dankbar.“ Sie senkte gerührt den Kopf. Hier, im Kreis Gleichgesinnter, musste sie sich nicht hinter einem Schutzschild der Ironie verstecken, musste keine Geringschätzungen anderer mit schlagfertigen Bemerkungen überspielen.

„Aber das zählt nicht viel, wenn Sie das Herz des Mannes gewinnen wollen, den Sie bewundern“, fügte er hinzu.

„Ich bin töricht, nicht wahr?“ Aber ihre Sehnsucht, wahrgenommen, akzeptiert und geliebt zu werden, fühlte sich nicht töricht an. Der Schmerz, den sie mit jedem Herzschlag verspürte, erinnerte sie daran, dass sie nicht gut genug war. Nie gut genug sein würde.

Wenigstens hatte sie Jane. Und Sebastian. Ihre zwei Freunde. Das war etwas sehr Wertvolles, und dafür war sie dankbar.

„Sie sind nicht töricht.“ Sebastian sah sie verständnisvoll an. „Die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung ist doch der Kern unseres Daseins. In all den Jahren meiner Studien an Menschen, ihrer Rituale, ihres Strebens, ihrer Lebensziele … alldem liegt die Liebe zugrunde.“

Um ihre Niedergeschlagenheit zu bekämpfen, flüchtete sie sich in Ironie. „Wie unendlich romantisch. Wechseln Sie etwa vom Studium der Anthropologie in die Poesie?“

„Was reimt sich auf Verwandtschaftssysteme?“ Er zog eine Augenbraue hoch.

„Ähem … Landschaftsprobleme?“

Er küsste seine Fingerkuppen. „Ausgezeichnet.“

Und beide mussten lachen. Die Albernheit des unsinnigen Wortspiels löste ihre innere Spannung.

„Vielen Dank“, sagte sie.

„Wofür?“, fragte er verblüfft.

„Weil Sie sich mein wehleidiges Jammern angehört haben. Beim nächsten Mal verspreche ich Besserung.“

„Dabei fällt mir ein …“ Er kramte in seiner Rocktasche, zog ein zerknittertes Blatt Papier hervor und hielt es ihr hin. Sie las, und er fuhr fort: „In einem Privathaus in Chelsea gibt es eine Ausstellung mittelalterlicher Holzschnitte. Darunter auch frühe Studien von Reptilien. Haben Sie Lust, die Ausstellung morgen mit mir zu besuchen?“

„Ja, gerne“, antwortete sie prompt. „Aber … Holzschnitte von Echsen und Schlangen fallen nicht unbedingt in Ihren Zuständigkeitsbereich. Gibt es dort auch etwas, das Sie interessieren könnte?“

In seinen Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen. „Mich interessiert die ganze Welt.“

„Hätte ein anderer das behauptet, würde ich es für eine maßlose Übertreibung halten. Aber aus Ihrem Mund klingt es wirklich ehrlich.“ Sie lächelte ihn warmherzig an, ihren guten Freund.

Eigentlich verwunderlich, dass er noch Junggeselle war. Er sprach nie von Frauen. Wieso erkannte keine Frau, was für ein wunderbarer Mensch er war? Allerdings gab es nur wenige Frauen, die sein Interesse für Anthropologie teilten. Außerdem war er arm wie eine Kirchenmaus, was bedeutete, dass ihm die finanziellen Mittel fehlten, um einer Dame den Hof zu machen.

Sebastian erwiderte ihr Lächeln und zog seine Taschenuhr hervor. „Verflixt. Ich muss noch zu McKinnons Buchhandlung und Bücher abholen.“ Er verneigte sich. „Sehen wir uns morgen? In der Ausstellung?“

„Ja, morgen in der Ausstellung“, sagte sie fröhlich. „Gehen Sie schon, und viel Spaß mit den neuen Büchern.“

„Ja, es gibt nichts Erbaulicheres als neue Bücher“, sagte er ernsthaft. „Abgesehen von alten Büchern.“

„Wie wahr …“

Mit einem Kopfnicken verließ er den Raum. Grace blieb allein, schwankend zwischen Dankbarkeit und Betrübnis; dankbar für Sebastians Freundschaft und betrübt, da Mason sie eindeutig in die Kategorie Amica asexualis eingestuft hatte.

Daran würde sich nie etwas ändern. Sie fühlte sich wie ein aufgespießter Schmetterling in einem Glaskasten.

Seb eilte mit langen Schritten die Straße an der Benezra Bibliothek entlang. Ein frischer Wind kühlte sein Gesicht.

Er musste Abstand zu Grace gewinnen, um einen kühlen Kopf zu bekommen und sich einige wichtige Fakten vor Augen zu führen.

Sie war die Tochter eines Earls, dessen Ahnenreihe bis in die Tudorzeit zurückreichte.

Er war der Sohn eines Bürgerlichen, der sein Vermögen im Bergbau und dem Handel mit Eisenerz gemacht hatte. Sein Großvater war Schmied gewesen, der kaum lesen und schreiben konnte.

Ihr Taschengeld war vermutlich zehnmal höher als die erbärmliche Summe, die sein Vater ihm vierteljährlich zukommen ließ.

In vier Jahren hatte sie ihn nie herzlicher als freundschaftlich angesehen.

Sie war vernarrt in Mason Fredericks – und nur in Mason Fredericks.

Sie schuldete Seb nichts. Er konnte ihr nicht böse sein oder ihr verdenken, dass sie nichts anderes in ihm sah als einen Freund.

Aber, verdammt noch mal, das alles machte es ihm nicht leichter, sich mit ihrer Verliebtheit für einen anderen abzufinden.

Er wich geschickt einem livrierten Boten aus, der es eilig hatte, und setzte behände über ein Häufchen Unrat auf der Straße hinweg. Seine körperlichen Reflexe ließen nichts zu wünschen übrig. Wenigstens in dieser Hinsicht gab es nichts an ihm zu beanstanden.

Und dank der Tatsache, dass ihm die nötigen finanziellen Mittel für seine Feldforschungen fehlten, kannte er sich in der Bibliothek aus wie kein anderer.

Daraus ergaben sich zwei Lebensbereiche, in denen er nicht zu schlagen war. Wenn es allerdings um die Kunst des Redens ging – genauer gesagt um die Kunst der Brautwerbung –, erwies er sich als stammelnder Tölpel.

Das war einer der Gründe, warum er nie versucht hatte, Grace etwas zu sagen, was auch nur annähernd ein Kompliment sein könnte. Niemals würde er ihr sagen, dass ihre graublauen Augen ihn an das Meer in der Abenddämmerung erinnerten. Oder dass er stundenlang in den Anblick ihres biegsamen Halses versinken könnte. Nie würde er ihr gestehen, dass er bei ihrem Anblick jede Kränkung vergaß, die ihm tagsüber widerfahren war, dass sie ihm erschien wie die Sonne, die hinter einer grauen Wolkenwand auftauchte und sein Innerstes zum Strahlen brachte.

Der einzige Grund, warum er überhaupt mit Grace reden konnte, war die Tatsache, dass sie in ihm nur einen Freund sah. Er hingegen war sich ihrer Weiblichkeit sehr bewusst, doch solange sie seine platonische Kameradschaft schätzte, konnte er jeden Gedanken daran, zarte Küsse ihr Schlüsselbein entlangzuhauchen, auf ein Minimum beschränken.

Vor McKinnons Buchhandlung atmete er tief durch, um seine innere Spannung zu lösen, und trat ein.

„Guten Tag, Mr. Holloway“, grüßte der Buchhändler hinter den Türmen aufgestapelter Bücher auf dem Ladentisch. „Einen Moment, ich hole Ihre Bestellung aus dem Lager.“

„Nur keine Eile, Mr. McKinnon.“ Seb tauchte in den schmalen Durchgang zwischen den Bücherregalen ein, die zusammen mit der Benezra Bibliothek seine geistige Heimat bildeten. Er musste sich mit dem Studium der Forschungen seiner Fachkollegen begnügen, da er kein Geld für Reisen ins Ausland hatte; eigene Forschungen blieben für ihn ein ferner Traum.

Grace betrat die Eingangshalle ihres Elternhauses, immer noch ihren trüben Gedanken an ihre peinliche Unterhaltung mit Mason nachhängend. Doch dann hatte Sebastian sich geduldig ihre Klage über die kränkende Begegnung angehört. Er hörte ihr immer zu – einer der Gründe, warum sie dankbar war, ihn zum Freund zu haben.

„Oh, gottlob sind Sie wieder da, Mylady!“

Sie war im Begriff, Katie ihre Haube zu reichen, als Grenville, der Butler, mit sorgenvoller Miene herbeieilte.

Eingedenk der Tatsache, dass er einmal zur Teestunde seelenruhig verkündet hatte, in der Küche sei ein Feuer ausgebrochen, durchzuckte Grace ein gehöriger Schrecken.

„Was ist geschehen?“, fragte sie.

„Der Earl … Ihr Herr Vater …“ Grenvilles Blick flog zur Treppe.

Grace eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, mit gerafften Röcken in die erste Etage. Ihr Herz klopfte schneller mit jedem Schreckensbild, das in ihr auftauchte.

Im Korridor vor dem Schlafzimmer ihres Vaters stieß sie beinahe mit einem älteren dunkel gekleideten Herrn zusammen. Hinter ihm trug ein Hausdiener eine mit einem Tuch bedeckte Schüssel. In ihrer Verwirrung dauerte es Sekunden, bis ihr der Name einfiel: Dr. Campbell, der Familienarzt.

„Lady Grace.“ Der Doktor verneigte sich. „Ich habe den Earl soeben versorgt.“

„Was ist geschehen?“ Sie griff nach dem Ärmel des Doktors.

„Ich habe ihn zur Ader gelassen, und nun ruht er.“

„Aber was ist geschehen?“

Dr. Campbell zögerte. „Ich möchte Sie nicht unnötig aufregen. Junge Damen sind so zart besaitet.“

Sie schluckte ihren Unmut hinunter. „Dr. Campbell, Sie kennen mich seit meiner Geburt und sollten wissen, dass ich nicht zart besaitet bin.“

„Er erlitt vor etwa einer Stunde einen Kollaps“, erklärte er schließlich. „Nach eingehender Untersuchung befürchte ich Angina pectoris.“

Ein kalter Schauer rieselte Grace über den Rücken. Guter Gott – als ihr Vater kollabierte, hatte sie in der Bibliothek mit Sebastian über ihre Vernarrtheit in Mason geplaudert.

„Nach dem Aderlass“, fuhr Dr. Campbell fort, „braucht der Patient absolute Ruhe.“ Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, als fürchte er, sie würde am Krankenbett ihres Vaters eine Kesselpauke schlagen.

„Ja, ich verstehe.“ Sie löste den Griff vom Ärmel des Arztes.

„Ich sehe morgen wieder nach ihm.“

Sie nickte zerstreut und öffnete die Tür. Die Vorhänge waren zugezogen. Der flackernde Schein des Kaminfeuers und einer Petroleumlampe erhellte die reglose Gestalt im Bett und die Frau auf dem Stuhl neben dem Kranken.

Auf den Wangen ihrer Mutter schimmerten Tränenspuren. „Oh, Grace“, schluchzte sie.

„Mama.“ Grace eilte zu ihr und schlang die Arme um sie. Die Countess fühlte sich so zart und zerbrechlich an. Grace spürte jeden einzelnen ihrer Knochen. Ein Frösteln durchrieselte sie bei dem Gedanken, dass ihre Eltern sterblich waren. „Wieso wurde ich nicht in der Bibliothek verständigt, als es passierte?“

„Es ging alles so schnell. Wir saßen beim Tee und unterhielten uns über das Dinner mit Lord und Lady Pugh, und plötzlich lag er auf dem Boden, kalkweiß im Gesicht und krallte eine Hand um seine Brust und ich… ich …“

„Schsch.“ Grace wiegte ihre Mutter in den Armen, sich schmerzlich bewusst, dass ihre Rollen vertauscht waren und es nun an ihr war, ihrer Mutter Trost zu spenden. „Dr. Campbell meinte, er braucht Ruhe und wird sich wieder erholen.“

„Er hat leicht reden“, ertönte die erschreckend dünne Stimme ihres Vaters aus dem Bett. „Er ist nicht morgen mit Lord Liverpool zum Kartenspiel verabredet.“

„Papa.“ Grace löste sich von ihrer Mutter und kniete sich neben das Bett, nahm seine Hand, und er erwiderte ihren Händedruck schwach. Am Arm unter dem hochgekrempelten Ärmel des Nachthemds wurde ein blutiger Verband sichtbar.

Der Kranke war erschreckend blass, sein Blick verschwommen. „Komm schon, kein Grund zu weinen.“

Grace wischte sich zerstreut über die Wangen, hatte ihre Tränen gar nicht bemerkt. „Kann ich etwas für dich tun?“

Er schwieg einen Moment. „Ja, es gibt etwas.“

„Sag es mir bitte.“ Sie richtete sich auf, erleichtert, etwas für ihn tun zu können.

„Was ich mir von dir wünsche, wird gut für uns beide sein …“

„Sprich weiter“, drängte sie.

„Ich wünsche mir, dass du heiratest.“

Sie lachte, begriff erst nach Sekunden, dass er nicht scherzte. Jäh zog sie ihre Hand zurück. „Sir?“

„Hör zu, was dein Vater zu sagen hat, Grace“, mahnte ihre Mutter.

Grace blickte stumm zwischen ihren Eltern hin und her, die zweifellos über dieses Thema gesprochen hatten. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten.

„Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte ihr Vater leise. „Dein Gesellschaftsdebüt war … nicht besonders erfolgreich.“

Wieder lachte sie auf. „Eine Katastrophe trifft es besser.“

„Wir wissen, dass du keine männermordende Schönheit bist.“ Selbst in seinem geschwächten Zustand bewahrte ihr Vater seinen trockenen Humor. „Dennoch hofften wir, dass du einen Mann findest, der Verständnis für deine … Eigenheiten hat. Wir hofften, doch mit jedem Jahr begannen unsere Hoffnungen zu schwinden.“

Grace presste die Lippen aufeinander. Die Tatsache, dass ihre Eltern ihr gescheitertes Gesellschaftsdebüt zur Sprache brachten, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Beide Eltern tolerierten ihre wissenschaftlichen Studien, was allerdings nicht bedeutete, dass sie ihr Interesse schätzten.

Ihr Vater fuhr fort: „Dieser harmlose Kollaps führt mir vor Augen, was aus dir werden soll, wenn ich einmal nicht mehr bin. Das könnte früher geschehen, als uns allen lieb wäre.“

„Lass uns nicht darüber reden.“

„Aber wir müssen.“

„Ich dachte … Charlie könnte mich zu sich nehmen.“ Grace verstand sich gut mit ihrem Bruder, und seine Frau Anne war freundlich zu ihr. Ihre drei Kinder waren eine übermütige Rasselbande, und wenn sie durchs Haus tobten, ging mindestens ein Porzellangefäß zu Bruch.

„Wäre das wirklich ein Leben nach deinem Wunsch?“, fragte ihre Mutter. „Angewiesen auf die Großmut deines Bruders? Ohne Ehemann und eigene Kinder? In Sorge, dass du eines Tages vielleicht kein Dach über dem Kopf hast?“

„Ich …“ Die Brust wurde ihr eng. Von Charlie abhängig zu sein war keine Idealvorstellung. In seiner Familie wäre sie bestenfalls als exzentrische unverheiratete Tante geduldet. Und wenn ihr Bruder vor ihr sterben sollte, konnte sie nur hoffen, dass seine Kinder ihr im hohen Alter das Gnadenbrot nicht verwehrten. Sie würde herumgereicht werden wie ein abgetragener Mantel, zu schade zum Wegwerfen, aber zu alt und verschlissen, um noch nützlich zu sein.

Groll stieg in ihr hoch. Wieso durfte eine Frau in dieser Welt kein eigenständiges Leben führen? Eine Frau war ihr ganzes Leben auf die Gnade eines Mannes angewiesen, war weniger wert, nur weil sie als Frau geboren wurde.

Aber durfte sie ihrem Vater diesen Wunsch abschlagen? Würde sie es übers Herz bringen, ihren kranken bleichen Vater zu enttäuschen?

„Es gibt gewiss jemand in deinem Bekanntenkreis“, sagte ihr Vater, und seine Stimme wurde schwächer. „Einen wohlhabenden Gentleman, den du als Ehemann in Erwägung ziehst.“

„Es gibt niemand …“ Aber das stimmte nicht.

Es gab Mason.

Den charmanten, gut aussehenden, intelligenten Mason, der sie als naturwissenschaftliche Kollegin akzeptierte. Ihre Verliebtheit könnte zu etwas Tieferem, Stärkerem wachsen … Und er war der Sohn eines Viscounts, das ließ sich nicht leugnen. Mit ihm wäre für ihre geistigen und materiellen Bedürfnisse gesorgt. Er wäre der ideale Gemahl für sie.

Bis auf ein kleines Problem. Er zog sie nicht als künftige Gemahlin in Erwägung.

„Bitte“, murmelte ihr Vater, dem die Lider schwer wurden. „Bitte finde einen Ehemann. Tu es für mich.“

Er schloss die Augen, seine Atemzüge wurden flacher, er war eingeschlafen.

„Geh nur, Kind“, flüsterte ihre Mutter. „Ich wache bei ihm. Iss zu Abend, und nimm ein Bad.“ Ihre Miene duldete keinen Widerspruch.

„Wenn du meinst“, sagte Grace. „Aber später übernehme ich die Wache, damit du essen und dich ausruhen kannst.“ Sie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und ging.

Im Korridor sank Grace nach wenigen Schritten in die Knie, schnappte nach Luft, als habe ihr jemand den Ellbogen in den Magen gerammt.

Finde einen Ehemann. Tu es für mich.

Herr im Himmel, sie durfte ihrem Vater diesen Wunsch nicht abschlagen! Aber wie in aller Welt sollte sie einen Ehemann finden, da der einzige Mann, der für sie in Betracht kam, in ihr nichts weiter als eine Kollegin sah?

3. KAPITEL

Sie war spät dran. Sie hatte sich noch nie verspätet.

Seb versuchte, seine Besorgnis zu verdrängen, während er ruhelos vor der Ausstellung in Chelsea auf und ab ging und Passanten beobachtete. Vielleicht war ihr unterwegs etwas zugestoßen. Oder sie war plötzlich krank geworden.

Wenn sie verhindert wäre, hätte Grace ihn das wissen lassen. Seine Besorgnis war gewiss unbegründet. Die Wolken am grauen Himmel verdichteten sich, erste Tropfen fielen auf seine Schultern. Und im nächsten Moment fing es richtig an zu regnen.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Zuflucht im Gebäude zu suchen. Er eilte die Stufen hinauf, wischte sich nach dem strengen Blick des Aufsehers die Stiefelsohlen an der Fußmatte vor dem Eingang ab und zeigte dem Mann die zerknitterte Einladung.

„Die Ausstellung befindet sich im Erdgeschoss“, erklärte der Aufseher und wies mit dem Daumen über die Schulter nach hinten.

„Ich erwarte eine brünette junge Dame“, sagte Seb und nahm den Hut ab. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihr sagen, dass Mr. Holloway bereits in der Ausstellung ist.“

Der Aufseher musterte Sebs schäbigen Gehrock und seine abgewetzten Stiefel. „Wie soll ich wissen, wen Sie meinen? Hier kommen viele junge brünette Damen herein.“

„Sie sieht sehr intelligent aus.“

„Aha. Na dann.“ Der Mann verdrehte die Augen.

„Sie kommt in Begleitung ihres Mädchens.“

„Was Sie nicht sagen, Meister.“

Seb versagte sich eine Zurechtweisung, im Wissen, dass die Dienerschaft meist größeren Wert auf striktes Einhalten der Regeln legte als ihre vornehme Herrschaft.

Nach einem letzten Blick zur Straße begab er sich in die angegebene Richtung. Gedämpftes Stimmengewirr drang in den Korridor.

In dem ehemaligen Speisesaal des stattlichen Herrenhauses hingen an den Wänden lange Reihen gerahmter Illustrationen. Modisch gekleidete Besucher betrachteten die Zeichnungen und Kupferstiche. Seb studierte eingehend die interessante Abbildung eines Meeresbewohners, halb Fisch, halb Oktopus.

„Seltsame Kreatur, nicht wahr?“, ertönte eine weibliche Stimme hinter ihm.

Er richtete sich auf und drehte sich um. Eine blonde Dame mit einem kecken Hut auf dem Kopf lächelte ihn aus großen grünen Augen an. Er schluckte.

Autor

Eva Leigh
Wenn Eva Leigh nicht an einer ihrer packenden Romances schreibt, in denen sie die Zeit des Regency lebendig werden lässt, widmet sie sich ihren Hobbys: Sie liebt es zu backen, zu viel Zeit im Internet zu verbringen und Musik aus den 80ern zu hören. Zusammen mit ihrem Ehemann lebt Eva...
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