Eine fast perfekte Lady

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Nach einem Brand braucht die junge Jessica McGale einen Investor für das Familienunternehmen. Noel Edwards, der vermögende Duke of Rotherby, wäre der ideale Geldgeber. Da ein Duke jedoch niemals mit einer Bürgerlichen verhandeln würde, gibt Jessica sich als Lady Whitfield aus und wird so zu Noel vorgelassen. Der attraktive Adelige interessiert sich nicht nur für die Zusammenarbeit, sondern auch für seine bezaubernde Geschäftspartnerin. Doch wie wird er reagieren, wenn er erfährt, dass Jessica gar keine Lady ist? Dann wäre nicht nur ihre Familie ruiniert, sondern Jessicas Herz für immer gebrochen …


  • Erscheinungstag 21.06.2022
  • Bandnummer 380
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511056
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Eton College, 1797

Was für eine verdammte Ungerechtigkeit!“ Noel Edwards, Lord Clair, drehte sich zu den anderen um. „Wenn jemand wahrhaftig nicht hier sein sollte, dann ich!“

Er sah die vier Jungen aus dem Block E, die, genau wie er, wegen diverser Missetaten zu einem halben freien Tag Hausarrest in der Bibliothek verdonnert worden waren, der Reihe nach an. Jeder von ihnen saß allein an einem der im Raum verteilten Pulte und hatte einen Packen Kanzleipapier vor sich liegen.

Theodore Curtis musterte ihn finster. „Was gaffst du so?“, fragte er unfreundlich.

„Bei dir wundert es mich nicht, dass du hier sitzt“, feuerte Noel zurück. „Bei ihm dagegen schon.“ Mit dem Daumen wies er auf Duncan McCameron, der sich, ganz der souveräne Sportler, vollkommen entspannt auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte. „Bei ihm auch“, fügte Noel mit einem Nicken in Richtung Sebastian Holloways hinzu. Der hoch aufgeschossene, bebrillte Junge blickte erschrocken auf. Es schien ihm Angst zu machen, dass er aufgefallen war.

„Was ist mit mir?“ Die krächzende Stimme William Rowes klang, als käme sie selten zum Einsatz. Sie war so leise, als spräche er aus großer Entfernung.

Noel wandte sich zu Rowe um. Der blasse Junge mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen saß in der hintersten Ecke der Bibliothek, vielleicht, weil er sich absondern wollte, vielleicht aber auch, weil er befürchtete, die anderen mit seinen Eigenheiten anzustecken.

Noel hob die Schultern. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was du den ganzen Tag so treibst.“

„Was du so treibst, weiß ich“, verkündete Rowe mit einem eigenartigen kleinen Lächeln. „Und was die anderen treiben, weiß ich auch. Ich bin nämlich ein Beobachter. Ich kriege alles mit.“ Er tippte sich an die Schläfe.

Nun ja. Bei jemandem, der solche Bemerkungen von sich gab, nahm es nicht wunder, dass die anderen einen großen Bogen um ihn machten.

„Was in Dreiteufelsnamen hat Edding sich bloß dabei gedacht?“ Noel schüttelte den Kopf. „Schriftlich zu erläutern, für wen ich mich halte? Es ist doch vollkommen klar, wer ich bin.“

„Aber ja doch.“ Curtis grinste höhnisch. „Wissen wir. Jeder weiß, wer du bist, weil du es uns in einem fort unter die Nase reibst.“ Er verstellte seine Stimme, wedelte mit den Händen in der Luft herum und erklärte mit übertrieben vornehmem Zungenschlag: „Na los, seht her, ich bin es. Der Erbe eines Dukes.

„Ich rudere nicht so mit Armen herum“, schoss Noel entrüstet zurück. „Und ich rede auch nicht so affektiert.“

„Aber du meinst es so, oder etwa nicht?“, konterte Curtis gedehnt, dann gab er eine weitere Kostprobe gezierter Aussprache. „Los, sei mein Freund! Wir werden jede Menge Spaß haben. Ich bin es, der witzige Clair. Und wer von euch hat jetzt Lust auf eine Runde ‚Wer mich am liebsten mag‘ ?“

„Halt dein verdammtes Maul.“ Noel ballte die Fäuste.

„Sei friedlich.“ McCameron rollte das R, wie es sich für einen Schotten gehörte. „Curtis versucht dich nur aufzustacheln.“

„Er hält mich zum Besten.“ Noel runzelte die Stirn. „Stimmt doch, oder? Ich bin nicht so.“ Unter den Jungen, die an diesem Tag Hausarrest hatten, waren er und McCameron sich am ähnlichsten, und obwohl McCameron nur der jüngere Sohn eines Earls war, genoss er seiner sportlichen Fähigkeiten wegen große Popularität an der Schule.

Noel sah ihn abwartend an, doch McCameron zuckte mit den Schultern.

„Ich finde, du bist wie der Kerl in der Zirkusmanege“, verkündete Rowe mit seiner Rabenstimme. „Der die Pferde und Bären dazu bringt, zu tun, was er will. Alle tanzen nach seiner Pfeife.“

Stirnrunzelnd musterte Noel den Jungen. „Bloß damit sie ein bisschen lachen. Was soll daran falsch sein?“

„Nichts natürlich.“ Rowes Lächeln hatte etwas Gespenstisches. „Aber du bist hier, nicht wahr? Wegen der Sache mit Master Garlow.“

Noels Miene verdüsterte sich. Er reckte trotzig das Kinn. „Der Spaß hat niemandem geschadet.“

Jawohl, der Streich war völlig harmlos gewesen. Noel hatte lediglich ein paar Jungen überredet, zum Schrank des Lehrers zu schleichen und die darin hängenden Kleidungsstücke mit Tinte zu bespritzen, während er Garlow draußen ablenkte, indem er ihm ein paar dumme Fragen über die Konjugation lateinischer Verben stellte.

Als sie erwischt worden waren, hatte sich rasch herausgestellt, dass der Einfall von Noel stammte. Die anderen Jungen hatten die Peitsche zu spüren bekommen, Noel dagegen diese spezielle Strafe. Einen halben freien Tag Arrest in der verdammten Bibliothek.

McCameron musterte ihn abschätzend. „Weißt du, was Kleidung kostet, Clair?“

Noel schnaubte. „Ich … keine Ahnung, ehrlich gesagt“, räumte er ein.

„Drei Monatsgehälter mindestens.“ Die erstaunliche Bemerkung kam von dem normalerweise so zurückhaltenden Holloway. Der daraufhin flammend rot wurde, aber tapfer fortfuhr: „Master Garlows Kleider waren ziemlich fadenscheinig … ich, nun ja, mir fielen die ausgefransten Kragen- und Manschettenkanten auf.“

„Dann ist es ja ein Glück für den Kerl, dass er sich neue Sachen zulegen muss.“ Trotz seiner zur Schau gestellten Großmäuligkeit fühlte Noel sich unbehaglich. Es war eine Empfindung, die er nicht kannte und auch nicht angenehm fand. „Ein paar Monatsgehälter, das ist eine Kleinigkeit.“

„Nicht, wenn jemand arm ist“, widersprach McCameron nüchtern. „Dann zählt jeder Penny. Ich kenne mich aus – ich bin ein jüngerer Sohn, wie du weißt.“ Er zeigte auf sich. „Deshalb gehe ich zum Militär.“

„Spar dir die Mühe“, meldete Curtis sich spöttisch zu Wort. „Wir sind ihm nicht fein genug. Was wir sagen, geht bei ihm zum rechten Ohr hinein und zum linken heraus. Wenn es keine Schmeicheleien sind, schaltet er auf Durchzug.“

Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand mit einer Schaufel auf den Hinterkopf geschlagen. Noel wusste nicht, wie ihm geschah. Sonst wurde er von allen, selbst seinem Vater und seinen jüngeren Geschwistern, unausgesetzt gelobt.

Von diesen vier Jungen nicht.

„Ich verstehe das nicht.“ Er stand auf und sah alle der Reihe nach an. „Warum sagt ihr so etwas zu mir? Wollt ihr nicht meine Freunde sein?“ So wie alle anderen?

Zu seiner Überraschung grinste McCameron. „Wenn du Arschkriecher suchst, wirst du hier keine finden, scheint mir.“

„Jede Gesellschaft hat einen … einen Anführer“, ließ Holloway sich stammelnd vernehmen. „Und jeder Anführer braucht ehrliche Berater.“

„Sonst endet er mit einem Messer im Rücken.“ Curtis lachte wiehernd. „Na, wie ist es, Clair? Sperrst du die Ohren auf, oder willst du …“ Er tat, als würde er von hinten erstochen, gab ein gurgelndes Geräusch von sich und sackte auf seinem Tisch zusammen.

Rowe kicherte. Wieder sah Noel die Jungen der Reihe nach an.

Als er an diesem Morgen in die Bibliothek gekommen war, hatte er es nicht ahnen können, aber vielleicht waren diese so ganz andersartigen Burschen genau das, was er brauchte.

1. KAPITEL

Wiltshire, England,

1817

Dass Jessica McGale in ihrem Element war, wenn Chaos herrschte, hätte man vielleicht nicht unbedingt behaupten können. Dass sie jedes Chaos zu bewältigen wusste, durchaus.

„Sagen Sie Powers Bescheid, dass Ihre Ladyschaft im Three Graces Inn in Basingstoke übernachtet.“ Jessica warf Penny, Lady Cathertons Zofe, einen flüchtigen Seitenblick zu. „Und sorgen Sie dafür, dass Ihre Ladyschaft keinen gebratenen Fasan bestellt. Fasan verträgt sie nicht.“

„Jawohl, Miss McGale.“ Sie hatten die lang gestreckte Ahnengalerie erst zur Hälfte durchmessen, doch in dem Versuch, nicht hinter Jessica zurückzufallen, war Lady Cathertons junge Zofe außer Atem geraten.

Jessica lächelte entschuldigend und verlangsamte ihre Schritte. Manchmal vergaß sie, dass andere Menschen nicht so flink waren wie sie und auch nicht so zielgerichtet.

„Es ist nur ein kurzer Aufenthalt in London geplant“, fuhr sie fort, ohne das kleine Notizbuch zu konsultieren, das in ihrer Schürzentasche steckte. Das Notizbuch war nur eine Absicherung, um nichts Wichtiges zu vergessen. Dabei funktionierte ihr Gedächtnis so zuverlässig wie eine metallene Schließkassette. Und so musste es auch sein. „Wir brauchen nicht mehr als ein Dutzend Kleider.“

„Zusätzlich zu den anderen, die sie mit auf den Kontinent nimmt. Sind in dem Dutzend auch Tageskleider enthalten?“

Jessica widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen, und bog in den Korridor ein, der zu den hinteren Zimmern des Hauses führte. Also ehrlich. Hätte man nicht annehmen sollen, dass die Zofe der jungen, einflussreichen verwitweten Countess of Catherton über das, was ihre Herrin brauchte, im Bilde war? Jessica stand seit vier Monaten im Dienst Ihrer Ladyschaft und war jetzt schon unersetzlich, wie die Countess es auszudrücken beliebte. Zwei Wochen, nachdem sie angefangen hatte, für Lady Catherton zu arbeiten, hatte Jessica es übernommen, der Köchin die nötigen Anweisungen bezüglich der Speisefolgen zu erteilen, die Gartenarbeiten auf dem ausgedehnten Anwesen überwacht und sichergestellt, dass der Tagesablauf Ihrer Ladyschaft im Viertelstundentakt durchgeplant war.

Sie musterte Pennys ängstliches Gesicht. „Nein, sie braucht Tageskleider und Abendroben. Ich nehme sie mit, wenn ich morgen nach London fahre. Der Rest kommt eine Woche später, wenn sie in die Stadt reist.“

„Die eleganten Kleider nehmen Sie mit“, wiederholte Penny halb zu sich selbst und wrang die Hände. „Den Rest Ihre Ladyschaft.“ Sie nickte, wirkte jedoch nicht sonderlich überzeugt.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden die ganze Zeit bei ihr sein.“ Obwohl sie mit den Gedanken schon bei ihrer nächsten Aufgabe war, tätschelte Jessica der Zofe den Arm. Lady Catherton hatte sie beauftragt, ihre Londoner Stadtresidenz für ihren Aufenthalt herzurichten, und es war noch unendlich viel zu erledigen, ehe Jessica am nächsten Morgen aufbrechen würde. „Ich bin sicher, Sie werden alles mit Bravour bewältigen.“

Wenn sie ehrlich war, traute sie Penny, die ihre Haube oft falsch herum auf dem Kopf trug, nicht allzu viel zu. Aber aus irgendeinem Grund war Lady Catherton in diesem Punkt – jedenfalls, was ihr Erscheinungsbild anging – anderer Meinung.

„Ja, Miss McGale. Danke, Miss McGale.“ Penny knickste und hastete davon.

Jessica hatte jeden Penny ihres Gehalts verdient. Aber sie genoss es auch, nützlich zu sein. Probleme zu lösen. Ordnung ins Chaos zu bringen.

Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Mieder und runzelte die Stirn. Schon Viertel nach. Gleich hatte sie eine wichtige Verabredung.

Rasch ging sie zur hinteren Treppe und eilte zu ihrem Zimmer im Dachgeschoss hinauf. Die Tür stand offen, ihr Besuch war also bereits da.

Jessica trat ein und umarmte die Frau, die auf der Bettkante saß.

Cynthia erwiderte die Umarmung. „Wie geht es dir, große Schwester?“ Jessica löste sich von ihr, gerade so weit, dass sie den Blick der goldbraunen Augen, die ihren und denen ihres verstorbenen Vaters so sehr glichen, erwidern konnte. Sie und Cynthia hatten auch das gleiche dunkelblonde Haar und die gleiche Kieferpartie – ein Erbe ihrer verstorbenen Mutter. „Ich weiß, wir hatten verabredet, uns heute zu treffen, aber wenn du zu beschäftigt bist mit den Vorbereitungen für die Reise …“

„Ich habe Zeit für dich. Immer.“ Jessica strich Cynthia über die Wange. „Abgesehen davon breche ich morgen auf, und wenn ich es schaffen soll, noch rechtzeitig vor der Abreise fertig zu werden, müssen wir jetzt reden. Macht es dir etwas aus, wenn ich unterdessen packe?“

Unterdessen?“ Cynthia schnaubte. „Du redest schon wie die feinen Pinkel. Man hört dir gar nicht mehr an, dass du aus Wiltshire stammst.“ Bei ihr selbst war die breite Mundart des Westens, die auch Jessica die meiste Zeit ihres Lebens gesprochen hatte, deutlich zu hören.

„Je mehr Wiltshire man mir anhört, desto weniger zahlt man mir.“ Jessica hatte aufmerksam gelauscht, wenn Lady Catherton und ihre Bekannten sich unterhielten, und lange Nächte damit verbracht, vor dem Spiegel mit sich selbst zu sprechen, bis nur noch ein fast unmerklicher Akzent übrig geblieben war. „Also … Macht es dir etwas aus, wenn ich packe?“

„Das ist meine Jess“, sagte ihre Schwester zärtlich lächelnd. „Außerstande, nur eine Sache auf einmal zu erledigen.“

„Es ist noch so viel zu tun.“ Jessica zog ihre abgenutzte Reisetasche unter dem Bett hervor.

„Und immer noch liest sie Zeitungen.“ Cynthia hielt eine der sechs Zeitungen auf Jessicas Bett in die Höhe, überflog die oberste Seite. „Und wie immer ist die Geldmarktseite angestrichen.“

„Lady Catherton bezieht sie aus London. Ich brauche sie nicht mehr aus der Schankwirtschaft zu holen wie zu Hause.“ Was einer der Vorteile war, wenn man für eine reiche Aristokratin arbeitete – Zugang zu Tageszeitungen, die nicht nur die neuesten politischen und gesellschaftlichen Nachrichten boten, sondern sich, weit bedeutsamer für Jessica, auch mit Finanzen befassten.

Wenn sie abends auf ihrem Zimmer war, pflegte sie sich über die Zeitungen zu beugen und von besseren Zukunft für sich und ihre Familie zu träumen.

Sie schüttelte den Kopf. Jetzt ging es darum, einen Schritt voraus zu sein und sich nicht Fantasien hinzugeben über das, was vielleicht sein könnte. Sie öffnete den kleinen Kleiderschrank, in dem sich ihre bescheidene Garderobe befand, und legte einen Stapel sauberer Hemden in ihre Tasche.

„Bald wirst du in Paris und Berlin leben“, sagte Cynthia schwärmerisch. „In Rom auch?“

„Möglicherweise. Ihre Ladyschaft sagt, sie behält sich vor, hinzufahren, wo immer sie möchte, wann immer sie möchte.“

„Wie aufregend! Aber du scheinst dich nicht sonderlich darüber zu freuen.“

Jessica hielt inne. „Ich wäre froh, wenn ich die Gewissheit hätte, dass das Geschäft in einem ordentlicheren Zustand wäre. Wenn sie mir nur früher über ihre Pläne, im Ausland zu leben, Bescheid gesagt hätte.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Ich hätte McGale & McGale wieder auf die Füße bekommen.“

„Du, ich und Fred versuchen es gemeinsam.“ Cynthias Rüge war sanft.

„Aber ich bin die Älteste“, hob Jessica störrisch hervor. „Als Mutter und Vater starben, war es an mir, mich um dich und Fred zu kümmern. An mir, McGale & McGale am Laufen zu halten. Und wie gut ich das hin bekommen habe.“ Sie warf die Hände in die Luft.

„Erstens“, Cynthia erhob sich vom Bett, „waren Fred und ich keine Wickelkinder, als sie starben. Es ist weniger als ein Jahr her, und soweit ich weiß, liegt die Zeit, da wir am Gängelband gingen, lange zurück. Es ist also unsere gemeinsame Aufgabe. Zweitens“, sie legte Jessica die Hände auf die Schultern, „warst nicht du für das Feuer verantwortlich, bei dem ein Drittel der Farm zum Opfer fiel. Keiner von uns konnte dieses Desaster voraussehen.“

Jessica atmete aus. Lebhafte Bilder erschienen vor ihrem inneren Auge, Erinnerungen daran, wie sie aus dem Schlaf hochgeschreckt war, in der Ahnung, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, und wie sie mit einem Blick aus ihrem Schlafzimmerfenster die Flammen gesehen hatte, die den Nachthimmel in ein grauenhaftes Rot tauchten. Sie hatte Fred ins Dorf geschickt, um die Feuerwehr zu holen, doch als der Löschzug schließlich eingetroffen war, hatten schon etliche Farmgebäude in Schutt und Asche gelegen. Die Hitze der Flammen schien zu einem Teil von ihr geworden zu sein, gleichgültig wie kalt ihre Umgebung auch sein mochte.

Als Folge der Katastrophe hatten die drei McGale-Geschwister sich Arbeit suchen müssen, in der Hoffnung, dass sie genug verdienen würden, um die Farm wieder aufzubauen.

Jessicas Stellung als Gesellschafterin einer Dame von Stand war die einträglichste. Doch da Lady Catherton beschlossen hatte, für eine absehbare Zeitspanne auf den Kontinent umzuziehen, musste sie den Wiederaufbau ihren Geschwistern überlassen. Sie hätte versuchen können, eine andere Stellung zu finden, aber die Countess zahlte so gut, dass es dumm gewesen wäre, zu kündigen.

„Du hast recht, voraussehen konnten wir es nicht, aber wir wissen, woran wir sind“, erwiderte Jessica düster. „Wenn wir die Farm nicht bald wieder aufbauen, werden wir alles verlieren. Das Geschäft, das Land, unser Zuhause. Und ohne die Farm und das Haus sind du und ich und Fred wurzellos und werden auseinandergetrieben wie Bocksbartsamen im Wind.“

„Wir werden einander nicht aus den Augen verlieren.“ Ein Hauch Unsicherheit war in Cynthias Stimme zu hören.

„Wo sollen wir hin, ohne das Haus? In alle Himmelsrichtungen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, niemals wieder vereint unter einem Dach.“ Jessica rieb sich die Stirn. „Wie soll ich mich nach Paris davonmachen, wenn wir in einer so verzweifelten Lage sind? Es ist meine Aufgabe, für uns als Familie zu sorgen. Und ich komme ihr nach. Ich schwöre es.“

Für eine Generation war McGale & McGale das Herzblut der Familie gewesen. Jessicas Eltern hatten die Wintermonate damit verbracht, hochwertige Seife herzustellen und zu verkaufen. Seife, in der der Honig, den die Bienen der McGales gesammelt hatten, verarbeitet wurde. Zwei Jahrzehnte lang hatten sie die begrenzte Produktion in Läden verkauft, die innerhalb eines Dreißigmeilenradius lagen.

„Dieses verdammte Feuer“, murmelte Jessica vor sich hin. „Und ich war gerade dabei, mir zu überlegen, wie wir expandieren und unsere Ware in London und Manchester verkaufen können, wenn wir es geschafft hätten, der Nachfrage gerecht zu werden.“

„Und dann das Feuer“, sagte Cynthia bedrückt.

„Es hat sämtliche meiner Pläne zerschlagen.“ Die Familie hatte davon geträumt, die am härtesten arbeitenden Bürger Britanniens mit hochwertiger Seife zu versorgen, und dieser Traum drohte zu zerplatzen. „Aber wir geben nicht auf. Es ist noch nicht vorbei. Ich kriege das schon hin.“

„Wie willst du das schaffen?“ Cynthia sah sie fragend an. „Sei mir nicht böse, Jessica, aber dazu brauchte es ein Wunder, und Wunder sind in der Regel rar.“

Entschlossen trat Jessica zu der kleinen Kommode, in der sie ihre Bücher und andere wichtige Gegenstände aufbewahrte. Sie holte einen Stapel duftender, in Papier verpackter McGale & McGale Honigseifenstücke daraus hervor, die sie für sich mitgenommen hatte.

Eines davon hochhaltend, sagte sie voller Entschiedenheit: „Morgen wird McGale & McGale London erobern. Ich spreche bei jedem Ladeninhaber in der Bond Street vor und preise ihm unsere Honigseife an. Wir brauchen Geld für eine Vorauszahlung, um alles so weit vorbereiten zu können, dass wir die anfängliche Nachfrage befriedigen können. Danach flattern die Bestellungen nur so herein, und wir bauen die Farm wieder auf.“

Zweifel gestattete sie sich nicht. Selbst als ihre Eltern noch gelebt hatten, war Jessica diejenige gewesen, an die sie sich gewandt hatten, wenn etwas getan werden musste. Sie führte die Bücher, handelte Preise aus, sowohl für die Getreideernte als auch die Materialien für die Seifenproduktion. Sie tat, was immer nötig war, und sie machte ihre Sache gut.

„Oh, Jessica.“ Cynthia ergriff ihre Hände. „Wenn jemand es schafft, dann du.“

„Ich halte meine Versprechen, Cynthia.“

Jessica atmete tief durch. Ihr Plan musste funktionieren. Ihre Familie zählte auf sie. Sie konnte sie nicht im Stich lassen.

2. KAPITEL

London

Mit den Jahren hatte Noel eine sehr wichtige Lektion gelernt: Um die Loyalität eines Freundes zu testen, gab es nichts Besseres als eine Runde Boxen. Ohnehin getrauten sich nur Mitglieder seines engsten Kreises, ihm einen Fausthieb zu versetzen. Die Mitläufer, Speichellecker und Schleimer waren nicht so mutig.

Noel duckte sich unter McCamerons rechter Geraden weg, schaffte es jedoch nur knapp. Er konterte mit einem Haken gegen den Körper – den sein Freund abwehrte, ehe er unversehens einen Gegenschlag auf Noels Kinn landete. Der Treffer war so hart, dass Noel Sterne sah.

„Schon den Jungen!“, rief Curtis von der Zuschauerbank. „So ein Duke hat Muskeln aus Porridge.“

„Hör auf … mit diesem … verdammten Duke“, keuchte Noel wankend.

McCameron war kaum außer Atem, verdammt sollte er sein. Aber andererseits hatte er schon immer eine wahnsinnige sportliche Leistungsfähigkeit gehabt, und obwohl Noel dreimal die Woche mit seinem Freund boxte, war McCameron einfach der bessere Sportler. Es erschien Noel alles andere als fair, aber er war ein Duke, der nicht weniger als acht Häuser sein eigen nannte, war ein Vertrauter Lord Liverpools und besaß mehr Geld als drei Erzbischöfe zusammen. McCameron dagegen verfügte nur über die bescheidene Zuwendung eines jüngeren Sohns und die Pension, die er sich im Dienst Seiner Majestät erworben hatte. Ein kleiner Ausgleich immerhin.

Doch als Noel eine linke Gerade zu schlagen versuchte, ging sie daneben.

McCameron machte einen Satz rückwärts und hob die umwickelten Hände. „Du riskierst einen K.-o.-Schlag“, sagte er in schottischer Mundart. „Zeit für eine Pause. Wenigstens für mich“, fügte er hinzu, als Noel Anstalten machte zu widersprechen. „Ich brauche eine Auszeit, um mich zu erholen, ehe du mir meine verdienten Prügel verabreichst.“

„Hör auf, mir … zu schmeicheln.“

Noel bückte sich und stützte die Hände auf die Oberschenkel, damit die Welt aufhörte, sich um ihn zu drehen.

„Tue ich nicht“, widersprach McCameron leichthin. „Schmeicheleien kriegst du von den Kerlen, die dir hier und in London an den Fersen kleben, genug.“

Das stimmte. „Aber nur zehn Minuten“, kam Noel ihm entgegen. „Dann machen wir weiter.“

„Wie Sie wünschen, Euer Gnaden.“ McCameron grinste.

„Wenn ich könnte“, erwiderte Noel, „würde ich jetzt eine ziemlich rüde Handbewegung machen.“

„Die vielleicht?“ Curtis streckte einen Finger in die Luft und bewies, dass er, sofern er nicht vor Gericht auftrat und seine Klienten verteidigte, immer noch der Raufbold war, als den man ihn schon in Eton gekannt hatte.

Noel nickte. „Jawohl. Genau die.“

McCameron und er kletterten aus dem Ring und traten zu Curtis, der jedem von ihnen ein nasses Handtuch gab. Noel zerrte die Umwickelungen von seinen Handgelenken und ließ sie auf den Boden fallen. Dann nahm er das Handtuch, wischte sich die Stirn ab und legte es sich um den Nacken. Wasser rann ihm den Rücken hinunter, doch mit dem locker sitzenden Hemd, das ihm auf der schweißnassen Haut klebte, merkte er es kaum.

„Heute hattest du wohl Lust auf eine Tracht Prügel.“ McCameron entledigte sich seiner Umwickelungen und schob sich das feuchte Haar aus der Stirn. „Normalerweise bist du höchstens eine Dreiviertelstunde im Ring, nicht zwei Stunden.“

„Ging nicht anders. Es dauert mindestens eine Woche, ehe ich wieder herkommen kann.“ Noel sah sich um. Um diese Zeit des Tages war die Boxakademie voll mit Gentlemen, die entweder gegeneinander boxten oder mit Gewichten trainierten. Schweißgeruch hing in der Luft, ein Beweis, dass selbst Aristokraten stanken. „Ich muss im Voraus trainieren, um die annähernd bewegungslosen fünf Tage des Bazaar zu überbrücken.“

Curtis legte den Kopf schräg. „Bazaar? Was war das noch gleich?“

Noel verdrehte die Augen. „Ich muss es dir jedes Jahr wieder erklären.“

„Und jedes Jahr vergesse ich es wieder.“

„Unglaublich bei einem Mann, der zwei Dutzend Mandanten auf einmal verteidigt.“ Noel schüttelte den Kopf. „Der Bazaar ist eine fünftägige Zusammenkunft von reichen Aristokraten in der Stadtresidenz des Marquess of Trask, bei der Investitionsmöglichkeiten erörtert werden. Trask bringt eine sorgfältig ausgewählte Gruppe ehrgeiziger Männer aus dem Handel zusammen – sowie ein paar wenige Frauen –, die Kapital brauchen, um ihre Unternehmen zu vergrößern.“

„Warum willst du hin?“ Curtis schüttelte den Kopf. „Es ist ja nicht so, dass du das Geld brauchst. Du bist reicher als der verdammte Papst.“

„Mein Vermögen verdanke ich nur zum Teil meinen Ländereien“, erklärte Noel. „Der Rest stammt aus Investitionen, Aktien und Termingeschäften. Ich fühle mich für die fiskalische Gesundheit meines Titels verantwortlich und für die Nation. Lach nicht so blöde“, meinte er, als Curtis zu kichern anfing.

„Ich kann nichts dafür. In ganz London gibt es keinen schlimmeren Schurken.“

„Natürlich nicht“, entgegnete Noel unwirsch.

„Und trotzdem verkehrst du mit den einflussreichsten Finanzgrößen des Landes.“

„Ich kann eben beides“, schnauzte Noel ihn an. „Und ich gehöre nicht zu denen, die sich zurücklehnen und zusehen, wie ihr Geld sich vermehrt, ohne nach seiner Herkunft zu fragen. Auf dem Bazaar erfahre ich, was ich wissen muss, welche Unternehmen die profitabelsten sind und welche unethisch handeln. Ich bin einflussreich …“

„Jedenfalls versuchst du uns das weiszumachen“, warf McCameron trocken ein.

„Und andere wichtige Leute orientieren sich an mir“, sprach Noel unbeeindruckt weiter. „Also gebe ich das, was ich während des Bazaar erfahre, an vertrauenswürdige Freunde weiter.“

„Und da dachte ich, wir wären deine vertrauenswürdigen Freunde“, spöttelte Curtis gnadenlos. „Stattdessen müssen wir nun erfahren, dass es andere gibt, die du uns vorziehst. Eine Schande.“ Er setzte eine schmollende Miene auf, verdarb die Wirkung jedoch mit seinem Grinsen.

„Mach nicht so ein Theater“, sagte Noel. „Für euch bin ich doch immer noch der verwöhnte Junge aus der Bibliothek von Eton.“

„Verwöhnter Junge stimmt nicht ganz“, meldete McCameron sich zu Wort. „Eher schon verwöhnter feiner Pinkel.“

„Du bist herzlich eingeladen, etwas Unanständiges mit deinem Knie anzustellen“, meinte Noel fröhlich.

McCameron ließ einen knatternden Darmwind entweichen. „Egal. Du fährst also zu dem Treffen, richtig? Machst einen auf tugendhaften Duke … bis zu einem gewissen Grad jedenfalls.“

„Nur mäßig tugendhaft“, wiegelte Noel ab. „Und wie Curtis es vor zwanzig Jahren so unvergleichlich wortgewandt zu formulieren beliebte: Man kriecht mir in den Arsch. Also kann ich mit der Macht, die mit meiner Stellung einhergeht, genauso gut etwas Vernünftiges bewirken.“

Er verdankte es seinen Freunden, dass er diese Lektion mit vierzehn Jahren gelernt und sie in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten nicht vergessen hatte. Als er mit dreiundzwanzig der Duke of Rotherby geworden war, hatte er sich zweierlei vorgenommen: auf Teufel komm heraus Spaß zu haben und seinen Rang nicht zu missbrauchen.

Beides hatte er bemerkenswert gut hinbekommen.

Und trotz seines rasanten Lebens genoss er die Freundschaft dieser vier Männer – Männer, die ihn nie als Mittel zum Zweck betrachten, nie falsches Spiel mit ihm treiben, sondern, im Gegenteil, ihm gegenüber immer so ehrlich sein würden, wie sie es untereinander waren. Weil er sie hatte, blieb er zurechnungsfähig und geerdet, während der Rest seines Lebens sich so schnell drehte wie ein Brummkreisel.

Das hätte er natürlich niemals laut gesagt. Trotzdem wussten sie, was er für sie empfand, und er, was sie für ihn empfanden.

„Und jetzt ab in den Ring“, wandte er sich grinsend an McCameron. „Damit wir uns nach Herzenslust verprügeln können. Dafür sind Freunde schließlich da.“

Jessica schwirrte förmlich vor Energie, und der summende Verkehr der Großstadt erschien ihr wie ein Widerhall ihres inneren Zustands. Modisch gekleidete Fußgänger bevölkerten die Bürgersteige, und auf der Straße raste eine glänzende Kutsche hinter der anderen vorbei, alle gezogen von gleichermaßen glänzenden Pferden. Es war eine Schande, dass Cynthia all dies nicht sehen konnte, zumal sie eine Vorliebe für Mode und das Gesellschaftsleben hatte.

Zügig und gleichmäßig ausschreitend, ging Jessica durch die Bond Street. So gern sie vor den Schaufenstern stehen geblieben wäre, um sich die funkelnden Waren hinter den Scheiben anzuschauen, sie hatte etwas zu erledigen.

Denn jede der so überaus elegant gekleideten Personen in dieser Gegend stellte eine Gelegenheit dar. Und die Seifenstücke von McGale & McGale, die sie in ihrem Retikül verstaut hatte, waren der Schlüssel zu diesen Gelegenheiten, und die Möglichkeit, ihre Familie zusammenzuhalten.

„Daley’s Emporium“, las sie die majestätischen weißen Buchstaben auf dem marineblauem Schild halblaut vor sich hin. Sie hatte ihr erstes Ziel erreicht. Vor Aufregung schlug ihr Herz plötzlich viel zu schnell. Sie trat ein, und die Glocke über der Ladentür bimmelte hell.

Dann stand sie in einem Raum mit Glasvitrinen, in denen die Waren kunstvoll arrangiert waren. Flakons mit Eau de Toilette, Porzellantiegel mit raffinierten Cremes, ausgefallene Scheren und Klingen für die Haar- und Bartpflege und sämtliche Geräte, die man für eine Maniküre brauchte.

Der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte, als sie weiterging. Ein einzelner Gentleman mit einem glänzenden Zylinderhut stöberte in den Regalen, zwei Damen mit indisch gemusterten Umschlagtüchern beugten sich murmelnd über einen Lockenstab.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Madam?“

Jessica wandte sich um und sah sich einem Gentleman gegenüber, dessen Haar so hell war, dass es fast farblos wirkte. Wie erwartet, war seine Garderobe zurückhaltend und gepflegt, genauso, wie ein Verkäufer, der die Crème de la Crème bediente, gekleidet sein musste.

„Ich würde gern mit dem Gentleman sprechen, der für den Einkauf zuständig ist.“

„Dann sind Sie ganz richtig bei mir. Ich bin Charles Daley, zu Diensten.“ Er machte eine Verbeugung.

Sie streckte die Hand aus. „Miss Jessica McGale. Es ist mir ein Vergnügen, Mr. Daley.“ Als er ihre Hand ergriff und sie schüttelte, fuhr sie fort: „Als ich nach London kam, erkannte ich, dass Sie mein erster Ansprechpartner sein müssen. Denn ich bin hier, um Ihnen und Ihrem Geschäft ein fabelhaftes Angebot zu machen.“

„Und welches Angebot wäre das?“ Daley ließ eine Braue in die Höhe schnellen.

„Das erste Geschäft in London zu sein, dass seine Kunden mit der besten Seife ganz Englands versorgt.“ Sie holte eines der eingewickelten Seifenstücke aus ihrem Retikül. Der Duft von Honig umwehte sie und Mr. Daley, als sie es ihm hinhielt. „Dies, Mr. Daley, ist Seife von McGale & McGale. Hergestellt in Wiltshire, und von so überragender Qualität, dass französische Seife im Vergleich dazu gewöhnlich wirkt.“

Sie machte eine auffordernde Handbewegung, und Mr. Daley nahm das Seifenstück vorsichtig entgegen. „McGale & McGale? Nie davon gehört.“

„Unser Absatzmarkt war begrenzt“, erläuterte Jessica bereitwillig. „Aber wir sind für die exzellente Qualität unseres Produkts bekannt. Prüfen Sie selbst, und Sie werden sehen, dass ich die Wahrheit sage. Ich lade Sie ein, eine Duftprobe zu machen.“

Der Geschäftsinhaber hob sich das Seifenstücke an die Nase und atmete ein. Sein Mienenspiel wechselte von misstrauisch zu angetan. „Honig.“

„Unsere Seife ist mit dem Honig unserer eigenen Bienen hergestellt. Der ihr nicht nur einen köstlichen, von Männer ebenso wie von Frauen geschätzten Duft verleiht, sondern die Haut auch glatt und zart macht und darüber hinaus für hervorragende Schaumentwicklung sorgt.“ Sie zog eine Flasche und eine kleine Schale aus ihrer Tasche, stellte sie auf die Vitrine neben ihr. „Gestatten Sie?“

Sie wickelte die Seife aus, goss ein wenig Wasser in die Schale und bedeutete Mr. Daley, sich die Hände einzuseifen.

Zweifel standen in der Miene des Mannes, doch dann, als er tat, wie ihm geheißen, verwandelte sich sein Gesichtsausdruck in Überraschung. „Sie schäumt in der Tat sehr angenehm.“

„Und nach dem Gebrauch fühlen sich Ihre Hände weich an, nicht ausgetrocknet. Sehen Sie her.“ Sie streifte einen Handschuh ab und hielt Daley ihre Hand hin. „Ich benutze die Seife mehrmals am Tag, und meine Haut ist das ganze Gegenteil von rau.“

Der Geschäftsinhaber besah sich ihre Hand. „Sie haben recht. Wie verhält es sich mit den Kosten?“

„Wir geben sie für einen halben Penny pro Stück ab.“

„Hört sich vernünftig an.“

„Genauso gut wie französische Seife, aber viel preiswerter.“

Daley nickte, und Jessica gab sich einen Ruck. Obwohl sie Angst davor hatte, musste sie die Sache ansprechen. „Ich werde offen sein, Mr. Daley. Vor einigen Monaten brach bei uns ein Feuer aus, und wir müssen Reparaturen vornehmen. Aber mit einem kleinen Kapitalvorschuss könnten wir nicht nur bald wieder unser früheres Herstellungsvolumen erreichen, sondern es sogar übertreffen und die Nachfrage Ihrer Kundschaft befriedigen. Denn Nachfrage wird es geben.“

„Mit anderen Worten, ich müsste Ihnen Geld vorschießen, damit Sie unsere Bestellungen ausführen könnten.“

Sein ironischer Ton gefiel ihr nicht, doch sie behielt ihren freundlichen, offenen Gesichtsausdruck bei. „Es wäre keine große Summe …“

„Es tut mir leid, meine Dame“, unterbrach er sie knapp. „Aber das geht nicht. Daley’s Emporium pflegt nicht für Waren zu bezahlen, die noch nicht einmal hergestellt sind. Ihre Seife ist in der Tat außergewöhnlich, und ich bin sicher, wir würden eine stattliche Menge davon verkaufen, aber es gehört nicht zu unserem Geschäftsgebaren, Vorauszahlungen zu leisten in der Hoffnung, dass unser Lieferant die Abmachungen auch einhält.“

Jessica kam nicht dazu, ein Gegenargument anzubringen, denn Mr. Daley fuhr fort: „So gut wie alle unsere Waren werden von Mitgliedern der höchsten Kreise Englands empfohlen. Der Earl of Blakemere benutzt ausschließlich Rasierseife, die er aus unserem Geschäft bezieht. Die Countess of Pembroke schickt einmal im Monat ihre Zofe wegen unseres Parfüms ‚Mayfair Blütenessenz‘ vorbei, weil es nur bei uns erhältlich ist.“

„Ein hochwertiges Produkt spricht für sich und braucht nicht unbedingt einen adligen Kunden“, wandte Jessica ruhig ein, während sie sich innerlich fühlte, als griffe sie nach einem Strohhalm.

„Das stimmt, aber bei einem unbekannten Hersteller, wie Sie es sind, würde ein aristokratischer Kunde einiges bewirken können.“ Mr. Daley maß sie mit einem mitfühlenden Blick und gab ihr das Seifenstück zurück. „Es tut mir leid. Ihre Seife ist in der Tat außergewöhnlich, aber solange Sie nicht liefern können und ohne einen namhaften Unterstützer hat sich die Sache erledigt.“

„Ich verstehe.“ Jessica reichte ihm ein kleines Handtuch, an dem er sich die Hände abtrocknete, und wickelte anschließend die Seife darin ein. Dann verpackte sie umsichtig Flasche und Schale, und spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. „Darf ich wiederkommen, wenn ich Ihre Anforderungen erfülle?“

„Selbstverständlich. Es wäre mir ein Vergnügen.“ Sein Blick glitt zur Tür.

Es war Zeit für sie zu gehen. Sie deutete einen Knicks an. „Danke für Ihre Zeit, Mr. Daley.“

„Ich wünsche Ihnen Glück, Miss McGale.“

Sie nickte, zwang sich zu lächeln, dann ging sie hinaus.

Es war nicht das Resultat, das sie sich erhofft hatte, aber es war auch nicht zu erwarten gewesen, dass sie es beim ersten Versuch schaffte, in die Riege der Lieferanten eines der gefeiertsten Geschäfte Londons aufgenommen zu werden. Zum Glück konnte sie der Aufgabe weiterhin ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden, da Lady Catherton noch auf dem Lande weilte. Und wenn es etwas half, würde sie jeden Laden einzeln abklappern. Sie würde einen Weg finden, McGale & McGale zu retten.

3. KAPITEL

Es war etliche Stunden später. Jessica trat auf den Bürgersteig und lauschte dem Klingeln der Ladenglocke, als die Tür hinter ihr zufiel und ihre Hoffnungen begrub. Für einen kurzen Moment stand sie reglos am Bordstein und starrte mit leerem Blick auf den unablässigen Strom eleganter Flaneure und ebenso eleganter Kutschen, der sich in beiden Richtungen durch die Bond Street wälzte.

Niemanden hier interessierte es, dass sie den Tag damit verbracht hatte, in jedem geeigneten Laden vorzusprechen in dem Versuch, Händler davon zu überzeugen, Honigseife von McGale & McGale für ihre geschätzte Kundschaft zu bestellen, und ein ums andere Mal eine Absage erhalten hatte.

Was Mr. Daley gesagt hatte, hatten zahllose andere Ladeninhaber wiederholt. Keiner war bereit gewesen, die Mittel für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen, und ohne Kunden aus der obersten Gesellschaftsschicht oder ausreichend finanzielle Mittel, um ihre Seife im ganzen Land bekannt zu machen, würde das Familiengeschäft eingehen.

Jessica versuchte ruhig zu atmen, doch das Geräusch erinnerte sie an das Klappern eines baufälligen Schuppens im Sturmwind. Sie blinzelte heftig, versuchte die Tränen zurückzudrängen. Nein, sie würde nicht in aller Öffentlichkeit zu weinen anfangen, auf der Bond Street, umgeben von den reichsten und elegantesten Bewohnern der Stadt. Doch all die hohen Biberhüte der Männer und die bortenbesetzten Spenzer der Frauen verstärkten in ihr nur das Gefühl, dass sie es nicht schaffen würde. Nicht schaffen konnte. Niemals.

Wie sollte sie es Fred und Cynthia beibringen?

„Aber, Euer Gnaden …“, hörte sie jemand auf der Straße hinter ihr mit fast flehendem Unterton sagen. „Warten Sie, Euer Gnaden …“

Ihre Gedanken zerstoben, als sie die kleine Menschentraube entdeckte, die auf dem Bürgersteig in ihre Richtung kam. Sie bestand aus vier höchst geschmackvoll gekleideten Männern, die wie Planeten um den fünften in ihrer Mitte kreisten wie um ein zentrales Himmelsgestirn und um die Aufmerksamkeit dieser Sonne buhlten.

Als sie einen Blick auf den Mann im Zentrum des Sonnensystems erhaschte, begriff sie, weshalb.

Es gab Männer, die eine zurückhaltende Attraktivität besaßen, dazu angetan, eine Frau allmählich für sie einzunehmen. Männer, bei denen es einen zweiten Blick brauchte, ehe man die Schönheit der Kieferpartie oder der Lippen entdeckte. In Gegenwart eines solchen Mannes fühlte man sich wohl, fast so, als glitte man in ein warmes Bad.

Anders bei diesem Mann. An seinem Aussehen war nichts zurückhaltend. Er war aufsehenerregend attraktiv, in einem Maß, dass Jessica fast gereizt reagierte. Als hätte er sich selbst Schönheit verliehen, nur um jedermann wissen zu lassen, wie gut das Leben es mit ihm meinte.

Er hatte eine vollkommene Kieferpartie und Lippen wie reife Sommerfrüchte – zum Anbeißen schön. Seine Nase passte perfekt zu seinen maskulinen Zügen, und über den dunklen Augen, in denen Intelligenz und Scharfsinn standen, wölbten sich dichte dunkle Brauen. Er hatte nicht die Größe eines Riesen, aber einen schlanken, sehnigen Körper, den sein Schneider gewiss zu schätzen wusste, weil er die tadellos gearbeitete Garderobe hervorragend zur Geltung brachte.

Er strahlte Tatkraft und Lebendigkeit aus, außerdem die Art Gesundheit und Schliff, die nur daher rühren konnte, dass er zu bekommen pflegte, was er wünschte, wann immer er es wünschte. Dieser Mann hatte Geld. Er hatte Macht. Jeder weit ausgreifende Schritt, den er machte – wiewohl die Leute, die sich um ihn drängten, ihn behinderten –, kam einer wortlosen Erklärung gleich, dass alles in seiner Umgebung ihm gehöre.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, wie Jessica erkannte, jemanden zu begehren und ihn gleichzeitig abzulehnen.

„Entschuldigen Sie“, wandte sie sich an eine vorbeigehende Dame. „Können Sie mir sagen, wer dieser Mann ist?“

Die perlenbehängte Frau in mittleren Jahren schnaubte verächtlich, als betrachtete sie nicht nur Jessicas Frage als beleidigend, sondern auch die Tatsache, dass ihr die Identität des auffälligen Mannes nicht bekannt war.

„Dieser Gentleman“, erklärte sie von oben herab, „ist Seine Gnaden, der Duke of Rotherby. Schauen Sie genau hin, junge Frau, denn mehr als einen Blick aus der Ferne wird Ihnen von ihm nie vergönnt sein.“ Unübersehbar zufrieden mit dem Rüffel, den sie erteilt hatte, segelte sie davon, gefolgt von ihrem Lakaien, der einen Stapel Schachteln auf den Armen balancierte.

In ihrer Verblüffung merkte Jessica nicht einmal, dass man sie beleidigt hatte. Natürlich wusste sie, wer der Duke of Rotherby war. Immerhin las sie seit Jahren Artikel über ihn in den Zeitschriften und Zeitungen. Wenn über ihn geschrieben wurde, dann stets in atemlosem Ton, dass er eine prächtige Figur in der Gesellschaft abgab, samt und sonders bewundert wurde und dass seine Anwesenheit bei einer Veranstaltung deren Erfolg sicherstellte. Jessica wusste, dass er seinen Titel in jungen Jahren geerbt hatte, doch darauf, dass er ein außerordentlich gut aussehender Mann in seinen besten Jahren war, wäre sie nie gekommen.

Die Männer, die den Duke umschwirrten, wetteiferten um seine Beachtung. Ihre Stimmen übertönten einander und vereinigten sich zu einer Kakophonie vornehmer Wortfetzen. Er beantwortete Fragen, doch der schurkische – nein, verwegene – Humor, der in seinen Augen aufblitzte, fesselte Jessicas Aufmerksamkeit. Er schien im Besitz eines ungezogenen Geheimnisses zu sein, und, zum Teufel noch eins, sie wollte wissen, welches es war.

Als er und seine Gefolgsleute fast auf ihrer Höhe waren, hörte sie einen der Männer fragen: „Werden Sie heute Abend beim Ball von Viscount Marwood zugegen sein?“

„Kommt darauf an“, erwiderte der Duke gedehnt, und natürlich hatte er eine köstlich tiefe Stimme, die sich anhörte wie Schotter auf Samt. „Erst einmal schauen wir, ob das Eheleben Marwoods ungezügelte Impulse gedämpft hat.“

„Dann gehen Sie hin, wenn er gezähmt ist?“

Der Duke hob eine Braue. „Um Gottes willen, nein. Andererseits, wenn er träge geworden ist durch das Eheleben, könnte ein bisschen Aufregung das Richtige sein.“

„Was halten Sie von Buxtons Tafelsilber-Manufaktur, Euer Gnaden? Ich glaube es könnte eine lohnende Investitionsmöglichkeit sein.“

Jessica kannte den Namen Buxton durch ihre tägliche Zeitungslektüre. Der Mann war eine einflussreiche Größe in der Wirtschaft, doch dem Duke eine derartige Frage zu stellen kam ihr merkwürdig vor. Zumal er eindeutig jemand zu sein schien, dessen Leben dem Vergnügen geweiht war und der wahrscheinlich keinerlei Interesse an finanziellen und kommerziellen Angelegenheiten hatte.

„Zurzeit würde ich davon abraten“, antwortete der Duke zu ihrer großen Verwunderung. „Die Produktion stagniert, und sie kommen mit den Lieferungen nicht nach.“

Wer hätte das gedacht.

Der Mann, der die Frage gestellt hatte, ließ ein Schnauben vernehmen. „Glaube ich nicht. Buxton persönlich sagte vor zwei Wochen, dass er Dutzende Arbeiter eingestellt hat, um gewährleisten zu können, dass die Lieferungen nicht gefährdet sind.“

„Der Duke hat recht.“ Erst als der Duke und seine Begleiter wie angewurzelt stehen blieben und sich zu ihr umdrehten, wurde Jessica bewusst, dass sie laut gesprochen hatte. Hölle und Teufel.

„Entschuldigen Sie, Miss“, wandte einer der Gefolgsleute sich mit herablassendem Lächeln an sie. „Aber Sie sprechen über eine Angelegenheit, von der eine junge Frau mit bescheidenen Mitteln nichts versteht.“

„Und die Sie nichts angeht“, fügte der Erste hinzu. „Als Frau, die Sie sind.“

„Aber Sie irren sich“, beharrte Jessica unbeeindruckt, um im nächsten Moment festzustellen, dass sich ihr Blick mit dem des Duke verfangen hatte. Und trotz der Entfernung von mehreren Fuß fühlte es sich so an, als wären ihre Körper fest aneinandergepresst. Es war so, als würde sie in die dunkle, warme Tiefe eines nächtlichen Sees gezogen, in dem sie womöglich ertrinken, die Luft zum Atmen jedoch nicht vermissen würde.

Der Duke hob die Brauen, eine vage Herausforderung im Blick. „Fahren Sie fort, Miss.“ Die Botschaft seiner Worte war unmissverständlich. Sie haben sich in diese Lage hineinmanövriert, und nun bin ich gespannt, wie Sie es schaffen, hinauszukommen. „Lassen Sie uns wissen, warum ich recht habe.“

Zur Hölle damit. Den ganzen Tag hatte sie sich anhören müssen, dass sie sich irrte und ihre Tatkraft in die falschen Bahnen leitete. Nun plötzlich wurde es außerordentlich wichtig, dem Duke und den Männern, die ihm nicht von der Seite wichen, zu beweisen, dass sie sehr wohl wusste, wovon sie sprach.

„Bei dem Unwetter vor drei Tagen brach ein Teil des Dachs von Buxtons anderem Betrieb ein“, erklärte sie ruhig. „Der Möbelfabrik in Lambeth.“ Der Duke nickte langsam.

„Wir reden von seiner Tafelsilber-Manufaktur“, erklärte ihr der erste Mann in einem Ton, als wäre sie ein Kind. „Die sich übrigens in Croydon befindet. Das Unwetter kann schließlich nicht beide Betriebe beschädigt haben.“

„Das ist richtig.“ Sie sprach so sachlich, wie sie nur konnte, da die Männer ihr beim geringsten Hinweis auf Gefühle in ihrer Stimme umgehend unter die Nase gerieben hätten, dass sie viel zu emotional wäre. „Aber Buxton hat fast die Hälfte seiner Arbeiter aus der Tafelsilber-Manufaktur zu den Wiederaufbauarbeiten an der Möbelfabrik abgezogen. Und wenn so viele Arbeiter in der Tafelsilber-Manufaktur fehlen, wird es unmöglich sein, den Liefertermin einzuhalten. Deswegen“, schloss sie nüchtern, „hat der Duke recht, und es ist keine gute Entscheidung, in den Betrieb zu investieren. Jedenfalls nicht im Augenblick. Ende des Sommers könnte es schon wieder anders aussehen. Dann fangen die Kunden an, die Weihnachtsdinner zu planen.“

Plötzlich war es, als stünde der gesamte Verkehr auf der geschäftigen Bond Street still. Das Schweigen, das ihren Ausführungen folgte, schien Kreise zu ziehen, sodass selbst der Hufschlag der Pferde gedämpfter klang. Die Männer, die um den Duke herumstanden, starrten sie offenen Mundes an, der Duke selbst lächelte.

Es war ein umwerfendes Lächeln. Strahlend und selbstsicher und ein ganz kleines bisschen sinnlich. Doch was ihr den Atem stocken ließ, war die aufrichtige Bewunderung in seinen Augen. Er tippte sich an die Hutkrempe, was angesichts ihres Rangunterschiedes nichts weniger als erstaunlich war.

Heißes Verlangen schoss in ihr empor – ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Nun ja, so lange war es auch nicht her, immerhin war sie verlobt gewesen. Oliver und sie hatten sich von klein auf gekannt, waren in dieselbe Schule gegangen, hatten drei Bänke entfernt voneinander in der Kirche gesessen. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war langsam gewachsen, hatte sich mehr wie eine warme Decke angefühlt denn wie eine verheerende Feuersbrunst. Selbst sein Liebesspiel, nach dem sie beschlossen hatten zu heiraten, hatte sie als genügsam und sanft in Erinnerung.

Als er seinen Heiratsantrag zurückgezogen hatte, hatte er ihr nicht wirklich gefehlt. Ihr Körper verlangte nach Berührung und Erfüllung, aber beides hatte sie bei Oliver kaum bekommen. Also hatte sie sich auf eine Zukunft ohne Sinnlichkeit eingestellt. Nicht dass sie es sich so gewünscht hätte, aber es gab Dinge im Leben, die man akzeptieren musste.

Doch jetzt, mitten auf der Bond Street, schoss ihr die Röte ins Gesicht, und sie war sich der Gegenwart des Duke intensiver bewusst als der aller Männer, denen sie je begegnet war.

„Sie sind ein veritabler Falke unter Tauben, Miss“, sagte er leise.

„Soll heißen, Euer Gnaden?“, hörte sie sich fragen.

„Dass Sie eine fähige Jägerin sind im Gegensatz zu diesem Stall voller Beute.“ Mit seinen langen, wohlgeformten Fingern schnippte er in Richtung der Männer, die ihn begleiteten. „Haben Sie Mitleid mit ihnen und fressen Sie nicht mehr als ein oder zwei.“

Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. „Ich kann nichts dafür, wenn sie so leicht zu verschlingen sind. Allerdings ist mir das Fleisch zu fade.“

Er lachte, ein warmes, heiseres Lachen. „Äußerst schlagfertig.“

Sie wollte etwas erwidern, doch plötzlich kam Leben in die Gruppe um den Duke und eine Reihe weiterer Mitläufer gesellte sich zu den bereits vorhandenen.

„Euer Gnaden“, erscholl es aus vielen Kehlen. „Wenn Sie einen Moment Zeit hätten, Euer Gnaden.“

Die Menschentraube wälzte sich wie eine Flutwelle über den Bürgersteig und nahm den Duke mit sich. Er warf einen Blick zurück.

„Euer Gnaden!“, rief sie ihm hinterher. Vielleicht hatte er einen Ratschlag für sie, einen Tipp, wie sie den schwierigen Londoner Markt knacken konnte.

Doch im Lärm der zahllosen anderen Forderungen nach seiner Aufmerksamkeit ging ihre Stimme unter. Und im nächsten Moment war er fort, davongetragen von der Menschenmenge.

Jessica stand allein auf dem Bürgersteig, den Blick auf die Stelle gerichtet, an der er gestanden hatte.

Der heutige Tag in der Bond Street war ein Rückschlag gewesen, aber sie würde sich nicht geschlagen geben. Sie hatte keine Zeit für Tändeleien mit einem Duke.

Vielleicht würde sie sich eines Tages, wenn sie alt war, zärtlich an dem Moment, da sie mit ihm geflirtet hatte, erinnern. Im Augenblick jedoch brauchte sie einen Brandy und musste allein sein.

Sie hatte das Foyer des gemieteten Stadthauses kaum betreten, als der Butler erschien. „Ein Brief ist für Sie eingetroffen, Miss McGale.“

Sie nahm die Nachricht vom Wandtisch beim Eingang. Die schmale Schreibschrift war eindeutig die von Lady Catherton.

Jessica ging mit dem Brief hinauf in ihr Zimmer. Sie erbrach das Siegel und runzelte die Stirn, als sie eine gefaltete Pfundnote in dem Schreiben fand.

Miss McGale,

bei einem unglücklichen Zwischenfall beim Aussteigen aus der Kutsche im strömenden Regen habe ich mir eine Verstauchung des Fußknöchels zugezogen. Dem Arzt zufolge ist der einzige Weg, eine vollständige Heilung zu erzielen, strikte Ruhe. Ich darf den Knöchel nicht belasten, keine ruckartigen Bewegungen machen, und das für zwei Wochen.

Das Ganze ist über die Maßen ärgerlich, weil mein Plan, vor der Abreise auf den Kontinent noch für ein paar Tage nach London zu kommen, damit hinfällig ist.

Leider ist das Stadthaus bereits gemietet. Es wäre widersinnig, Sie hierher zurückkehren zu lassen, zumal wir von London aus in See stechen. Darum habe ich beschlossen, dass Sie in der Stadt bleiben werden, wo ich Sie nach überstandener Erholung treffe. Ich habe eine Pfundnote für unverhoffte Ausgaben, die Sie vielleicht während dieser Zeit haben werden, beigefügt, doch ich mahne zur Sparsamkeit und gehe davon aus, den Restbetrag zurückzuerhalten, wenn wir uns in London wiedersehen.

Beste Grüße usw.

Lady C

Eine geschlagene Minute starrte Jessica auf den Briefbogen, um zu verarbeiten, was sie gelesen hatte.

Sie hatte noch Zeit. Der heutige Tag war ein Schlag ins Wasser gewesen – mit Ausnahme des kurzen Zwischenspiels mit dem Duke –, aber sie konnte ihre kurze Gnadenfrist nutzen und sich etwas ausdenken, um McGale & McGale zu retten.

Ihr Blick fiel auf die Zeitung, die auf ihrem Nachttisch lag. Sie hatte sie am Morgen gelesen, und eine einzelne Zeile aus dem Geldmarkt war ihr noch im Gedächtnis.

In zwei Tagen beginnt in der Londoner Residenz des Marquess of Trask die jährliche Investorenversammlung, die unter Eingeweihten als der Bazaar bekannt ist.

Sie griff nach dem Blatt und folgte den Zeilen, in denen es um den Bazaar ging, ein ums andere Mal mit dem Finger, bis ihr Druckerschwärze an der Haut klebte und der Satz unlesbar geworden war.

Sie war in London, wenn der Bazaar stattfand. Wenn sie eine Möglichkeit fand, hineinzukommen und Englands wohlhabendsten und einflussreichsten Anlegern ihr Familiengeschäft als eine Investitionsmöglichkeit anpreisen konnte, würde sie es vielleicht schaffen, McGale & McGale zu retten. Alles, was sie brauchte, war ein Investor. Eine Person, die an das Vorhaben glaubte.

Aber bekanntermaßen war es schwierig, ein Geschäftsunternehmen auf dem Bazaar zu präsentieren. Die Bewerbungsprozedur konnte Jahre dauern. Sie hatte nicht jahrelang Zeit. Höchstens ein paar Tage.

In achtundvierzig Stunden würde sie sich zur Stadtresidenz des Marquess of Trask begeben und sich irgendetwas ausdenken, um hineinzugelangen. Es würde nicht einfach werden, aber sie war gewillt, jedes bisschen ihrer Überzeugungsfähigkeit zu nutzen, um Zutritt zu erhalten. Sobald sie in den inneren Kreis vorgestoßen war, konnte sie willigen Anlegern ihr Geschäftsmodell präsentieren.

Sie sah an sich hinunter. Ihr Kleid war sauber und adrett, doch wahrscheinlich erwartete man eleganteste Garderobe als Zeichen von Wohlstand und Respekt. Leider war dieses Kleid Jessicas bestes Stück.

Aber vielleicht konnte sie sich eines von Lady Cathertons Kleidern ausborgen. Nur für ein paar Stunden.

Wie hatte der Duke sie doch gleich genannt? Einen Falken. Gar nicht so schlecht, denn sie würde ihr ganzes jägerisches Können bei dem Bazaar zum Einsatz bringen.

„Etwas zügiger, meine Herren“, verlangte Noel über die Schulter gewandt. Er betrat das Foyer der Spielhölle und lächelte. „Wenn ihr trödelt, könnten sie ihre Meinung ändern und euch auffordern zu gehen.“

„Vielleicht setzen sie auch dich vor die Tür, und zwar auf den Hintern“, sagte Curtis, der mit ihm Schritt hielt.

Ohne das Tempo zu verlangsamen, schoss Noel seinem Freund einen ungläubigen Blick zu. „Wir reden über mich.“

„Richtig“, warf McCameron trocken ein. „Euer Mistige Gnaden.“

Und Euer Mistige Gnaden War Es, Der Mich In Die Exklusivste Spielhölle Londons Mitgenommen Hat, vielen Dank auch.“ Noel blieb auf der Schwelle des größten Kartenzimmers der Spielhölle stehen. Das Etablissement war so beliebt, dass es nicht einmal einen Namen hatte. Dennoch standen die Besucher vor dem Eingang Schlange.

Noel musste nie in einer Schlange warten und stellte sicher, dass seine Freunde mit ihm zusammen hereinkamen. Vergnügen war am schönsten, wenn man es teilte.

Morgen begann der Bazaar, und obwohl er sich auf neue Möglichkeiten ethisch einwandfreier Investitionen freute, würde er auf seine zügelloseren abendlichen Vergnügungen verzichten müssen, um tagsüber konzentriert sein zu können. Heute war er mit seinen Freunden hierhergekommen, um alles mitzunehmen, was er der Nacht an Spaß und Genuss entreißen konnte.

Es ging auf ein Uhr zu, doch dem Gedränge in dem saalartigen Kartenzimmer nach zu urteilen, hätte die Sonne hoch am Himmel stehen können. Männer in Abendgarderobe und juwelenbehängte Frauen standen Seite an Seite an den Tischen, an denen Hazard, vingt-et-un und Faro gespielt wurden.

Noel nickte der überirdisch blonden Dame zu, die den Club betrieb, woraufhin diese mit dem Finger schnippte und ein Kellner mit einem Tablett Champagnergläser herbeieilte. Sie nahm dem Angestellten das Tablett ab und kam auf Noel zu.

„Cassandra“, begrüßte er sie warmherzig, als sie vor ihm stand. „Wie schaffst du es, noch schöner zu sein, als die Diamanten all dieser Damen? Du überstrahlst sie um ein Vielfaches.“

„Euer Gnaden schmeicheln mir.“ Sie reichte Champagnerflöten herum, erst ihm, dann Curtis, McCameron und Rowe. „Sie planen heute Abend, ordentlich abzuräumen?“

„Was das angeht, bin ich noch unentschieden, aber auf jeden Fall möchte ich meinen Freunden einen großartigen Abend bieten.“ Grinsend prostete er dem Trio zu, das den unfassbar teuren Champagner trank. „Gebt euch Mühe, mich nicht in Verlegenheit zu bringen, Jungs.“

Rowe schüttelte den Kopf. „Wir kämen nicht auf die Idee.“

„Wieso auch, wenn du in diesem Punkt selbst ganze Arbeit leistest“, stichelte McCameron gut gelaunt.

Cassandras Brauen schossen in die Höhe. Fraglos war sie schockiert, dass der Duke jemandem solche Freiheiten gestattete.

Noel grinste nur. „Undankbares Pack. Ich lade euch heute Abend ein. Ohne Begrenzung des Betrages. Keine Widerrede“, fügte er hinzu, als alle drei Anstalten machten, Einwände zu erheben. „Es war meine Idee, hierherzukommen, und es ist meine Aufgabe, sicherzustellen, dass ihr euch amüsiert. Also gebt Ruhe.“

„Ich bringe Ihnen die Jetons, Euer Gnaden.“ Cassandra sank in einen Knicks, dann eilte sie davon.

Autor

Eva Leigh
Wenn Eva Leigh nicht an einer ihrer packenden Romances schreibt, in denen sie die Zeit des Regency lebendig werden lässt, widmet sie sich ihren Hobbys: Sie liebt es zu backen, zu viel Zeit im Internet zu verbringen und Musik aus den 80ern zu hören. Zusammen mit ihrem Ehemann lebt Eva...
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