Gefährliches Spiel mit dem Duke

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Seit ihre Familie in Ungnade fiel, arbeitet Lady Freya de Moray unter falschem Namen als Gesellschafterin. Schockiert trifft sie bei einer Landpartie ausgerechnet den Mann wieder, der schuld ist an ihrer Lage: Christopher Renshaw, Duke of Harlowe. Ihr Puls rast, sie will ihn büßen lassen für das, was er ihrer Familie antat! Aber Harlowe ist so arrogant wie unwiderstehlich attraktiv. Mehr noch als nach Rache sehnt Freya sich bald ungewollt nach seinen sinnlichen Küssen – und riskiert damit nicht nur ihre Entdeckung, sondern vor allem auch ihr Herz. Denn Harlow verfolgt ebenfalls eine geheime Mission …


  • Erscheinungstag 15.07.2022
  • Bandnummer 141
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511162
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Wie alles begann:

Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein mächtiger Prinz,

der nur ein Kind hatte, eine Tochter.

Sie war schön, hochmütig und verwöhnt,

und ihr Name war Rowan …

Aus: „Der Wechselbalg von Grey Court“

Mai 1760

London, England

Hätte man Freya Stewart de Moray im Alter von zwölf Jahren gefragt, was sie wohl fünfzehn Jahre später tun würde, hätte sie drei Dinge aufgezählt.

Erstens würde sie ein Pamphlet schreiben, in dem sie darlegte, dass weibliche Wesen wesentlich intelligenter waren als männliche Wesen, vor allem wenn es sich bei den männlichen Wesen um Brüder handelte.

Zweitens würde sie so viel Himbeer-Trifle essen, wie sie Lust hatte.

Und drittens würde sie Spaniels züchten, denn dann hätte sie stets endlos viele Welpen, mit denen sie spielen konnte.

Mit zwölf hatte sie Welpen wirklich sehr gern gehabt.

Aber das war, bevor sich die Greycourt-Tragödie abgespielt hatte, die ihre Familie auseinandergerissen und fast ihren ältesten Bruder Ran umgebracht hatte.

Nach dieser Tragödie war alles anders gekommen.

Was vermutlich der Grund dafür war, warum Freyas zwölfjähriges Ich sich niemals hätte vorstellen können, was sie wirklich mit siebenundzwanzig tun würde: als Agentin für den jahrhundertealten Geheimzirkel der Weisen Frauen zu arbeiten.

Freya eilte durch die Straßen von London in Richtung Wapping Old Stairs. An der letzten Kreuzung hatte sie bemerkt, dass sie verfolgt wurden. Sie blickte auf ihre Schützlinge. Betsy war ein Kindermädchen, das gerade erst zwanzig geworden war. Das Mädchen war knallrot und keuchte, ihr mausbraunes Haar fiel ihr über die feuchten Wangen, und ihre Augen waren schreckgeweitet. In den Armen hielt das Kindermädchen Alexander Bertrand, den Siebten Earl of Brightwater.

Er war gerade einmal anderthalb Jahre alt.

Glücklicherweise schlief Seine Winzige Lordschaft in Betsys Armen tief und fest, mit rosigen Wangen und leicht gespitztem Mündchen.

Hinter ihnen marschierten zwei zwielichtige Gestalten, die sehr danach aussahen, als hätten sie es auf Freya und ihre Schützlinge abgesehen.

Freya überlegte fieberhaft, wie sie den beiden entkommen konnte. Es war ein sonniger Tag. Möwen kreischten über den Straßen von Wapping. Sie und Betsy gingen parallel zur Themse entlang, die sich nur wenige Blocks entfernt befand, sodass der üble Gestank vom Fluss über allem lag.

Sie schätzte, dass es nicht einmal mehr eine viertel Meile bis zu Wapping Old Stairs war. Jetzt, um diese Tageszeit, war viel los auf den Straßen. Fuhrwagen ratterten an ihnen vorbei, gefüllt mit Gütern aus fremden Ländern, die im Hafen von London angekommen waren. Vornehm gekleidete Händler und Kapitäne wurden von schwankenden Seeleuten angerempelt, die schon zu tief ins Glas geschaut hatten. Frauen aus der Arbeiterschicht bemühten sich, den Matrosen aus dem Weg zu gehen, während die Straßenmädchen sie anzulocken versuchten.

Freya warf noch einmal einen Blick hinter sich.

Sie waren immer noch da.

Die beiden Männer hatten vielleicht einfach nur denselben Weg. Oder aber Gerald Bertrand, Alexanders Onkel väterlicherseits, hatte sie geschickt, mit dem Auftrag, den kleinen Earl zurückzubringen. Wenn sie ihn in die Finger bekamen, hätte Freya keine zweite Chance, das Kleinkind zu retten.

Es konnte sich bei den Gestalten aber auch um Dunkelders handeln.

Freyas Puls beschleunigte sich bei diesem Gedanken. Die Weisen Frauen wurden schon seit Langem von den Dunkeldern gejagt – widerwärtige, abergläubische Fanatiker, die von den Weisen Frauen wussten und sie für Hexen hielten, die man verbrennen sollte.

Wenn ihre Verfolger Dunkelders oder Bertrands Männer waren, musste sie schnell handeln, sonst würden sie es niemals bis zu ihrem Ziel schaffen.

„Was ist?“, fragte Betsy außer Atem. „Warum schauen Sie sich immer um?“

„Wir werden verfolgt“, antwortete Freya, gerade als eine große schwarze Kutsche um die Ecke bog und wegen der überfüllten Straße im Schneckentempo auf sie zu fuhr.

Betsy stöhnte und zog Seine Lordschaft wieder etwas höher.

Auf der Tür der Kutsche befand sich ein goldenes Wappen, das Freya nicht kannte. Wobei es eigentlich auch egal war. Sie mussten sich in Sicherheit bringen und vor den Männern verstecken. Welcher Adlige auch immer in der Kutsche saß, Freya war überzeugt davon, dass sie ihn ein, zwei Minuten würde aufhalten können.

Mehr brauchte sie nicht.

Sie griff nach Betsys Arm. „Lauf!“

Freya sauste hinter die Kutsche und zog Betsy mit sich. Einer der Männer, die sie verfolgten, stieß einen Fluch aus, und die Kutsche kam abrupt zum Stehen.

Auf der Seite, die die Verfolger nicht einsehen konnten, zog Freya das Kindermädchen zur Tür, riss sie auf und schob Betsy samt Kind hinein. Anschließend hüpfte Freya hinterher und schlug die Tür hinter sich zu.

Sie landete auf Händen und Knie und schaute auf.

Betsy saß auf dem Boden der Kutsche und starrte ängstlich auf einen großen, senffarbenen Hund, der das Mädchen überrascht zu betrachten schien. Wie durch ein Wunder war Alexander, der winzigste Earl im ganzen Land, nicht aufgewacht.

Der Gentleman neben dem Hund bewegte sich. „Ich bitte um Verzeihung?“

Zumindest sagte er das. Was er aber eindeutig meinte, war, „Was zum Teufel?“

Freya wandte den Blick von dem Hund ab und schaute in himmelblaue Augen, die von dichten schwarzen Wimpern eingerahmt wurden. Entspannt in die Polster gelehnt, die Beine bis zur gegenüberliegenden Bank ausgestreckt, saß Christopher Renshaw, der Duke of Harlowe.

Der Mann, der mitgeholfen hatte, ihren Bruder Ran zu zerstören.

Freya stockte der Atem, sie senkte den Blick und entdeckte etwas anderes.

Der Mistkerl trug Rans Siegelring.

Entsetzt sah sie wieder auf und wartete darauf, dass er ihren Namen rief. Dass er ihre wahre Identität preisgab, nachdem sie sich fünf lange Jahre lang in London versteckt hatte.

Stattdessen blieb seine Miene vollkommen ungerührt, als er fragte: „Wer sind Sie?“

Er erkennt mich nicht.

Er und Julian Greycourt waren Rans beste Freunde gewesen. Er hatte sie ihr Leben lang jede Woche gesehen, bis es zur Tragödie auf Greycourt gekommen war. Sie hatte sogar einmal geschworen, sie würde den Mistkerl heiraten. Okay, da war sie zwölf gewesen, und die Sache auf Greycourt, bei der er nicht ganz unschuldig daran gewesen war, dass Ran fast ermordet worden wäre, war noch nicht passiert, aber trotzdem.

Er erkennt mich tatsächlich nicht.

Was für ein absolutes Arschloch.

Freya richtete ihre Haube und funkelte den Duke böse an. „Sie sind nicht Lady Philippa“, improvisierte sie.

Der Duke hob die Augenbrauen. „Ich …“

„Was“, herrschte Freya ihn ärgerlich an, „tun Sie in Lady Philippas Kutsche?“

Besagte Kutsche ruckelte und setzte die Fahrt fort, als Alexander wimmernd erwachte.

Draußen hörte man einen Mann fluchen.

Freya behielt ihren Kopf wohlweislich weiterhin unterhalb des geöffneten Fensters.

Jemand hämmerte gegen die Kutschentür.

Harlowe sah von Freya zu Betsy und dem Baby und wieder zu Freya.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, stand er auf.

Freya erstarrte.

Betsy und das Baby schluchzten.

Harlowe beugte sich über Freya und blickte aus dem Fenster, ehe er es schloss und die Gardine zuzog. Danach setzte er sich wieder. Fast unmerklich nickte er einmal, legte eine Hand auf den Kopf des Hundes und meinte gelassen: „Ich weiß nicht, in was für Schwierigkeiten Sie stecken, oder warum diese Kerle hinter Ihnen her sind.“

Freya öffnete den Mund und überlegte verzweifelt, was für eine Geschichte sie ihm auftischen konnte.

Der Duke hob eine Hand. „Und es ist mir auch völlig egal. Ich bringe Sie nach Westminster. Danach sind Sie auf sich gestellt.“

Harlowe bot ihnen seine Hilfe an, zwei Fremden? Das ergab keinen Sinn, wenn es sich um den Mann handelte, der Ran so kaltherzig im Stich gelassen hatte.

Aber sie hatte keine Zeit, über seine Launen nachzudenken.

„Ich danke Ihnen“, sagte Freya, auch wenn ihr die Worte nur widerwillig über die Lippen kamen. „Aber das wird nicht nötig sein.“ Sie sah zu Betsy. „Ich springe heraus, sobald die Kutsche das nächste Mal langsamer wird. Ich möchte, dass du bis zwanzig zählst und mir dann folgst.“

„Was ist mit dem Kind?“, unterbrach der Duke sie gebieterisch. „Sie wollen die beiden doch sicherlich nicht in Gefahr bringen, indem Sie ihr befehlen aus der fahrenden Kutsche zu springen?“

„Dann halten Sie sie für sie an“, erwiderte Freya zuckersüß.

Eine Sekunde lang trafen sich ihre Blicke. Er wirkte zornig. Ganz offensichtlich war er es nicht gewohnt, von anderen Befehle zu erhalten – schon gar nicht von Frauen.

Tja, Pech gehabt.

Freya beugte sich zu Betsy und flüsterte ihr ins Ohr: „Denk dran in Richtung Wapping Old Stairs zu gehen und halte nach einer Frau Ausschau, die einen schwarzen Umhang mit grauer Kapuze trägt.“

„Was ist mit Ihnen“, flüsterte Betsy verzweifelt.

Freya richtete sich auf und schenkte dem Mädchen ein aufmunterndes Lächeln. „Ich finde euch, keine Angst.“

„Oh, Miss …“

Freya schüttelte entschieden den Kopf, gab dem kleinen Earl einen Kuss auf seine süße mollige Wange und zwinkerte dem Duke zu. „War mir ein Vergnügen, Euer Gnaden.“

Dann sprang sie aus der Kutsche.

Sie stolperte, als sie auf dem Kopfsteinpflaster aufkam, und eine Sekunde lang dachte sie entsetzt, sie würde unter die Räder der Kutsche geraten.

Aber sie rappelte sich schnell wieder auf.

Im selben Moment hörte sie hinter sich einen Mann brüllen.

Freya raffte mit beiden Händen ihre Röcke zusammen und rannte los. Sie bog in eine Seitenstraße ein, die in Richtung Fluss führte.

Hinter sich hörte sie laute, eilige Schritte – sie wurde verfolgt.

Kurz entschlossen duckte sie sich in eine enge Gasse und blieb abrupt stehen. Am anderen Ende stand der zweite Mann.

Freya wirbelte herum.

Ihr erster Verfolger war nicht mehr weit entfernt.

Sie flitzte unter einem Torbogen durch und geriet in einen kleinen Hinterhof, der von allen Seiten von Gebäuden umgeben war. Der Gestank des öffentlichen Aborts überwältigte sie fast. Gerade als sie vor sich den Hinterausgang eines Wirtshauses entdeckte, wurde die Tür von einem Mann geöffnet, der einen Eimer Schmutzwasser ausschüttete.

Freya rannte die Stufen hoch, drängte sich an dem Mann vorbei und eilte in eine dampfende Küche. Zwei Küchenmädchen schauten überrascht auf, als sie einfach hindurchlief. Der Mann an der Hintertür rief ihr verärgert etwas hinterher.

Auf einmal stand sie in einem dunklen Flur. Nach rechts führte eine Treppe nach oben, geradeaus befand sich der Schankraum. Sie konnte versuchen, sich in einem der Räume im ersten Stock zu verstecken, aber dort säße sie dann in der Falle. Wenn sie sie bis nach oben verfolgten, gab es kein Entkommen.

Also rannte Freya durch den Schrankraum, wo man ihr, abgesehen von einer obszönen Bemerkung, kaum Beachtung schenkte. Als sie aus dem Wirtshaus herausgeschossen kam, lag vor ihr der Hafenkai. Das Wasser der Themse glitzerte hübsch in der Sonne, was allerdings eine ziemliche Täuschung war: der Abort, an dem sie gerade vorbeigelaufen war, wurde direkt in den Fluss abgeleitet.

Freya wandte sich nach links und hastete nach Osten, den Fluss zu ihrer rechten Seite. Sie ging jetzt schnellen Schrittes, weil ihr vom Laufen schon die Lunge wehtat. Ihre Verfolger waren noch nicht aus dem Wirtshaus herausgestürmt gekommen. Vielleicht hatte sie sie ja abgehängt.

Vielleicht hatten sie Betsy und das Kind erwischt.

Oh Gott, bitte nicht.

Eine Gestalt tauchte aus der Gasse direkt vor ihr auf. Freya zuckte zusammen, ehe sie Betsy erkannte. Vor Erleichterung wäre sie fast über ihre eigenen Füße gefallen.

Das Kindermädchen sah sie mit ängstlichen Augen an. „Oh, dem Himmel sei Dank, dass ich Sie gefunden habe, Miss. Wenn Mr. Bertrand und seine Männer mich geschnappt hätten, weiß ich nicht, was er getan hätte.“

„Dann sollten wir zusehen, dass das nicht passiert“, erwiderte Freya resolut. Sie blickte auf den Earl und sah, dass er sie mit einem Daumen im Mund angrinste. Sie presste die Lippen aufeinander. „Nein, ich werde nicht zulassen, dass auch nur einer von euch wieder in seine Hände gerät.“

Hinter ihnen brüllte wieder jemand.

Sie waren entdeckt worden.

„Beeil dich!“, rief Freya und fing wieder an zu laufen. Sie konnte die Gasse, durch die man zu Wapping Old Stairs gelangte, bereits sehen.

Betsy betete leise vor sich hin.

Sie würden es nicht schaffen. Die Treppe war zu weit entfernt, die Männer hinter ihnen zu nahe.

„Gib mir das Baby“, sagte Freya.

„Madam?“ Betsy war fast außer sich vor Angst, doch sie gehorchte Freya.

Freya schlang die Arme um den kleinen Körper von Alexander. Er begann zu weinen, sein offener Mund feucht an ihrem Hals. „Lauf zur Treppe!“

Der Last des kleinen Lord Brightwaters enthoben, raste Betsy davon.

Der Earl schrie Freya ins Ohr, er zappelte, und sein kleines Gesichtchen war vor Unmut gerötet. Wenn die Männer sie einholten, wäre sie nicht in der Lage, sie abzuwehren, solange sie das Kleinkind im Arm trug. Sie würde Alexander verlieren. Sein Onkel würde ihn hinter dicken Mauern verstecken, geschützt durch Wachen und Gesetze, die von Männern gemacht worden waren, und sie würde niemals wieder an ihn herankommen.

Vor ihnen, am Anfang der Gasse, die zu den Treppen führte, tauchte eine Gestalt auf. Eine kleine Gestalt in einem schwarzen Umhang mit grauer Kapuze.

Sie hob die Arme, in jeder Hand eine Pistole.

Freya ließ sich zu Boden fallen und landete dabei hart auf der Schulter, damit das Kind nicht zu Schaden kam.

Die Schüsse wurden gleichzeitig abgefeuert und hallten so laut in der Gasse wider, dass Lord Brightwater zu weinen aufhörte. Sein Mund stand offen, und mit weit aufgerissenen Augen schnappte er nach Luft.

Er blinzelte Freya mit Tränen in seinen großen braunen Augen an.

Freya küsste ihn, ehe sie hinter sich schaute.

Einer der Männer war zu Boden gegangen und fluchte. Der andere hatte die Beine in die Hand genommen und war geflohen.

Als Freya wieder aufsah, kam die Crow auf sie zu. Der schwarze Umhang mit der grauen Kapuze ließ die Erscheinung tatsächlich wie eine Krähe aussehen. Der Name Crow passte also perfekt. „Ihr seid zu spät.“ Sie reichte Freya eine Hand, um ihr aufzuhelfen.

„Danke“, murmelte Freya und ergriff die Hand.

Zusammen eilten sie zu den Treppen.

Betsy war bereits da und lag schluchzend in den Armen einer elegant gekleideten Dame mit einem Schönheitsfleck über der Oberlippe.

„Alexander!“ Die Frau drehte sich zu ihnen um.

Der Earl of Brightwater begann, in Freyas Armen zu zappeln. „Mama.“

Freya reichte den Jungen seiner Mutter.

„Oh, mein kostbarer Liebling.“ Die verwitwete Countess of Brighwater drückte ihr einziges Kind an sich und küsste seine Wange. Mit leuchtenden Augen sah sie zu Freya. „Vielen Dank. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Ich dachte, ich würde Alexander nie wiedersehen.“

Diese Angst der Countess wäre fast Wirklichkeit geworden: ihr Schwager, Mr. Bertrand, hatte ihr den Zugang zu ihrem Sohn verweigert, um sowohl die Countess als auch das Gut, das seinem kleinen Neffen vererbt worden war, unter Kontrolle zu haben.

Freya nickte, aber ehe sie genügend Luft geholt hatte, um zu antworten, sagte die Crow: „Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden, Mylady. Wir wissen nicht, ob noch mehr Männer kommen.“

Lady Brightwater nickte und ging mit Betsy zur Treppe. Freya sah, dass unten ein kleines Boot wartete.

„Lady Brightwater und ihre Bediensteten haben eine Passage auf einem Schiff in die Kolonien gebucht“, murmelte die Crow. „Dort wird sie nicht länger dem Einfluss ihres Schwagers unterliegen.“

„Gut“, erwiderte Freya leise. „Ein Kind sollte niemals ohne eine liebende Mutter aufwachsen, wenn es sich verhindern lässt.“

Die Crow legte den Kopf zur Seite und sah Freya an. Doch dann meinte sie nur: „Kommen Sie heute um Mitternacht zu den Stallungen. Ich habe Nachricht bekommen.“

Sie drehte sich um und lief die Treppen hinunter.

Freya holte tief Luft. Ihr Teil des Auftrags war ausgeführt. Sie sah zu, wie die kleine Gesellschaft in das Boot stieg, und der Bootsführer sie von den Stufen abstieß. Betsy hob zum Abschied die Hand.

Freya winkte zurück. Vermutlich würde sie weder Betsy noch den süßen Earl und seine Mutter jemals wiedersehen, aber zumindest wusste sie, dass sie in Sicherheit waren.

Und das war das Wichtigste.

Christopher Renshaw, der Duke of Harlowe, starrte aus dem Fenster seiner Kutsche, als er zum Londoner West End fuhr.

Sein Morgen war wie die meisten anderen gewesen, seit er nach England zurückgekehrt war – langweilig –, bis eine kleine Wildkatze in seine Kutsche gesprungen war. Er schaffte es nicht, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Sie war wie ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht gewesen: schockierend, aber auch belebend. Und wie ein Schwall Wasser hatte sie ihn zum ersten Mal seit Monaten richtig aufgeweckt.

Vielleicht sogar seit Jahren.

Die Frau hatte ihn vom Boden aus böse angefunkelt – aus wunderschönen grünen Augen mit goldenen Sprenkeln – und hatte ihn herausgefordert, trotz der nicht gerade vorteilhaften Position zu seinen Füßen.

Es war verblüffend gewesen.

Faszinierend.

Seitdem er vor zwei Jahren überraschenderweise den Titel eines Dukes geerbt hatte, war er daran gewöhnt, dass er aufgrund seines Standes mit Ehrfurcht, Katzbuckelei und offener Gier behandelt wurde. Wenige, wenn überhaupt jemand, betrachteten ihn noch als lebendes, atmendes Wesen.

Und niemand behandelte ihn herablassend.

Außer der kleinen Wildkatze.

Sie hatte ein schlichtes braunes Kleid und eine von diesen allgegenwärtigen weißen Hauben getragen, deren Rüschen ein gewöhnliches Gesicht umrahmt und sowohl die Haarfarbe als auch die Frisur verborgen hatten.

Sie hätte die Tochter eines Gastwirtes oder Fischhändlers sein können, und hätte sie den Mund nicht geöffnet, hätte er auf eine derbe Umgangssprache getippt. Stattdessen hatte er aus ihren Worten eine gute Erziehung und einen schottischen Einschlag herausgehört.

Und dann war da noch dieser giftige Blick gewesen, mit dem sie ihn bedacht hatte. Als würde sie ihn kennen und hätte Grund, ihn zu hassen.

Tess wurde gegen sein Bein gedrückt, als die Kutsche um eine Ecke bog.

Geistesabwesend legte Christopher eine Hand auf ihren Kopf und rieb die weichen Spitzen der Ohren zwischen seinen Fingern. „Vielleicht ist sie verrückt.“

Tess winselte und legte ihm eine Pfote aufs Knie.

Christophers Mundwinkel hoben sich leicht. „Wie auch immer, ich bezweifle, dass wir sie je wiedersehen.“

Er seufzte und blickte erneut aus dem Fenster der Kutsche. Sie waren am Covent Garden vorbei und hatten Jackman’s Club fast erreicht. Nachdem er den Vormittag in den Lagerhäusern von Wapping verbracht hatte, um zu überwachen, wie ein Schiff beladen wurde, gefolgt von einem ermüdenden Nachmittag in der Innenstadt, wo er sich mit anderen Geschäftsmännern beraten hatte, dürstete es Christopher nach einem Kaffee und einer ruhigen Stunde, in der er ungestört Zeitung lesen konnte.

Und zwar, wie immer, allein.

Jahrelang war er aus diesem Land verbannt gewesen. Hatte stattdessen in einem fremden Land mit ganz anderen Sehenswürdigkeiten, Gerüchen und Menschen gelebt. Und während der ganzen Zeit – dreizehn Jahre lang – geglaubt, dass sich bei seiner Rückkehr nach England, seinem Geburtsort, alles ändern würde.

Dass er sich daheim fühlen würde.

Nur war er bei seiner Rückkehr mit einem viel zu bedeutenden Titel konfrontiert worden. Seine Eltern waren tot, Freundschaften kaputt. Und in den riesigen Herrenhäusern, die jetzt ihm gehörten, hallten nur seine einsamen Schritte wider.

England war nicht länger sein Zuhause. All das, was er sich hier hätte aufbauen und lieben können, war verloren gegangen, während er seine Jugend in Indien verbracht hatte. Jetzt war es zu spät, um noch ein Zuhause zu finden.

Er gehörte nirgendwo dazu.

Fünf Minuten später betrat Christopher zusammen mit Tess Jackman’s Club. Der uniformierte Lakai an der Tür blinzelte, als er den Hund neben Christopher erblickte, war aber zu gut geschult, um Einwände zu erheben.

Es hatte auch gewisse Vorteile, Duke zu sein.

Jackman’s war modern, aber nicht zu modern, und wurde von Gentlemen frequentiert, die in Indien oder anderswo im Ausland gelebt hatten. Die Auswahl der Zeitungen war eine der besten in der Stadt, und einer der Hauptgründe, warum Christopher hier Mitglied geworden war.

Er fand einen Sessel in der Nähe des Kamins, ließ sich von einem Diener das Fenster hinter sich öffnen, und war schon schnell in die neuesten Nachrichten vertieft, eine Kaffeekanne neben sich auf dem kleinen Tisch. Tess hatte sich unter dem Tisch zusammengerollt. Zu seinem Kaffee hatte Christopher sich einen Teller mit Muffins bestellt, und ab und zu warf er Tess ein Stück Kuchen zu, die es geschickt auffing.

Christopher runzelte gerade die Stirn angesichts eines Berichtes über den Kampf von Franzosen in Wandiwash, im Südosten von Indien, als sich jemand ihm gegenüber in einen Sessel setzte.

Tess knurrte.

Christopher verspannte sich. Niemand wagte es, ihn bei Jackman’s zu stören.

Er hob den Kopf und sah diesen Idioten Thomas Plimpton nervös zu Tess schauen.

Christopher schnaubte. Er war jetzt seit fast zwei Jahren zurück in England, und Plimpton hatte er seit vier Jahren nicht gesehen. Aber falls nicht ein Wunder geschehen war, dann war dieser Mann noch immer die schlimmste Art von Feigling. Plimpton hatte strahlend blaue Augen, ein rundes Gesicht und einen Mund, der immer halb offen zu stehen schien. Seltsamerweise ließ ihn all das zusammen genommen ganz gut aussehen – zumindest in den Augen der Damen.

Christopher starrte ihn an.

„Äh …“, begann Plimpton verlegen. „Kann ich Sie kurz sprechen, Renshaw?“

„Harlowe“, meinte Christopher gedehnt.

„Ich … wie bitte?“

„Ich bin“, sagte Christopher langsam und deutlich, „der Duke of Harlowe.“

„Oh.“ Plimpton schluckte. „J … ja, natürlich. Äh … Euer Gnaden. Darf ich kurz stören?“

„Nein.“ Christopher wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Zeitung zu.

Er hörte ein Rascheln und sah auf.

Plimpton hielt ein Stück Papier in der Hand. „Ich benötige Geld.“

Christopher antwortete nicht. Offen gestanden sah er keinen Sinn darin, den Mann in seiner Impertinenz zu ermutigen. Plimpton wusste sehr wohl, dass Christopher ihn verachtete – und warum.

Aber Plimpton schien seinen letzten Mut zusammengekratzt zu haben. Er hob das Kinn. „Ich brauche zehntausend Pfund. Ich möchte, dass Sie mir das Geld geben.“

Eine von Christophers Augenbrauen schoss in die Höhe.

Plimpton schluckte erneut. „U … und wenn Sie es nicht tun, dann werde ich das hier veröffentlichen.“ Er reichte Christopher das Papier.

Christopher nahm das, was sich als Brief herausstellte, und öffnete ihn. Sofort erkannte er die unordentliche Handschrift und verspürte einen Stich im Herzen. Sophy.

Seine Frau war jetzt seit vier Jahren tot, aber das hieß nicht, dass Christopher seinen Eid, sie zu ehren und zu schützen, aufgegeben hätte.

Er knüllte den Brief zusammen und warf ihn in den Kamin.

Sofort fing das Papier Feuer, loderte auf, ehe es fast augenblicklich zu Asche verbrannte.

„Das ist nicht der einzige Brief in meinem Besitz“, sagte Plimpton erwartungsgemäß.

Christopher schwieg.

Plimpton hatte noch immer das Kinn vorgereckt und sah ihn mit einem herausfordernden Blick an. Zweifellos hielt der Mann sich für einen galanten Ritter. Jedenfalls hatte er in Indien die Rolle des Helden gespielt. „Ich habe noch eine ganze Reihe von Briefen, versteckt an einem sicheren Ort. Einen Ort, den Sie nicht finden werden. U … und falls mir etwas passieren sollte, habe ich Instruktionen erteilt, dass man sie veröffentlicht.“

Glaubte der Narr, er würde ihn ermorden? Christopher sah den Mann einfach nur an, aber Tess knurrte erneut bedrohlich.

Plimpton riss die Augen auf und ließ den Blick zwischen dem Hund und Christopher hin und her schweifen. „In zwei Wochen wird Ihr Schwager, Baron Lovejoy, eine Hausgesellschaft veranstalten. Ich wurde eingeladen, und Sie zweifellos auch. Bringen Sie das Geld dorthin mit, und im Austausch werde ich Ihnen die Briefe geben.“

Christopher atmete einmal tief ein und überlegte kurz, was er als Nächstes tun sollte. Er hasste gesellschaftliche Veranstaltungen, und bei einer Hausparty handelte es sich um einen mehrtätigen Aufenthalt auf einem Landsitz, wo man den anderen Gästen nicht aus dem Weg gehen konnte. Er könnte sich weigern, und Plimpton stattdessen etwas antun, aber letztendlich war es am einfachsten und mit den wenigsten Komplikationen verbunden, wenn er für die verdammten Briefe bezahlte.

Alle Briefe.“ Christopher betonte das erste Wort ausdrücklich.

„J… ja, alle …“

Christopher stand auf und marschierte zusammen mit Tess davon, während Plimpton noch immer dabei war, eine Erwiderung zu stottern. Es war besser zu gehen, als etwas zu tun, was er später bereuen würde.

Er hatte Sophy schon einmal im Stich gelassen. Das würde ihm nicht noch einmal passieren.

2. Kapitel

Rowan hatte flammend rotes Haar, eine Haut so weiß wie Wolken,

und Augen so grün wie das Moos, das am Flussufer wuchs.

Sie hatte drei Cousinen, die sie ständig begleiteten.

Ihre Namen waren Bluebell, Redrose und Marigold.

Rowan mochte Bluebell und Redrose, konnte Marigold jedoch nicht ausstehen.

Warum, wurde niemals erwähnt …

Aus: „Der Wechselbalg von Grey Court“

Später am Abend suchte Freya einen Seidenfaden heraus und fädelte ihn in ihre Sticknadel ein.

„Was sticken Sie da, Miss Stewart?“, fragte Arabella, die älteste der Holland-Mädchen und lehnte sich über Freyas Arm. Sie saßen gemeinsam auf einem Sofa im Salon von Holland House.

Seit fünf Jahren war Freya schon die Gesellschafterin von Lady Holland, nämlich seit sie nach London gekommen war, um als Macha für die Weisen Frauen tätig zu sein. Von Beginn an hatte sie ihren mittleren Namen, Stewart, benutzt. Ein schottischer Name, der ihren schottischen Akzent erklärte. Die Dunkelders wussten, dass die Frauen der Familie de Moray seit Generationen Weise Frauen gewesen waren, daher war es so wichtig, dass niemand erfuhr, dass sie die Tochter des Duke of Ayr war.

„Es ist ein Zwergfalke“, erwiderte Freya jetzt und setzte einen leuchtend roten Stich unter den Raubvogel.

„Was macht er?“

„Reißt einem Spatzen das Herz aus“, antwortete Freya ernst.

„Oh.“ Arabella sah leicht erschrocken aus. „Das ist ziemlich realistisch.“

„Ja, nicht wahr?“, meinte Freya. Sie lächelte und blickte auf ihr brutales Kunstwerk, ehe sie zur Standuhr schaute. Es war kurz nach zehn Uhr, was bedeutete, dass ihr noch zwei Stunden bis zum Treffen mit der Crow blieben.

Freyas Aufgabe als Macha war es, Informationen zu sammeln, Klatsch und Tratsch sowie Neuigkeiten, die für die Weisen Frauen von Interesse sein könnten. Der Großteil der Weisen Frauen lebte auf dem Anwesen in der Nähe von Dornoch im äußersten Norden von Schottland. Es waren Weise Frauen wie sie und die Crow – diejenigen, die außerhalb des Geländes lebten –, die den Kampf gegen die Dunkelders ausfochten. Einen Kampf ums Überleben.

Einen Kampf, damit Frauen in Britannien frei leben konnten.

„Was haben Sie an Ihrem freien Tag heute gemacht, Miss Stewart?“, fragte Lady Holland geistesabwesend. Sie saß links von Freya in einem Sessel und schaute stirnrunzelnd auf ihre eigene Stickerei, bei der sich offensichtlich die Fäden verwirrt hatten.

„Nichts Aufregendes, Mylady“, antwortete Freya. Sie legte ihren Stickring beiseite, griff nach dem von Lady Holland und begann, die Fäden zu entwirren.

„Oh, vielen Dank“, sagte Lady Holland mit sichtlicher Erleichterung. Freyas Arbeitgeberin war eine kleine Frau mit einem nicht zur Mode passenden runden Busen und einer praktisch veranlagten Natur, doch mit dem Sticken tat sie sich schwer. „Und wie war dein Ausflug mit Mr. Trentworth, Regina?“

„Er hat ein Paar neuer Brauner, und die sind einfach großartig“, erzählte Regina, die Freya gegenübersaß. „Sie sind perfekt aufeinander abgestimmt und unglaublich lebhaft. Ich habe ihn gebeten, ihnen freien Lauf zu lassen, damit wir durch den Hyde Park galoppieren können, doch er hat sich geweigert.“

„Das will ich doch hoffen“, meinte Lady Holland, lächelte aber liebevoll. „Ich freue mich zu hören, dass er ein junger Mann mit Verstand ist.“

Und er hat so ein klassisches Profil.“ Regina schaute verträumt, ehe sie sich aufrichtete. „Mama! Mr. Trentworth hat heute gesagt, dass er daran denkt, Papa einen Besuch abzustatten.“

Hat er das?“ Lady Holland hob den Kopf wie ein Windhund, der ein Kaninchen wittert. „Das muss ich deinem Vater erzählen.“

Regina sah sie besorgt an. „Was glaubst du, wird er zu Mr. Trentworth sagen?“

„Sei nicht albern“, erwiderte Lady Holland. „Mr. Trentworth kommt aus einer sehr anständigen Familie und verfügt über ein nettes kleines Einkommen. Wäre es nicht so, hätte dein Vater ihn schon längst vom Hof gescheucht. Er wird deinem Verehrer seinen Segen erteilen, keine Angst.“

Regina juchzte, und Arabella umarmte sie, doch Freya bemerkte, dass Lady Hollands Blick auf Arabella ruhte. Zwischen ihren Brauen hatte sich eine kleine Falte gebildet.

„Dürfen Arabella und ich uns zurückziehen, Mama?“, fragte Regina, die es offensichtlich nicht abwarten konnte, mit ihrer Schwester zu schwatzen.

Lady Holland nickte zustimmend, und die beiden Mädchen eilten aus dem Zimmer.

Freya gab ihrer Arbeitgeberin den Stickrahmen wieder. Einen Moment lang herrschte Schweigen, während Lady Holland nachdenklich auf die Stickerei blickte.

Sie räusperte sich und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Sind Sie mit der Verbindung nicht einverstanden, Mylady?“ Sie wunderte sich, denn Lady Holland hatte die Vorzüge von Mr. Trentworth bereits aufgelistet, und sie schien den jungen Gentleman auch zu mögen. Freya fand, wenn Regina schon heiraten musste, dann passte er sehr gut zu ihr.

„Doch, natürlich.“ Trotzdem klang Lady Holland bekümmert.

Freya musterte sie. „Was ist es dann?“

„Ich würde es vorziehen, wenn Arabella zuerst unter die Haube käme.“ Vielen Müttern wäre es egal, in welcher Reihenfolge ihre Töchter heirateten, aber Lady Holland machte sich Sorgen wegen Arabella.

„Ah.“ Freya beugte den Kopf wieder über ihre eigene Stickerei und erinnerte sich daran, dass die Damen der höheren Gesellschaft in London nicht so handelten wie die Weisen Frauen – auch wenn sie besser daran täten.

Weder Regina noch Arabella waren große Schönheiten, aber beide hatten von ihrer Mutter das weizenblonde Haar und die cremeweiße Haut geerbt. Regina war die hübschere und lebhaftere der Schwestern. Arabella hatte das längliche Gesicht und die zu lange Nase von ihrem Vater und auch sein ernsteres Naturell vererbt bekommen. Sie hatte einen trockenen Humor und konnte sich intelligent über Philosophie, Literatur und Geschichte unterhalten – alles keine Attribute, die die Londoner Aristokraten anzuziehen schienen.

Soweit Freya das beurteilen konnte, suchte der durchschnittliche Londoner Gentleman nach Reichtum, einer adligen Abstammung und Anmut.

Dinge, mit denen eine Frau äußerlich beschrieben wurde, die aber nichts mit ihren inneren Werten zu tun hatten.

Sogar Hundezüchter achteten darauf, dass ihre Tiere mit Intelligenz ausgestattet waren. Ehrlich, es war wirklich überraschend, dass der englische Adel noch nicht völlig degeneriert war.

„Wenn sie nur einmal die Chance bekäme, eine ruhige Unterhaltung mit einem passenden Gentleman führen zu können“, murmelte Lady Holland nachdenklich. „Es ist jammerschade, dass die Saison in London demnächst endet.“

„Ja, Mylady.“ Freya zögerte, fügte dann aber hinzu: „Vielleicht wäre eine Hausgesellschaft auf dem Land das Richtige?“

„Für Arabella meinen Sie?“ Lady Holland kniff die Augen zusammen, ehe sie den Kopf schüttelte. „Sie wissen doch, dass Lord Holland solche großen Zusammenkünfte nicht mag. Ich glaube nicht, dass ich seine Meinung diesbezüglich ändern kann, vor allem, da er den Landsitz als seinen Rückzugsort ansieht.“

Freya nickte nachdenklich. „Wie wäre es denn, wenn Sie eine der Einladungen annehmen, die wir bereits bekommen haben?“

„Vielleicht. Wir schauen sie uns morgen früh noch einmal an.“ Lady Holland unterdrückte ein Gähnen. „Jetzt gehe ich jedoch erst einmal ins Bett. Kommen Sie auch mit nach oben?“

„Noch nicht.“ Freya deutete auf ihre Stickerei. „Ich würde gern noch ein wenig hiermit weitermachen.“

Lady Holland schüttelte den Kopf, während sie aufstand. „Ich weiß wirklich nicht, wie Sie das machen, Miss Stewart. Ich wäre bestimmt schon halb blind, wenn ich so gut sticken könnte wie Sie.“

Freya lächelte leicht. „Man braucht ja etwas Interessantes, womit man sich die Zeit vertreiben kann.“

Sie wünschten sich eine gute Nacht, und schließlich blieb Freya allein im Salon zurück.

Sie wartete, arbeitete weiter an dem Zwergfalken und seiner Beute, während ihre Gedanken zum Duke of Harlowe abschweiften. Wie sollte sie es nur anstellen, ihm den Ring wieder abzunehmen? Harlowe schien sich seiner Macht so sicher gewesen zu sein, als er da über ihr in der Kutsche gethront hatte, mit dieser unglaublichen Arroganz. Sie biss die Zähne zusammen. Dass ein Mann wie er in London herumscharwenzeln konnte, während die Greycourt-Tragödie Ran im Grunde zerstört hatte …

Sie schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, an Ran zu denken, und daran, in welcher Situation er sich jetzt befand. Da war es besser, sich einen Weg zu überlegen, wie sie den hochmütigen Duke zu Fall bringen konnte. Harlowe hatte unglaubliches, unverdientes Glück gehabt, als er unverhofft Erbe dieses begüterten Herzogtums geworden war. Es hatte viel Gerede im ton gegeben, als der alte Duke vor zwei Jahren gestorben, und Harlowe – ein sehr weit entfernter Verwandter –, aus Indien zurückgekehrt war. Aber während der ganzen Zeit hatte sie ihn nicht ein einziges Mal bei einer der Londoner Geselligkeiten getroffen. Mied er die Gesellschaft? Wenn ja, könnte es schwierig werden, ihn erneut zu treffen, ohne Misstrauen zu erregen. Vielleicht, wenn sie einen Diener bestach?

Die Standuhr schlug zur vollen Stunde und riss Freya aus ihren Gedanken. Es war Mitternacht.

Freya legte ihre Stickerei in einen Korb und ging hinaus in die große Halle.

Alles war ruhig.

Leise schlich sie zur Rückseite des Hauses, ohne eine Kerze mitzunehmen – schließlich lebte sie seit fünf Jahren hier –, und schlüpfte aus der Tür, die in den hinteren Garten führte.

Der Mond war inzwischen aufgegangen, und warf dunkle Schatten. Der Duft von Rosen hing in der Luft, als Freya den direkten Weg zu den Stallungen nahm. Unter ihren Pantoffeln knirschten laut die Kiesel. Es war kühl zu dieser späten Stunde, und sie bedauerte, sich nicht noch schnell einen Schal aus ihrem Zimmer geholt zu haben.

Die Pforte am Ende des Gartens war geölt worden und ließ sich lautlos öffnen. Sie schob schnell einen Stein gegen die Tür, damit sie auf keinen Fall hinter ihr wieder zufiel.

Es wäre ja auch wirklich zu ungehörig, wenn sich die stets korrekte Miss Stewart nach Mitternacht aus dem Garten aussperren sollte.

Freya blieb stehen und blickte sich um. Gerade als sie sich entschieden hatte, zur Straße zu gehen, tauchte die Crow aus den Schatten auf.

„Lady Freya.“

Freya erstarrte. „Sie sollten mich nicht so nennen.“

Die Crow zog ihre Kapuze zurück. Ein Ohrring glitzerte inmitten einer wilden schwarzen Mähne. „Entschuldigung.“

Ihrem Geburtsrecht nach, als Tochter – und Schwester – eines Dukes, hätte Freya jetzt eigentlich auf dem Höhepunkt der Macht sein sollen. Hätte in der Lage sein sollen, sich in den besten Kreisen von London aufzuhalten, um ihre Arbeit als Macha zu tun. Aber der Skandal von Greycourt hatte all das ruiniert. Der Name de Moray war in den Schmutz gezogen, die Familie in den Ruin getrieben worden. Kurz nach dem Skandal war ihr Vater gestorben, und danach waren sie und ihre Schwestern Caitrinona und Elspeth zu ihrer Tante Hilda nach Dornoch gezogen.

Tante Hilda war dafür verantwortlich, dass Freya jetzt die Macha war. Sie hatte der alten Dame geschworen, die Lehren und das Wissen der Weisen Frauen zu bewahren.

Der Gedanke brachte sie zurück in die Gegenwart. Die Crow beobachtete sie aus dunklen, unergründlichen Augen.

Freya sah sie scharf an. „Was haben Sie mir mitzuteilen?“

„Sie werden von den Hags zurückbeordert.“

„Was?“ Es gelang Freya nicht, ihre Überraschung zu verbergen. Die Hags – drei ernannte Frauen – waren das führende Gremium der Weisen Frauen. „Warum rufen die Hags mich zurück? Sind sie unzufrieden mit meiner Arbeit als Macha? Wollen sie mich ersetzen?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Die Crow presste die Lippen aufeinander, also hätte sie gern mehr gesagt, traute sich aber nicht.

„Warum dann? Es ist überaus wichtig, dass ich im Augenblick in London bin. Sie wissen doch, dass es Gerede über ein neues Hexengesetz gibt, das im Parlament verabschiedet werden soll. Was ist passiert?“

„Wir haben eine neue Cailleach“, erwiderte die Crow vorsichtig und nannte damit eine der Positionen innerhalb der Hags. „Sie ist der Meinung, dass es besser wäre, wenn alle Weisen Frauen sich nach Dornoch zurückzögen.“

Freya starrte sie entsetzt an. „Das ist ein Scherz.“

Die Crow schüttelte den Kopf. „Nein, Mylady.“

„Wir sollen uns zurückziehen, um was zu tun?“, hakte Freya nach. „Sollen wir all die Frauen vergessen, die unsere Hilfe benötigen? Sollen wir so tun, als wäre es nicht unsere heilige Pflicht, das Übel zu richten, das durch diese Männergesellschaft entsteht? Sollen wir uns wie ängstliche Mäuse verstecken, bis die Dunkelders uns irgendwann aufspüren und uns alle verbrennen?“

Die Crow zuckte mit den Schultern und sah sie schweigend an.

Freya verzog das Gesicht und zischte: „Wenn das neue Hexengesetz erlassen wird, dann werden uns alle jagen, nicht nur die Dunkelders. Es wird wieder Tribunale und Verbrennungen geben. Die Weisen Frauen werden eine weitere große Hexenjagd nicht überleben.“

Ich weiß das“, murmelte die Crow, „aber ich bin nicht die Cailleach.“

„Und die anderen beiden Hags werden langsam alt“, meinte Freya bitter. Die Hags regierten gemeinsam, doch wenn eine von ihnen über eine starke Persönlichkeit verfügte, konnte sie die anderen natürlich in ihrem Sinne beeinflussen.

Die Crow nickte. „Ich habe gehört, dass die Älteste bettlägerig ist. Man sagt, dass sie nicht mehr lange leben wird. Und ihre Nachfolgerin ist offenbar mit der Cailleach einer Meinung.“

„Was ist mit der Nemain?“, fragte Freya. Die Attentäterin wurde von den Weisen Frauen nur im äußersten Notfall eingesetzt. „Wird sie ebenfalls zurückbeordert?“

„Ja.“

„Und was ist mit Ihnen?“

„Ich werde Ihnen und der Nemain nach Dornoch folgen, sobald meine Arbeit getan ist“, erklärte die Crow.

Freya kniff die Augen zusammen. Denk nach. Sie hatte gewusst, dass es eine Bewegung innerhalb der Weisen Frauen gab, die es erstrebenswert fand, sich gänzlich aus der Welt der Männer zurückzuziehen. Nur war ihr nicht bewusst gewesen, wie stark diese Strömung bereits war. Wenn sie sich nach Schottland zurückzogen, und das Hexengesetz eine Mehrheit fand, dann, daran glaubte sie fest, würde der Orden der Weisen Frauen verschwinden.

Und mit ihm ein jahrhundertealter Schatz an Wissen, Traditionen und Engagement. Tante Hildas Wissen, Traditionen und Engagement.

Das konnte sie nicht zulassen.

Freya öffnete die Augen wieder und sah, dass die Crow geduldig wartete und Freya aus ihren schwarzen Augen anschaute. „Geben Sie mir einen Monat Zeit. Sagen Sie den Hags, dass ich in vier Wochen nach Dornoch zurückkehre. Dass ich vorher nicht hier weg kann, weil man sonst Verdacht schöpfen würde.“

Die Crow hob die Augenbrauen. „Was können Sie in einem Monat erreichen?“

„Hören Sie“, bat Freya sie eindringlich. „Lord Elliot Randolph ist derjenige, der dieses Hexengesetz im Parlament durchbringen will. Schon seit Monaten suche ich nach einer Schwäche, die ich gegen ihn verwenden kann. Bisher bin ich nicht fündig geworden – bis auf eine Sache.“

Fragend neigte die Crow den Kopf zur Seite.

„Seine Frau“, erklärte Freya. „Lady Randolph ist im letzten Jahr plötzlich verstorben und wurde auf seinem Landsitz in Lancashire beerdigt, ehe ihre Familie in London überhaupt von ihrem Tod benachrichtigt wurde. Mir scheint, dass Lord Randolph vielleicht einen Grund dafür hatte, dass die Familie seiner Frau ihren Leichnam nicht sehen sollte. Wenn es uns gelingt, zu beweisen, dass er bei ihrem Tod seine Hand im Spiel hatte, dann können wir ihn aufhalten – und damit auch das neue Hexengesetz, ehe es überhaupt im Parlament vorgelegt wird.“

Die Crow schüttelte den Kopf. „Die Saison in London geht zu Ende. Sämtliche englischen Aristokraten werden jetzt die Stadt verlassen und sich auf ihre Landsitze begeben.“

„Ja, das werden sie. Alle, einschließlich Lord Randolph.“

„Aber wie …?“

„Lady Holland hat eine Einladung zu einer Hausgesellschaft auf Lord und Lady Lovejoys Anwesen erhalten.“ Sie sah der Crow in die Augen. „In Lancashire. Sie sind Nachbarn der Randolphs. Ihre Güter grenzen aneinander.“

Langsam begann die Crow zu begreifen. „Sie haben vor, die Hausgesellschaft zu besuchen.“

Freya nickte grimmig. „Geben Sie mir einen Monat. Ich werde den Tod von Lady Randolph untersuchen – und Beweise finden, mit denen wir Lord Randolph ruinieren können.“

Zwei Wochen später zuckte Freya zusammen, als die Kutsche durch ein Schlagloch auf der Straße nach Lancashire fuhr. Sie saß gegen die Fahrtrichtung, Regina rechts, und Selby, Lady Hollands Zofe, links von sich. Arabella und Lady Holland saßen ihnen gegenüber.

Seit einer Woche waren sie schon unterwegs, und alle hatten die Nase voll von den staubigen Straßen, den Gasthäusern mit dem nur vermeintlich sauberen Bettzeug und dem andauernden Rattern der Kutsche.

„Wir müssten doch jetzt bald da sein“, sagte Regina und blickte hoffnungsvoll aus dem Kutschenfenster. „Wenn wir noch viel weiter fahren, dann sind wir schon in Schottland.“

„Vielleicht war das der Grund, warum Miss Stewart darauf gedrängt hat, dass du nicht irgendeine der vielen anderen Einladungen akzeptierst, sondern die von Lady Lovejoy, Mama“, murmelte Arabella und schenkte Freya ein kleines Lächeln.

„Natürlich nicht“, meinte Freya gespielt hochmütig. „Zum einen ist Lovejoy House überhaupt nicht in der Nähe von Schottland.“

Sowohl Arabella als auch Regina mussten bei diesen Worten ein Kichern unterdrücken – Schottland und alles Schottische waren im Laufe der Jahre zu einem immer wiederkehrenden Spaß zwischen ihnen und Freya geworden. Plötzlich verspürte Freya einen Stich ins Herz. Sie lebte seit fünf Jahren bei den Hollands. Hatte zugesehen, wie aus den schlaksigen jungen Mädchen elegante Damen geworden waren. Es würde ihr nicht leichtfallen, Lady Holland in zwei Wochen zu verlassen.

Freya straffte die Schultern. Zwei Wochen blieben ihr, um herauszufinden, was mit Lady Randolph geschehen war.

Zwei Wochen, um zu verhindern, dass die Weisen Frauen dem Untergang geweiht waren.

„Warum hast du dich für die Hausgesellschaft von Lady Lovejoy entschieden, Mama?“, fragte Regina und unterbrach damit Freyas Gedanken. „Ich dachte, du hattest dich bereits auf Bath für den Sommer festgelegt?“

„Es bleibt etwas später im Sommer noch genügend Zeit für Bath, meine Lieben“, antwortete Lady Holland. „Lady Lovejoy ist eine sehr gute Freundin von mir. Sie hat mir versichert, dass Lord Lovejoy über einen großen, gut bestückten Stall verfügt, und dass die Gegend um Lovejoy House wild und romantisch ist.“ Sie nickte Freya zu. „Und schließlich war auch unsere liebe Miss Stewart für diese Idee.“

„Ganz zu schweigen davon, dass Mr. Aloysius Lovejoy mit seinen Freunden anwesend sein wird“, murmelte Regina.

Arabella errötete heftig.

Freya verkniff sich ein Lächeln. Der jüngere Mr. Lovejoy hatte die schönsten blonden Haare, die sie je gesehen hatte, aber abgesehen davon schien er auch ein netter Mann zu sein. Arabella würde einen sensiblen Mann brauchen, der mit ihrer ruhigen Intelligenz umzugehen wusste. Es war die Aussicht, eine Reihe von passenden Junggesellen zu treffen, die bei Lady Holland letztlich den Ausschlag zugunsten der Party bei den Lovejoys gegeben hatte.

„Wir sind da, Mylady.“ Selby deutete aus dem Fenster, und alle beugten sich vor, um besser sehen zu können.

Die Kutsche hatte angehalten, und ein Pförtner öffnete die massiven Eisentore. Als die Kutsche auf einen Kiesweg bog, tippte der Mann sich an den Hut.

Lovejoy House war umgeben von einem gut gepflegten Rasen, der die Aufmerksamkeit nicht vom Haus ablenkte. Es handelte sich um ein Gebäude aus roten Steinen, das aussah, als wäre es schon einige hundert Jahre alt. Das Anwesen wirkte, als wüsste es, welch wichtigen Platz es in dieser Welt innehatte, und einen Moment lang sehnte sich Freya nach ihrem eigenen Ahnensitz. Ayr Castle war älter und größer als Lovejoy House, ein imposanter grauer Monolith, der auf Fremde vermutlich genauso prahlerisch wirkte.

Aber nicht auf sie. Für sie war es ihr Zuhause gewesen.

„Oh, jemand ist gerade vor uns eingetroffen“, sagte Arabella und holte Freya damit wieder in die Gegenwart zurück.

Eine schwarze Kutsche mit einem bekannten Wappen hatte offenbar gerade vor dem Portal angehalten, denn der Kutscher saß noch auf seinem Bock.

Freya bemühte sich, eine gelassene Miene aufzusetzen, obwohl ihr Herz zu rasen begann. Wenn der Besitzer dieser Kutscher tatsächlich der war, den sie vermutete, dann hätte sie Angst bekommen und sich große Sorgen darüber machen sollen, dass man ihre Identität enthüllen und ihre Mission zunichtemachen würde.

Stattdessen wappnete sie sich für einen Kampf. Sie spannte die Muskeln an und schärfte ihre Sinne. Oh, das war ja mal ein göttliches Geschenk. Sie hatte nicht erwartet, ihn hier zu sehen, hätte niemals vermutet, dass er diese Gesellschaft besuchen würde. Und doch sah sie in diesem Moment, wie ein Stiefel aus der Kutsche auftauchte, und das Aufblitzen von Spitze an einem maskulinen Handgelenk. Sie atmete den Duft von Leder und Lehm sowie den Geruch ihres eigenen, sich erhitzenden Körpers ein.

Sie fühlte sich seltsam lebendig.

Oh, bitte, lass es Harlowe sein.

Sie wollte diesen Ring. Sie wollte ihn büßen lassen.

„Vielleicht ist es Mr. Lovejoy“, meinte Regina und warf Arabella einen schelmischen Blick zu.

„Das ist nicht Mr. Lovejoy“, antwortete ihre Schwester. „Dafür hat er viel zu breite Schultern und ist viel zu groß.“

Der Mann stand jetzt neben der Kutsche, imposant und gebieterisch, während andere um ihn herumwieselten.

„Erkennst du das Wappen?“, flüsterte Regina, während ihre Kutsche anhielt.

Lady Holland schürzte nachdenklich die Lippen. „Nein, aber wer auch immer es ist, er ist reich. Diese Kutsche ist neu.“

Freya schlug das Herz bis zum Hals.

Der Lakai ließ die Stufen hinunter, und im nächsten Augenblick herrschte Hektik, während die Damen ihre Sachen zusammensuchten und aus der Kutsche stiegen.

Freya zwang sich zu warten. Sie verließ die Kutsche als Letzte und zog den Kopf ein, um sich nicht in der Türöffnung zu stoßen.

Die Hand eines Mannes tauchte vor ihrem Gesicht auf, eine Hand, an der Rans Siegelring steckte. Die Finger lang, die Nägel gerade und kurz geschnitten, und die Handflächen groß und kräftig.

Sie atmete tief durch, um sich zu wappnen, ehe sie die Hand in seine legte und ausstieg.

„Ich glaube, wir wurden noch nicht offiziell miteinander bekannt gemacht“, sagte der Duke of Harlowe mit tiefer Stimme.

Freya blickte auf … in himmelblaue Augen, die sie aufmerksam musterten. Sein glänzend rotbraunes Haar war streng aus der Stirn gekämmt, und er trug einen braunen Anzug, der seine Augen noch heller leuchten ließ.

Nicht dass sie sonderlich darauf geachtet hätte. „Sind Sie sicher, Euer Gnaden?“ Oh, jetzt spielte sie mit dem Feuer.

Er kniff die Augen zusammen. Wie oft kam es wohl vor, dass jemand eine seiner Aussagen infrage stellte? „Ich war mir eigentlich sicher.“

„Haben Sie unsere Gesellschafterin Miss Stewart schon getroffen, Euer Gnaden?“, fragte Regina mit naiver Neugier.

Er zog eine Augenbraue in die Höhe und sah Freya fragend an, ehe er so leise murmelte, dass Regina ihn nicht hören konnte: „Habe ich das, Miss Stewart?“

„Ich glaube, wir haben uns auf dem Ball des Earl of Sandy getroffen“, antwortete Freya und dachte sich überstürzt etwas aus. „Ich fürchte, ich war so tollpatschig, in Seine Gnaden hineinzulaufen.“

„Ich erinnere mich, dass Sie mir zu Füßen gefallen sind“, meinte Harlowe mit einem viel zu anziehenden Lächeln auf den Lippen. „Ich hoffe, Sie haben sich von diesem Vorfall gut erholt?“

„Gänzlich.“

Sie senkte den Blick und stellte sich lebhaft vor, ihm den Bauch aufzuschlitzen.

Er nickte gönnerhaft und drehte sich zu Lady Holland herum. „Darf ich?“, fragte er und reichte ihr seinen Arm.

Lady Holland errötete. „Euer Gnaden sind zu …“

Der senffarbene Hund sprang herbei und schob seine Nase in Freyas Röcke.

Regina stieß einen kleinen Schrei aus – sie mochte keine Hunde, weil sie als Kind einmal von einem gebissen worden war.

„Wessen Hund ist das?“, fragte Lady Holland entrüstet.

„Meiner.“ Der Duke schnippte mit den Fingern. „Tess. Komm her.“

Tess ignorierte ihn und schnüffelte stattdessen interessiert an Freyas Saum. Die erinnerte sich daran, dass ihnen auf ihrer letzten Rast eine zutrauliche Katze begegnet war.

Freya blickte auf und meinte trocken: „Ich glaube, Tess weiß nicht, dass Sie ein Duke sind, Euer Gnaden.“

Er seufzte. „Nein, das weiß sie wirklich nicht.“

Freyas Lippen zuckten, ehe sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Sie hielt dem Hund ihre Hand hin – es war ja nicht Tess’ Schuld, dass sie ein Scheusal als Herrn hatte.

Der Hund schnüffelte mit feuchter Schnauze an ihren Fingern, ehe er aufsah und die Zunge heraushängen ließ. Es sah aus, als lächelte er Freya an, während er freundlich mit der Rute wedelte. Seine Ohren glichen aufgestellten Dreiecken, die Augen und Nase waren schwarz und stachen aus dem staubigen Gelb des Felles hervor. Tess war groß, ihr Kopf reichte Freya fast bis zur Hüfte, doch sie wirkte keineswegs wie ein Rassehund. Aber Freya glaubte auch nicht, jemals einen Hund wie Tess gesehen zu haben.

„Tess ist ziemlich harmlos“, sagte Harlowe und blickte zu Regina. „Möchten Sie sie kennenlernen?“

Regina zögerte und presste sich die Hände gegen die Brust.

Tess drehte sich um und trottete zu ihrem Herrn.

„Äh, j … ja“, meinte Regina.

„Kommen Sie. Geben Sie mir Ihre Hand“, sagte Harlowe, und es war erstaunlich, wie freundlich seine Stimme klang, obwohl Freya wusste, wozu er fähig war.

Regina streckte ihre zitternde Hand aus. Der Duke nahm sie und beugte sich mit ihrer Hand in seiner zu Tess hinunter, damit sie sie beschnüffeln konnte. „So ist es brav, Tess. Ganz vorsichtig. Was hältst du von Miss Holland, hm? Meinst du, ihr könntet Freunde werden?“

Freya schluckte. Seine Stimme war tief und sonor, während er mit dem Hund sprach, und der Klang löste ein eigenartiges Kribbeln in Freyas Magen aus.

Dieser Schurke. Freya versuchte, den Blick abzuwenden, stellte aber fest, dass sie es eigentlich gar nicht wollte.

Ein Lächeln erschien auf Reginas Gesicht, als sie zaghaft Tess’ Kopf tätschelte. „Die Ohren sind so weich.“ Schüchtern blickte sie zu Harlowe auf. „Danke, Euer Gnaden.“

Er verbeugte sich ernsthaft, doch seine Mundwinkel zuckten. „Mit Vergnügen, Miss Holland.“

„Euer Gnaden! Ich freue mich so, dass Sie kommen konnten.“ Daniel Lovejoy, Baron Lovejoy stand auf den Stufen vor seinem Haus. Er war ein Mann in den Vierzigern mit grau gepudertem Haar. „Und Lady Holland. Es ist mir wie immer ein Vergnügen, Madam.“

Das schien das Signal zu sein, ins Haus zu gehen, und Freya folgte den anderen, die sie mehr oder weniger vergessen hatten.

Und das war durchaus in ihrem Sinne.

Zwei Stunden später stieg Christopher die Prunktreppe von Lovejoy House herab, Tess an seiner Seite. Er hatte ein heißes Bad genommen, sich umgezogen und fühlte sich endlich etwas erholt, nach einer Woche Reisen in einer beengten Kutsche. Er hoffte, Plimpton zu finden, und diese leidige Angelegenheit so schnell wie möglich zu bereinigen. Es beunruhigte ihn zu wissen, dass der Kerl noch immer Sophys Briefe in seinem Besitz hatte. Die Briefe waren eine letzte Aufgabe – ein Scherbenhaufen, den er zusammenkehren musste, damit Sophys Andenken unbeschadet blieb.

Unten angekommen hörte er Männerstimmen in der Nähe.

Christopher stieß eine himmelblaue Tür auf und trat in ein Zimmer mit dunkler Holzverkleidung, in dem mehrere Sessel zu Sitzgruppen zusammengestellt worden waren. Ganz offensichtlich handelte es sich um das Arbeitszimmer seines Schwagers. Die drei Gentlemen, die am Kamin saßen, drehten sich zu ihm um.

Tess schnüffelte und spitzte die Ohren.

Geistesabwesend legte Christopher ihr eine Hand auf den Kopf.

„Ah, da sind Sie ja, Harlowe“, sagte Lovejoy jovial.

Der Mann war fast zwanzig Jahre älter als seine verstorbene Schwester, und doch bestand eine verblüffende Ähnlichkeit. Vor fünfzehn Jahren, als Christopher Sophy geheiratet hatte, hatten Lovejoy und Sophy fast wie Zwillinge ausgesehen, beide mit einem runden Gesicht und unglaublich blonden Haaren. Lovejoy puderte seine jetzt, daher war es schwierig zu sagen, ob sie immer noch so strohblond waren.

Lovejoy starrte Tess an, als Christopher auf ihn zuschritt. „Äh … vielleicht würde sich der Hund in den Ställen wohler fühlen?“

„Nein“, entgegnete Christopher, „würde er nicht. Danke für die Einladung.“

Lovejoy errötete und sprach leicht unterwürfig weiter: „Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Euer Gnaden. Darf ich Ihnen meinen Sohn, Aloysius Lovejoy vorstellen?“

Der jüngere Mann sprang auf. Er besaß das für die Lovejoys typische weißblonde Haar, das er im Nacken zusammengebunden trug, mit kleinen Löckchen, die ihm in die Stirn und über die Schläfen fielen. Hätte Christopher nicht gewusst, dass die Haarfarbe in der Familie lag, hätte er geschworen, der Mann trüge eine Perücke.

„Euer Gnaden.“ Aloysius verbeugte sich. „Es ist mir ein Vergnügen, Sie endlich kennenzulernen. Ich weiß natürlich, dass ich Sie schon einmal getroffen habe, aber auf Ihrer Hochzeit mit Sophy war ich erst zehn, und es ist fünfzehn Jahre her. Soll ich Sie Onkel nennen?“

Christopher musterte den Mann und überlegte, ob Aloysius sich über ihn lustig machte. Der jüngere Lovejoy sah ihn jedoch völlig ernst an. Er war nur acht Jahre jünger als Christopher, doch der kam sich unendlich viel älter vor als Aloysius.

Wie auch immer, die Frage war völlig unangebracht.

„Ich denke nicht.“

Aloysius’ Augenbrauen schossen in die Höhe, doch er schien nicht sonderlich verärgert zu sein über die Abfuhr.

Der dritte Mann in der Runde schnaubte. „Mit einem Schlag niedergestreckt. Sollte dir eine Lehre sein, Al.“

„Und das …“ Lovejoy deutete auf den Mann, „ist Aloysius’ Freund Leander Ashley, Earl Rookewoode.“

Der Earl war Anfang dreißig, gut aussehend, mit einem boshaften Funkeln in den Augen, die unter einer weißen Perücke hervorsahen. Rookewoode verbeugte sich elegant und schwungvoll. „Es ist mir eine Ehre, Euer Gnaden. Ich fürchte, man sieht Sie nicht häufig in der Gesellschaft. Sie sind schon fast zu einer Legende geworden.“

„Bin ich das?“, murmelte Christopher herablassend. Wobei es stimmte, dass er Bälle und Soireen mied. Bei dem Gedränge auf solchen Veranstaltungen fühlte er sich unbehaglich und hatte stets das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Drang, nach draußen ins Freie zu gelangen, wurde dann immer besonders stark.

Im Grunde hätte er lieber Gift getrunken als an einer überfüllten Veranstaltung teilzunehmen.

Rookewoode kniff angesichts von Christophers Tonfall die Augen zusammen, grinste im nächsten Moment jedoch wieder charmant.

„Darf ich euch Christopher Renshaw, den Duke of Harlowe vorstellen?“, fuhr Lovejoy hastig fort. „Der Mann meiner verstorbenen Schwester, natürlich.“ Er blickte zu Christopher. „Wir wollten gerade zu den anderen im kleinen Salon gehen.“

Christopher nickte und begleitete Lovejoy zur Tür, Tess an seiner Seite.

„Sind schon alle Gäste eingetroffen?“ Wo zum Teufel steckte Plimpton?

„Noch nicht, Euer Gnaden“, antwortete Lovejoy. „Ich weiß, dass Lady Lovejoy überglücklich sein wird, dass Sie uns die Ehre erweisen, an unserer kleinen Gesellschaft teilzunehmen. Wir haben Sie ja kaum gesehen, seit Sie aus Indien zurück sind.“

Der letzte Satz wurde mit einem steifen kleinen Lächeln vorgetragen.

Christopher vermutete, er sollte sich jetzt schuldig fühlen.

„Meine geschäftlichen Angelegenheiten haben mich sehr beansprucht“, erwiderte er ehrlich.

„Oh, sicher, sicher“, murmelte Lovejoy. „Ah, hier sind wir.“

Sie traten in einen Salon, der in einem dunklen Purpurrot gehalten war. An einem Ende knisterte ein Feuer und sorgte dafür, dass der Raum stickig und übermäßig heiß war.

Das Zimmer fühlte sich viel zu klein an.

Christopher atmete einmal tief durch und ließ seine Hand auf Tess’ Kopf ruhen.

Erst dann ließ er den Blick über die versammelten Gäste schweifen, ohne zu realisieren, dass er nach jemandem Ausschau hielt, bis sein Blick auf Miss Stewart fiel. Selbst auf einige Meter Entfernung wirkte es so, als funkelte sie ihn wütend an, auch wenn ihre sittsame Miene vollkommen ausdruckslos war.

Autor

Elizabeth Hoyt
Elizabeth Hoyt zählt zu den US-amerikanischen Bestseller-Autoren der New York Times für historische Romane. Ihren ersten Roman der Princess-Trilogie „Die Schöne mit der Maske“ veröffentlichte sie im Jahr 2006, seitdem folgten zwölf weitere Romane. Gern versetzt die erfolgreiche Schriftstellerin ihre Romanfiguren in das georgianische Zeitalter. Nachdem ihre beiden Kinder zum...
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