Geheimnis unter griechischer Sonne

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Bei einem Hilfseinsatz in Griechenland begegnet Dr. Lea Risi dem faszinierenden Chirurgen Deakin Patera. Obwohl sie spürt, dass ihn ein dunkles Geheimnis umgibt, verzehrt sie sich immer mehr nach seinen Küssen. Doch wie kann sie die Mauer um sein Herz überwinden?


  • Erscheinungstag 25.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717742
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Das Gedränge im Foyer der Klinik ließ Lea Risi kurz zurückschrecken. Das Erdbeben lag zwar gut einen Monat zurück, doch der Strom an Menschen mit seelischen und körperlichen Verletzungen war noch nicht ganz versiegt.

Viele fühlten sich von der Ruhe angezogen, die die Klinik und ihr Garten ausstrahlten. Inzwischen war es für Lea schon schwierig geworden, eine stille Ecke zu finden, wo sie sich mit denjenigen unterhalten konnte, die über ihr Erleben des Erdbebens sprechen wollten. Eigentlich war Leas Urlaub längst vorbei, und langsam schmolzen auch ihre Ersparnisse dahin. Sie musste also bald eine Entscheidung treffen, ob sie bleiben oder gehen wollte.

Aber jetzt noch nicht.

Ein Mann mit dunklem, struppigem Haar und einem Dreiwochenbart bahnte sich einen Weg zum Anmeldetresen. Ihn schien eine Art der Erschöpfung zu umgeben, die über bloße physische Müdigkeit hinausging. Sie konnte es daran sehen, wie sein Blick langsam von einem zum anderen wanderte. Er begrüßte mehrere Leute und schüttelte ihnen die Hand. Doch es war nur eine schnelle Geste, nicht die herzliche Begrüßung, mit der die meisten Inselbewohner einander begegneten.

Sobald er den Tresen erreichte, griff er nicht etwa nach einem Stift, um sich in die Liste einzutragen, sondern drehte den obersten Patientenbogen um und begann, die Eintragungen zu lesen.

Lea war sofort alarmiert. Auch wenn manche Patienten einen Blick auf die Liste warfen, um ihre Wartezeit abzuschätzen, wirkte sein Verhalten merkwürdig. Als er einen weiteren Bogen umdrehte, eilte Lea hinüber und legte entschlossen ihre Hand auf den Stapel, um ihn am Weiterzulesen zu hindern.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Irritiert schaute der Fremde auf und hob die Brauen, wobei ein leicht verärgerter Ausdruck über seine rauen Züge flog. „Ich möchte mir ansehen, wie viele Patienten heute behandelt wurden.“

Das klang keineswegs entschuldigend, sondern eher so, als hätte er ein Recht darauf, sich die Patientenbögen anzusehen. Aber Lea kannte ihn nicht. An diese hohen Wangenknochen und den leichten Höcker in der sonst sehr geraden Nase hätte sie sich garantiert erinnert.

Trotz des Barts war sein prägnantes Kinn deutlich zu erkennen. Ein Mann, der sich nicht so leicht abschrecken ließ.

Der Raum war noch immer voller Leute. Manche standen auf der Liste und warteten auf ihren Termin. Viele brauchten jedoch einfach nur die beruhigende Umgebung der Klinik, um ihr inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Lea hob ihre Hand von den Patientenbögen, obwohl der Unbekannte noch immer nicht erklärt hatte, wer er war. „Darf ich fragen, wonach Sie genau suchen?“

„Das habe ich doch bereits gesagt, Ms …?“

Sie reckte das Kinn. „Dr. Risi.“

„Ich wusste gar nicht, dass die Klinik eine neue Ärztin eingestellt hat.“ Seine Stimme verlor etwas von ihrer Schroffheit. „Wo ist Petra?“

„Ihre Mutter fühlt sich seit dem Erdbeben nicht wohl. Petra geht momentan zur Mittagspause nach Hause, um nach ihrer Mutter zu schauen.“

Erneut blätterte der Mann die Papiere durch. „Ich sehe keine Liste mit Symptomen oder Verletzungen.“

„Es gibt keine. Es wurde alles viel zu chaotisch, also haben wir nur triagiert und die lebensgefährlich verletzten Patienten zuerst behandelt. Diejenigen, die stabil waren, aber einen Spezialisten brauchten, wurden einem zweiten Wartebereich im Ruhegarten zugewiesen“, antwortete sie.

Der Hof führte zu einem weitläufigen Garten mit Blick aufs Meer. Leas kleine Beratungsecke befand sich am Ende eines kleinen Weges und war von zwei Seiten durch bewachsene Rankgitter abgeschirmt.

Es war der perfekte Ort für sie, um Patienten zu behandeln, die ihre Erlebnisse während des Erdbebens verarbeiten mussten. Es war wunderschön und ruhig, und trotz der Tragödie liebte Lea ihre Arbeit hier – mehr, als sie es je für möglich gehalten hatte.

Die Leute im Warteraum waren nicht die Einzigen, die darum kämpften, ihr inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. Lea war nach Griechenland gekommen, um selbst mit sich ins Reine zu kommen. Als sich das Erdbeben ereignete, war sie gerade auf der Insel angekommen. Und dann war sie geblieben, um zu helfen.

Der Fremde neben ihr stieß einen verächtlichen Laut aus.

„Was ist?“

„Nichts.“

„Wollen Sie eine Nachricht für Petra hinterlassen?“

Stirnrunzelnd sagte er: „Ist Theo … Dr. Nikolaides … schon zurück?“

Theo hatte sich gerade erst verlobt. Seine stürmische Romanze mit Cailey war ein Lichtblick in der Klinik gewesen, vielleicht auch ein Grund, weshalb mehr Menschen sich hier aufhielten als sonst. So als wollten sie an dem Glück teilhaben, das andere mitten in der allgemeinen Tragödie gefunden hatten. Cailey war im zweiten Monat schwanger, und das Baby stellte ein Symbol der Hoffnung dar.

„Er nimmt sich heute einen dringend nötigen Urlaubstag. Hatten Sie einen Termin bei ihm?“

„Nicht ganz.“ Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem halben Lächeln, bei dem sich Leas Pulsschlag unwillkürlich beschleunigte. „Er hat mich angerufen und mir mehr oder weniger zu verstehen gegeben, dass ich ein herzloser Bastard wäre, wenn ich nicht so schnell wie möglich nach Hause komme.“

„Sie leben hier?“, fragte Lea erstaunt.

Sein Lächeln wurde noch breiter. Er ließ die Unterlagen wieder auf den Stapel fallen und wandte sich ihr zu. „Ich lebe nicht in der Klinik, falls Sie das meinen.“

„Nein, das meine ich nicht. Ich dachte bloß …“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ungewöhnlich, da Reden ja ihr Beruf war, den sie liebte. Nein, eigentlich ging es dabei eher um das Zuhören, das Mitfühlen und Helfen.

Obwohl sie nicht jedem helfen konnte.

Flüchtig schloss sie die Augen, da ein heftiger Schmerz sie durchzuckte. Nein, denk nicht daran. Nicht jetzt.

Der Unbekannte berührte ihre Hand. „Hey, alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ja.“ Lea zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin nur müde. Außerdem habe ich vergessen, Sie nach Ihrem Namen zu fragen.“

„Oh, natürlich, entschuldigen Sie. Ich gehe immer davon aus, dass jeder mich hier kennt.“ Ein Schatten verdunkelte für Sekundenbruchteile seine braunen Augen, verschwand jedoch sofort wieder. „Ich bin Deakin Patera, einer der Gründungspartner der Klinik.“

Oh je, das hätte ihr auffallen sollen. Theo hatte angekündigt, dass Dr. Patera in den nächsten Tagen eintreffen würde. Allerdings hatte sie nicht mit jemandem gerechnet, der aussah, als wäre er direkt dem Cover eines Outdoor-Magazins entstiegen.

„Tut mir leid, ich habe Sie nicht erkannt.“

Er kämmte sich mit den Fingern durchs Haar. „Schon okay. Ich habe einen langen Flug hinter mir, und es ist ja auch nicht so, dass unsere Porträts hier irgendwo an der Wand hängen. Zum Glück.“

Lächelnd erwiderte Lea: „Vielleicht sollten sie das. Sie haben alle einen Ruf, der Ihnen offenbar weit vorauseilt.“

Der sanftere Ausdruck in seinen Augen schwand. „Da bin ich sicher.“ Das klang fast verächtlich.

„Ich verstehe nicht recht.“

„Ach nichts.“ Dr. Patera blickte wieder zu den Patienten im Warteraum hinüber. „Wo fangen wir an?“

„Viele Leute treffen sich hier einfach bloß mit Freunden oder Verwandten.“ Mit einem Nicken wies Lea auf die Gruppe, die gerade durch eine Tür aus Holz und Glas auf der linken Seite ging. „Die Klinik ist im Augenblick fast schon zu einem ähnlichen Treffpunkt geworden wie Stavros’ Taverna. Und da sich das Lokal in Gehweite befindet, scheint es ideal zu sein.“

Mit ihrer traditionellen weißen Stuck-Fassade und dem gepflegten Garten war die Klinik ein schönes Gebäude, in dem sich der Charme des Alten mit all den Vorzügen einer modernen medizinischen Versorgungseinrichtung verband. Im Ruhegarten gab es zahlreiche verwinkelte Ecken, die sich für vertrauliche Gespräche eigneten. Mehrere Bänke standen an einem sich schlängelnden Weg, der auch für Rollstühle breit genug war. Man konnte immer wieder etwas Neues entdecken. Eine weiße Strandmauer und ein Bootsanleger waren erst kürzlich hinzugekommen.

„Das sehe ich. Theo wollte immer, dass die Klinik mehr ist als nur eine medizinische Einrichtung. Daher auch der Garten der Stille.“

„Sie meinen den Ruhegarten? Es klingt, als wären Sie damit nicht einverstanden.“

Deakin Patera zuckte die Achseln, sodass sich sein Hemd über den muskulösen Schultern spannte.

Schnell wandte Lea ihren Blick davon ab und sah ihn wieder direkt an.

„Nein, so ist es nicht“, sagte er. „Ich bezweifle nur, dass ein künstlich geschaffener Ort den Menschen Stille vermitteln kann. Oder Ruhe“, verbesserte er sich. Er lächelte, wobei die linke Seite sich nicht ganz so weit hob wie die rechte. „Aber Theo ist überzeugt, dass das möglich ist.“

„Ich auch. Dort spreche ich mit den meisten meiner Patienten.“

„Wie funktioniert das denn? Hat Theo da ein Behandlungszimmer aufgebaut?“

Das Bild einer Patientenliege zwischen den Blumenbeeten brachte sie zum Lächeln. „Nein. Jedenfalls noch nicht. Natürlich nutze ich die vorhandenen Behandlungszimmer für körperliche Untersuchungen, aber der Garten ist viel besser dafür geeignet, Dinge zu besprechen.“

„Dinge? Zum Beispiel ungünstige Diagnosen?“

„Nicht ganz. Ich bin Psychiaterin.“ Abwehrend hob Lea beide Hände. „Bitte keine Couch-Witze!“

Verblüfft fuhr er zurück. „Couch-Witze sind sicher das Letzte, woran ich gerade denke. Hat Theo Sie eingestellt?“

Sie biss sich auf die Lippen. Vielleicht war der Ruhegarten nicht das Einzige, was Dr. Patera nicht sonderlich gefiel. „Ich war zufällig auf der Insel, als sich das Erdbeben ereignete. Ich bin geblieben, um zu helfen. Momentan ist es nur auf freiwilliger Basis.“

„Das Erdbeben war schon vor über einem Monat. Was ist denn mit Ihrer eigenen Praxis?“

Diesmal zuckte sie die Achseln. „Ich hatte schon in meinem Krankenhaus gekündigt, bin also gerade arbeitslos.“

„Und wo war das? In Athen?“

Ah, er hielt sie also für eine Griechin. Einer der Vorteile der Auswanderung ihrer Eltern nach Kanada bestand darin, dass Lea zweisprachig aufgewachsen war. Offenbar hatte Dr. Patera keinen Akzent bei ihr herausgehört, und das freute sie. Ebenso wie die Bereitwilligkeit, mit der die Inselbewohner sie offenbar akzeptiert hatten.

„Nein, ich lebe in Kanada. In Toronto.“

„Aber Ihre Familie stammt aus Griechenland.“

„Ja. Meine Eltern sind ausgewandert, als ich noch klein war.“

Jemand kam herbei und sagte etwas zu ihm. Als Dr. Patera sich dem Mann zuwandte, stockte Lea der Atem bei dem, was sie da sah.

Narben, und zwar große.

Dick und wulstig, begannen sie an Dr. Pateras markantem Kinn und bildeten von dort aus zwei Bahnen, die an seinem Hals entlangliefen und unter dem Hemdkragen verschwanden. Die Narben wirkten blasser als der Rest seiner Haut, waren also wohl schon alt.

Um Gottes willen, diese Wunden mussten qualvoll gewesen sein. Wundrandsäuberungen, Hauttransplantationen, Physiotherapie für die Beweglichkeit. All das gehörte zur Behandlung von Verbrennungen dritten Grades.

Wodurch waren sie verursacht worden? Eine Explosion? Eine ätzende Säure? Vielleicht beim Militär? Vermutlich war das leicht schiefe Lächeln, das Lea so attraktiv fand, dem Narbengewebe auf der einen Seite zu verdanken. Ihr Blick ging zu seinem Oberkörper. Wie viele Narben mochten unter seiner Kleidung verborgen sein?

Plötzlich stieg das Bild eines sehr nackten Dr. Patera vor ihr auf. Sie musste unwillkürlich schlucken, wobei sich ein höchst seltsames Gefühl in ihrer Magengegend regte. Sie biss sich auf die Lippen. Aber was man sich einmal vorgestellt hatte, ließ sich nicht wieder ausblenden.

Da wandte er seine Aufmerksamkeit unvermittelt wieder ihr zu, womit sie nicht gerechnet hatte. Sie sah ihn an, doch es war zu spät. Sie wusste es in dem Moment, als er seinen Blick erst zu ihrem Mund gleiten ließ, ehe er sie ansah.

Dr. Risi hatte seine verdammten Narben gesehen.

Deakin verzog das Gesicht. Sie waren ja auch ziemlich offensichtlich. Dass er jedem Gesprächspartner immer die rechte Seite zuwandte, war tief in ihm eingeprägt durch die langen Jahre, in denen er immer versucht hatte, seine beschädigte Haut möglichst außer Sichtweite zu halten.

Genau wie sein Gefühl der Scham?

Wahrscheinlich. Die beiden Dinge gingen Hand in Hand. Das war einer der Gründe, weshalb Deakin so ungern nach Mythelios zurückkam. Fast jeder hier wusste, was er getan hatte.

Abgesehen von Dr. Risi, und jetzt hatte auch sie die Narben gesehen. Nur kannte sie nicht den Grund. Nach dem Medizinstudium hatte Deakin die Insel verlassen, um möglichst nie wieder zurückzukehren. Zum größten Teil hatte er dies auch durchgezogen, doch seine drei besten Freunde hatten beschlossen, das befleckte Erbe ihrer Eltern für etwas Gutes und Sinnvolles einzusetzen. Und solange er sich aus der Ferne daran beteiligen konnte, war ihm das recht. Seine vielen Reisen erfüllten dafür ihren Zweck. Insofern war er in der Lage, seinen Input von Weitem zu geben, außer wenn seine persönliche Anwesenheit unbedingt erforderlich war.

So wie jetzt.

Falls Deakin eine mitleidige Miene bei der neuen Ärztin erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Stattdessen sah sie ihn mit ihren grünen Augen ruhig an.

Vermutlich lag dies an ihrem Beruf als Psychiaterin. Sie war dazu ausgebildet, Menschen zuzuhören, ohne sie zu beurteilen. Nicht schockiert oder entsetzt zu wirken, selbst wenn die Geschichte noch so hässlich war. Oder wie abstoßend die äußere Erscheinung auch sein mochte.

Ein halbes Jahr nach dem Unfall war er von seinem Vater zu einem Psychiater nach Athen geschickt worden. Doch Deakin hatte sich geweigert, irgendetwas zu sagen. Nach vier Sitzungen in angespanntem Schweigen hatten beide den Versuch aufgegeben.

Nun versuchte er, sich an das zu erinnern, was Lea eben gesagt hatte. Denn er musste sich davon ablenken, wie sie ihre weißen Zähne auf eine Art in ihre Unterlippe gepresst hatte, die für eine Psychiaterin viel zu sexy war.

Deakin wechselte zu Englisch, damit die Leute in der Nähe sie weniger verstehen würden, falls Lea ihn nach seinen Narben fragen sollte. „Also, von wo in Griechenland stammen Ihre Eltern?“

„Aus Athen, so wie Sie vorhin vermutet hatten. Mein Vater war Schweißer und ging nach Kanada, um dort bei dem Bau einer griechisch-orthodoxen Kirche mitzuarbeiten. Dann ist er dort geblieben.“ Mit einer schnellen Handbewegung warf sie eine dunkle Haarsträhne über die Schulter zurück. „Ein paar Monate später hat er meine Mutter und mich nachgeholt, und wir sind hingezogen, ohne das Land vorher gesehen zu haben. Aber wir sind dort glücklich.“

Sein abrupter Sprachwechsel brachte sie nicht im Geringsten aus dem Konzept. Leas Englisch war genauso tadellos wie ihr Griechisch. Deakin dagegen war sich bewusst, dass er noch immer einen ziemlich starken griechischen Akzent hatte, obwohl er seit vielen Jahren im Ausland immer Englisch sprach.

„Haben Sie nie Heimweh nach Griechenland?“

„Eigentlich nicht. Ich war ein Kind, als wir ausgewandert sind.“

Deakin hatte auch nie Heimweh. Und auch er war noch jung gewesen, als sich sein Leben schlagartig verändert hatte. Nur dass es in seinem Fall keine positive Veränderung gewesen war.

„Außerdem findet man Griechen an fast jeder Straßenecke“, fuhr Lea fort.

„Allerdings.“ Deakin hatte auf seinen Reisen beinahe überall Griechen getroffen. „Na schön, sollen wir anfangen? Behandeln Sie ausschließlich in der Beratung?“

„Nein. Wir waren ziemlich unterbesetzt, wie Sie sich sicher denken können. Deshalb habe ich geholfen, wo immer ich konnte. Die dringendsten Verletzungen durch das Erdbeben wurden behandelt, aber es gibt immer noch Probleme. Knochenbrüche, Wundinfektionen, Verbrennungen. Aber ich habe mich außerdem um solche Patienten gekümmert, die Mühe haben, mit den Auswirkungen des Bebens fertig zu werden. Das ist mein Fachgebiet, Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen.“

„PTBS nach militärischen Einsätzen?“, fragte er.

„Nein, meistens bei Privatpersonen. Traumata treten in vielen unterschiedlichen Formen auf.“

In diesem Augenblick kam Petra den Flur entlang und warf einen kurzen Blick herüber. Dann schaute sie genauer hin, und ihre Augen wurden groß.

„Deakin!“ Sie eilte durch die Tür zum Wartezimmer und drückte ihn in einer mütterlichen Umarmung fest an sich.

Ihre grauen Locken waren zu einem Knoten zusammengefasst, und ihre Brille hatte sie auf den Kopf geschoben. Beides zusammen verlieh ihr ein strenges Aussehen, was durchaus beabsichtigt war. Petra konnte sich mühelos Respekt verschaffen, wenn sie wollte.

„Das wird aber auch Zeit, dass du nach Hause kommst.“

Deakin versteifte sich unwillkürlich. Mythelios war nicht mehr sein Zuhause. Doch zumindest lenkte ihre Anwesenheit Dr. Risis Aufmerksamkeit von ihm ab. „Ich bin sicher, du sorgst dafür, dass in der Klinik alles reibungslos läuft.“

Sie setzte sich die Brille auf die Nase und schaute ihn über deren Rand hinweg an. „Was nicht einfach ist, das kann ich dir sagen.“

„Kann ich mir vorstellen. Sind Chris und Ares schon da?“

„Nein, noch nicht. Aber ich hoffe, ihr werdet bald alle wieder hier vereint sein. Das letzte Mal ist schon viel zu lange her.“

„Stimmt.“ Zwar vermisste Deakin die Insel nicht, seine Freunde jedoch schon. „Dann hat Theo die Krise also alleine gemeistert?“

„Na ja, er hat ja jetzt Cailey. Sie war uns eine große Hilfe. Und Lea war Aprosdókito kaló. Sie ist sehr strukturiert. Und wunderschön, findest du nicht?“

Die Psychiaterin wurde rot. Petra hatte sie ein Geschenk des Himmels genannt.

Petra hatte recht. Lea war sehr attraktiv. Ihre von dunklen Wimpern umrahmten Augen glänzten, und ihre Augenbrauen waren elegant geschwungen. Bei jedem Lächeln traten ihre hohen Wangenknochen hervor.

Und dennoch lag bei ihr irgendetwas dicht unter der Oberfläche. Deakin hatte etwas davon gespürt, als sie von PTBS gesprochen hatte. Ob ihre Patienten sie möglicherweise auf einer persönlichen Ebene berührten? Auch wenn man sich noch so sehr um emotionale Distanz bemühte, gab es einige Patienten, die einem unter die Haut gingen. Das wusste er aus eigener Erfahrung.

Ihm schnürte es jedes Mal die Kehle zu, wenn er gerufen wurde, um ein Kind zu behandeln, das schwere Verbrennungen erlitten oder durch entzündliche Stoffe oder Feuerwerkskörper irgendwelche Körperteile verloren hatte. Genau aus diesem Grund hatte er sich auf Brandwunden spezialisiert.

„Ich glaube, du hast Dr. Risi in Verlegenheit gebracht, Petra.“

„Nein, schon gut. Und bitte nennen Sie mich Lea.“

Prüfend sah Deakin sie an. Ihr Tonfall klang nicht so, als wäre alles gut. Befürchtete sie etwa, dass Petra sie mit ihm verkuppeln wollte? Da musste sie sich nun wirklich keine Sorgen machen. Er hatte nicht vor, irgendeine Romanze anzufangen. Und schon gar nicht mit einer Frau, die in Verbindung zur Insel stand.

Andererseits war sie nur eine Besucherin, die nicht lange auf Mythelios bleiben würde.

Sein Beruf ließ keine festen Beziehungen zu, und das war ihm nur recht. Theo mochte vielleicht die wahre Liebe gefunden haben, aber Deakin wollte und brauchte das nicht. Beziehungen bedeuteten nur, dass man einem anderen Menschen seine schlimmsten Seiten zeigte.

Erneut warf Lea ihre widerspenstige Haarsträhne über die Schulter und schaute zum Wartezimmer hinüber, das sich nach und nach leerte.

„Es sieht vielleicht nicht so aus, aber momentan ist es sogar eher ruhig.“ Sie warf einen Blick auf die Patientenliste. „Bis nach der Mittagspause wird es auch so bleiben.“

Deakin wusste nicht genau, inwiefern er überhaupt gebraucht wurde. „Kommen immer noch neue Verletzungen rein?“

„Teilweise. Mehrere Gebäude sind noch unsicher, deshalb haben wir es öfter mit Quetschungen zu tun. Und in diesen unsicheren Gebäuden verlaufen Gas- und Stromleitungen, sodass auch Stromschläge und Verbrennungen auftreten, und …“

Schon wieder dieses Wort. Obwohl Lea weitersprach, hörte er nichts mehr.

Deakins Vater hatte sich ein neues Boot gekauft, das in dem wieder aufgebauten Bootshaus lag. Nach dem Tod seiner Eltern hatte Deakin alles geerbt, und er hatte auch das Boot behalten. Immer, wenn er zu Hause war, was nicht allzu oft vorkam, machte er eine Bootsfahrt. Die Touristen, die das Haus buchten, durften dort alles in vollem Umfang nutzen, den Geländewagen und das Boot mit eingeschlossen.

„Hallo?“ Lea schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Er zog die Brauen zusammen. „Mir geht es gut. Ich habe bloß einen ziemlich starken Jetlag. Ich muss dringend duschen und mich rasieren.“

„Sie sind sicher erschöpft. Sind Sie vom Festland gleich hierher geflogen?“

„Ja, aber mir geht’s gut“, wiederholte er. Obwohl das nicht stimmte, aber das lag nicht an seiner Müdigkeit.

„Ich habe heute Morgen mit deiner Tante gesprochen“, schaltete Petra sich ein. „Sie war sicher, dass du heute kommst, und ich soll dich sofort zum Haus rüberschicken. Sie hat dir ein Moussaka in den Kühlschrank gestellt.“

Seine Tante Cecilia war für die Vermietung seines Elternhauses und des kleinen Bauernhäuschens an Touristen zuständig. Das war besser, als die Gebäude einfach leer stehen zu lassen.

„Wunderbar.“ Als Deakin zufällig auf die Wand hinter dem Anmeldetresen schaute, blieb sein Blick an etwas hängen.

Verdammt, was hat das denn hier zu suchen? Mit einem finsteren Ausdruck schüttelte er den Kopf.

Dann fragte er Lea: „Und wo sind Sie jetzt untergebracht?“

„In einem privaten kleinen Häuschen, ein paar Kilometer von hier entfernt.“

Petra lachte und deutete nach Westen. „Ein paar Kilometer in dieser Richtung.“

Allzu viele Touristenunterkünfte waren momentan wohl nicht in Betrieb. Auch wenn die Schäden auf der Insel sich glücklicherweise in Grenzen hielten, war der Tourismus vermutlich stark eingebrochen. Deakins Tante hatte gesagt, dass das Haus seit dem Erdbeben leer stand.

Seines Wissens gab es auf der Westseite der Insel eigentlich auch nichts außer den teuren Villen ähnlich wohlhabender Leute wie seine Eltern.

Deakin stutzte. „Wessen Häuschen?“

Während Lea sie verständnislos ansah, lächelte Petra vielsagend. „Theo, Cailey und deine Tante waren der Meinung, dass wir sie am besten dort unterbringen, da das Hotel, das sie ursprünglich gebucht hatte, bei dem Erdbeben beschädigt wurde. Deshalb wohnt sie in dem Bauernhäuschen, Deakin. In deinem Häuschen.“

2. KAPITEL

Das Haus gehörte Deakin?

Lea stellte eine Pfanne auf den Herd und biss die Zähne zusammen.

Wieso hatte Theo ihr nichts davon gesagt? Sie hatte angenommen, es würde sich um das Haus eines Verwandten von ihm handeln. Das kleine weiß getünchte Häuschen hinter der opulenten Villa war perfekt, und Lea wohnte gerne hier. Gegen das weitläufige gepflegte Gelände wirkte der Ruhegarten der Klinik wie von einem Puppenhaus. Der Garten der Klinik war bunt bepflanzt und zwanglos, während die Villa hier eindeutig nach Geld aussah. Sogar über dem Bootshaus gab es ein kleines Apartment.

Bisher hatte Lea noch nicht genauer darüber nachgedacht, wer auf der Insel sich so etwas leisten konnte. Theo hatte gesagt, dass seine Eltern und die seiner Freunde eine Reederei namens Mopaxeni Shipping gegründet hatten und alle reich gewesen waren. Sie kannte nicht die ganze Geschichte. Und obwohl die Klinik nach dem neuesten technischen Standard ausgerüstet war, hatte Leo den Eindruck, dass sie sich finanziell nur so gerade über Wasser hielt und daher auf Spendenaktionen angewiesen war.

Wie beispielsweise der Kalender über dem Anmeldetresen, auf dem zwölf äußerst attraktive einheimische Männer abgebildet waren. Einige davon Ärzte oder Angestellte der Klinik, aber auch Feuerwehrmänner oder Angestellte im öffentlichen Dienst.

Deakin wohnte jetzt im Haupthaus. Er war über Leas Anwesenheit nicht sonderlich erfreut gewesen, das hatte sie ihm angesehen. Aber wenn sie die Insel nicht verlassen wollte, blieb ihr keine andere Wahl, als hier zu bleiben. Sie liebte ihre Arbeit in der Klinik zu sehr, um sich von Deakins Brummigkeit vertreiben zu lassen.

Wenn er nicht da war, wurden die Gebäude ohnehin vermietet. Weil Theo nicht mit Sicherheit gewusst hatte, ob Deakin tatsächlich zurückkommen würde, und Lea in der Klinik gebraucht wurde, hatten alle dies für die beste Lösung gehalten.

Lea schlug ein Ei in die Pfanne, das in dem heißen Öl zischte und einen appetitlichen Duft verbreitete, bei dem ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

Sie nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und holte sich Orangensaft aus dem Kühlschrank. Nach allem, was sie über Deakin gehört hatte, ein plastischer Chirurg, der sich auf die Behandlung von Brandopfern spezialisiert hatte, hielt er sich nie lange an einem bestimmten Ort auf. Wahrscheinlich würde er höchstens ein bis zwei Wochen bleiben.

Er mochte die Insel nicht. Irgendetwas hier schien ihn negativ zu beeinflussen.

Vielleicht war er hier verletzt worden.

Aber das spielte keine Rolle. Lea war nicht hergekommen, um sich Gedanken über die Bewohner von Mythelios zu machen, sondern um zu flüchten.

Nein, um einen Neuanfang zu machen.

Da gab es einen wesentlichen Unterschied. Ein Neuanfang bedeutete, dass man auf dieser Erde blieb und nicht …

Ein schriller Kreischton riss sie unvermittelt aus ihren Gedankengängen. Was war das?

Ah, der Rauchwarnmelder, direkt hinter ihr. Aber wieso?

Autor

Tina Beckett
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