Im Schloss der Sehnsucht

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Weihnachten ist die schönste Zeit im Jahr für Zimmermädchen Grace. Als der faszinierende Unternehmer Finlay Armstrong sie bittet, sein Londoner Luxushotel festlich zu schmücken, ist sie in ihrem Element. Bald scheint nicht nur sie, sondern auch der einsame Witwer verzaubert vom Lichterglanz, und sie kommt ihm immer näher. Doch während sie nach einer Liebesnacht auf seinem Schloss in den schottischen Highlands von einer Zukunft mit ihm träumt, stellt er plötzlich klar: Nach dem tragischen Verlust seiner Frau will er sein Herz niemals wieder verschenken!


  • Erscheinungstag 05.12.2017
  • Bandnummer 0025
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711610
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Grace strich sich die Schneeflocken von den Schultern, während sie das exklusive Armstrong Hotel in Chelsea, London, durch den Hintereingang betrat. Es war erst kurz nach sechs Uhr am Morgen, die Straßen lagen im Dunkeln, und im frisch gefallenen Schnee waren einzig Graces Fußabdrücke zu sehen.

Frank, der Senior-Concierge, kam kurz nach ihr herein. Er grinste breit, als er bemerkte, wie sie durch das Fenster den Schnee draußen bewunderte.

„Endlich das passende Wetter“, murmelte er und schüttelte sich die Flocken von seinem Mantel. Dann stimmte er das traditionelle englische Weihnachtslied It’s beginning to look a lot like Christmas an und brach sofort wieder ab. „Ach, Sie sind zu jung, um sich an dieses Lied zu erinnern.“

Sie hob die Augenbrauen. „Frank, Sie sollten doch wissen, dass ich jedes Weihnachtslied kenne, das jemals geschrieben wurde.“

Gemeinsam gingen sie zum Umkleideraum. „Welche Version bevorzugen Sie? Johnny Mathis, Frank Sinatra oder Michael Bublé?“ Zusammen mit ihm sang sie die vertraute Melodie, während sie ihr langes dunkles Haar zu einem strengen Knoten frisierte und eine weiße, gestärkte Schürze über ihr schwarzes Kostüm band.

Weihnachten war ihre absolute Lieblingsjahreszeit. Sie brachte alte Erinnerungen an Festtage zurück, die sie mit ihrer Großmutter in deren winziger Wohnung in einer der ärmeren Gegenden Londons verbracht hatte.

Lange hatten sie zu zweit dort gelebt, und was ihnen an Reichtum fehlte, machten sie mit Liebe wett. Doch dieses Fest würde das erste ohne ihre geliebte Granny werden. Und trotzdem: Grace war entschlossen, sich nicht der Trauer hinzugeben. Denn genau das hätte ihre Großmutter niemals gewollt.

Vorsichtig schob Frank die Arme in sein Arbeitsjackett – das dunkelgrün und golden war – und begann es zuzuknöpfen. „Ich schwöre, dieses Ding läuft jede Nacht in diesem Schrank ein kleines bisschen mehr ein.“

Lachend schlug Grace ihren Spind zu und drehte sich um, um ihm mit den Knöpfen zu helfen. Dabei sang sie unbekümmert weiter.

Als sie beide wenig später gemeinsam den Hotelkorridor entlanggingen, seufzte Grace.

„Ich wünschte, es würde überall richtig nach Weihnachten aussehen“, sagte sie kopfschüttelnd. „Ich verstehe einfach nicht, warum das hier im Armstrong nicht so ist. Alle anderen Hotels in London haben gigantische Weihnachtsbäume in den Lobbys, und die Räume sind mit Girlanden und Tannengrün geschmückt.“

Das Armstrong Hotel war Teil einer internationalen Luxus-Hotelkette, die auch in Paris, Tokio, Rom und New York vertreten war. Hier übernachteten Politiker ebenso wie Rockstars und Hollywood-Sternchen. Das Hotel war berühmt für seinen Glamour und einen gewissen persönlichen Touch. Hier legte man viel Wert aufs Detail.

Grace machte es Spaß, hier bei ihrer Arbeit etwas von dem zu erfahren, was das Leben der oberen Zehntausend ausmachte. Zum Beispiel war es die Angewohnheit eines berühmten Popstars, die eigene Unterwäsche statt in die Wäsche sofort in den Müll zu werfen. Ein bekannter Politiker hegte eine heimliche Schwäche für Liebesromane, und ein anderer Staatsmann aß nur rot gefärbte Süßigkeiten.

Sie erreichten die Treppe zur Hauptrezeption.

„Ich meine, dieses Haus ist eines der allerersten Klasse, und trotzdem wird kaum für Weihnachten dekoriert?“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Hier sieht es total … kalt aus.“

Seufzend steuerte Frank auf den in dunklen Granit eingefassten Empfangstresen zu. „Ich weiß.“ Er sprach die Worte langsam und ruhig aus, da fiel sein Blick auf ein kleines, gläsernes Schild mit schwarzer Schrift, das auf dem Tresen stand.

Das Armstrong wünscht Ihnen ein frohes Weihnachtsfest

Und darauf beschränkte sich die festliche Dekoration in diesem Bereich des Hotels.

Frank klappte die lederne Mappe vor sich auf und reichte Grace einen Briefumschlag. „Früher erstrahlte das Armstrong zu Weihnachten in Lichtern und glänzendem Schmuck“, erklärte er. „Alles sehr exklusiv, alles vom Feinsten. Fast übertrieben, aber sehr belebend.“

Automatisch öffnete sie den Umschlag mit ihren Aufträgen für den heutigen Tag, dann sah sie hoch. „Also? Was ist passiert?“

Er machte eine lange Pause, ehe er darauf antwortete. Sein Blick trübte sich.

Sie selbst war erst wenige Monate im Hotel, aber Frank arbeitete schon ewig hier. Er verhielt sich stets absolut professionell, zuverlässig und wurde vor allem von den Stammgästen hoch geschätzt.

„Sie haben eine Umfirmierung durchgeführt“, antwortete er ausweichend.

Grace zog die Stirn kraus. Zu gern hätte sie ihn ausgefragt, aber wie die meisten guten Concierges hielt er sich an äußerste Diskretion. Es war unwahrscheinlich, dass er Interna ausplaudern würde.

Sie winkte mit ihrem Aufgabenzettel. „Ich wünschte, man würde mir erlauben, auch ein paar kleine Änderungen durchzuführen. Überall etwas Feenstaub zu verteilen, sozusagen.“ Mit ausgebreiteten Armen drehte sie sich um die eigene Achse. „Ein paar funkelnde Lichter, ein geschmückter Weihnachtsbaum an der Tür, und wie wäre es mit Girlanden am Empfangstresen? Wir könnten einen Haufen bunt verpackter Päckchen in dem kleinen Erker beim Durchgang zur Bar aufbauen?“ Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie dieses Hotel mit all der Dekoration wirken würde. So viel wärmer und festlicher.

Frank lachte trocken. „Träum weiter, Grace!“

Ihre Lider öffneten sich, und da war … nur nackte graue Tristesse. Sie beugte sich zu Frank vor. „Dieser Ort würde sogar nach Weihnachten duften, wenn ich mit ihm fertig bin! Tanne. Kekse. Zimtstangen. Cranberrys. Ausschließlich echte Aromen, keine einzige Duftkerze.“

Der ältere Mann zog eine Augenbraue hoch. „Ich bin mir ziemlich sicher, wir haben ein paar Weihnachtskisten irgendwo unten im Keller stehen.“ Nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Aber ich bezweifle, dass wir sie jemals wiedersehen werden. Du solltest dir etwas daraus aussuchen – für zu Hause. Dann werden die Sachen wenigstens mal benutzt.“

Sie lächelte ihn an. Von den anderen Mädchen hatte er sicher gehört, dass sie allein lebte. Normalerweise mochte sie es nicht, wenn sie bemitleidet wurde. Doch Frank hatte nur die besten Absichten, das wusste sie genau. Mit ein wenig Verkleidung hätte er der Weihnachtsmann höchstpersönlich sein können.

Das Armstrong Hotel bestach in allererster Linie durch sein erstklassiges Personal. Doch opulent ausgestattet war es ebenfalls, von den teuren Bettbezügen bis hin zum Sternerestaurant. Es war eine andere Welt als die, in der Grace groß geworden war.

Die Arbeit bei der Agentur Maids in Chelsea, in deren Auftrag Grace hier im Armstrong beschäftigt wurde, war wirklich ein Segen für sie. Jahrelang hatte sie nur befristete Jobs angenommen, um immer für ihre Großmutter da sein zu können. Doch vor knapp einem Jahr hatte diese den Kampf gegen den Krebs verloren, und Grace war klar geworden, dass sie sich nun um ihr eigenes Leben kümmern musste. Für die Maids in Chelsea zu arbeiten war gerade genau das Richtige für sie, auch wenn Zimmermädchen nicht gerade ihr Traumjob war. Aber die Bezahlung stimmte, und einige Kolleginnen waren in kurzer Zeit ihre besten Freundinnen geworden.

Und die Arbeit im Armstrong hatte ihre besonderen Reize. Es war eines der exklusivsten Hotels in ganz London, und nur wenige Gäste residierten hier dauerhaft. Einige große Firmen in der Stadt hatten grundsätzlich Zimmer für Geschäftspartner von außerhalb reserviert, und einige Suiten schienen ständig leer zu stehen. Und dann gab es da noch die Prominenten.

In den wenigen vergangenen Monaten hatte Grace schon ausreichend Skandale und kuriose Begebenheiten mitbekommen, um dem Boulevard Schlagzeilen für ein ganzes Jahr zu liefern. Doch Verschwiegenheit war ein Vertragsbestandteil bei den Maids in Chelsea, und schon allein deswegen würde sie niemals ein Wort nach außen dringen lassen.

Allerdings überraschte sie ihr persönlicher Auftrag für heute. „Ich soll die Nottingdale Suite reinigen? Das Penthouse? Seit ich hier arbeite, hat dort niemand gewohnt.“

Ihre Kollegin Anya, die inzwischen zur Schicht erschienen war, überprüfte das im Computer. „Ja, sie wird nachher benötigt. Wir erwarten den Gast gegen fünf Uhr.“

„Wer wohnt denn normalerweise dort?“

Anya lächelte. „Ich bin mir nicht sicher. Gerüchten zufolge benutzt sie dieser zurückgezogene Tycoon, dem die ganze Hotelkette gehört.“

Neugierig kam Grace näher. „Ein Mann? Wie heißt er?“

Abwehrend hob ihre Kollegin die Hände. „Das müsstest du besser wissen als ich. Schließlich arbeitest du länger hier.“

Doch Grace schüttelte den Kopf. „Dafür habe ich mich nie interessiert. Und ich war auch noch nie oben.“ Sie zwinkerte Anya zu. „Das könnte spaßig werden.“

Und Grace hatte tatsächlich eine gute Zeit. Der Morgen verging wie im Flug. Sie putzte ein paar Zimmer und erfüllte einige Extrawünsche ihrer Gäste. Zum Beispiel musste sie sieben riesige Koffer für ein Paar auspacken, das nur zwei Nächte bleiben wollte.

Danach verbrachte sie fast eine ganze Stunde bei Mrs. Alice Archer, ihrer Lieblings-Dauerresidentin, die schon neunundachtzig Jahre alt war. Mrs. Archer brauchte besonders weiches Bettzeug für ihre empfindliche Haut, und Grace half der alten Dame gern dabei, ihren Rücken einzucremen und sich danach anzuziehen.

Alices begehbarer Schrank war die wahr gewordene Fantasie einer jeden modebegeisterten Frau: unzählige Originalkleider aus den 40er Jahren, allesamt hochwertig und makellos gepflegt. Weite Röcke, taillierte Jäckchen. Gingham-Stoffe. Halstücher in allen Farben. Ungetragene Abendkleider aus echter Seide. Und zu fast jedem Outfit gab es die passenden Schuhe und edle Handtaschen.

Zweimal pro Woche ließ Alice Archer sich die Haare frisieren, und sie war sehr anspruchsvoll, was ihr Make-up betraf. Jeden Morgen brachte Grace ihr Limonentee und half ihr beim Zurechtmachen, was Grace sehr an ihre Zeit mit ihrer eigenen Großmutter erinnerte.

Allerdings hatte Gran diese Art Lifestyle niemals genießen können! Aber wie sie verfügte auch Alice über einen blitzgescheiten Verstand und ein riesengroßes Herz.

Grace schloss gerade die Schnallen an Alices Schuhen, während die alte Dame ihren Tee genoss.

„Und? Was haben Sie heute vor?“

Alice tätschelte ihr die Hand. „Danke, Liebes. Heute ist Donnerstag, also werde ich nachmittags zur Teestunde im Ritz sein. Ich treffe mich dort mit einem alten Arbeitskollegen von mir.“ Freundschaftlich stieß sie die jüngere Frau an der Schulter an. „Er hat mir früher mal einen Antrag gemacht, müssen Sie wissen.“

Erstaunt sah Grace hoch. „Wirklich? Das klingt aber spannend. Warum haben Sie ihn nicht geheiratet?“

Die alte Frau lachte. „Harry? Keine Chance. Harry war ein echter Flegel, der um die Häuser zog. Er hätte mir das Herz gebrochen, also musste ich seines zuerst brechen.“

Grace zwinkerte verblüfft. Ihr ging der Tonfall der alten Dame unter die Haut. Und da war noch etwas hinter diesen perfekt geschminkten Augen … ein gewisser Ausdruck. Bereute Alice ihre Entscheidung etwa?

Hoffentlich nicht. Aber Grace konnte sie gut verstehen. Sie selbst würde auch nichts mit einem Lebemann anfangen. Eine bedeutungslose Affäre war nichts für sie, dafür hatte sie im Leben schon genug Zurückweisung erfahren. Von der eigenen Mutter verlassen zu werden, war wohl das Schlimmste, was man erleben konnte. Ihre war sogar auf einen anderen Kontinent gezogen, hatte dort geheiratet und die Familie gegründet, die sie schon immer haben wollte … anstelle der ungewollten Teenagerschwangerschaft von damals!

Grace hatte sich immer geschworen, ihr Herz an keinen anderen Menschen zu verlieren. Schon gar nicht an einen Mann, der sie nicht wertzuschätzen wusste und ihr keinen Respekt entgegenbrachte. Sie wollte alles haben: den Ritter in schillernder Rüstung auf einem weißen Pferd, absolute Hingabe und einen Partner, auf den sie sich bedingungslos verlassen konnte.

Aus diesem Grunde war sie auch heute noch allein.

Seufzend kniete sie sich auf den Teppich und sah Alice mit großen Augen an. „Ich denke, so sehr können Sie sein Herz nicht gebrochen haben, sonst wäre er nach all den Jahren nicht hier, um Sie zu treffen.“

Auch Alice seufzte und ließ sich gegen die Lehne ihres Sessels sinken. „Vielleicht sind wir auch nur die Einzigen, die übrig geblieben sind.“

Liebevoll drückte Grace die knochige Hand der alten Lady. „Ich wette, er ist ganz wild darauf, Sie endlich wiederzusehen.“

Nach wenigen Sekunden schien Alice sich wieder von den Gedanken an die Vergangenheit zu lösen. „Was haben Sie eigentlich geplant?“, wollte sie wissen. „Geben Sie endlich einem der jungen Männer eine Chance, die ständig mit Ihnen ausgehen wollen?“

Grace spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. Es schien Alices Mission zu sein, ihre junge Freundin an einen passenden Kavalier zu vermitteln. Andererseits waren die Kandidaten, die sich in letzter Zeit um Grace bemüht hatten, nicht unbedingt passend. Lenny, der Motorradrocker, hatte eigentlich bloß eine billige Übernachtungsmöglichkeit gesucht. Und Alan, der Banker, war, sobald sie zum ersten Mal allein gewesen waren, zu einer Art Oktopus mit acht Armen mutiert. Ross hatte gerade erst das College abgeschlossen und war auf der Suche nach jemandem, der die Wäsche machte und für ihn einkaufen ging. Und Nathan? Er schien perfekt zu sein: gut aussehend, ambitioniert und unglaublich höflich. Doch als sie sich zum ersten Mal küssten, hatten beide gewusst, dass kein Funke übersprang.

Grace suchte noch immer nach dem Ritter auf dem weißen Pferd.

Ein wenig traurig machte sie das schon. Ihre Freundinnen bei den Maids in Chelsea schienen sich gerade in rasantem Tempo fest zu binden. Emma war wieder mit Jack zusammen – ihrem heimlichen Ehemann, von dem sie niemandem etwas verraten hatte. Und Ashleigh war ihrem anbetungswürdigen Griechen Lukas verfallen. Selbst Clio, ihre Chefin, hatte gerade erst ihre Verlobung mit ihrem früheren Freund Enrique bekannt gegeben und plante eine intime Hochzeitsfeier zu Silvester*. Und vor zwei Tagen war ihre Singlefreundin Sophie nach einem Event, auf dem sie zusammen gearbeitet hatten, plötzlich ohne Abschied verschwunden. Was nur mit einem Mann zusammenhängen konnte.

Allmählich fühlte Grace sich wie eine Außenseiterin.

Kopfschüttelnd stand sie auf. „Für mich kommt kein Mann infrage, tut mir leid. Aber vielleicht können wir beide einen guten Vorsatz fürs neue Jahr treffen und uns einen geeigneten Verehrer suchen?“

Die alte Lady lachte erstickt. „Na, das wäre ein Spaß!“ Dann warf sie einen Blick auf ihre goldene Armbanduhr. „Was müssen Sie als Nächstes tun?“

Erschrocken zuckte Grace zusammen, als sie die Zeiger auf der Uhr sah. „Wo ist bloß die Zeit geblieben? Ich muss mich echt beeilen, weil ich die Penthouse-Suite vorbereiten muss. Die Nottingdale. Ich war noch nie dort, aber ich habe gehört, sie wird vom Eigentümer persönlich genutzt.“

Schweigend starrte Alice sie mit ihren hellblauen Augen an.

„Was ist?“, sagte Grace. „Kennen Sie ihn etwa?“

Die alte Frau presste die Lippen aufeinander. Sie zögerte, ehe sie weitersprach, und ihre trockenen Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. „Ich lebe hier schon eine Weile. Vielleicht kenne ich ihn ein bisschen.“

Voller Vorfreude richtete Grace sich auf. „Dann erzählen Sie mir bitte von ihm, ja? Alles klingt unheimlich mysteriös. Niemand scheint ihn richtig zu kennen.“

Langsam schüttelte Alice den Kopf. „Oh nein, Grace. Manchmal ist es gut, wenn ein Geheimnis gewahrt bleibt. Ich bin sicher, irgendwann werden Sie ihm persönlich begegnen.“

Ergeben machte Grace sich auf den Weg zur Tür. „Na gut. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie mir etwas verschweigen, Alice Archer. Doch jetzt muss ich los. Viel Spaß bei Ihrer Verabredung heute Nachmittag.“

Leise schloss sie die Tür hinter sich und nahm dann den Personalaufzug hinauf in die Penthouse-Suite.

Lautlos glitt der Fahrstuhl mit ihr nach oben, und Grace musste lächeln. Im ganzen Hotel wurden ansonsten traditionelle Fahrstühle benutzt. Sie liebte die gepolsterten kleinen Bänke, die Holzverkleidungen und Spiegel. Doch dieser Privataufzug glich der grauen Monotonie im Eingangsbereich, und als sich endlich die Türen öffneten, zuckte Grace vor Schreck zusammen.

Zögernd trat sie in den Flur und zog ihren Trolley hinter sich her. Auch der Eingang zum Penthouse unterschied sich vom Rest des Hotels. Normalerweise waren die Flure zu den Zimmern mit weichem Teppich ausgelegt, aber hier war der Boden gefliest, und ihr Wagen hinterließ ein hohles Echo im Gang.

Dann stand Grace vor einer schwarzen Tür, auf der silberne Buchstaben eingelassen waren: The Nottingdale Suite.

Sie schluckte, und ihr Mund fühlte sich trocken an. Es war lächerlich, aber sie war furchtbar nervös. Weswegen eigentlich?

Zügig zog sie ihre Personalkarte durch die Schließmechanik an der Tür. Eine elektronische Stimme durchbrach die Stille: „Grace Ellis, Housekeeping“. Erschrocken machte sie einen Schritt rückwärts. Das war in den vergangenen Monaten nie in diesem Hotel passiert, und es dauerte einen Moment, ehe ihr Herz wieder im normalen Takt schlug. Ihre Karte identifizierte sie also?

Verwundert starrte sie das kleine Stück Plastik an, und ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Natürlich identifizierte sie diese Karte, dafür war sie schließlich geschaffen worden. Aber nie zuvor hatte ein Programm deswegen ihren Namen laut verlesen. Das war irgendwie zu … futuristisch.

Zögernd öffnete sie die Tür, und während sie aufschwang, holte Grace tief Luft. Genau vor ihr befand sich das größte Fenster, das sie jemals im Leben gesehen hatte. Dahinter erblickte sie Chelsea und noch mehr von London. Wie hypnotisiert trat sie näher … dieser Ausblick war wirklich besonders spektakulär.

King’s Road mit all den exklusiven Boutiquen. Sloane Square. Sie sah weiß getünchte georgianische Stadthäuser, umgebaute Cottages und Straßen, die von Kirschbäumen umsäumt waren. Hier lebten Promis, russische Oligarchen und internationale Geschäftsleute. Man konnte sich kaum vorstellen, was es wohl kostete, diese vielen Wohnungen und Häuser in Schuss zu halten.

Grace begann ihre Tour durch das Penthouse. Die Stille um sie herum schüchterte sie ein. Es war, als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen. Doch im großen Schlafzimmer entdeckte sie einen dunklen Reisekoffer. Demnach war jemand kürzlich da gewesen, wenn auch nur, um einen Koffer abzustellen.

Aufmerksam sah sie sich um. Auf dem breiten Bett befand sich nur ein Laken, und im glänzend schwarzen Schrank fand sie schnell das Bettzeug und frische Bezüge. Die Türen sprangen auf, sobald man sie mit den Fingerspitzen berührte. Es dauerte nur wenige Minuten, um alles in klassischem Grau zu beziehen.

Anschließend öffnete sie den Koffer und sortierte die Sachen in den Kleiderschrank. Offensichtlich gehörten sie einem Mann. Polierte, handgenähte Lederschuhe. Maßgeschneiderte Oberhemden. Dann fand sie plötzlich ein kleines Bündel in der Innentasche eines eleganten Jacketts, und in ihrem Hals formte sich ein Kloß. Dabei wusste sie gar nicht, warum sie dieser Fund außer Fassung brachte …

Behutsam wickelte sie eine Lage Taschentuch nach der anderen ab und schluckte, als sie sah, was sich darin befand: ein funkelnder Weihnachtsengel aus Keramik. Ziemlich zerbrechlich. Kein Wunder, dass er sorgfältig eingewickelt gewesen war.

Es war ein Anhänger, und Grace hielt ihn am Bändchen hoch, sodass er im Nachmittagslicht glitzerte. Er war weiß und mit Silber und Gold verziert. Ein wunderschöner Schmuck für einen Weihnachtsbaum. So etwas sollte nicht in irgendeiner Tasche verschwinden.

Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich im Raum umsah. Vielleicht verbrachte dieser Geschäftsmann ja seine Weihnachten getrennt von seiner Familie? Eventuell war dieser kleine Anhänger seine einzige Verbindung mit seinem Zuhause?

Ein Gedanke formte sich in ihrem Kopf. Frank hatte ihr erzählt, im Keller würden sich noch Kisten mit Weihnachtsdekoration befinden. Damit konnte sie diese Suite doch etwas gemütlicher gestalten? Schließlich stand Weihnachten unmittelbar bevor. Nur noch eine Woche!

Ihre Stimmung hellte sich auf, und sie dachte darüber nach, wie ungern sie selbst während der Feiertage allein war. Niemand sonst sollte das durchmachen müssen …

Nur eine halbe Stunde später hatte sie im Keller gefunden, was sie suchte. Und nach zwei weiteren Stunden – als der Londoner Himmel sich bereits dunkel färbte – hatte sie schließlich den gewünschten Effekt in der Penthouse-Suite erzielt.

Im Wohnzimmer stand ein von Lichterketten erhellter Baum, der eine glänzende goldene Spitze in Form eines Sterns trug. Auch an den Vorhängen und am Badezimmerspiegel hatte sie Lichterketten angebracht. Jedes Zimmer dieser Suite war weihnachtlich geschmückt. Nicht übermäßig, aber geschmackvoll und mit Stil.

Zufrieden schritt sie durch die Räume und genoss die Atmosphäre, die sie geschaffen hatte. Versteckt platzierte Gewürzteller verbreiteten einen herrlichen Duft nach Gewürzen und Apfelsinen. Grace schloss die Augen und sog das Aroma genussvoll ein. Dann ging sie ins Schlafzimmer und platzierte den kleinen Weihnachtsengel aus dem Jackett mitten auf dem weichen Kopfkissen.

„Einfach perfekt“, flüsterte sie ergriffen.

„Was machen Sie da?“, erklang eine eisige Stimme hinter ihr.

Finlay Armstrong war müde. Um ehrlich zu sein, war er todmüde. Schon seit Tagen hatte er kaum geschlafen, weil er ständig zwischen Japan, den USA und nun England herumgereist war. Und die ganze Zeit über war er den Anrufen seiner Eltern ausgewichen – wie jedes Mal um diese Jahreszeit.

Wann würden sie endlich begreifen, dass er sich zu Weihnachten bewusst mit Arbeit überforderte, nur um diese emotionale Zeit zu überstehen?

Schon von der Limousine aus, die ihn vom Flughafen herbrachte, hatte er den Zimmerservice angerufen und ein leckeres Abendessen bestellt. In den nächsten Minuten würde es hoffentlich geliefert werden, und anschließend konnte er sich dann im Bett verkriechen und für ein paar Stunden alles um sich herum vergessen.

Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass sich jemand in seinem Penthouse befand. Schon gar nicht jemand, der etwas berührte, das ihm heilig war.

Wut kochte in ihm hoch. Er hasste Weihnachten. Er hasste es wirklich, und zwar mit jeder Faser seines Körpers. Die kitschigen Grußkarten, die schwülstigen Lieder, die zahllosen, überflüssigen Geschenke und das ewig gleiche traditionelle Familienessen. Jedes Jahr erinnerten ihn all diese Dinge an das, was er verloren hatte.

Daran, dass er für immer ohne Anna würde weiterleben müssen.

Zu Weihnachten brachen die alten Wunden in ihm immer wieder auf. Zu dieser Jahreszeit wurde ihm stets aufs Neue bewusst, was für ein leeres Dasein er fristete.

Dieser kleine Engel war alles, was ihm geblieben war. Es war Annas liebstes Dekorationsstück gewesen. Sie hatte es als Kind selbst gefertigt und jedes Jahr wieder mit sentimentalem Stolz an den Weihnachtsbaum gehängt.

Für ihn war dieses Schmuckstück heute das einzig Wahre an Weihnachten. Es war das, worum es in dieser Zeit eigentlich ging. Doch er konnte es nicht einmal ansehen, darum hatte er es in einer Tasche versteckt und packte es beinahe nie aus.

Allein die Vorstellung, dass eine Fremde den Anhänger berührt hatte! Dass sie mit den Fingern in den wichtigsten Heiligtümern seiner kostbaren Vergangenheit herumgekramt hatte … dieser Gedanke machte ihn rasend.

Die Frau fuhr zu ihm herum und riss erschrocken die Augen auf. „Oh, entschuldigen Sie bitte! Ich wollte die Suite nur für Sie bereit machen.“

Verwirrt runzelte er die Stirn. Er kannte diese Frau nicht. Ihr glänzendes brünettes Haar hatte sich in Strähnen aus der strengen Frisur gelöst und umrahmte ihr hübsches Gesicht. Und auf ihrer Wange zeichnete sich ein dunkler Fleck ab. War das etwa Schmutz?

Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern. Sie war ein Eindringling in seinem Zimmer. Allerdings trug sie eine Art Uniform. Ein schwarzes Kostüm, eine weiße Schürze und hochhackige schwarze Schuhe. Außerdem hing ein Sicherheitsausweis an ihrer Taille.

„Wer sind Sie?“ Er kam auf sie zu und nahm ihren Sicherheitsausweis in die Hand. Ohne zu zögern, riss er ihn vom Clip ab und warf einen Blick darauf. „Wer, zur Hölle, sind die Maids in Chelsea? Und wo ist mein hauseigenes Personal?“

Erschrocken trat sie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Überrascht nahm er wahr, dass ihre Hände zitterten. Hatte sie Angst, dass er ihr etwas antun könnte?

Autor

Scarlet Wilson
<p>Scarlet Wilson hat sich mit dem Schreiben einen Kindheitstraum erfüllt, ihre erste Geschichte schrieb sie, als sie acht Jahre alt war. Ihre Familie erinnert sich noch immer gerne an diese erste Erzählung, die sich um die Hauptfigur Shirley, ein magisches Portemonnaie und eine Mäusearmee drehte – der Name jeder Maus...
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