Im Sturm zärtlicher Gefühle

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Ein verheerender Hurrikan bricht über Hideaway Island herein – da entdeckt Mary einen verletzten Mann am Strand. Mit letzter Kraft kann sie ihn in eine Höhle bringen. Gerettet! Aber als der Fremde die Augen aufschlägt, verliert Mary ihr Herz im Sturm der Gefühle …


  • Erscheinungstag 20.10.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520348
  • Seitenanzahl 140
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Von klein auf hatten sein Zwillingsbruder und er, beide dunkelhaarig und mit großen Augen, schon Ärger gemacht. Da ihre wohlhabenden Eltern wenig Zeit für sie gehabt hatten, waren sie von verschiedenen Kindermädchen großgezogen worden, die sie alle an den Rand des Wahnsinns gebracht hatten.

Mit zunehmendem Alter waren sie noch waghalsiger geworden, wie Ben sich eingestehen musste. Sich in der Army zu verpflichten und nach Afghanistan zu gehen war idiotisch gewesen. Selbst nun, da sie wieder ein normales Leben führten und ihre Karrieren verfolgten, konnten sie die Erinnerungen an jene Zeit nicht gänzlich abschütteln.

Um die Welt zu segeln, damit Jake über das Scheitern seiner Ehe hinwegkam, war genauso dumm gewesen. Der Zyklon Lila hatte ihre und auch die anderen Jachten zum Kentern gebracht, und nun saßen sie in der Rettungsinsel, die Spielball der hohen Wellen war, den Hubschrauber mit dem Rettungsseil über ihnen.

„Ben zuerst“, rief Jake der Frau am Seil zu.

„Ich bin der Ältere“, brüllte Ben. Obwohl er nur zwanzig Minuten früher geboren worden war, hatte er sich schon immer für Jake verantwortlich gefühlt. „Geh.“

Da dieser sich jedoch weigerte, tat Ben, was er tun musste. Was er Jake dann sagte, war unverzeihlich, aber dieser legte schließlich den Gurt an.

„Der Hubschrauber ist voll“, rief die Frau, während sie dem Piloten ein Zeichen gab. „Wir kommen so schnell wie möglich zurück.“

Oder auch nicht. Sie wussten alle, wie unwahrscheinlich es war. Der Zyklon hatte unerwartet eine andere Richtung eingeschlagen und bewegte sich mit großer Geschwindigkeit weiter. Da sie sich immer noch an seinem Rand befanden, würde das Schlimmste noch kommen.

Es gab sicher kaum ungeeignetere Orte als Hideaway Island – ein winziges Stückchen Land in einer Inselgruppe vor der nördlichen Küste Neuseelands, um vor einem Zyklon Schutz zu suchen.

Freunde von Mary, ein Arzt und seine Frau, die als Rechtsanwältin tätig war, hatten die Insel vor Jahren zu einem Spottpreis gekauft, dort eine kleine Hütte gebaut und sich ein Boot angeschafft, um bequem zwischen dem Festland und dem Eiland pendeln zu können.

Inzwischen hatten Henry und Barbara allerdings drei Kinder und waren beruflich so stark eingespannt, dass sie nur noch selten hierherkamen und ihr Refugium schon seit einem Jahr zum Verkauf anboten.

Vor ihrer Abreise nach New York hatte der Freund Mary die Schlüssel für die Hütte gegeben. „Vielleicht tut dir die Einsamkeit gut, bis der ganze Trubel sich gelegt hat“, hatte er gesagt. „Bleib so lange, wie du möchtest. Wir freuen uns, wenn du dort nach dem Rechten siehst.“

Tatsächlich brauchte sie genau das. Bis jetzt jedenfalls. Heinz, ihr Mischlingshund, sah sie aufgeregt an, denn der Sturm wurde immer stärker und rüttelte förmlich an der Hütte. Ihr Telefon und auch das Funkgerät funktionierten nicht mehr.

Um sechs Uhr morgens hatte sie die Wettervorhersage gehört, doch es war nicht die Rede davon gewesen, dass der Zyklon nach Süden abziehen würde, wo an diesem Tag auch ein großes Jacht-Racing stattfinden sollte. Es war nur eine ganz normale Sturmwarnung gewesen.

Sie hatte flüchtig erwogen, zum Festland zu fahren, war jedoch irgendwie zu unruhig gewesen. Schließlich war es ihr sicherer erschienen, erst einmal hierzubleiben. Bis vor einer Stunde.

Eine weitere Orkanbö erfasste jetzt die Hütte und deckte einen Teil des Wellblechdachs ab, und eisiger Regen peitschte herein.

„Vielleicht sollten wir zur Höhle gehen“, sagte Mary unbehaglich zu Heinz, der immer aufgeregter wirkte.

Sie hatte die Höhle vor einigen Tagen mit ihm erkundet. Sie war groß und lag nur wenige Hundert Meter entfernt im Westen der Klippen, sodass man dort vor dem Sturm geschützt wäre.

Sie hatte wohl keine andere Wahl, als dorthin zu flüchten. Nur was sollte sie in dem kleinen Handwagen, mit dem Barbara und Henry immer die Vorräte vom Boot zur Hütte schafften, mitnehmen?

Beim Gedanken an das Boot fühlte Mary sich noch beklommener, denn unter diesen Bedingungen wäre es in dem kleinen, natürlichen Hafen im Osten bestimmt nicht mehr in Sicherheit. Möglicherweise war sie ganz auf sich allein gestellt. Doch das war sie schon immer gewesen, solange sie sich erinnern konnte. Also würde sie es auch jetzt schaffen.

Schnell begann sie, Vorräte, Hundefutter, Streichhölzer, Brennholz und Bettzeug in Mülltüten zu stopfen und einen Wasserkanister bereitzustellen. Auch an ihr Manuskript dachte sie. Dann überlegte sie krampfhaft, was sie für Barbara und Henry retten musste.

Barbaras Quilt? Die wunderschönen Kissen, die deren Großmutter bestickt hatte? Mary packte sie ebenfalls ein.

In diesem Moment flog das noch verbliebene Wellblechdach weg, sodass die Hütte nun vollends den Naturgewalten ausgesetzt war.

„Schade, dass du kein Schlittenhund bist“, rief Mary ihrem Vierbeiner zu, bevor sie die Tür aufriss und ihr der Regen ins Gesicht peitschte. „Du könntest mir sonst ziehen helfen.“

Heinz sprang jedoch auf den Handwagen und suchte unter den Plastiktüten Schutz. Er hatte ganz offensichtlich genauso viel Angst wie sie. Doch sie musste sich zusammenreißen. Was brauchte sie noch?

„Den Erste-Hilfe-Kasten“, sagte sie und kehrte in die Hütte zurück. Als Gemeindeschwester hatte sie ihn immer dabei und deshalb mit auf die Insel genommen.

Nun stürzten die ersten Äste von den Bäumen herab. Sie hatte keine Zeit mehr.

„Los“, murmelte Mary und begann, den Wagen in Bewegung zu setzen. Er war sehr schwer, und der Eisregen durchdrang sofort ihre Kleidung. „Du schaffst das“, stieß sie hervor, senkte den Kopf und kämpfte sich voran.

Die Rettungsinsel war Spielball der Urgewalten. Ben konnte sich nirgends festhalten und wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Wer mochte dieses verdammte Ding nur entwickelt haben?

„Wenigstens ist Jake in Sicherheit“, sagte er immer wieder wie ein Mantra vor sich hin. Er musste einfach glauben, dass der Hubschrauber sicher gelandet war. Alles andere war undenkbar.

Im nächsten Moment stieß die Rettungsinsel wieder irgendwo gegen, doch diesmal war es keine Welle, sondern etwas Festes.

Als Wasser in die Jacht eindrang, hatten sie sich meilenweit vom Festland entfernt befunden. Also war er vermutlich gegen den Rumpf des gekenterten Bootes geprallt. Das verhieß nichts Gutes.

Beim nächsten Aufprall wurde eine Wand der Rettungsinsel aufgeschlitzt, mit der Folge, dass sie sich überschlug. Schnell griff er nach einem Tau auf der Außenseite und umklammerte es. Die Chance, gefunden zu werden, war nun gleich null. Er kämpfte jetzt ums nackte Überleben und konnte nur noch hoffen, dass seine Rettungsweste ihn über Wasser hielt.

Um zur Höhle zu gelangen, musste Mary die Landspitze umrunden. Wie sie das schaffen sollte, war ihr ein Rätsel.

Da im Sommer viele Touristen mit dem Kajak herkamen, um die Insel zu erkunden, war der Weg über die Klippen ausgetreten. „Das ist der reinste Wahnsinn“, murmelte Mary, doch ihre Worte verhallten im Sturm.

Bald waren es nur noch wenige Meter bis zu ihrem Ziel. Als sie es erreichte, blieb sie unvermittelt stehen. War das ein Körper dahinten im Meer? Eine Rettungsweste? Bestimmt täuschte sie sich, aber wenn nicht?

Bring lieber erst einmal deine Vorräte in Sicherheit, sagte Mary sich. Ohne Vorräte und trockene Kleidung kann ich niemandem helfen.

Wenige Minuten später brachte sie den Handwagen sicher in die Höhle, die genau wie der Strand im Windschatten lag. Ungeachtet dessen war es immer noch sehr stürmisch.

„Du bleibst hier“, wies sie Heinz an, der daraufhin sofort wieder unter die Plastiktüten kroch.

Dann stellte sie sich den Naturgewalten, um herausfinden, ob sie tatsächlich einen Menschen im Wasser gesehen hatte. Der Pfad zum Strand hinunter war steil, aber zu bewältigen, und kurz darauf rannte sie am Ufer entlang. Zum Glück war gerade Niedrigwasser.

Sobald sie allerdings die Landspitze erreichte, traf die Wucht des Sturms sie erneut mit voller Kraft. Mary konnte kaum etwas erkennen, weil ihr der Sand ins Gesicht peitschte.

Da das Wasser bald wieder steigen würde, kletterte sie auf die Felsen, die den Strand säumten.

Ben hatte keine Ahnung, wie lange er sich schon im Wasser befand und wie aussichtslos seine Lage war. Er wusste nur, dass er den Elementen hilflos ausgeliefert war. Da die Wellen immer wieder über ihm zusammenschlugen, dauerte es jedes Mal länger, bis er Luft holen konnte.

Dann traf etwas Scharfkantiges sein Bein und im nächsten Moment seine Schulter. Es war etwas Hartes … Felsen?

Plötzlich wich das Wasser zurück, sodass er wieder atmen konnte. Dann kam die nächste Welle und riss ihn fort. Obwohl Ben kaum noch bei Bewusstsein war, merkte er mit einem Mal, dass er mit dem Gesicht nach unten im Sand lag. Bis zur nächsten Woge.

Irgendwie schaffte er es, den Kopf zu heben und erblickte Sand, Felsen, Klippen.

Erneut wurde er überspült, und ihm war klar, dass er höher kriechen musste. Irgendwie … Mach, dass Jake in Sicherheit ist, wiederholte er im Geiste wie ein Mantra. Eine weitere Welle brach über ihn herein. Doch auf wundersame Weise gelang es ihm, weiterzukriechen. Die Schmerzen in seinem Bein, in seinem Kopf waren unerträglich …

Er wünschte sich, die Augen schließen zu können. Nur für einen Moment.

Und dann fand sie ihn. Es war tatsächlich kein Treibgut, sondern ein Mann, dunkelhaarig und von kräftiger Statur. Er lag mit dem Gesicht nach unten im Sand, hatte einen Schuh verloren, und seine Hose war zerfetzt. Lebte er noch?

Mary sah sofort, dass ihm Blut über die Wange rann. Er musste also zumindest vor Kurzem noch am Leben gewesen sein. Seine Hände waren im Sand ausgebreitet. Sie kniete sich hin, um vorsichtig eine zu berühren, und erschrak. Seine Haut war weiß und fühlte sich eisig an. Wie lange mochte er im Wasser gewesen sein?

Dann ertastete sie am Hals seinen Puls. Der Mann lebte!

Sie drehte ihn auf die Seite, was nicht einfach war. Schnell befreite sie seine Nase und seinen Mund vom Sand und lauschte dann, ob er atmete. Dann zog sie ihm die Rettungsweste aus und beobachtete, wie seine breite Brust sich hob und senkte.

Nachdem sie in Windeseile ihren Regenmantel abgestreift hatte, lief sie zum Ufer, um Wasser zu holen. Sobald sie zu dem Fremden zurückgekehrt war, reinigte sie ihm vorsichtig das Gesicht mit dem Wasser, das sie mittels ihres Kleidungsstücks herangeschafft hatte. Wie viel mochte er bereits geschluckt haben? Und warum war er bewusstlos?

Was soll ich jetzt nur tun? überlegte sie hektisch. Die Flut kam, und in spätestens einer Stunde würde dieser Strandabschnitt unter Wasser stehen. Mit dem Handwagen konnte sie den Mann nicht transportieren, denn er war etwa eins neunzig groß und kräftig gebaut.

„Bitte, sagen Sie doch etwas“, stieß sie hervor, ohne zu wissen, warum.

Doch als hätte der Fremde es gehört, bewegte er sich und öffnete dann die Lider. Starr blickte er sie an.

Er hatte graue Augen, deren Blick einen tiefen Schmerz verriet.

„Sie sind jetzt in Sicherheit“, flüsterte sie. „Alles ist gut.“

„Jake …“, murmelte er.

„Ist das Ihr Name?“

„Nein, Ben. Jake …“

„Ich bin Mary, und über Jake können wir uns später unterhalten“, erklärte sie, plötzlich wieder ganz in ihrem Element als Krankenschwester. „Die Flut hat eingesetzt, und wir müssen hier unbedingt weg. Können Sie Ihre Zehen bewegen?“

Sofort bewegte er die Füße, und sie atmete erleichtert auf. Dennoch hätte sie ihn eigentlich richtig lagern müssen, doch dazu blieb ihr keine Zeit.

„Und jetzt die Beine“, forderte sie ihn auf, woraufhin er augenblicklich zu reagieren versuchte, dann aber schmerzverzerrt das Gesicht verzog, weil ihm das linke den Dienst verweigerte.

„Prima“, schwindelte Mary. „Ein Bein ist immerhin unverletzt. Und jetzt die Finger und Arme.“

„Kann ich nicht spüren.“

„Weil Sie unterkühlt sind. Versuchen Sie es.“

Er tat es, und plötzlich klappte es.

„Gut. Atmen Sie jetzt ein paarmal tief durch. Wir haben noch ein bisschen Zeit.“ Etwa fünf Minuten.

Er hatte eine tiefe Schnittwunde im Gesicht, aus der es offenbar stark geblutet hatte, und eine Kopfverletzung. Er musste unbedingt geröntgt werden, falls er innere Blutungen hatte …

Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie hatte einen Patienten mit einem verletzten Bein, der unter Schock stand und Blut verloren hatte. Außerdem stieg das Wasser unaufhörlich. Sie musste ihn erst einmal von hier wegschaffen.

Denk nach, ermahnte Mary sich, ich muss unbedingt einen Stock finden, auf den er sich stützen kann. Als sie aufstehen wollte, umfasste er überraschend kraftvoll ihren Arm.

„Lassen Sie mich nicht allein“, stieß er hervor.

Mary blickte erst auf die Rettungsweste und dann auf die stürmische See. Offenbar hatte er an dem Racing teilgenommen, über das man am Morgen im Radio berichtet hatte. Wegen der Unwetterwarnung hatte man die Teilnehmer nach Auckland geschickt, doch sie waren von dem Zyklon überrascht worden.

Kurz bevor der Empfang abgebrochen war, hatte Mary noch gehört, dass in den Nachrichten von dramatischen Rettungsaktionen und Todesopfern die Rede gewesen war.

Beklommen fragte Mary sich, ob der Sturm noch schlimmer werden würde.

„Ich lasse Sie nicht allein“, erwiderte sie und schaffte es, nicht panisch zu klingen. „Ich suche jetzt erst einmal einen Stock, auf den Sie sich stützen können. Ich bin ungefähr eins siebzig groß, und obwohl ich eine sehr gute Roller-Derby-Spielerin bin, bin ich nicht in der Lage, Sie zu tragen.“

„Roller-Derby“, wiederholte der Mann matt.

„Vom Team werde ich Brecher-Mary genannt. Legen Sie sich also lieber nicht mit mir an.“ Zu ihrer Erleichterung lächelte er schwach. „Ich lade Sie irgendwann mal ein. So, und nun bleiben Sie ruhig liegen und versuchen Sie, an nichts zu denken. Ich bin gleich wieder da.“

Ihm blieb auch gar nichts anderes übrig, als ihr Folge zu leisten.

Brecher-Mary. Immer wieder ging ihm der Name durch den Kopf. Seltsamerweise beruhigte er ihn.

Die letzten Stunden waren ein einziger Albtraum gewesen. Immer wieder hatte er das Bewusstsein verloren – zumindest war es ihm so erschienen. Vergangenheit und Zukunft hatten sich überschnitten. Er und Jake in jenem großen Herrenhaus, das seine Eltern Zuhause genannt hatten. Ihr Vater, der sie anschrie, beschimpfte und als dumm bezeichnete. Seine Behauptung, dass sie alle negativen Charaktereigenschaften von ihrer Mutter geerbt hätten.

Und genauso fühlte er sich jetzt auch. Unendlich dumm.

Jake, der nach der Explosion einer Bombe durch die Luft geschleudert wurde.

Jake, der im Sturm am Seil eines Hubschraubers hing.

„Ben, pass auf deinen Bruder auf.“ Das hatte ihre Mutter Rita Marlene immer gesagt. Sie war schön, nicht besonders charakterstark gewesen und hatte zerbrechlich gewirkt. „Versprich es mir.“

Wo war Jake? Das hier war alles nur ein Traum.

Wo war seine Mutter?

Brecher-Mary.

Nein, das war kein Traum. Der Gedanke an den Namen brachte Ben unvermittelt in die Wirklichkeit zurück. Sie war ihm so nahe gewesen, dass er ihr Gesicht hatte sehen können. Mit den kurzen Locken, die ihr nass am Kopf klebten, den feinen Zügen, den braunen Augen und Sommersprossen hatte sie wie eine Elfe auf ihn gewirkt.

Hatte sie nach ihm gesucht – oder nach jemand anderem? Wie viele Jachten mochten gesunken sein?

Ben stöhnte und versuchte, aufzustehen. Doch im nächsten Moment war Mary wieder da und drückte ihn zu Boden.

„Wenn ich still liegen sage, meine ich es auch.“ Etwas weniger selbstsicher fügte sie hinzu: „Ben, Ihr Bein ist vielleicht gebrochen, und ich kann es im Moment nicht untersuchen. Unter normalen Umständen hätte ich Sie sofort ins Krankenhaus bringen lassen, aber zurzeit haben Sie nur mich. Deswegen werde ich Ihr Bein jetzt mit einem kleinen Stock schienen, und Sie werden sich auf den großen hier und auf mich stützen, damit wir von hier fortkommen.“

Er versuchte, ihr gedanklich zu folgen, doch vor Erschöpfung fielen ihm die Augen zu.

„Wenn Sie jetzt einschlafen, wachen Sie nicht wieder auf“, fuhr sie ihn an.

„Und was wäre daran so schlimm?“, stieß er hervor.

„Jake braucht Sie. Reißen Sie sich also zusammen und helfen Sie mir. Nun machen Sie schon!“

Offenbar hatte er wieder keine andere Wahl.

Irgendwie schafften sie es tatsächlich. Sie hatte schon davon gelesen, dass Menschen in Notlagen geradezu übernatürliche Kräfte entwickelten. Sie musste diesen Mann ungefähr zweihundert Meter weit über die Klippen in die Höhle führen. Fast drohte Mary unter der Last zusammenzubrechen, doch sie wollte ihn um jeden Preis retten.

„Warum musste ich ausgerechnet einen so schweren Schiffbrüchigen finden?“, stieß sie hervor, nachdem sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. Ben verzog vor Schmerzen das Gesicht. Da er das linke Bein überhaupt nicht gebrauchen konnte, musste er sich auf sie stützen.

„Lassen Sie mich einfach hier und kommen Sie zurück, wenn der Sturm abgeflaut ist“, sagte er schwer atmend.

„Auf keinen Fall“, entgegnete Mary. Als er sich daraufhin nur auf seinen Stock stützte, fuhr sie fort: „Jake braucht Sie.“ Sie hatte keine Ahnung, wer Jake war, doch Ben ging weiter.

Was mit seinem Bein war, konnte sie lediglich vermuten. Sie hatte nur ihren Mantel in Streifen reißen und es provisorisch schienen können. Aber es musste sich um eine schwere Verletzung handeln, denn er zog es nach und schien sich nur mit Mühe aufrecht zu halten.

„An Ihrer Stelle würde ich vor Schmerzen schreien“, gestand sie und merkte, wie er sich verspannte. Sie spürte seine Angst und hatte das Gefühl, dass er unter Schock stand.

„Brech… Brecher-Mary schreit vor Schmerzen?“

„Ja, darin bin ich gut. So bekommt man eher Punkte.“ Obwohl ihr vor Anstrengung schwindlig war, bemühte sie sich, so normal wie möglich zu klingen. „Beim Ringen ist es genauso. Es ist alles nur Show, aber die Sportler machen Millionen damit. Vielleicht verdiene ich mir mein Geld eines Tages auch damit.“

„Mit Ringen oder mit Roller-Derby?“

„Fürs Ringen fehlen mir die nötigen Muskeln. Hätte ich bloß mehr Krafttraining gemacht!“

„Mary, Sie müssen mich nicht …“

„Halten Sie den Mund und gehen Sie weiter“, befahl sie ihm grimmig-entschlossen. „Ich gebe nicht auf. Niemals.“

Sie schien wirklich eine eiserne Willenskraft zu besitzen. Ungerührt zog sie ihn weiter, sagte aber nichts mehr. Offenbar war sie genauso am Ende wie er.

Und dann hatten sie die Steigung zum Glück hinter sich gelassen.

„Wenn wir den Felsen da umrundet haben, werden wir auf Heinz stoßen“, verkündete Mary schließlich außer Atem.

„Auf Heinz?“

„Meinen … Wachhund.“

Irgendwie schaffte sie es, ihn noch um den Felsvorsprung zu ziehen. Nach zehn weiteren Schritten wurden sie von Dunkelheit umfangen.

„Willkommen in meiner Höhle“, stieß Mary noch hervor, und dann brach sie zusammen.

So schnell sein verletztes Bein es zuließ, kniete Ben sich neben sie und hob ihren Kopf an, um ihr Gesicht vom Sand zu befreien. Sie hatte ganz offensichtlich das Bewusstsein verloren, und er betete im Stillen, dass es nur aus Erschöpfung geschehen war.

Sie hatte ihr Leben riskiert, um seins zu retten, und vermutlich einen Schwächeanfall erlitten, alles andere war undenkbar. Sonst muss ich bis an mein Lebensende mit der Schuld leben, sie auf dem Gewissen zu haben, dachte er.

Doch in diesem Moment öffnete Mary die Augen und blickte ihn völlig benommen an.

„He, wir sind in Sicherheit. Nun dürfen Sie sich ausruhen.“

Irgendwie schaffte er es, einen Arm unter ihre Schultern zu schieben und ihren Kopf hochzuheben, sodass ihr Gesicht an seiner Brust zu liegen kam und er ihren Herzschlag spüren konnte.

Dann zog er sie weiter in die Höhle. Der Schmerz in seinem linken Bein war unerträglich, trotzdem hielt er Mary fest umschlungen, zu mehr aber war er nicht fähig. Völlig erschöpft schloss Ben die Augen.

2. KAPITEL

Er spürte etwas Warmes, Raues im Gesicht und merkte dann, dass jemand ihm die Sachen abstreifte. Unwillkürlich fragte er sich, wie lange er weggetreten war. Anscheinend zu lange. Auf jeden Fall waren seine durchnässte Jacke und sein Pullover verschwunden.

„Heinz, lass den Mann in Ruhe. Er ist ganz sandig“, sagte in diesem Moment eine weibliche Stimme. „Er schmeckt bestimmt eklig.“

Sein rettender Engel war wieder in Aktion, und für einen Moment drohte die Erleichterung ihn zu überwältigen. Mary hatte also überlebt. Sie hatten beide überlebt.

Ben öffnete die Augen. Zu seiner Linken loderte eine Flamme. Davor entdeckte er einen Hund, eine Terriermischung, kniehoch, mit hängender Zunge und schwanzwedelnd.

Inzwischen hatte Mary ihm auch die Hose ausgezogen und breitete nun über ihn einen Quilt aus. Himmlisch! Endlich waren seine Beine frei.

„Jetzt werde ich Sie untersuchen“, fuhr sie in dem energischen, autoritären Tonfall fort, der so beruhigend auf ihn wirkte. „Aber erst müssen wir Sie anders betten.“

Mit ihrer Hilfe – sie musste vom Fach sein – drehte er sich auf die Seite, wobei sein Bein noch mehr schmerzte.

„Wer … sind Sie?“

„Das habe ich Ihnen doch gesagt. Mary für meine Freunde. Brecher-Mary für die, die sich mir in den Weg stellen.“ Sie deckte ihn mit noch etwas anderem, etwas ganz Weichem, Kuscheligem zu.

Er stellte lieber keine mehr Fragen, auch nicht die, wo seine Sachen geblieben waren. Allmählich wurde ihm warm … Wäre sein Bein nicht verletzt gewesen, hätte er sich dieser wohligen Wärme nur zu gern hingegeben, doch das beängstigende Pochen ließ wenig Raum für anderes.

Mary richtete jetzt den Strahl einer Taschenlampe darauf und berührte es vorsichtig. „Eigentlich müsste es geröntgt werden“, meinte sie frustriert.

„Ich dachte, Sie hätten hier ein entsprechendes Gerät“, versuchte er zu scherzen. Für einen Moment ließ der Schmerz nach, aber dann …

Jake.

„Wer ist Jake?“, fragte sie.

Hatte er den Namen etwa laut ausgesprochen? „Mein … Zwillingsbruder“, stieß Ben hervor.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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