Italienische Verführung

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Eigentlich sollte sie an der Seite ihrer Gouvernante die Schönheiten Roms kennenlernen. Doch als die junge Britin Lady Diana den heißblütigen Antonio trifft, sind ihr die kulturellen Schätze Italiens auf einmal ganz egal. Seine Küsse rauben ihr den Atem, und sie verliebt sich Hals über Kopf in den charmanten Mann. Nur ist Antonio nicht der, der er vorgibt zu sein. Allein wegen einer schändlichen Wette hat er versucht, Diana zu verführen - und dabei sein Herz an sie verloren. Mehr als alles andere auf der Welt begehrt er die bildhübsche Lady zur Frau. Aber dann stößt er auf ein Geheimnis, das ihn zweifeln lässt … ...


  • Erscheinungstag 02.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769437
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Rom Oktober 1784

Rom war so langweilig.

Lady Diana Farren stand am Fenster des Salons in ihrer Unterkunft in der Piazza di Spagna und sah zu, wie der Regen die Blätter der Bäume im Garten unter ihr niederdrückte. Jeder hatte ihr versichert, Rom wäre zauberhaft und faszinierend, die Ewige Stadt unter den Städten des Kontinents. Doch nach einer Woche Dauerregen und langweiliger Gesellschaft, nach endlosen Besichtigungen alter Kirchen, alter Tempel, alter Statuen und alter Bilder in Gesellschaft von Leuten, die ihre Großeltern hätten sein können, war das einzig Ewige, das Diana hier hatte entdecken können, die endlose, ewige Langeweile.

Wäre ihr Leben so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte, dann befände sie sich jetzt im Haus ihrer Familie am Grosvenor Square in London. Sie wäre bereits die von allen vergötterte Schönheit der diesjährigen Saison, umschwärmt von einer Unmenge hübscher junger Lords, die alle um ihre Aufmerksamkeit und ihre Hand buhlen würden und bereit wären, sich wegen eines einzigen Tanzes mit ihr ein Duell zu liefern. Diana war achtzehn Jahre alt und schön. Das war nicht geprahlt, sondern eine Tatsache. Wie es auch Tatsache war, dass sie, nur weil sie die jüngste Tochter des Duke of Aston war, schon ein jährliches Einkommen von mindestens zwanzigtausend Pfund hatte.

Doch all das hatte sie nicht vor Rom bewahren können. Denn eines Abends war sie in den Stallungen ihres Vaters mit einem Reitknecht erwischt worden, dessen Gesicht sie am liebsten vergessen wollte. Zur Strafe wurde sie ins Ausland geschickt. Eine regelrechte Verbannung war es. Anders konnte man Vaters Entscheidung nicht nennen. Auch noch so inständiges Flehen war zwecklos gewesen.

In Frankreich dann war alles nur noch schlimmer gekommen. Obwohl sie sich wirklich nichts zuschulden hatte kommen lassen, war sie niedergeschlagen und im Auftrag des schlimmsten alten Wüstlings von Paris, des Conte D’Archambault, entführt worden. Zu ihrem großen Glück war der Conte todkrank gewesen und hatte ihr kein Leid mehr antun können. Doch es gab einen großen Skandal, und mit ihrem Namen verband man nun neue, völlig unbegründete Gerüchte.

Und so war sie jetzt dazu verdammt, mindestens bis zum Frühling wie eine bedauernswerte Zigeunerin durch Italien ziehen zu müssen. Ihre Gouvernante Miss Wood würde sie dabei mit Argusaugen bewachen. Wenn sie dann endlich wieder nach England zurückkehren könnte, hätten die anderen Mädchen ihr todsicher schon die besten Junggesellen weggeschnappt, oder ihr fragwürdiger Ruf hätte diese in die Flucht geschlagen. Nur die Nieten, die mit den Hasenzähnen und den dünnen Beinen, würden dann noch übrig sein. Nie würde sie die Art von Liebe kennenlernen, die ihre Schwester bei ihrem frisch angetrauten Gatten gefunden hatte: die beseligende, leidenschaftliche Liebe, die ewig dauert. Vielleicht würde sie jetzt noch nicht einmal mehr heiraten können, sondern dazu verdammt sein, wie Miss Wood eine alte Jungfer zu werden.

Diana holte tief Luft und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sie vermisste ihre Schwester und ihren Vater, ihre Freunde und Cousins. Sie vermisste all die jungen Männer, die mit ihr geflirtet und sie zum Lachen gebracht hatten. Sie vermisste ihr gemütliches Eckschlafzimmer zu Hause in Aston Hall und die Art, wie die Sonne am Morgen durch das Ostfenster schien. Sie vermisste England, sie vermisste Worte, die sie ohne ein Taschenwörterbuch verstehen konnte, Menschen, die über dieselben Dinge lachten wie sie, Essen und Trinken, das durch seine Vertrautheit tröstend auf sie wirkte.

Diana war so sehr in ihr eigenes Elend versunken, dass sie erst zu spät bemerkte, wie jemand zu ihr ans Fenster trat.

Buongiorno, mia gentildonna bella“, sagte der Herr. „Mi scusa, non posso a meno di …“

„Per favore, signore, no“, erwiderte Diana ohne sich umzudrehen, in dem ernsten, festen Ton, den Miss Wood jetzt von ihr erwarten würde. Bitte, Sir, nein. Was konnte wohl deutlicher sein als diese Worte? Die italienischen Männer konnten sehr beharrlich sein, und wenn Diana London je wiedersehen wollte, durfte sie sie keinesfalls ermutigen. „Grazie, non.“

„Oh.“ Der Herr räusperte sich verdutzt. „No speranza, mia gentildonna?“

Misstrauisch runzelte Diana die Stirn. Vermutlich fragte er sie, ob sie ihm ein wenig Hoffnung und Ermutigung geben könnte, doch sie war sich nicht ganz sicher, da ihre Italienischkenntnisse doch sehr begrenzt waren. Eine schlechte, wenn auch sehr amüsante Erfahrung hatte sie bereits machen müssen. Sie hatte geglaubt, ein Diener hätte ihr noch einmal Tee angeboten, dabei hatte er sie ganz schamlos gefragt, ob er sie küssen dürfte.

„Sono spiacente, signore, noi non sono stato introdotto.“ Es tut mir leid, mein Herr, aber wir sind uns nicht vorgestellt worden. Das war inzwischen ihre wohlerprobte Antwort auf alle Fragen. „Grazie, no. No.“

Doch der Mann rührte sich nicht vom Fleck. Diana seufzte leise. Wenn dieser unverschämte Bursche sie nicht bald allein ließ, würde sie gehen und in ihre Suite zurückkehren müssen, die sie mit Miss Wood und ihren Bediensteten teilte.

Sie klappte ihren Elfenbeinfächer zu und wandte sich zum Gehen. „Arrivederci, signore.“

„Gehen Sie bitte nicht, ach, zum Teufel, das ist – Parla inglese, mia gentildonna?“

Erstaunt blieb sie stehen, drehte sich aber nicht um. Er klang nicht italienisch. Aber er hörte sich jung und charmant an, und wenn man dem Klang allein trauen konnte, auch gut aussehend.

„Selbstverständlich spreche ich Englisch, Sir“, sagte sie zögernd. „Welche Sprache sollte eine Engländerin wohl sonst sprechen?“

„Dann haben wir viel gemeinsam“, erwiderte er. „Ich bin auch Engländer.“

„Ach ja, Sir?“ Jetzt würde sie sich wohl umdrehen müssen. Was bei einem dreisten Ausländer als ein zu Recht abweisendes Benehmen durchging, war einem Gentleman gegenüber, der Engländer war wie sie, schlichtweg ungezogen.

Also setzte sie ein höfliches Lächeln auf und drehte sich um. Der Herr war nicht nur Engländer, sondern auch noch ein hübscher dazu. Mit blonden Locken, die golden schimmerten, einem Lächeln voller Charme und mit so strahlend blauen Augen, dass sie selbst diesen grauen Tag erhellten. Wenn er auch nicht sehr groß war, hatte er doch die männliche Statur eines englischen Gutsbesitzers, mit einer breiten Brust unter der gut sitzenden Weste. Auch war er jung, nicht viel älter als sie, also in einem interessanten Alter. Diana strahlte ihn mit echter Herzlichkeit an.

„Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Sir.“ Sie machte keinen Knicks, denn vermutlich stand er im Rang unter ihr. Doch ihr Lächeln blieb warm und voller Interesse. Sie ließ den Blick schweifen und hielt nach Miss Wood Ausschau, damit sie als Anstandsdame fungieren könnte. Doch sie beide waren allein im Salon. Diana konnte sich schon lebhaft Miss Woods Strafpredigt vorstellen. Engländer oder nicht, mit einem Herrn allein zu sein schickte sich nicht. Besonders dann nicht, wenn man einander nicht richtig vorgestellt worden war.

Diana kannte auch schon die nächsten Argumente: Einsamkeit spiele keine Rolle. Sie solle kein weiteres Wort mit ihm wechseln. Sie solle ihr Lächeln hinter frostiger Entrüstung und Reserviertheit verbergen und sofort in ihre Räume zurückkehren. Wenn sie ihrer Verbannung aus London ein Ende machen wolle, dürfe sie jetzt nicht zaudern. Das alles würde Miss Wood sagen.

Aber ein paar Minuten in Gegenwart dieses Herrn konnten doch wohl nicht so schlimm sein? Aus seiner Sprechweise, seinen Manieren und seinem Betragen schloss sie, dass er ein Gentleman sein musste. Und wenn er ebenfalls Gast in diesem Palazzo war, musste er einwandfreie Referenzen aufweisen können und eine volle Brieftasche dazu, denn diese Unterkunft hier war die exklusivste in der ganzen Gegend, in der man sich speziell um englische Reisende kümmerte.

„Ich habe sie erschreckt, nicht wahr?“ Offenbar hatte er ihr Schweigen missverstanden. „Tauche einfach so hinter Ihnen auf und überrasche Sie. Bitte, verzeihen Sie mir, Mylady.“

„So empfindlich bin ich nun auch wieder nicht“, erwiderte Diana. „Woher wussten Sie, dass ich eine Lady bin?“

„Das war geraten“, gestand er. Aus seinem Lächeln wurde ein verschmitztes Grinsen. „Und ich hatte recht, nicht wahr, Mylady?“

„Lady Diana?“ Im Gang war entfernt Miss Woods Stimme zu hören. „Wo sind Sie, Mylady?“

Diana klappte ihren Fächer zu. „Das ist meine Gouvernante“, erklärte sie, und in ihre Augen trat ein gehetzter Ausdruck. „Rasch, rasch, Sie müssen sich verstecken!“

„Verstecken?“ Der Herr lächelte nachsichtig. „Aber es gibt doch gar keinen Grund, mich zu verstecken.“

„Oh doch, den gibt es.“ Diana nahm ihn beim Arm und sah sich auf der Suche nach einem guten Versteck im Salon um. „Schnell, dort hinter die Vorhänge! Ich werde sie, so rasch ich kann, wieder fortschicken.“

Aber er rührte sich nicht, sondern tätschelte nur beruhigend ihre Hand, die auf seinem Arm ruhte. „Ich schäme mich nicht, hier bei Ihnen zu sein, Mylady.“

„Darum geht es doch gar nicht, mein Herr, nicht wenn – ah, Miss Wood, Sie haben mich gefunden!“ Diana setzte ein strahlendes Lächeln auf und entzog dem Herrn schnell ihre Hand. „Ich wollte gerade auf Ihr Rufen antworten, als ich von diesem Herrn hier aufgehalten wurde.“

Miss Wood sagte gar nichts. Die Hände ineinander verschränkt, stand sie in ihrem einfachen grauen Kleid da und nahm sich die Zeit, sich ein eigenes Urteil über die Situation zu bilden. Diana kannte dieses Schweigen. Sie wusste, je länger es dauerte, desto weniger würde das Urteil der Gouvernante zu Dianas Gunsten ausfallen. Obwohl Miss Wood eigentlich noch eine junge Frau war, kaum einmal dreißig, würde sie in Dianas Augen immer und ewig das Abbild einer alten Jungfer sein: klein, trübselig, argwöhnisch, mit einem Hang zu Korpulenz und Strenge. Hätte Vater sie mit dem obersten Gefängniswärter des Newgate Gefängnisses auf Reisen geschickt, hätte der sie nicht besser bewachen können als Miss Wood.

Die Gouvernante musterte den Gentleman immer noch von den Silberschnallen an seinen Schuhen bis zum goldblonden Haarschopf. Und sie tat es mit dem gleichen scharfen Blick, mit dem eine Köchin am Markttag das angebotene Gemüse prüft. Endlich nickte sie kurz, wie sie es immer machte, bevor sie eine unangenehme Aufgabe in Angriff nahm.

„Guten Tag, Sir“, sagte sie mit eisiger Stimme und deutete einen flüchtigen Knicks an. „Verzeihen Sie mir, wenn ich offen zu Ihnen spreche, aber ich glaube nicht, dass Sie Ihrer Ladyschaft angemessen vorgestellt wurden. Mylady, bitte kommen Sie.“

Verärgert seufzte Diana. Sie wollte doch nur ein wenig Konversation machen. Sie hatte nicht vor, noch einen Skandal zu provozieren.

Aber es war sinnlos, mit Miss Wood darüber zu diskutieren, denn wie immer hatte sie die Wahrheit auf ihrer Seite. Diana war dem Herrn nicht standesgemäß vorgestellt worden. Sie wusste ja noch nicht einmal seinen Namen.

Diana schluckte ihre Enttäuschung hinunter, reckte entschlossen das Kinn und war bereit, Miss Wood wieder in die diskrete Vornehmheit und die exquisite, aber unleugbare Langeweile zu folgen.

Aber so weit kam es nicht. Zu Dianas Erstaunen erhob der Herr mit einem Mal die Stimme. „Warten Sie einen Moment, Miss Wood“, sagte er bestimmt. „Wenn es sich nur darum handelt, dass die Dame und ich einander nicht vorgestellt wurden, wie es sich gehört, nun, dann stellen Sie uns jetzt einander vor, und alles hat seine Richtigkeit.“

Keiner der Männer, die Diana bisher kennengelernt hatte, hätte so etwas gewagt. Aber bereits jetzt zeigte sich, dass dieser Mann ein eindrucksvoller Gentleman war – ein außerordentlich eindrucksvoller Gentleman.

Doch Miss Wood hatte er nicht überzeugt. Sie blieb abrupt stehen und richtete sich in ihrer ganzen Größe vor ihm auf. „Wie soll ich Sie Ihrer Ladyschaft vorstellen, Sir, wenn niemand Sie mir vorgestellt hat?“

„Dann werde ich das jetzt nachholen.“ Er verbeugte sich. „Miss Wood, ich bin Lord Edward Warwick, und mein Vater ist der Marquess of Calvert. Sollten Sie es vorziehen, mir nicht zu glauben, so brauchen Sie nur meinen Onkel zu befragen, der ebenfalls Gast dieses Hauses ist.“

„Mylord, ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Erfreut hielt Diana ihm die Hand hin. „Nicht einmal Miss Wood kann jetzt noch etwas gegen Sie haben.“

Doch die Gouvernante konnte sehr wohl. Sie trat zwischen die beiden. „Dürfte ich bitte den Namen Ihres Onkels erfahren?“

„Mein Onkel ist Reverend Lord Henry Patterson, der ältere Herr, der die Räume über der Eingangshalle bewohnt. Er ist so mit seinen Studien und seinen Schriften beschäftigt, dass er gerne für sich bleibt. Jedoch dürfte es in ganz Rom kaum einen ehrenwerteren Engländer geben.“

„Ach, Miss Wood, bei einer solchen Empfehlung werden noch nicht einmal Sie etwas auszusetzen haben“, sagte Diana und konnte den Blick nicht von Lord Edwards charmantem Gesicht lösen. Es musste Monate her sein, dass ein englischer Herr sie mit solch unverhohlener Bewunderung angesehen hatte. Sicher wusste Lord Edward weder etwas über ihr Missgeschick mit dem Stallknecht auf Aston Hall, noch etwas über die dramatische kleine Affäre in Paris. Alles, was Lord Edward über sie wissen würde, wäre das, was er mit eigenen Augen sah und was sie ihm erzählte. Mit ein wenig Verschwiegenheit war alles möglich. Alles!

„Gibt es eine bessere Empfehlung für guten Charakter als die Kirche von England?“, fuhr Diana fort.

„Nein, Mylady“, meinte Miss Wood düster. „Aber erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, dass wir vorsichtig sein müssen, nachdem doch …“

„Kommen Sie mit mir.“ Lord Edward ergriff Dianas Hand, als hätte er das Recht dazu, und führte sie aus dem Salon und über den Flur. „Lernen Sie den alten Burschen doch selbst kennen. Er kann dann alle Formalitäten zwischen uns erledigen.“

„Das schickt sich nicht, Mylord“, protestierte Miss Wood und eilte ihnen rasch nach. „Das ist nicht richtig. Ihre Ladyschaft ist nämlich von höherem Rang als Sie. Sie müssen ihr vorgestellt werden, nicht umgekehrt.“

Aber Lord Edward öffnete bereits die Tür zu den anderen Räumen.

„Onkel, ich bin’s wieder, Edward.“ Beschwingt trat er ein und wartete nicht erst auf den Diener, der herbeigeeilt kam und sich hastig die Jacke seiner Livree zuknöpfte. „Ich habe diese englischen Damen hier entdeckt, die ebenfalls hier wohnen. Ich möchte sie Ihnen vorstellen.“

In einem großen Zimmer, das als Salon, Studier- und Esszimmer zu dienen schien, saß ein älterer Herr. Sein Lehnstuhl war dicht an einen großen Tisch gezogen, der vor dem offenen Fenster stand. Der Regen prasselte auf das steinerne Fenstersims und nässte die Papiere, die am Rand des Tisches lagen. Doch der Mann war zu sehr in seine Arbeit vertieft, um es zu bemerken.

Unter einem schwarzen Barett, wie Maler es tragen, lugten Büschel weißen Haars hervor. Und wenn seine schwarze Leinenweste und die Kniehosen auch nicht ungewöhnlich waren, so steckten seine nackten Füße in sonderbaren spitzen, mit roten Rosen bestickten Hausschuhen. Während er konzentriert die Stirn runzelte, hielt er in einer Hand ein Vergrößerungsglas und in der anderen eine antike Tonscherbe. Dabei paffte er eine langstielige Meerschaumpfeife.

Lord Edward räusperte sich mit Nachdruck. „Bitte, Onkel. Die Damen.“

Erschrocken drehte Reverend Lord Henry Patterson sich um. Sofort verwandelte sich der angestrengt konzentrierte Gesichtsausdruck in ein glücklich strahlendes Lächeln. Er legte seine Pfeife und die Scherbe auf den Tisch und riss sich die Samtkappe vom Kopf, dass die Seidenquaste hin- und herbaumelte. „Ja freilich, Edward, die Damen. Wie geht es Ihnen, meine Lieben? Das ist heute vielleicht ein feuchter Tag in unserem alten Rom, nicht wahr?“

„Ja, das stimmt.“ Entschlossen trat Diana einen Schritt vor, bevor die Gouvernante noch einmal auf ihre Anstandsregeln pochen konnte. „Ich bin Lady Diana Farren. Das hier ist meine Gouvernante Miss Wood. Wir sind entzückt, an diesem fremden Ort die Bekanntschaft zweier englischer Gentlemen zu machen.“

Der Geistliche wirkte so geblendet und hingerissen, dass er fast ein wenig dümmlich dreinschaute. Diana lächelte amüsiert. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer.

„Na bitte“, meinte Edward herzlich. „Ich sagte Ihnen doch, ich hätte zwei wahre Damen entdeckt, Onkel. Sie beide mögen entzückt sein, Lady Diana, aber ich – ich fühle mich verzaubert – und geehrt.“

Wachsam wie immer, verkündete Miss Wood streng: „Ihre Ladyschaft ist die jüngste Tochter Seiner Gnaden des Duke of Aston, Mylord.“ Diana konnte den unausgesprochenen Tadel fast fühlen. „Ihre Ladyschaft ist nicht an Liebeleien interessiert, Mylord. Sie bereist Italien, um zu lernen und ihren Wissensschatz zu vergrößern.“

„Dann werden Sie sie wohl auf diesem Weg führen und leiten, Miss Wood“, sagte Reverend Lord Patterson und setzte sich seine schwarze Samtkappe wieder auf. „Was für ein Vorbild an Wissen müssen Sie selbst sein, wenn Seine Gnaden die Erziehung und das Wohl seiner Tochter in Ihre Hände gelegt haben.“

Zu Dianas Erstaunen überflog eine sanfte Röte Miss Woods Wangen, als der Geistliche ihr jetzt die Hand schüttelte.

„Sie sind zu freundlich“, antwortete die Gouvernante. „Aber ich kann mir wirklich keine edlere Berufung vorstellen, als Seiner Gnaden Tochter zu leiten und mich zu bemühen, ihren Verstand und ihren Charakter zu bessern.“

„Natürlich, natürlich.“ Reverend Lord Patterson nickte eifrig. „Darf ich Ihnen meine letzte Errungenschaft zeigen, Miss Wood? Eine Dame mit Ihren gelehrten Neigungen wird die fachmännische Arbeit zu würdigen wissen. Es ist das Stück einer bemalten Amphora, die schon zu Cäsars Zeiten antik war.“

„Ich danke Ihnen sehr, Mylord“, sagte Miss Wood, während sie bereits zum Tisch ging. „Nichts würde mir eine größere Freude bereiten.“

Diana wandte sich zu Lord Edward um und sah ihn spöttisch an. „Das haben Sie sehr schön eingefädelt, nicht wahr?“

Er legte die Hand aufs Herz. „Viel lieber möchte ich dabei an Schicksal glauben. Es geschah, um mich Ihnen näher zu bringen.“

„Ich glaube kein einziges Wort“, schalt sie. „Und Sie doch auch nicht.“

Erstaunt hob er die Brauen. „Sie glauben nicht an das Schicksal?“

„Nicht an diese Art Schicksal“, erwiderte Diana. Sie trat einen Schritt beiseite und achtete darauf, dass ihre weißen Musselinröcke dabei anmutig um ihre Beine schwangen. „Ich glaube eher, dass wir mit dem freien Willen, den Gott uns gab, unser Leben und unser Schicksal bestimmen. Sonst ähnelten wir doch nur ruderlosen kleinen Booten. Und genau das glauben auch Sie.“

Sie öffnete ihren Fächer, und während sie langsam zum gegenüberliegenden Fenster schlenderte, fächelte sie sich träge Luft zu. Seit sie aus England fort war, hatte sie sich nicht mehr so gut unterhalten. „Vermutlich ist Ihnen hier in Rom genauso langweilig wie mir, wo doch zurzeit die hochgestellten Leute alle in ihre Sommervillen umgezogen sind.“

„Aber ganz und gar nicht!“, rief er aus. „Ich habe doch nur …“

„Bitte, Mylord, ich bin noch nicht fertig“, warf sie ein. „Ich hege den Verdacht, Sie kamen absichtlich in die Gemeinschaftsräume auf der anderen Seite der Eingangshalle, weil Sie mich dort treffen wollten. Und vermutlich haben Sie es auch so arrangiert, dass Ihr Onkel sich mit Miss Wood unterhält und wir deswegen jetzt miteinander allein sein können.“

„Ich verstehe.“ Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und folgte ihr. „Sie tadeln mich also dafür, dass ich nicht wartete, bis das Schicksal mich Ihnen in den Weg schubst, sondern kühn die Umstände zu meinen Gunsten nutzte?“

„Oh, ich habe nie gesagt, dass ich Sie tadle, Mylord“, antwortete Diana mit munterem Lächeln. „Ich sagte nur, dass ich Sie im Verdacht habe, nicht mehr an das Schicksal zu glauben als ich.“

„Dann schenken Sie mir Ihre Gunst und tadeln mich nicht, Mylady?“

„Noch nicht“, sagte sie, als er sich jetzt in die Fensternische neben sie stellte. „Aber ich muss schon sagen, dass es für einen Gentleman recht ungewöhnlich ist, seine Absichten so offen zuzugeben.“

„Ich möchte kein ruderloses Boot sein, Mylady“, antwortete er. „Betrachten Sie mich eher als die Strömung, bereit Sie zu tragen, wohin Sie wollen.“

Diana lachte leise. Sie war fasziniert. Den meisten Männern flößte ihre Schönheit in Verbindung mit der Macht ihres Vaters viel zu viel Ehrfurcht ein, als dass sie mit solcher Entschiedenheit gesprochen hätten. Er gefiel ihr. Und sie fragte sich, was für einen Ehemann er wohl abgäbe. „Und wohin genau wollen Sie mich tragen, Lord Edward?“

Galant verbeugte er sich. „Wohin immer Sie es wünschen, Mylady. Es gibt so viele Sehenswürdigkeiten in Rom, alte und moderne“, fuhr Edward fort. „Wir haben die unbegrenzte Wahl.“

Diana zog die Nase kraus und wandte sich ab. Sie blickte auf die mit roten Schindeln gedeckten Dächer und die tropfenden Zypressen. „Keine langweiligen Museen oder staubige alte Kirchen, bitte. Davon habe ich schon genug gesehen, während wir durch Frankreich und Italien zogen und Miss Wood mir auf Schritt und Tritt lehrreiche Vorträge hielt.“

„Aber das hier ist Rom“, sagte er. „Und ich verspreche Ihnen, ich kann selbst die verstaubteste alte Ruine für Sie noch zu einem Ereignis machen.“

„Ich bin kein Blaustrumpf, Lord Edward“, warnte sie. „Verfallene Monumente sind nie interessant.“

„Mit mir würden sie es sein.“

Diana zuckte die Achseln und tat, als wäre sie nicht interessiert. In Wahrheit konnte sie sich nicht Schöneres vorstellen, als Miss Woods Besichtigungstouren gegen eine Tour zusammen mit ihm einzutauschen.

„Kommen Sie doch morgen mit mir. Ich werde Ihnen Rom zeigen, wie Sie es noch nie gesehen haben“, drängte er. „Nach dem Frühstück wird eine Kutsche auf uns warten. Sie werden sehen, ich bringe Sie doch noch dazu, Ihre Meinung zu ändern.“

„Vielleicht.“ Diana gab sich Mühe, nicht allzu begeistert zu wirken. „Schauen Sie nur, Mylord. Sehen Sie den Regenbogen dort?“

In neblig blassen Farben spannte sich ein Regenbogen über die Stadt, ergoss sich aus den tief hängenden grauen Wolken, um im Dunst über dem Tiber zu verschwinden. Diana trat auf den schmalen Balkon hinaus und ließ die Fingerspitzen leicht über das nasse Eisengeländer spazieren.

Lord Edward gesellte sich zu ihr. „Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal einen Regenbogen gesehen habe“, wunderte er sich. „Ich würde sagen, dass das ein Zeichen ist, Mylady. Ich treffe Sie, und die Wolken verschwinden. Sie lächeln mich an, und ein Regenbogen spannt sich über den Himmel.“

Diana lehnte sich über das Geländer und beobachtete eine offene Kutsche, die unten auf der Straße vorbeifuhr. Die Insassen mussten dem Versprechen des Regenbogens vertraut haben, denn sie hatten nichts als smaragdgrüne Sonnenschirme zu ihrem Schutz bei sich. Es waren drei schöne, lachende Frauen. Ihr glänzendes schwarzes Haar war zu Hochfrisuren aufgesteckt, auf denen erlesene Strohhüte wippten. Ihre Kleider waren tief ausgeschnitten und eng geschnürt, um die üppigen Busen zu betonen. Die Röcke schienen die ganze Kutsche auszufüllen, Yards über Yards von sich bauschender glänzender Seide. Als die Kutsche auf ihren rot bemalten Rädern vorbeirollte, wehten die Quasten auf den Sonnenschirmen und die Bänder an den Hüten der Damen fröhlich im Wind.

„Es ist bedauerlich, dass eine Dame wie Sie sich eine solche Zurschaustellung ansehen muss“, meinte Lord Edward ehrlich empört. „Ein Haufen angemalter fille de l’opera!“

„Das ist aber Französisch.“ Diana wusste genau, was er meinte. Dass diese Frauen Huren waren. „Und sie sind Italienerinnen.“

„Nun, ja“, gab Lord Edward widerwillig zu. „Es genügt zu sagen, dass es ordinäre Frauen von der Bühne sind.“

„Aber stimmt es denn nicht, dass es Frauen generell verboten ist, auf einer römischen Bühne aufzutreten?“, fragte sie und wiederholte damit, was sie vom Besitzer ihrer Herberge erfahren hatte. „Dass alle weiblichen Rollen in der Oper von Männern gespielt werden?“

„Ja, ja, das ist schon wahr“, antwortete Lord Edward und räusperte sich verstimmt, als fühlte er sich ertappt. „Sie zwingen mich, offen zu sein, Mylady. Diese Frauen sind wahrscheinlich die Mätressen reicher Männer und deshalb nicht wert, von Ihnen beachtet zu werden.“

Eigentlich waren es gar nicht die Frauen, die Dianas Blick so sehr auf sich zogen, sondern der Mann, der lässig zurückgelehnt zwischen all den Röcken und Bändern saß. Und sie fragte sich voller Neugier, ob er sich wie ein Sultan alle drei Frauen als Geliebte hielt.

Der Mann saß auf dem Mittelsitz, die Arme nonchalant um die Schultern zweier Frauen gelegt, die langen Beine gekreuzt auf den gegenüberliegenden Sitz gestützt. Er sah gut aus, und seine weißen Zähne blitzten, als er mit den Frauen lachte und scherzte. Sein langes dunkles Haar war im Nacken mit einem roten Seidenband nachlässig zusammengefasst, das er von einem der Hüte stibitzt haben mochte. Alles an diesem Mann kam Diana sorglos und leicht, sogar leichtsinnig vor, und er war alles andere als englisch.

„Werden Sie uns morgen eine Kutsche wie diese besorgen, Lord Edward?“, fragte sie. „Eine mit roten Rädern und Glöckchen, mit Bändern und Blumen in den Mähnen der Pferde?“

Missbilligend schüttelte Lord Edward den Kopf. „Ich achte Sie viel zu sehr, um dergleichen zu tun.“

„Ach ja?“, erwiderte Diana gedehnt. „Dabei sieht es doch sehr lustig aus, finde ich.“

„Skandalös. Und dann noch mit diesem Pack.“ Entschlossen, sie von diesem anrüchigen Anblick zu erlösen, fasste er sie leicht beim Ellbogen. „Kommen Sie, Lady Diana. Besudeln Sie sich nicht, indem Sie denen dort unten weiterhin Ihre Aufmerksamkeit schenken.“

Er wandte sich ab, um zu den anderen zurückzukehren. Diana zögerte und warf einen letzten Blick auf die fröhlich geschmückte Kutsche. Dabei musste eine Bewegung ihrer Röcke den Blick des dunkelhaarigen Mannes auf sich gezogen haben. Er drehte sich um und sah zu ihr herauf. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Unter den dunklen Brauen und Wimpern waren seine Augen erstaunlich hell. Er führte zwei Finger an die Lippen und winkte dann zu ihrem Balkon hinauf. Es war eine elegante und zugleich verführerische Geste. Er lächelte nicht dabei. Er brauchte es nicht. Der Kuss, den er ihr zuwarf, genügte.

„Lady Diana?“ Ungeduldig berührte Lord Edward ihren Arm. „Wollen wir uns nicht zu den anderen gesellen?“

„Oh ja.“ Diana schenkte ihm ein Lächeln, während ihr Herz aus unerklärlichen Gründen raste. „Der Regenbogen ist ja auch schon wieder verschwunden.“

Und als sie verstohlen einen Blick über die Schulter warf, waren auch die Kutsche und der Mann darin fort.

2. KAPITEL

Lord Anthony Randolph neigte die schwere Kristallkaraffe und füllte noch einmal sein Glas.

„Der Sommer ist vorbei“, meinte er traurig und hielt das Glas gegen das Licht, um die glutrote Farbe des Weins zu bewundern. „Die englischen Dämonen sind wieder zurück, um Rom zu erobern.“

Ohne sich zu ihm umzudrehen, lachte Lucia. Aufrecht saß sie vor ihrem Frisiertisch, während ihre Zofe eine dicke Haarsträhne nach der anderen um ein Brenneisen wickelte. „Wie kannst du nur so reden, Anthony, wo du doch selbst einer dieser englischen Dämonen bist?“

„Sei nicht so grausam, Lucia“, erwiderte Anthony leichthin und nippte an seinem Wein. „Es stimmt, zur Hälfte habe ich englisches Blut. Doch in meinem Herzen bin ich ein reiner Römer.“

„Was dir natürlich das Recht gibt zu sagen, was immer dir gefällt.“ Prüfend griff Lucia nach der noch warmen Locke, die ihr auf die Schulter fiel. „Doch das würdest du auch tun, wenn du auf dem Mond geboren wärst.“

„So ist es, mein Liebling.“ Anthony ließ sich in einen Sessel neben dem offenen Fenster fallen und schob sich ein kleines gelbes Samtkissen hinter den Kopf, da er auf eine längere Wartezeit gefasst war. Auch wenn die Tage, in denen er und Lucia ein Liebespaar gewesen waren, schon lange zurücklagen, gingen sie jetzt als Freunde mit den jeweiligen Schwächen und Fehlern des anderen viel nachsichtiger um. „Ich kann mir nicht helfen. Kaum werden die Tage kürzer, fallen diese entsetzlichen, milchgesichtigen Engländer in ganzen Horden über uns her und beklagen sich, dass der Wein zu stark und die Sonne zu heiß ist und dass kein Roastbeef auf der Speisekarte steht.“

„Ich beklage mich gar nicht über die englischen Herren“, sagte Lucia und straffte ein wenig das Lid, um eine dunkelblaue Linie um ihr Auge zu ziehen. „Sie sind sehr aufmerksam, und sie besuchen mich immer wieder.“

Er hob das Glas und prostete ihr zu. „Warum auch nicht, meine reizende Lucia, wo du doch der Hauptgewinn bist, den sie alle bekommen möchten.“

„Ach, sei still, Antonio“, schalt sie ihn. „Mit deinen albernen Schmeicheleien könntest du das ganze Flussufer des Tibers zuschütten.“

Zur Gesellschaft im Studio des Malers Giovanni würden sie mindestens eine Stunde zu spät kommen. Doch statt sich wegen der Verspätung zu ärgern, hatte Anthony gelernt, sich zu entspannen und das vertraute Beisammensein mit Lucia zu genießen. „Nenn mir nur einen Mann in dieser Stadt, der dich besser zu unterhalten weiß als ich.“

Leicht verärgert ließ sie nur einen leisen Laut des Unmuts hören und konzentrierte sich weiterhin auf ihr Spiegelbild, während sie ihren Rosenmund kirschrot nachzog. Wie jede erfolgreiche Kurtisane kannte sie den Wert eines großen Auftritts, selbst wenn er nur bei einer Gesellschaft im Kreise von Freunden stattfand. Und sie würde ihren Spiegel nicht eher verlassen, bis sie nicht sicher sein konnte, dass ihr Aussehen bis ins kleinste Detail perfekt war. Außerdem war sie gebeten worden, heute Abend zu singen. Ihre Stimme war so schön wie ihr Gesicht, und sie kannte die Macht von beiden. Es war entsetzlich ungerecht, dass Papst Innozenz XI. schon vor knapp hundert Jahren Sängerinnen von der römischen Opernbühne verbannt hatte. In jeder anderen Stadt hätte ihre Stimme sie zu einer wahren Königin gemacht. Und dann wäre es ihr auch möglich gewesen, sich interessantere Liebhaber zu nehmen als den fröhlichen fetten Weinhändler, der sie zurzeit aushielt.

„Für einen milchgesichtigen Engländer machst du dich ganz gut“, sagte sie schließlich und zeigte ihrem Spiegelbild einen Schmollmund.

Anthony stöhnte theatralisch. Es stimmte, dass sein Vater ein englischer Adliger gewesen war, Erbe einer Grafschaft, die weit oben im Norden dieses Landes lag und an das raue, kalte Schottland grenzte. Doch auf seiner Grand Tour hatte sein Vater in Rom die Sonne und seine Liebe zu Anthonys vor Charme sprühender Mutter entdeckt. Sie war reich und von adeliger Geburt. Die beiden älteren Brüder Anthonys waren zwecks ihrer Erziehung pflichtbewusst nach England zurückgekehrt und nach Vaters Tod auch dort geblieben. Anthony aber hatte Italien in seinen ganzen achtundzwanzig Jahren nicht ein Mal verlassen. Er lebte hier höchst zufrieden unter der wärmenden Sonne und in der temperamentvollen Familie seiner Mutter.

„Ich habe kein Milchgesicht, Lucia“, erwiderte er aufbrausend. „Noch bin ich scheinheilig oder anmaßend oder benehme mich so schlecht wie diese umherreisenden Engländer.“

„Aber wer weiß, vielleicht wirst du noch wie dieser aufgeblasene Bursche enden, den wir heute oben auf dem Balkon sahen“, neckte sie ihn, während sie lange Granatohrringe anlegte. „Noch ein, zwei Jahre, und du wirst genauso aussehen, Antonio. Deine Weste wird über deinem Bauch spannen und dein Gesicht käsig und selbstgefällig ausschauen.“

Anthony wusste sofort, welchen Mann sie meinte. Er hatte sich über den Balkon seiner Unterkunft gelehnt und finster und voller Missfallen heruntergeblickt, als er selbst und Lucia mit zwei ihrer Freundinnen über die Piazza di Spagna gefahren waren, auf dem Weg zu einem improvisierten Picknick in den Hügeln.

„Dieser Engländer ist jünger als ich“, sagte er und klopfte stolz auf seinen flachen Bauch. „Lord Edward Warwick. Er ist erst seit einem Monat in Rom, glaubt aber, er würde die Stadt und deren Geheimnisse besser kennen als jeder Römer. Letzte Woche wurde ich ihm von einem Freund vorgestellt, und ich habe nicht den Wunsch, ihm noch einmal zu begegnen.“

„Von der Dame, die bei ihm stand, würdest du das aber sicher nicht sagen.“ Endlich fertig, erhob Lucia sich mit einem spöttischen Lächeln von der Sitzbank. „Du kannst es nicht leugnen, Antonio. Dazu kenne ich dich zu gut. Ich habe sehr wohl bemerkt, wie du sie angesehen hast und sie dich.“

„Ich leugne es auch gar nicht.“ Er trank mit Genuss seinen Rest Wein aus und dachte an das Mädchen, das auf dem Balkon neben Warwick gestanden hatte. Natürlich war auch sie Engländerin. Andere Ausländer als Engländer hatten noch nie an der Piazza di Spagna logiert. Und außerdem hatte sie in jener typisch steifen Art am Geländer gestanden, die offensichtlich ein Merkmal wohlerzogener englischer Damen war.

Im weichen Licht der Sonne, die durch die Regenwolken gebrochen war, hatte ihr Haar wie poliertes Gold geglänzt. Ohne eine Spur von Schminke besaß ihre Haut jene köstliche Mischung aus Creme und Rosa. In seinen Augen waren zu viele Landsleute seines Vaters blass und farblos, als hätte man sie in dem scheußlichen, regnerischen Klima ihres Landes draußen stehen lassen, wo sie verblassten und verwelkten. Doch dieses Mädchen brachte es fertig, blass zu sein, ohne blässlich zu wirken, zerbrechlich zu erscheinen, ohne dabei die Aura der Leidenschaft, des Verlangens zu verlieren. Kurz bevor die Kutsche um die Ecke gefahren war, hatte er selbst aus dieser Entfernung die Leidenschaft und das Verlangen gesehen – nein, gespürt.

Er hatte mehr gewollt. Wollte es noch immer.

„Bedenke es zwei Mal und dann noch einmal, Antonio“, warnte Lucia. Sie reichte ihm ihren Merinoschal und drehte sich dann mit der wohl kalkulierten Grazie einer Schauspielerin um. „Wird sie den Ärger wert sein, den sie dir machen wird?“

Er nahm den Schal und legte ihn ihr um die Schultern. „Wer sagt denn, dass sie mir Ärger machen wird?“

„Ich sage es“, erwiderte Lucia und wandte sich ihm noch einmal zu. „Ich meine es ernst, mein Lieber. Sie ist Engländerin. Sie ist eine Dame. Sehr wahrscheinlich ist sie noch Jungfrau. Um sie herum wird es Männer geben, einen Vater, einen Bruder, einen Liebsten, die über ihre Unschuld wachen. Das wird dein Problem sein.“

Lächelnd strich er ihr über die sanft geschwungene Nase. „Du machst dir zu viele Sorgen, meine Liebe.“

Sie schlug ihm leicht auf die Hand. „Ich kenne dich zu gut.“

„Und sie kennt mich überhaupt nicht, die Arme.“

„Wenn du mit ihr fertig sein wirst, wird sie wünschen, dich nie gekannt zu haben“, prophezeite Lucia düster. „Denn du hinterlässt bei jeder Frau Spuren.“

In spöttischem Erstaunen hob er die Brauen. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du je zuvor darüber geklagt hast.“

„Dreh mir nicht die Worte im Mund herum, Antonio“, fauchte sie ihn an. Lucia mochte singen wie ein Engel, doch die Eingebung zu allem anderen, was sie tat, erhielt sie eher vom Teufel als von göttlichen Mächten. „Als ich noch mit dir zusammen war, habe ich mich nie beschwert, das weißt du genau. Und ich werde jetzt nicht damit anfangen. Für dich ist die Liebe nur ein Spiel, und diese kleine englische Jungfrau versteht deine Spielregeln vielleicht nicht.“

Er würde ihr nicht widersprechen. Immer schon hatte er die Frauen geliebt und stets sorgfältig darauf geachtet, dass auch sie mit ihm ihr Vergnügen hatten. Deswegen, und auch weil er reich war, hatte es ihm nie an Geliebten gefehlt. Aber wenn er auch von Adel war, bevorzugte er doch die Gesellschaft der berühmteren Kurtisanen der Stadt und einiger verheirateter Damen mit skandalösem Ruf. Es waren Frauen, die wussten, dass die Liebe nichts als ein vergängliches Amüsement war. Ehrenwerte junge Damen langweilten ihn; außerdem sorgten schon deren Mütter dafür, dass sie ihm nicht über den Weg liefen. All das bekümmerte ihn jedoch wenig. Er musste nicht des Geldes, der Stellung oder eines Erbes wegen heiraten. Lucia hatte recht: Für ihn war die Liebe ein Spiel, und er hatte vor, es so lange wie möglich zu spielen.

In der Hoffnung, Lucias Stimmung etwas aufzuheitern, lächelte er ihr zu. „Das Mädchen kann dir doch egal sein.“

„Und was siehst du in ihr?“

„Sie ist nur ein hübsches kleines Ding, das ich auf einem Balkon entdeckt habe“, meinte er beiläufig. „Sei vernünftig, Schatz. Du hast kein Recht und auch keinen Grund, eifersüchtig zu sein.“

„Oh!“ Die Augen vor Zorn weit aufgerissen, schnappte sie nach Luft. „Oh, wie kannst du es wagen, so etwas zu mir zu sagen?“

Heftig stieß sie beide Hände gegen seine Brust und trat einen Schritt zurück. „Wieso bist du nur so stur, dass du mir nicht die ehrliche Antwort geben willst, die ich verdiene? Ich, deine älteste Freundin, die liebe Lucia! Du bist unmöglich, Antonio! Unmöglich!“

Sie warf den Kopf in den Nacken, dass das kunstvolle Werk aus Bändern, Locken, Puder und falschem Haar ins Schwanken geriet. Hastig raffte sie die Röcke, eilte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter.

Anthony seufzte. Bei Lucia geriet immer alles zu einer Szene, die um der größtmöglichen Wirkung willen grandioso gespielt wurde. Er mochte Lucia, sehr sogar, aber sie war auch ermüdend. Dieses reizende englische Mädchen war sicher anders. Unschuldig. Friedvoll. Nicht so schnell dabei zuzubeißen. Sie wäre wirklich eine angenehme Abwechslung, eine Erlösung. Sie wäre wie ein stiller Teich auf einer Sommerwiese nach einem verheerenden Sturm auf hoher See.

Er schlüpfte in seinen Mantel, griff nach seinem Hut und dachte dabei vergnügt über die verschiedenen Möglichkeiten nach, wie er dem reizlosen Lord Edward dieses entzückende blonde Mädchen ausspannen könnte. Vor Lucias Spiegel blieb er stehen, um sich den Hut verwegen schräg aufzusetzen, eben so, wie es zu ihm passte.

Nach englischen Maßstäben galt er nicht als gut aussehend. Seine hellhäutigeren Brüder waren immer schnell mit von der Partie, wenn es darum ging, ihn wegen seiner dunkleren Hautfarbe, den schwarz gelockten Haaren und der äußerst markanten Nase zu necken, all dies ein Erbe der Familie seiner Mutter. Doch die grauen Augen und das ungezwungene Lächeln stammten von seinem Vater und dazu noch genug Witz und Selbstbewusstsein, um alle Frauen sein kantiges, dunkles Gesicht vergessen zu lassen. Anthony zwinkerte seinem Spiegelbild zu und ging dann die Treppe hinunter. Inzwischen konnte er es wohl gefahrlos riskieren, sich zu Lucia in die Kutsche zu setzen, denn sie dürfte genug Zeit gehabt haben, um sich wieder zu beruhigen.

„Unmöglich“, murmelte sie mit abgewandtem Gesicht, als er in die Kutsche kletterte. „Du bist unmöglich.“

Er blieb in der Tür stehen. „Ich muss dich heute Abend nicht begleiten, Lucia. Wenn ich so verdammt unmöglich bin, ist es vielleicht besser für dich, allein zu Giovannis Fest zu gehen. Außerdem hat keiner der beiden auf dem Balkon Notiz von mir genommen.“

Sie fuhr herum. „Natürlich haben sie dich bemerkt, Antonio. Du weißt so gut wie ich, dass man dich nie übersieht oder vergisst. Du bist eben so.“

Seufzend ließ er sich neben ihr auf den Ledersitz fallen. „Das kann ich jetzt so oder so verstehen, Lucia.“

Aber Lucia antwortete nicht. Sie hatte sich wieder dem offenen Fenster zugewandt. Die nächste Viertelstunde fuhren sie in tiefem Schweigen, das eher einem unbehaglichen Waffenstillstand glich.

„Es wird dir nicht schwerfallen, sie wiederzufinden, deine kleine, flachshaarige Jungfrau“, sagte Lucia schließlich. „Euer englischer Konsul kann dir ihren Namen nennen. Es gibt nicht viele wie sie hier in Rom, besonders nicht so früh im Herbst.“

„Ich habe nicht behauptet, dass ich an ihr interessiert bin, oder?“

„Du brauchst es gar nicht laut auszusprechen, Antonio“, entgegnete sie und tupfte sich mit einem kostbaren Spitzentaschentuch die Augenwinkel. „Nicht bei mir.“

„Lucia, es reicht“, sagte Anthony entschieden. „Ist dein Liebster, Signor Lorenzo, nicht die Liebe deines Lebens? Der einzige Mann in Rom mit genug Hingabe, um deine Wutanfälle zu tolerieren, und genug Geld, um dir den Luxus zu ermöglichen, den du verlangst?“

„Wir sprechen hier nicht über Lorenzo.“ Ungeduldig schnippte sie mit dem Taschentuch nach ihm. „Wir sprechen von dir, Antonio. Was, wenn du dieses Mal in deinem kleinen Spiel der Verlierer bist? Was, wenn du alles für sie aufgibst?“

Amüsiert lehnte Anthony den Kopf gegen die Lederpolster und lachte leise. „Das wird nicht geschehen. Es ist gar nicht möglich.“

„Nein?“ Ihre Augen funkelten herausfordernd. „Du bist dir sehr sicher.“

„Ich bin mir sicher, weil ich recht habe“, war die einfache Antwort. Er nahm ihre Hand und küsste sie oberhalb des Rubinrings. „Keine Frau dieser Welt könnte diese Art von immerwährender Macht über mich erringen. Das solltest du wissen, Lucia.“

Sie rümpfte die Nase und entzog ihm ihre Hand. „Ich war es, die zuerst deiner müde wurde.“

Er ließ sich seine Zweifel so deutlich anmerken, dass sie schnell fortfuhr: „Ich sollte dich dieses unterernährte kleine Ding einfach heiraten lassen.“

„Du wirst meine Meinung nicht ändern, mein Schatz. Ich heirate sie nicht. Weder sie noch sonst irgendjemanden.“

Lucia ließ die gespreizten Finger über ihrem Dekolleté spielen, dass der Rubin im Halbdunkel aufblitzte. „Bist du dir sicher genug, darauf eine kleine Wette abzuschließen?“

Er lächelte. „Eine Wette, klein genug, dass bei Lorenzo keine Zweifel aufkommen und groß genug, um mein Interesse zu wecken?“

„Genau.“ Sie beugte sich zu ihm. „Ich wette, noch bevor die Adventszeit beginnt, wirst du diese Engländerin so besessen verfolgen, dich so sehr an sie verlieren, dass deine Freunde dich vor einer Heirat mit ihr retten müssen.“

„Einer Heirat!“ Über den absurden Schwachsinn dieser Bemerkung brach Anthony in lautes Gelächter aus. Diese junge Dame mochte eine entzückende Abwechslung sein, aber sie würde ihn kaum dazu bringen, sein vergnügtes, zügelloses Leben aufzugeben, nur um ihrer Hand willen.

„Ich nehme deine Wette an, Lucia, und ich werde deinen Einsatz bestimmen. Ich werde das Mädchen verführen. Ich werde so viel Spaß mit ihr haben wie sie mit mir. Doch sie wird nie meine Frau werden. Und wenn ich gewinne, erwarte ich, dass du auf der Spanischen Treppe eine Arie singst.“

Lucia runzelte die Stirn. „Mit Blick auf die Piazza? Vor ganz Rom?“

„Und umsonst, Liebling“, fügte er hinzu. Außer den päpstlichen Balkon des Petersdoms konnte er sich keinen öffentlichkeitswirksameren Ort vorstellen. Die Spanische Treppe war in diesem Jahrhundert gebaut worden, eine große, wellenförmige, marmorne Flut, die wie ein Wasserfall den Hügel der französischen Kirche Trinita dei Monti zur Piazza di Spagna hinunterstürzte, in deren Mitte einer der berühmtesten Brunnen Roms, die Fontana della Barcaccia stand. Die Piazza war nicht nur einer der Orte, an dem die Römer am liebsten dem Nichtstun frönten, sondern auch eine der größten Attraktionen für ausländische Besucher. Auf der natürlichen Bühne, welche diese Treppe bot, war Lucia eine enorme Menge an Zuhörern sicher. Und die Tatsache, dass ihre Darbietung auch noch in Sichtweite der Unterkunft jenes englischen Mädchens stattfinden würde, verlieh der Wette einen zusätzlichen Reiz.

„Ein kleines Geschenk, das du allen Römern mit deiner Stimme machst. Und das obendrein kein Loch in Lorenzos Geldbeutel reißt, nicht wahr?“

„Umsonst?“, fauchte Lucia außer sich vor Wut. „Ich singe nie ohne Gage!“

Er kreuzte die Arme vor der Brust. „Das ist meine Bedingung. Wenn du sie nicht akzeptieren willst, nun gut, dann wird die Wette …“

„Wenn du verlierst, musst du statt meiner singen!“, sagte sie schnell. „Du, Antonio, wo du doch wie ein Esel schreist!“

„Einverstanden.“ Sein Gesang glich wirklich dem eines Esels und das auch nur nach genügend harten Getränken. Doch er war überzeugt, dass es niemals so weit kommen würde.

„Und … und hundert venezianische Goldstücke!“

„Venezianische Goldstücke“, stimmte er amüsiert zu. Nur Lucia konnte so gierig sein. „Bereite deine Lieblingsarie vor, mein Schatz. Vor dem Volk von Rom möchtest du doch sicher dein Bestes geben.“

„Ich werde üben und nochmals üben, das verspreche ich dir, Antonio.“ Mit nachsichtigem Lächeln streckte sie die Hand aus und tätschelte ihm die Wange. „Für deine Hochzeit, nicht wahr? Für deine Hochzeit.“

„Das hier, meine Damen, ist das große Kolosseum.“ Reverend Lord Patterson hielt feierlich inne und deutete mit seinem Spazierstock aus dem Kutschenfenster. „Wo heidnische Krieger zur Unterhaltung Cäsars kämpften und unzählige Opfer wegen der Willkür eines skrupellosen Diktators erschlagen wurden.“

„Gütiger Gott!“, flüsterte Miss Wood tief beeindruckt. „Wenn man bedenkt, dass all das in diesen Mauern dort geschah! Lady Diana, Sie erinnern sich doch an das, was Sie über die Gladiatoren im Kolosseum gelesen haben, nicht wahr?“

Lustlos betrachtete Diana durchs Kutschenfenster die gewaltige steinerne Ruine, die neben ihnen aufragte. Während der letzten drei Tage hatte sie sich um Edwards willen sehr bemüht, Begeisterung zu zeigen und sich für das zu interessieren, was ihn interessierte.

Doch es fiel ihr nicht leicht, zumal das alte Rom für Edward das interessanteste Gesprächsthema war.

„Aber Onkel, so haben Sie doch ein Einsehen“, meinte Edward und nutzte das Halbdunkel in der Kutsche, um Dianas Hand zu ergreifen. „Sie können doch nicht erwarten, dass eine so wohlerzogene Dame wie Lady Diana Ihre blutrünstige Begeisterung für heidnische Krieger teilt, die sich vor tausend Jahren gegenseitig erschlagen haben.“

„Aber Seine Gnaden der Herzog erwartet, dass seine Töchter ein gewisses Maß an Wissen über die Vergangenheit besitzen, Mylord“, protestierte Miss Wood mit Nachdruck. „Natürlich sind keine so ausgeprägten Kenntnisse wie bei Jungen notwendig, aber doch so viel, dass sie sich von gewöhnlichen Frauen unterscheiden und eine Unterhaltung führen können, die Seine Gnaden und andere Gentlemen erfreut.“

„Dann möchte ich als Gentleman sprechen, Miss Wood“, sagte Edward und hob Dianas Hand, um einen Handkuss anzudeuten. „Mir wäre es lieber, wenn Lady Diana, was Cäsars verderbte Gewohnheiten betrifft, ihre Unschuld behielte. Besser, sie genießt die Schönheit des Ortes, als dass sie an die Schändlichkeiten denkt, die einst dort stattfanden.“

Diana lächelte gerührt. Es schien ihr allerdings, als würde er mehr die Unwissenheit als die Unschuld verteidigen, doch um seinetwillen übersah sie dieses Detail. Noch nie hatte sie einen solchen Fürsprecher gehabt.

Aber Miss Wood war nicht bereit, schon aufzugeben. „Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass Seine Gnaden die Unschuld seiner Tochter bewahrt sehen möchte, Mylord. Doch er wünscht auch, dass sie sich ein wenig Gefühl und Verständnis für die größere Welt des Kontinents, einschließlich des Kolosseums, aneignet.“

„Ich möchte etwas vorschlagen, Miss Wood.“ Bemüht, Frieden zu stiften, beugte Reverend Lord Patterson sich vor. „Lassen Sie meinen Neffen Lady Diana doch ein, zwei Augenblicke ins Innere begleiten, damit sie selbst einen Blick in das Kolosseum werfen kann. Sicherlich wird das Mondlicht die raue Wirklichkeit des Ortes aus den Gedanken der jungen Dame verbannen und ihr helfen, die angemessene Ehrfurcht vor seiner Geschichte zu bewahren.“

„Eine ausgezeichnete Idee!“ Diana war sofort bereit, aus dem Wagen zu springen. Während der letzten Tage hatten sie unter so strenger Bewachung gestanden, dass sie der Möglichkeit, endlich einmal mit Edward allein zu sein, nicht widerstehen konnte. „Das heißt, wenn Lord Edward dazu bereit ist …“

„Es wäre mir eine Ehre, Mylady.“ Edward zeigte den gleichen Eifer wie Diana und griff nach der Türverriegelung. „Wann kann man das Kolosseum besser besichtigen als bei Mondschein?“

„Bei Mondschein, ach wirklich?“ Miss Wood erhob sich von ihrem Sitz. „Das würde ich auch sehr gerne sehen.“

Edward machte ein langes Gesicht. „Das ist nicht nötig, Miss Wood. Das heißt, ich glaube nicht, dass …“

„Sie müssen nicht mitkommen, Miss Wood“, bat Diana. „Bitte, bitte! Sie können uns schon ein wenig vertrauen.“

Aber die Gouvernante schüttelte den Kopf. Sie gab sich immer noch die Schuld daran, dass Mary in Paris durchgebrannt war. Und seit damals war sie fest entschlossen, Diana keine solche Gelegenheit wie ihrer Schwester zu geben. „Das ist keine Frage des Vertrauens, Mylady, sondern der Sittsamkeit. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern …“

„Ich bin sittsam, Miss Wood“, sagte Diana rasch. „Und es könnte keinen ehrenwerteren Gentleman geben als Lord Edward.“

„Ach, lassen Sie sie doch gehen, Miss Wood“, meinte Reverend Lord Patterson gutmütig. „Ich bürge für die Ehrsamkeit meines Neffen. Und außerdem werden die beiden kaum allein sein. Sicher sind jetzt drinnen mehr Besucher als am Tag, ganz abgesehen von den ständig anwesenden Priestern und den Kekse- und Getränkeverkäufern, die Tag und Nacht das Kolosseum verstopfen.“

Edward legte die Hand aufs Herz. „Sie haben mein Wort, Miss Wood. Ich werde die Ehre Ihrer Ladyschaft mit meinem Leben verteidigen.“

Einen Augenblick zögerte Miss Wood noch, dann seufzte sie resigniert. „Nun gut, Mylady. Ich werde Ihnen und Seiner Lordschaft vertrauen. Sie dürfen gehen und sich zusammen die Ruinen anschauen. Doch denken Sie daran, in einer halben Stunde müssen Sie zurück sein, oder ich werde mich auf die Suche nach Ihnen machen.“

„Dann lassen Sie uns gehen, Lord Edward.“ Diana ergriff seine Hand. „Wir dürfen keine Zeit verschwenden.“

„Die Zeit mit Ihnen ist niemals verschwendet.“ So machte er es immer: Er nahm ihre Worte und verwandelte sie in ein romantisches Echo. „Der Eingang ist dort unten.“

„Meinetwegen können wir auch einfach nur draußen um das Kolosseum herumgehen, Mylord“, meinte Diana. So allein mit ihm fühlte sie sich bereits ein wenig schwindlig. „Denn mir geht es nur darum, mit Ihnen zusammen zu sein.“

Er lachte leise und tätschelte ihre Hand, während er sie zu einer kleinen Plane führte, die den Eingang zur antiken Ruine markierte. „Es ist klug von Ihrer Gouvernante, auf Sie aufzupassen. Der gute Ruf einer Dame ist ein unersetzlicher Schatz.“

„Er kann auch eine unerträgliche Bürde sein“, erwiderte Diana trocken. „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre ein gewöhnliches Mädchen.“

„Nie könnte man Sie gewöhnlich nennen“, gab er galant zurück und missverstand dabei ihre Klage. „Noch Seine Gnaden, Ihren Vater.“

„Vater ist ganz schön gewöhnlich, besonders für einen Peer“, meinte Diana. „Und dass Miss Wood behauptet, er möchte mit mir über Geschichte und Kunst diskutieren, ist Unsinn – alles, was er wirklich von mir oder meiner Schwester erwartet, ist, dass wir an den richtigen Stellen seiner Jagdgeschichten erstaunte kleine Schreie ausstoßen und uns wundern.“

„Ich würde Ihren Vater gerne einmal kennenlernen“, sagte Edward. „Wie ich hörte, soll er ein Mann von großem Weitblick sein. Ich hoffe, die Ehre zu haben, seine Bekanntschaft machen zu dürfen.“

„Ich wüsste nicht, wozu das gut sein sollte“, entgegnete Diana amüsiert. Den einzigen Weitblick, den sie ihrem Vater zubilligte, war seine Fähigkeit, die Wolken zu betrachten und dann vorherzusagen, ob sie so viel Regen brachten, dass die Jagd abgesagt werden müsste. „Außer, Sie möchten mit der Beschreibung des hohen Tores, das er mit seinem Lieblingspferd überspringen kann, zu Tode gelangweilt werden.“

„Wir würden andere Themen für unsere Unterhaltung finden“, sagte Edward und nickte. „Sie, zum Beispiel, Mylady.“

Erschrocken sah sie ihn an. Es gab nur einen Grund, warum ein Gentleman mit dem Vater einer Dame sprach – weil er um ihre Hand bitten wollte. Unter all den Männern, die sie in ihrem Leben bereits kennengelernt hatte, war kein einziger gewesen, der es gewagt hatte, solch einen Wunsch zu äußern. Allerdings kannte sie Edward erst seit Kurzem, und bis zum Aufgebot konnte vieles schiefgehen. Doch dass er so schnell auf diese Möglichkeit anspielte, entzückte und erstaunte sie zugleich. Er machte ihr den Hof!

„Ist diese Vorstellung so entsetzlich für sie, Mylady?“, fragte er vorsichtig.

„Magie, Mylord.“ Sie lächelte zu ihm auf und drückte seinen Arm. „Daran habe ich gedacht. Dass alles, was Sie denken und tun, wie Magie für mich ist.“

Autor

Miranda Jarrett
Hinter dem Pseudonym Miranda Jarrett verbirgt sich die Autorin Susan Holloway Scott. Ihr erstes Buch als Miranda Jarret war ein historischer Liebesroman, der in der Zeit der amerikanischen Revolution angesiedelt war und 1992 unter dem Titel "Steal the Stars" veröffentlicht wurde. Seither hat Miranda Jarrett mehr als dreißig Liebesroman-Bestseller geschrieben,...
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