Lady Marys romantisches Abenteuer

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Paris, Florenz, Rom: All diese Städte will Lady Mary besuchen! Und kaum legt ihr Schiff in Calais an, beginnt für die schöne Tochter des Duke of Aston unerwartet ein romantisches Abenteuer: In einer Kunsthandlung, in der sie ein geheimnisvolles Gemälde ersteht, macht sie die Bekanntschaft des charmanten Lord John Fitzgerald. Als kurz darauf ihre Kutsche überfallen wird, eilt er mutig zu ihrer Rettung. Von nun an reist Mary mit männlichem Begleitschutz! Doch nicht nur ihr Herz gerät bei Johns verführerischen Küssen in Gefahr - jemand scheint ihr mit jeder Meile gen Paris mehr nach dem Leben zu trachten …


  • Erscheinungstag 21.09.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769147
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Aston Hall, Kent

Juni 1784

Lady Mary raffte ihre Röcke aus feinem Musselin und mischte sich im Ballsaal ihres Vaters unter die Tänzer. Der Abend war warm, und die Fenster standen weit offen, um jede frische Brise hereinzulassen. Im flackernden Schein der Kronleuchter bemühten sich die erhitzten Herren rundherum so attraktiv und galant wie möglich zu sein, während die Damen ihr Bestes taten, schön und charmant zu erscheinen. Jeder von ihnen war davon überzeugt, die Crème de la crème ihrer kleinen ländlichen Gesellschaft zu verkörpern.

Es war die einzige Art Leben, die Mary mit ihren achtzehn Jahren kannte – die einzige Art Leben, die ihr als älteste Tochter des Duke of Aston zu kennen erlaubt war. Gott sei Dank würde sich das in drei Tagen endlich ändern, für immer ändern, und Mary konnte es kaum noch erwarten.

Als die Musiker den Tanz ausklingen ließen und Marys Partner sich vor ihr verbeugte, war sie in Gedanken immer noch eifrig dabei, die letzten Details ihrer Reisevorbereitungen durchzugehen: Die neuen Kleider für die Reise waren in den messingbeschlagenen Reisekoffern verpackt, die Passagen gebucht und die Empfehlungsschreiben lagen bereit, die Landkarten und Reiseführer und …

„Lady Mary, verzeihen Sie bitte.“ Miss Wood, Marys langjährige Gouvernante und künftige Reisebegleiterin, stand in ihrem einfachen grauen Kleid neben ihr und rang die kleinen, dicken Hände. „Ein Wort unter vier Augen, wenn Sie erlauben?“

Mary nickte und ging voraus zu einer der Fensternischen, wo ihre Unterhaltung in der Musik und dem Geplauder untergehen würde. Obwohl mit ihren achtundzwanzig Jahren noch eine junge Frau, war die Gouvernante ein wahres Muster an Diskretion und Anstand, und nur eine sehr dringende Angelegenheit konnte sie in den Ballsaal geführt haben, wo sie völlig fehl am Platz schien. Seit der langen Krankheit und dem Tod der Duchess vor vier Jahren hatte Mary sehr geschickt viele der Pflichten ihrer Mutter übernommen. So war es für die Gouvernante nur normal, sich in Notfällen an sie zu wenden.

Bitte, lieber Gott, lass nicht zu, dass es sich bei Miss Woods Anliegen um etwas handelt, das die Abreise verzögert! Nur dieses eine Mal sollte er ihr verzeihen, dass sie selbstsüchtig dachte und ihre einzige Chance auf ein Leben jenseits von Aston Hall nicht aufgeben wollte.

„Worum geht es, Miss Wood?“, fragte Mary schließlich leise. Alle möglichen Katastrophen gingen ihr durch den Kopf: ein Unfall beim Personal, ein Missgeschick unter den Gästen, schlimme Nachrichten aus der Ferne. „Was ist geschehen?“

„Es geht um Ihre Schwester, Mylady“, sagte Miss Wood. „Seine Gnaden, Ihr Vater, hat sie zu sich befohlen, und ich kann sie nirgends finden.“

„Diana ist verschwunden?“ Das hätte Mary sich denken können, schließlich kannte sie ihre Schwester wie keine Zweite. Nicht, dass sie befürchtet hätte, ihrer jüngeren Schwester wäre etwas zugestoßen. Zwar geriet die schöne und fröhliche Diana häufig in Schwierigkeiten, aber sie war jedes Mal nur die Ursache, niemals das Opfer dieser unglückseligen Geschichten. Stets wirkte sie auf Männer genauso unwiderstehlich wie Männer auf sie. Sich umsichtig zu benehmen, schien ihr einfach nicht im Blut zu liegen. Wo Mary sich verantwortlich und nachdenklich zeigte, war Diana keines von beiden.

Wie oft war es Marys Aufgabe gewesen, den Zorn ihres Vaters zu besänftigen, weil ihre Schwester wieder einmal mit irgendeinem verliebten jungen Mann fröhlich durch die Landschaft spaziert war, haarscharf am Rande eines Skandals vorbei? Nie verschwendete sie auch nur einen Gedanken daran, wie durch dieses Benehmen ihre Aussichten auf einen achtbaren Ehemann schwanden. Und wie oft hatte Diana Besserung versprochen – nur um dann, wenn der nächste Galan unter ihrem Fenster auftauchte, Mary wieder zu bitten, die Dinge beim Vater in Ordnung zu bringen.

„Haben Sie überall nachgesehen, Miss Wood?“, fragte Mary und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, die Gouvernante möge sich geirrt haben. „Ich bin sicher, vor noch nicht einer halben Stunde sah ich Diana tanzen.“

Auf Miss Woods Gesicht erschien ein Hoffnungsschimmer. „Erinnern Sie sich an ihren Partner? Vielleicht ist sie bei ihm, Mylady, und wir …“

„Vater zuliebe tanzte sie mit Dr. Canning.“ Mary seufzte. Dr. Canning war mindestens siebzig. „Er ist ein äußerst netter alter Herr, aber ich glaube kaum, dass Diana mit ihm im Gartenpavillon verschwunden ist.“

„In der Laube habe ich bereits nachgeschaut, Mylady.“ Miss Wood sah über die Schulter zu Marys Vater hinüber, der bei einigen Freunden stand. Trotz der allgemeinen Fröhlichkeit um ihn herum, war er nicht glücklich. Das konnte man sehen. Er hatte Diana zu sich gerufen, und als Duke und Vater erwartete er sofortigen Gehorsam. Aber seine Tochter war nicht erschienen. Jetzt starrte er wütend zu ihnen herüber, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Ich habe das Schlafzimmer nach ihr durchsucht“, fuhr Miss Wood hastig fort, „ebenso das Schulzimmer, den Damensalon, ja selbst die Molkerei.“

„Kein Wort über die Molkerei!“ Wieder seufzte Mary. Was auch immer im letzten Sommer zwischen Diana und dem jungen Hauslehrer aus Oxford in der Molkerei vorgefallen war, es ließ Diana noch immer jedes Mal in ihre Serviette kichern, sobald bei Tisch die Butter gereicht wurde. Nein, Mary wollte nichts darüber wissen, wirklich nicht! „Vielleicht hat Diana ja nur die Toilette aufgesucht?“

Miss Wood schüttelte den Kopf. „Dort habe ich bereits nachgesehen, Mylady, und …“

„Die Ställe.“ Ein flaues Gefühl beschlich Mary; sie erinnerte sich plötzlich an die Art, wie ihre Schwester heute früh den neuen Stallburschen angelächelt hatte. Mary hatte geglaubt, weil er noch nicht lange zum Gesinde gehörte und deswegen noch nicht wusste, wo sein Platz war, hätte er Dianas Lächeln wärmer erwidert, als es schicklich war. Jetzt dachte sie allerdings anders darüber.

Mein Gott, was würde Vater sagen, sollte er je davon erfahren!

„Die Ställe, Mylady?“, fragte Miss Wood. „Glauben Sie, Lady Diana …“

„Es ist nur eine Vermutung“, erwiderte Mary rasch. „Ich mache mich auf die Suche nach Diana, während Sie Vater sagen, dass …“

„Ich bedauere, Mylady, aber das kann ich nicht erlauben“, antwortete Miss Wood in sehr bestimmtem Ton. „Nicht in die Ställe, nicht bei Nacht und allein.“

„Aber ich kann Diana finden, bevor …“

„Ihr Platz ist hier auf dem Ball, Mylady“, beharrte Miss Wood. „Sie bleiben hier bei den Gästen Seiner Gnaden, und ich schaue nach Lady Diana.“

„Sie ist meine Schwester“, entgegnete Mary und sah über den Kopf der Gouvernante zu ihrem wütenden Vater hin, „und ich werde sie selbst suchen.“

Miss Wood runzelte die Stirn. „Aber Seine Gnaden …“

„Sagen Sie meinem Vater, Diana käme gleich. Er wird noch nicht einmal bemerken, dass ich fort bin.“

Bevor Miss Wood noch länger widersprechen konnte, wandte Mary sich um und schlüpfte durch die nächste Tür in den Garten hinaus.

Sie raffte ihre Röcke, um nicht zu stolpern, lief die Steinstufen hinunter und dann über den Kiesweg. Hier draußen war es angenehm kühl. Mary atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Es war völlig ungewiss, wo, wie oder ob sie Diana finden würde.

Wenn sie ehrlich war, so hoffte Mary, ihre Schwester nicht zu finden. So, wie sie und Miss Wood sich darauf vorbereiteten, zum Kontinent aufzubrechen, bereiteten Diana und ihr Vater sich darauf vor, noch in dieser Woche nach London zu fahren. Dort sollte Diana bei Hofe eingeführt werden, wo sie mit ihrer Schönheit und ein wenig Glück den passenden Ehemann finden würde. Schon immer war es das, was Diana sich am sehnlichsten vom Leben erhoffte. Warum sie es jetzt wegen einer Liebelei mit einem Stallburschen aufs Spiel setzte, ging über Marys Verständnis.

Sie hielt sich im Schatten und achtete darauf, von niemandem bemerkt zu werden. Heute Abend füllten die Kutschen der Gäste den Hof vor den Stallungen. Die wartenden Fahrer und Diener saßen auf den Trittbrettern oder dem Rasen, redeten und lachten miteinander. Nirgendwo ein Zeichen von Diana oder dem neuen Stallburschen. Wie es schien, hatten sie sich inzwischen an einen ruhigeren Ort zurückgezogen.

Verwünschte Diana! Schon wieder brachte sie ihre Schwester in solch eine Situation! Mary hasste es, wieder einmal den Wachhund spielen zu müssen. Und sie hatte genug davon, ihre Schwester immer wieder dem Vater gegenüber verteidigen zu müssen.

Nicht, dass sie Diana nicht geliebt hätte. Nein, sie liebte sie mit all der Hingabe und Zuneigung, die zwei mutterlose Schwestern füreinander aufbringen konnten. Und das würde sich auch niemals ändern. Aber immer im Schatten ihrer schönen, leichtsinnigen Schwester zu stehen, immer bereit zu sein, sie aufzufangen, wenn sie zu stürzen drohte, oder sie zu beschützen, wenn sie in die Irre ging, war langsam zu einer aufreibenden und zermürbenden Angelegenheit geworden. Betrübt und schuldbewusst zugleich sehnte sich Mary danach, nicht nur als die Tochter Seiner Gnaden oder Lady Dianas Schwester, sondern als sie selbst zur Kenntnis genommen zu werden. Innerlich betete sie darum, es möge auf dem Kontinent, weit weg von Aston Hall geschehen.

Nun eilte sie um die Ecke der Backsteinmauer und durch die Seitentür der Stallung. Bis auf das leise Schnauben und Wiehern der vor sich hin dösenden Pferde schien der dunkle Stall leer zu sein.

„Diana?“, rief sie. „Diana, bist du hier?“

Keine Antwort. Nicht, dass Mary wirklich erwartet hätte, Dianas Kopf würde im Heuboden über ihr auftauchen, so wie früher, wenn sie als kleine Mädchen im Heu gespielt hatten. Das hier war etwas anderes – etwas ganz, ganz anderes.

Sie räusperte sich und rief lauter: „Diana, Vater fragt nach dir. Falls du dich hier irgendwo versteckst, musst du sofort ins Haus und zum Ball zurückkommen. Hörst du mich?“

Wieder keine Antwort, aber Mary war sicher, ein unterdrücktes Kichern gehört zu haben, aus einer der Boxen. Mary hatte jetzt mehr als genug von Dianas Launen. Sie nahm eine der Laternen, die nahe der Tür hingen, und ging zu der Box.

„Ich meine es ernst, Diana“, rief sie zu der Stelle hinüber. Das Licht tanzte über die mit Holzbohlen verkleideten Mauern. „Komm jetzt, oder ich werde dich heraustreiben, wie Vaters Hunde es mit einem Fuchs tun. Du wirst schon sehen!“

Bei der letzten Box angekommen, schob sie die Tür auf und hielt die Laterne wie ein Signalfeuer über den Kopf.

Und schnappte nach Luft.

Es wäre Mary schwergefallen zu sagen, welche Körperteile zu wem gehörten, so eng waren ihre Schwester und der Stallbursche miteinander verschlungen. Dianas gelbes Kleid war schamlos weit über ihre Beine hinaufgeschoben. Die braune Hand des Mannes lag besitzergreifend oberhalb des glänzenden rosa Strumpfbands auf ihrem weißen Schenkel. Sie hatte ihm das Hemd aus der Reithose gezogen und ließ die Hände über seinen breiten, nackten Rücken gleiten. Ihre Frisur hatte sich teilweise gelöst, und das blonde Haar fiel offen herunter. Mit ihren erhitzten Wangen glich sie von Kopf bis Fuß eher einem liederlichen Frauenzimmer als der Tochter eines Dukes.

„Mary!“, schrie Diana auf und klammerte sich noch fester an den Stallburschen, kroch hinter ihn, als wollte sie sich verstecken. „Was tust du hier? Spionierst du mir nach?“

„Ich spioniere dir nicht nach, Diana“, widersprach Mary, und ihr Gesicht glühte vor Verlegenheit. „Vater will dich sofort sehen, und du weißt, dass du zu ihm gehen musst. Verstehst du denn nicht, dass ich nur versuche, dich vor dir selbst zu retten?“

„Aber, aber, meine Dame, wo bleibt denn da das Vergnügen?“ Der Stallbursche hatte sich umgewandt. Während er Diana immer noch mit einem Arm umschlungen hielt, grinste er Mary anzüglich an und winkte sie zu sich. „Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, sage ich immer. Komm her, Schätzchen, bei mir können beide Schwestern auf ihre Kosten kommen.“

Ehe Mary sich versah, hatte er sie bei der Hand gepackt, um sie auch an sich zu ziehen. Zu entsetzt, um ein Wort herauszubringen, kämpfte Mary darum, sich zu befreien. Dabei schwankte die Laterne in ihrer anderen Hand wild hin und her.

„Halt, Willam, hör auf!“, schrie Diana. „Ruhig, Mary, es ist nicht – oh, großer Gott im Himmel, Vater! Oh nein, Vater!“

Mit ängstlich klopfendem Herzen drehte Mary sich langsam um. Diana hatte nicht nur so getan als ob. Es war kein Spaß. Dort an der Tür stand der Duke, so wütend und aufgebracht, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Hinter ihm tauchten drohend Miss Wood und Robinson, der Stallmeister, auf.

Verzweifelt machte Mary einen kleinen Knicks, den besten, den sie unter solchen Umständen zustande brachte. Hätte Miss Wood doch nur alles ihr überlassen, statt auch noch Vater in die Sache hineinzuziehen!

„Vater, bitte!“, begann Diana atemlos. „Es ist nicht so, wie es den Anschein hat.“

„Nein, Vater“, stimmte ihr Mary hastig voller Verzweiflung zu. „Das ist es nicht. Überhaupt nicht.“

Der Stallbursche löste sich von Diana und tippte mit den Fingern an die Stirn. „Verzeihen Sie, Euer Gnaden, aber Ihre Ladyschaft sagt die Wahrheit. Es ist nicht so, wie es scheint, nicht …“

„Halt den Mund, du elender Narr!“Vaters Gesicht verfinsterte sich. „Keine Entschuldigungen, von keinem von euch. Ich weiß, was ich sehe, und ich weiß, was es ist.“

„Geben Sie nicht Mary die Schuld, Vater.“ Diana zog sich die Röcke herunter und versuchte, ihr Haar glatt zu streichen. „Sie war nur …“

„Ich sage dir das Gleiche wie deiner Schwester, Diana“, sagte Vater scharf. „Keine weiteren Entschuldigungen. Von keiner von euch beiden.“

„Es sind keine Entschuldigungen, Vater“, flehte Mary. „Ich war nur – das heißt, wir waren …“

„Nichts mehr.“ Abwehrend hob er die Hand. „Richtet euer Aussehen her und kommt dann in die Bibliothek. Gleich.“

Er wandte sich auf dem Absatz um und verließ sie. Hinter ihm huschte Miss Wood hinaus in die Dunkelheit. Der Stallmeister packte den Burschen bei den Schultern. Halb zog, halb schob er ihn aus dem Stall.

Mary sah ihre Schwester an. Diana senkte den Kopf. Jetzt war es zu spät für Erklärungen, zu spät für Reue und Zerknirschung.

Alles, was sie noch tun konnten, war gehorchen.

Eine Stunde später saß Mary in der Halle auf der Bank vor der Bibliothek, die Füße eng nebeneinandergestellt, die ineinander verschlungenen Hände in den Schoß gelegt. Diana war als Erste zum Vater hineingegangen. Auch wenn Mary ihre Worte durch die geschlossene Tür nicht verstehen konnte, so hörte sie doch genug, um zu wissen, dass sich Vaters Zorn kein bisschen abgekühlt hatte.

Mary senkte den Kopf, schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, um ihre streitende Familie nicht hören zu müssen. Sie würde schnell genug hereingerufen werden, um sich zwischen den beiden zu stellen. Dann würde sie Vaters Zorn besänftigen und Diana überreden müssen, wieder einmal Besserung zu geloben. Einmal mehr würde sie einen zerbrechlichen Frieden schaffen und die beständig tobenden Wogen in Aston Hall glätten.

Durch die geschlossene Tür war das Klirren von Porzellan zu hören, mit dem anscheinend jemand warf, und Mary zog die Schultern hoch, wie eine Schildkröte, die in ihrem Panzer zurückkriecht. In drei Tagen würde sie nach Frankreich segeln und von alledem hier frei sein.

Nur noch drei Tage …

Die Tür flog auf. „Er ist grausam, Mary, unaussprechlich grausam zu mir und auch zu dir – zu uns beiden!“ Diana sank vor der Bank zu Boden. Sie umklammerte Marys Hand. „Oh, Mary, es tut mir so unendlich leid!“

„Reg dich meinetwegen nicht auf, Diana“, flüsterte Mary, wohl wissend, dass ihr nicht viel Zeit blieb, bis die Reihe an ihr war. „Was ärgerte ihn am meisten? Rasch, sag es mir! Was muss ich sagen, um ihn in bessere Laune zu bringen?“

Aber Diana schüttelte bloß den Kopf. Ihr Gesicht war vom Weinen immer noch gerötet. „Oh Mary, wie kannst du mir je vergeben? Ich wollte mich doch nur ein wenig amüsieren, und sieh nur, was geschehen ist! Denn Vater lässt es uns beide büßen, wenn …“

„Mary, komm“, rief Vater scharf aus der Bibliothek. „Ich weiß, dass du draußen wartest, denn du warst stets gehorsam.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich bringe alles wieder in Ordnung“, versprach Mary und drückte noch einmal beruhigend Dianas Hände. Dann glättete sie ihr Kleid, hob den Kopf und ging zu ihrem Vater in die Bibliothek.

„Da bist du endlich, Mary.“ Er saß in seinem mit Leder bezogenen Lehnstuhl. Obwohl schon Witwer, stand er noch in der Blüte seiner Jahre, und sein Bauch unter der Weste aus chinesischer Seide war flach. Wo immer er auftauchte, erklang das nervöse Kichern der Damen, die in ihn vernarrt waren. Anders als die meisten Männer seiner Generation hatte er es vorgezogen, der neuesten Mode zu folgen. Er verzichtete auf Perücken und trug lieber sein eigenes kurzes dunkles Haar, in dem ein paar feine silberne Fäden schimmerten.

Das Erste, was Mary bemerkte, als sie jetzt vor ihm stand, war die dicke Ader, die an seiner Stirn pulsierte. Das war ein schlechtes Zeichen, wie sie nur allzu gut wusste. Er strahlte Enttäuschung und eine tiefsitzende Wut aus. Die warme Nachtluft um ihn herum schien zu vibrieren.

„Wieder hat deine Schwester mir Schande bereitet, Mary“, begann er, und in seiner Stimme lag ein zorniges Grollen. „Dieses Mal kannst selbst du sie nicht verteidigen.“

„Nein, ich will Diana auch gar nicht verteidigen“, erwiderte Mary vorsichtig und suchte nach dem besten Weg, ihn zu beruhigen. „Deswegen bitte ich auch für sie nicht um Verzeihung, sondern um Gnade.“

Er schnaubte entrüstet. „Wirklich, Mary, von dir hätte ich mehr Verstand erwartet.“

„Gnade verlangt keinen Verstand, Vater.“

„Nein, aber ich.“ Gereizt trommelte er mit kräftigen Fingern auf der geschnitzten Armlehne aus Mahagoni herum. „Wieso verteidigst du Diana überhaupt? Wie eine verdorbene Dirne hat sie sich bei diesem Lump aufgeführt, als wären ihr guter Name und meiner keinen Penny wert.“

„Sie wollte Sie nicht aufregen, Vater, da bin ich mir sicher“, sagte Mary. „Ich gebe zu, sie handelte verantwortungslos …“

„Oh ja, sie ließ sich von einem gemeinen Stallburschen die Röcke zerknittern“, knurrte er und schlug ärgerlich mit der Hand auf die Armlehne. „Und ich soll nicht das Recht haben, mich darüber aufzuregen?“

„Doch, Vater“, sagte Mary, weil sie aus Erfahrung wusste, dass das immer die sicherste Antwort war. „Natürlich haben Sie das Recht.“

„Warum bereitet mir deine Schwester dann fortwährend solche Schande?“ Wütend stieß er den Stuhl zurück und stand auf. Er wandte Mary den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. „Höchste Zeit, dass sie heiratet. Ich bin zu alt für ihren Eigensinn. Sie braucht einen starken jungen Ehemann, der sie übers Knie legt und ihr Gehorsam beibringt. Irgendeinen jungen Löwen, der ihren Willen bricht und sie schwängert. Das ist es, was sie braucht – einen anständigen Gatten und einen Haufen Kinder.“

„Ja, Vater“, bestätigte Mary. „Wenn Diana nur einen Mann fände, den sie von Herzen lieben könnte …“

„Sprich mir nicht von solchem Unsinn, Mary“, erwiderte ihr Vater unwirsch. „Liebe! Das Letzte, was deine Schwester braucht, ist etwas von dieser Verrücktheit.“

„Nein, Vater“, sagte Mary sanft. Sie erinnerte sich, wie groß die Zuneigung ihrer Eltern zueinander einst war. Auch nach vielen Jahren der Ehe waren sie noch verliebt gewesen wie am ersten Tag. Seit dem Tod ihrer Mutter sprach der Vater allerdings nur noch voll Bitterkeit und Verachtung von der Liebe. Und er hegte keine zärtlichen Erinnerungen mehr an ihre Mutter, als wäre ihre letzte, verzehrende Krankheit ein persönlicher Affront gegen ihn gewesen. „Doch wenn sie eine gute Partie in London machen kann, eine, die Ihre Zustimmung findet, dann …“

„Nichts da mit London.“ Er verschränkte die Hände so fest hinter dem Rücken, dass sie eher Fäusten ähnelten. „Wie könnte ich Diana nach so einem skandalösen Benehmen Ihrer Majestät vorstellen?“

„Aber keiner der Gäste hat etwas davon gemerkt“, protestierte Mary. „Der Einzige, der darüber reden könnte, ist dieser Stallbursche. Ich bin sicher, Mr. Robinson wird mit ihm reden, sodass er nicht …“

„Dieser elende Stallbursche hat die nächsten drei Jahre lang Zeit zu bereuen“, bemerkte ihr Vater schroff. „Ich befahl Robinson, ihn den Werbern zu übergeben. So kann er statt meiner Tochter der Marine Seiner Majestät seine Dienste erweisen.“

„Den Werbern, die die jungen Männer zum Militärdienst zwingen!“, rief Mary aus, entsetzt über eine so schwere Bestrafung. „Vater, Sie werden doch wohl nicht auch Diana fortschicken wollen?“

„Wenn es nach mir ginge, würde ich sie im strengsten Kloster einsperren, das ich finden kann“, sagte er grimmig. „Aber du hast mich gebeten, gnädig zu sein, Mary. Also bin ich es.“

„Dann werden Sie ihr vergeben?“, fragte Mary mit neuer Hoffnung. „Sie werden sie nach London mitnehmen? Und auch an den Hof?“

„Ich sagte, ich würde gnädig sein, aber kein Narr.“ Endlich drehte er sich zu ihr um. „Ich werde sie zusammen mit dir ins Ausland schicken.“

2. KAPITEL

Calais, Frankreich

Die kleine Messingglocke oben am Türrahmen schepperte, als Lord John Fitzgerald den Laden betrat, der Dumonts Antiquitäten beherbergte. Er blieb einen Augenblick stehen, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Da er schon oft hier gewesen war, wusste John, was ihn erwartete. Er war auf die Düsternis und den Schimmel gefasst und darauf, sich davon nicht täuschen zu lassen. Obwohl Dumont bis in seine krummen alten Knochen Franzose war, war das Ladenschild draußen in englischer Sprache geschrieben. Es sprach für die Schlauheit des Franzosen, dass er um die Bedeutung englischer Besucher für sein Geschäft wusste. Genauso, wie er erkannt hatte, dass sie ehrfurchtsvoll jedes alte Staubkorn für einen Echtheitsbeweis hielten. Seitdem der letzte Friedensvertrag zwischen Engländern und Franzosen unterzeichnet worden war und jetzt Reisen zum Kontinent wieder in Mode kamen, drängten sich Scharen englischer Damen und Herren durch Dumonts Laden, mit großen Augen und vollen Geldbeuteln. Nur zu gern waren sie bereit, auf jede Geschichte hereinzufallen, die er ihnen über seine dubiosen Waren erzählte, und für dieses Privileg auch noch zu bezahlen, was er forderte.

John jedoch kannte sich besser aus. Er hatte ein Talent dafür, das Echte vom Falschen zu unterscheiden, und er scheute sich auch nicht, sein Urteil offen auszusprechen. In einem Laden, der seinen Gewinn durch Täuschung machte, ließen ihn seine Augen und sein Wissen zu dem Kunden werden, der Dumont von allen am wenigsten willkommen war: ein englischer Gentleman, der zu gut Bescheid wusste, als dass man ihm das Fell hätte über die Ohren ziehen können.

„Ah, bonjour, Mylord“, grüßte Dumont, stöhnte griesgrämig und verdrehte die Augen. „So sind Sie also zurückgekehrt, um mich aufs Neue zu plagen?“

„Auch Ihnen einen guten Tag, Dumont“, erwiderte John und ließ den Blick auf der Suche nach irgendetwas einigermaßen wertvollem Neuen über das Durcheinander im Laden schweifen. Weil Calais oft entweder die erste oder die letzte Station auf seinen Reisen war, besuchte er häufig diesen Laden. „Ich bin wiedergekommen, weil ich hörte, Sie hätten neue Ware aus Florenz.“

„Wie ein Räuber sind Sie, Mylord. Kommen nur her, um einen armen Mann wie mich zu bestehlen.“

Unter großer Anstrengung schaffte es Dumont, sich aus dem tiefen Sessel hinter dem Ladentisch zu erheben. „Warum lassen Sie mich nicht in Frieden?“

„Weil ich irgendwann einmal in Ihrem Müllberg hier einen wahren Schatz finden werde, Dumont“, erwiderte John unbeeindruckt von der Klage des alten Mannes. Seit mehr als einem Jahr wohnte er nicht mehr in London. Nun hatte er beschlossen, Ende dieser Woche dorthin zurückzukehren. Er brauchte ein kleines Geschenk für die Duchess of Cumberland, eine äußerst treue Freundin. Die Liebelei mit ihr hatte letzten Winter in Rom begonnen und dort auch geendet, in freundschaftlichem Einvernehmen beider Beteiligten. John dachte trotzdem, dass ein kleines Mitbringsel eine hübsche Geste wäre. Ihre Gnaden hatte ihm bereits ihre Unterstützung versprochen, sollte er endgültig nach London zurückkehren. Gott allein wusste, wie nötig er nach diesem entsetzlichen Skandal letztes Jahr mächtige Verbündete brauchte. Nebenbei gesagt, liebte er es, wenn die Damen verliebt hinter ihm her seufzten. Diese Art von Aufmerksamkeit hatte ihm schon immer gefallen.

„‚Mein Müllberg‘. Oh, Sie sind grausam, Mylord, zu grausam.“

Erneut seufzte Dumont und schlurfte heran. Die Arme an den Ellbogen abgewinkelt und die Hände locker über der Brust verschränkt, ähnelte er einem alten Eichhörnchen. „Aber ja doch, ich habe einige neue Stücke. Das Unglück des einen Sammlers, ist das Glück des anderen, Mylord, und so wird es immer sein.“

„Ich hoffe, es ist kein Herr aus meinem Bekanntenkreis“,meinte John höflich. Gemälde und dergleichen wurden oft als Erstes verkauft, wenn ein Gentleman einen finanziellen Rückschlag erlitten hatte. Unter Umständen konnte John das zu seinem Vorteil ausnutzen und die Kunstgegenstände mit Gewinn wieder in London verkaufen.

Er würde sich nicht deswegen schämen. Das brauchten jüngere Söhne nicht, besonders nicht die jüngeren Söhne, die das Pech hatten, als Sechste in der Erbfolge einer irischen Peerswürde mit bankrottem Landsitz geboren worden zu sein. Oh ja, von einem entfernten Onkel erhielt er ein winziges Einkommen und hatte außerdem ziemliches Glück am Spieltisch. Und aus der Not heraus, aber auch aus Neigung, beherrschte er die Kunst der Freundschaft und genoss die Gunst seiner reicheren Freunde – und hin und wieder auch die der Damen. Wenn das Leben ihn nun einmal einen steinigen Pfad erklettern ließ – was machte das schon. Er hatte nur die ungeschliffenen Diamanten zwischen den Steinen erspäht und sie eingesammelt, und was, bitte sehr, war daran verwerflich?

„Ich erhalte mein Angebot aus vielen Quellen, sehr vielen Quellen“, erwiderte Dumont vage. „Sie können von einem Mann meines Alters kaum erwarten, dass er sich an alles erinnert. Sind Sie gekommen, weil Ihnen etwas Bestimmtes vorschwebt, Mylord?“

„Ich möchte mich ein wenig umsehen. Mal sehen, ob mir etwas gefällt.“ Auch John konnte sich vage ausdrücken, wenn er wollte. Er ließ den Blick über die voll gestopften Regale schweifen. Die Duchess of Cumberland war nicht sehr wählerisch, was Qualität betraf, aber sie verlangte, dass ihre Besitztümer – und die Geschenke, die sie erhielt – die Größe ihrer Person und ihres Ranges widerspiegelten. Irgendetwas Vergoldetes wäre vielleicht gut, eine Venus, vielleicht könnte sogar ein kleiner dicker Amor …

„Das ist das Richtige, Mylord.“ Stolz präsentierte Dumont eine kleine Bronzestatue, die Merkur darstellte. „Die hat der große Meister Benvenuto Cellini mit eigenen Händen geschaffen. Man sieht es schon an der Feinheit der Arbeit, am Überschwang der Linien, alles Merkmale eines wahren Genies des sechzehnten Jahrhunderts.“

Der Händler übergab die Figur John, legte wie im Gebet die blassen Hände aneinander und senkte ehrfürchtig die Stimme, während er um ihn herumtänzelte.

John trug die kleine Figur zum Bogenfenster des Ladens und hielt sie ins schwache Sonnenlicht. Sie war eine beachtliche Fälschung mit sorgfältig aufgelegter Patina, die ein hohes Alter vortäuschen sollte. Doch den kleinen Merkur zierte ein albernes Lächeln, er schielte, und falls er jemals das im Lauf erhobene Bein gesenkt hätte, hätte der eine geflügelte Fuß wohl gut zwei Zoll unter dem anderen gebaumelt.

Dumont missdeutete Johns Schweigen und schob sich näher heran. „Sie sind entsprechend beeindruckt, nicht wahr, Mylord? Ihnen solch etwas Geniales in die Hände legen zu können, ist ein Segen, ein Geschenk, eine Ehre, ein …“

„Ein Schwindel“, sagte John ruhig. „Sie wissen so gut wie ich, dass dieser jämmerliche kleine Schlingel froh sein kann, wenn er drei Jahre alt ist, von wegen fast dreihundert.“

Dumont riss voll gekränkter Würde die Augen auf. „Nein, Mylord, nein! Beim Kauf garantierte man mir die absolute Echtheit dieser Bronze! Dass Sie mich solch einer Täuschung anklagen würden, solch …“

„Ich klage Sie keiner Sache an, Dumont“, widersprach John. „Noch sage ich etwas, was Sie nicht sowieso bereits wissen.“

„Aber, Mylord, ich weiß nicht, wie …“

Die Messingglocke über der Tür bimmelte. Dankbar für die Unterbrechung, wandte Dumont sich um. Auch John sah zur Tür.

Und lächelte.

Wie sollte er auch nicht? Die Frau war jung und reizend, ihre Schönheit strahlend genug, um auch in diesem elenden Laden aus sich selbst heraus zu leuchten. Sie war unleugbar Engländerin und allem Anschein nach auch wohlhabend. Perlen von beachtlicher Größe zierten ihre Ohren. Ihr weiter Rock und ihre Jacke waren aus teurem Stoff, aber nicht sehr modisch und mit übergroßen Tulpen bedruckt, die jeden modebewussten Pariser hätten erschauern lassen. Tulpen, die auffallend mit ihrem cremeweißen Teint und dem dunklen, kastanienbraunen Haar kontrastierten. Sie war nicht älter als zwanzig, das verrieten ihm ihre makellose Haut, die hübsche schmale Taille und der jugendliche Tatendrang, der ihre ganze Erscheinung umgab.

John taxierte sie rasch mit Kennerblick wie den bronzenen Merkur. Doch was ihn lächeln ließ, war die Art, mit der sie energisch ihren bebänderten Sonnenschirm zuklappte und mit geradem Rücken und hoch erhobenem Kopf in den kleinen Laden gesegelt kam, einen Diener zu ihrem Schutz im Schlepptau und bereit, wie ein Admiral diesen fremden Ort zu erobern.

Dumont hüstelte vornehm und fuhr sich mit beiden Händen über seine graue Perücke. „Bitte, mich zu entschuldigen, Mylord. Ich muss die Dame begrüßen.“

„Natürlich müssen Sie das, Sie alter Gauner.“ John legte sich den Merkur bequem in die Armbeuge, bereit, aus der Nische des Bogenfensters heraus zu beobachten, wie sich die kleine Szene wohl entwickelte. „Gehen Sie, gehen Sie. Wie könnten Sie auch einer so hübschen kleinen Taube widerstehen, die nur darauf wartet, von Ihnen gerupft zu werden?“

Aber Dumont war schon bei dem Mädchen, verbeugte sich vor ihr und machte Kratzfüße, als wäre sie die Königin.

„Guten Tag, Mademoiselle“, sagte er auf Englisch. Genau wie John hatte er rasch ihre Nationalität erkannt. „Erlauben Sie mir, Sie in meinem bescheidenen Laden willkommen zu heißen. Ich selbst und mein ganzes Geschäft stehen zu Ihrer Verfügung.“

Sie nickte mit ihrem kleinen, energischen Kinn, wobei sie Dumont bereits nicht mehr anschaute, sondern den Blick über die Wände hinter ihm schweifen ließ. „Ich würde gerne sehen, was Sie an guten Gemälden haben.“

„Ich versichere Ihnen, jedes meiner Gemälde ist gut, Mademoiselle.“ Voll unbegründetem Stolz warf sich Dumont in die schmächtige Brust. „Etwas anderes würde ich gar nicht führen.“

„Zeigen Sie gefälligst Respekt“, befahl der Diener streng. „Ihre Ladyschaft ist keine Ihrer üblichen Mamsellen. Sie ist Lady Mary Farren, Tochter Seiner Gnaden des Duke of Aston.“

Das Mädchen rümpfte die Nase. „Oh, bitte, Winters, das ist nicht nötig. Dem Mann ist es gleich, wer ich bin.“

Aber Dumont war es ganz und gar nicht gleich, und John konnte buchstäblich sehen, wie sich im Kopf des Franzosen sofort die Preise erhöhten. In einem schmutzigen alten Hafen wie Calais fand man wirklich selten so eine kleine Taube wie die Tochter eines Dukes.

Und obwohl sie die Tochter eines Dukes war, war sie unverheiratet. Interessant, dachte John. Wieso war sie nicht in London, auf der Jagd nach einem passenden Mann, wie es jedes Mädchen ihres Alters und ihrer Herkunft machen würde? Sicher war sie hübsch genug, und Geld für eine Mitgift war zweifellos vorhanden. Hatte es da vielleicht irgendeinen faszinierenden Skandal gegeben, weswegen es sie jetzt an diese Küste verschlug?

Sehr interessant. Vielleicht konnte er sie dazu überreden, ihm zu helfen, sich bis zu seiner Abreise ein wenig zu amüsieren …

„Oh, Mylady, vergeben Sie mir die Unkenntnis Ihres hohen Standes!“, rief der Ladenbesitzer gerade aus. „Ihre Anwesenheit ehrt mich! Dass Sie meine Kundin sind! Wie können Sie nur glauben, es sei mir egal!“

„Schon gut, danke“, sagte Lady Mary sichtlich unbeeindruckt. „Wenn ich jetzt Ihre Bilder sehen könnte.“

Wieder lächelte John. Er mochte Frauen, die geradeheraus waren, die keine Schmeicheleien nötig hatten.

Mais oui, Mylady.“ Mit einer weiteren Verbeugung geleitete Dumont sie die Wand entlang, vorbei an einigen grimmig dreinblickenden Porträts und blieb dann vor einem Landschaftsbild mit zwei Flöte spielenden Satyrn stehen, die auf ihren Ziegenbeinen durch eine Blumenwiese tänzelten. „Also das hier ist ein Bild allerersten Ranges, Mylady. Aus der Schule des Claude, wenn nicht sogar vom Meister selbst.“

Das Mädchen antwortete nicht, sondern bückte sich, um die Oberfläche des Gemäldes besser studieren zu können. Sie runzelte skeptisch die Stirn.

Unerschrocken wagte Dumont einen Vorstoß. „Der Pinselstrich ist superb, nicht wahr, Mylady? Letzte Woche verkaufte ich ein ganz ähnliches Bild – allerdings nicht halb so schön – an einen englischen Herrn. Er war ganz entzückt, es für seinen Landsitz erworben zu haben.“

„Das wäre ich nicht“, erwiderte sie und trat einen Schritt zurück. „Ich meine, darüber entzückt, ein solches Bild zu besitzen. Wer will sich schon jeden Tag beim Tee diese schrecklichen Satyrn anschauen?“

„Ah, Ihre Ladyschaft hat einen besonderen Geschmack“, murmelte Dumont. „Ich meine, einen vornehmen Geschmack.“

„Was ich habe, ist eine Vorliebe für Qualität“,beschied sie.„Es sind nicht die Satyrn an sich, die ich nicht mag. Es ist die plumpe Art, in der sie gemalt sind. Sie verleumden Claude, guter Mann, wenn Sie behaupten, diese Schmiererei hier sei von ihm.“

„Aus der Schule des Claude, Mylady, aus der Schule“, sagte Dumont hastig und ging zu einem düsteren Stillleben aus verwelkten Blumen und faulenden Früchten. „Vielleicht bevorzugen Sie eher erbauliche Bilder, Mylady, Bilder, die Sie an Ihre Sterblichkeit erinnern und Sie vor den Folgen eines weltlichen Lebens warnen.“

„Eine Dame sollte solche Warnungen nicht nötig haben“, meinte sie. „Aber dieses Bild hier – das gefällt mir gut.“

Graziös ging sie um Dumont herum und kauerte sich vor einem kleinen Bild nieder, das an der Wand lehnte. Sie kippte den schweren goldenen Rahmen etwas nach hinten und lächelte dann triumphierend.

Dumont runzelte die Stirn. „Dieses da, Mylady? Oh, ich fürchte nein, ich fürchte, nein!“

In John erwachte die Neugier. Von seinem Platz am Fenster aus konnte er hinter den aufgebauschten Röcken des Mädchens das kleine Bild nicht sehen. Wofür mochte das Mädchen ein Auge haben? Hatte es ihr eine albern lächelnde Schäferin oder ein Hündchen mit Schlappohren angetan, wie es wohl bei den meisten jungen englischen Damen der Fall gewesen wäre, oder hatte sie etwas wirklich Wertvolles entdeckt?

Immer noch in der Hocke, mit der Hand am Bilderrahmen, blickte Lady Mary mit ungläubigem Gesicht zu Dumont auf. „Wieso, um Himmels willen, hegen Sie wegen eines solchen Bildes Befürchtungen? Es ist schön, wunderschön und überhaupt nicht schrecklich. Wieso haben Sie es mir nicht gleich gezeigt?“

Zu Johns Überraschung blickte Dumont finster darein und verschränkte abwehrend die Hände vor der Brust. „Es ist neu im Laden, Mylady, und da ich meinen Kunden gegenüber immer ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich weder etwas über seinen Maler noch etwas über seine Geschichte weiß. Ohne diese Informationen kann ich solch ein Bild nicht mit gutem Gewissen an Sie verkaufen.“

„Sie können es mir nicht verkaufen?“ Ihre Augen wurden schmal und sie dachte mit geneigtem Kopf scharf über diese Brüskierung nach. Dabei schwang ihr Perlenohrring leicht gegen ihre Wange. „Können oder wollen Sie es nicht?“

„Was immer Ihnen gefällt, Mylady.“ Dumont schnappte sich das Bild und schob es außerhalb ihrer Reichweite hinter den Ladentisch. „Aber zu meinem Bedauern muss ich fest bleiben. Das Bild ist nicht käuflich.“

John reichte es jetzt.

„Dumont, Dumont, was ist bloß über Sie gekommen?“, sagte er und trat aus seiner Fensternische. „Sie sind doch eigentlich zu vernünftig, um einer Dame solch einen Wunsch abzuschlagen. Ich versichere Ihnen, Mylady, normalerweise hat er bessere Manieren.“

Sofort richtete sie sich auf, und ihre Hände schlossen sich fester um den Griff des Sonnenschirms. „Verzeihen Sie, ich glaube nicht, dass ich Sie kenne.“

Dumont seufzte und wedelte gereizt mit der Hand. „Lady Mary, Lord John Fitzgerald.“

„Es ist mir eine Ehre, Mylady.“ Den Merkur immer noch im Arm, machte John eine elegante Verbeugung. „Und ich stehe Ihnen zu Diensten, bin gerne bereit, Ihr Ritter im Kampf gegen diesen Drachen zu sein.“

Dumont, der Drache, schnaubte wütend, wenn er auch kein Feuer zu spucken vermochte.

Genauso wenig schien Lady Mary belustigt zu sein.

„Mylord!“ Ihr Gesichtsausdruck blieb frostig. „Ich erinnere mich nicht, nach einem Ritter verlangt zu haben.“

„Das brauchten Sie auch gar nicht“, erwiderte er und setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. Dass Frauen ihn derart schroff abwiesen, war er nicht gewöhnt. Erst neunundzwanzig Jahre alt und gut aussehend, wusste John, dass er hübsch genug war, die meisten Frauen zum Lächeln zu bringen, wenn er es wollte. Es weckte ein eigenartiges Gefühl in ihm, dass Lady Mary diese Reaktion nicht zeigte. Vielleicht würde sie ihm am Ende mehr Verdruss bereiten, als sie wert war. Vielleicht war das hier eine Herausforderung, der er ab jetzt besser aus dem Weg ging.

Aber nicht sofort. „Kommen Sie, kommen Sie, Dumont. Lassen Sie mich das Bild sehen, und …“

„Ich bin absolut in der Lage, dieses Geschäft selbst zu tätigen, Lord John“, unterbrach sie ihn mit glühenden Wangen. „Ich hätte mich nicht in diesen Laden gewagt, wenn ich dazu nicht fähig wäre.“

„Es handelt sich hier kaum um eine Frage der Unfähigkeit, Mylady.“ John setzte den Merkur neben sich auf dem Ladentisch ab. „Ich dachte nur, Sie würden bei Ihren Verhandlungen mit Monsieur Dumont ein wenig Hilfe benötigen.“

„Ich benötige nichts dergleichen“, erwiderte sie scharf. „Wenn ich Dinge regeln kann, die den Haushalt und den Besitz meines Vaters betreffen, bin ich sicher auch imstande, mir ein Bild nach meinem Geschmack auszusuchen.“

Zum Teufel, womit hatte er sie denn jetzt so sehr aus der Fassung gebracht? Er gab das Lächeln auf und versuchte es mit einer anderen Taktik. „Dann ist es nicht verwunderlich, dass Ihr Vater zeigt, wie sehr er Ihnen vertraut und Sie die Geschäfte allein besuchen lässt.“

Sie zuckte leicht mit den Schultern. „Mein Vater vertraut mir so sehr, dass er mich ins Ausland schickt, während er in England bleibt. Er hegt keine Zweifel an meinen Fähigkeiten.“

„Sie reisen allein?“, fragte John. Die Überraschung machte ihn fast sprachlos. Üblicherweise schleppten junge englische Damen immer Eltern, Anstandsdamen und ältere, unverheiratete Tanten mit sich herum. „Sie sind allein hier in Calais?“

„Bitte, mein Herr, keine solche Fragen“, meinte warnend der Diener und stellte sich zwischen John und Lady Mary. Er war ein riesiges Exemplar von einem Bediensteten, kam eindeutig vom Land, und John verspürte kein großes Verlangen, Streit mit ihm anzufangen. „Ihre Ladyschaft wird sie nicht beantworten.“

Doch mit einem ungeduldigen kleinen Seufzer schob sich die Dame an dem Diener vorbei und stellte sich erneut vor John.

„Ich reise mit meiner Schwester, unserer Begleiterin und einigen Dienern“, sagte sie mit ernsten dunklen Augen. „Sie sehen also, mit ‚allein‘ meinte ich ohne Vater.“

John wusste es besser. Ohne ihren Vater oder irgendeinen anderen männlichen Verwandten reiste sie so gut wie allein – und war genauso verwundbar. Aber sie schien das nicht wahrhaben zu wollen, diese hübsche Person, die anscheinend gerne Haarspalterei betrieb.

Vielleicht war sie am Ende doch keine so große Herausforderung.

„Und während der Reise sammeln Sie Kunstwerke“, stellte er fest. „Natürlich besitzen Sie dabei das Vertrauen Ihres Vaters. Aber halten Sie sich selbst auf diesem Gebiet für une connaisseuse oder nur für une dilettante?“

Ihr Gesicht drückte Zweifel aus, genau wie John es beabsichtigt hatte. „Ich weiß weder, ob ich das eine, noch, ob ich das andere bin.“

John lächelte und fand seinen Verdacht bestätigt. Natürlich waren ihr diese ausländischen Ausdrücke nicht vertraut. Wahrscheinlich beharrte sie wie jede englische Lady eigensinnig auf ihrer Unwissenheit und konnte ein Bonjour nicht von einem Buon giorno unterscheiden.

„Oh, nun, das spielt keine Rolle“, erwiderte er freundlich. „Es war unpassend von mir zu fragen.“

„Ich bin mir meiner Unwissenheit absolut bewusst, Lord Fitzgerald“,erwiderte sie, erzürnt angesichts einer Herablassung, die er nicht ganz hatte verbergen können. „Mein Vater befürchtete immer, ich könnte zu gebildet und somit für Gentlemen reizlos werden. Also habe ich all mein Wissen heimlich von Miss Wood erhalten, wie Süßigkeiten, die man in der Küche stiehlt.“

„Verzeihen Sie mir, Lady Mary“, begann er und hoffte, sie möge nicht bemerken, dass sich die gestohlenen Süßigkeiten in seiner Vorstellung mit verlorener Unschuld verbanden.„Ich hatte nicht die Absicht …“

„Ich glaube eher, dass Sie sehr wohl die Absicht hatten“, erwiderte sie. „Tun Sie nicht, als wäre dem nicht so.“

„Ich tue nicht so“, protestierte er, obwohl er wusste, wie recht sie hatte. „Ich bin absolut aufrichtig.“

„Oh ja, so aufrichtig wie Monsieur Dumont.“ Sie trommelte mit den Fingern auf den Ladentisch, als könnte sie so auf ihr Recht pochen. „Denn sehen Sie, Lord Fitzgerald, während ich durchaus Interesse daran habe, une dilettante zu werden, ist mein Vorrat an Wissen zu klein, um verstärkt diesem Interesse nachzugehen. Und was une connaisseuse betrifft – nun, solange ich nicht die Galerien in Paris und Rom besucht und die Werke der großen Meister mit meinen eigenen Augen gesehen habe, kann ich kaum behaupten, une connaisseuse zu sein.“

„Nein“, gab John zu. Sie hatte ihn in seinem eigenen Spiel geschlagen, doch gerade deswegen mochte er sie – mochte sie sogar viel mehr, als wenn sie nur eine weitere junge Dame gewesen wäre mit einer Haut wie süße Sahne, frisch vom Bauernhof. „Nicht unter diesen Umständen.“

„In der Tat nicht“, sagte sie und lächelte wenigstens dabei. „Zurzeit bin ich nichts als eine bescheidene kleine Sammlerin, kaufe eher Bilder, die mir gefallen, als solche von Wert oder Bedeutung. Und deshalb möchte ich dieses hier gerne haben.“

„Sie werden es bekommen.“ Er wollte sie noch einmal zum Lächeln bringen. Ihre Zähne waren klein und weiß, und ein Schneidezahn stand ein wenig vor den anderen. Diese kleine Unvollkommenheit faszinierte John. „Dumont, das Bild.“

Doch der Franzose schüttelte wie zuvor verbissen mit dem Kopf. „Ich bedauere, Ihnen dasselbe sagen zu müssen, Mylord. Ich kann das Gemälde nicht verkaufen, weder der Lady noch Ihnen.“

„Aber Sie können mir doch wenigstens zeigen, was Sie da vor uns verbergen.“ Mit einer schnellen Bewegung lehnte John sich über den Ladentisch und packte das Bild am Rahmen.

„Nein, nein, Mylord, ich bitte Sie, bitte!“, schrie Dumont empört. „Es ist nicht für Sie!“

„Verzeihen Sie, Mylord, aber ich habe es zuerst gesehen!“ Das Mädchen eilte rasch an Johns Seite, als fürchtete es, er könnte sich mit dem Bild davonmachen. „Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, den er verlangt!“

„Natürlich sind Sie das.“ John drehte den Rahmen zum Licht. Zum ersten Mal konnte er das Gemälde sehen, und sein Anblick genügte, um ihn vor Bewunderung einen leisen Pfiff ausstoßen zu lassen. Das war keine der üblichen Fälschungen, kein Stückwerk, schnell hingeschmiert, um an irgendeinen Banausen auf seiner großen Europareise verkauft zu werden. Noch war es die sentimentale Geschmacklosigkeit, von der er vermutet hatte, das Mädchen würde sie wählen.

Unleugbar war das Bild alt, mindestens dreihundert Jahre, und auf eine Holztafel statt auf gerahmte Leinwand gemalt. Eine italienische Arbeit, wahrscheinlich aus Florenz. Kein Künstler aus dem Norden malte so. Der Engel kniete, die vielfarbigen Federn seiner Flügel über dem Rücken auseinandergefächert, und hielt ein orangefarbenes Flammenschwert in den Händen. Sein Heiligenschein war aus dickem Blattgold, seine Gewänder hatten das strahlende Blau, das man damals nur aus zerstoßenem Lapislazuli gewann. Doch das wahre Juwel war des Engels Antlitz, das kämpferische Entschlossenheit ausdrückte – ein streitbarer Wächterengel.

„Ist es nicht schön?“, fragte Lady Mary und beugte sich etwas vor, um das Bild über Johns Arm hinweg sehen zu können. „Schändlicherweise hatte man es offenbar aus etwas Größerem herausgeschnitten, vielleicht einem Altar. Der Rahmen könnte neueren Datums sein.“

John hob erstaunt eine Braue. „Würden Sie es wagen, etwas über seine Herkunft zu sagen?“

Sie war viel zu sehr mit dem Bild beschäftigt, um zu merken, dass sie geprüft werden sollte. „Sicher eine Arbeit aus Florenz, vielleicht vierzehntes Jahrhundert. Die Farbe ist aus diesem eigenartigen Eierzeug, Tempera, nicht Öl – das erkennt man daran, wie glatt die Oberfläche ist, ohne jeden Pinselstrich. Vielleicht ein Giotto oder eine Arbeit aus der Werkstatt Fra Angelicos, wenn nicht sogar vom Meister selbst.“

„Die meisten Engländer würden einem späteren Werk von Guido Reni oder Tizian den Vorzug geben. Sie empfinden frühere Gemälde wie dieses hier als zu grob.“

Sie hob das Kinn, entschlossen, nicht rechthaberisch. „Dann sind die meisten Engländer Narren.“

Eine bemerkenswerte Antwort, dachte John. „Woher wissen Sie, dass es keine Fälschung ist?“

Ihr Blick glitt vom Bild zu John. „Ich weiß es nicht“, gestand sie zögernd. „Es könnte letzte Woche von irgendeinem talentierten Kriminellen gemacht worden sein, und ich wäre auch nicht klüger. Ich weiß nur, was ich gelesen und was ich an Stichen und Holzschnitten in Büchern gesehen habe. Und ich kenne einige alte italienische Gemälde, die ein Nachbar von uns besitzt. Daher kenne ich den Unterschied zwischen Tempera und Öl.“

„Das ist alles?“, fragte er, schon wieder überrascht. Wenn das alles die Summe ihrer Gelehrsamkeit war, dann hatte sie das Bild wirklich sehr gut eingeschätzt. „Nur, was Sie aus Büchern und von wenigen Originalen gelernt haben?“

Sie nickte und lächelte wehmütig. „Wahrscheinlich werden Sie mich jetzt auslachen, wenn ich Ihnen etwas gestehe, aber das Gemälde selbst sagt es mir. Die Farben und der Gesichtsausdruck des Engels, selbst die Verzierung am Saum seines Gewandes und das Muster auf seinen Flügeln – alles erscheint mir so zauberhaft, dass ich mir sicher bin, das Bild ist echt. Wie könnte irgendjemand solch eine Fälschung anfertigen?“

John lachte nicht. Wie hätte er auch können, wenn sie ihn mit solcher Überzeugung unter ihren dichten Wimpern hervor ansah?

„Und Sie behaupten, eine unwissende Anfängerin zu sein, Mylady“, meinte er anerkennend. „Ein Bild spricht nur zu Kunstkennern. Trotz Ihrer Unerfahrenheit besitzen Sie schon die Weisheit, ihm zu lauschen.“

„Na also, Mylord, jetzt verstehen Sie, warum ich dieses Bild nicht verkaufen kann!“

Wieder unternahm Dumont einen fruchtlosen Versuch, nach dem Bild zu greifen, das immer noch außerhalb seiner Reichweite war. „Selbst diese junge Dame erkennt seinen Wert, seine Bedeutung!“

„Was diese Dame erkennt, Monsieur Dumont, ist, dass dieses Bild mein ist“, sagte sie mit erneuter Entschlossenheit. „Beziehungsweise, dass es mein sein wird, wenn wir uns über den Preis geeinigt haben.“

„Nennen Sie ihn, Dumont“, rief John. „Was immer Sie verlangen, ich zahle es und mache das Bild der Dame zum Geschenk.“

Sie schnappte nach Luft, kniff ihre Augen zusammen und sah ihn missbilligend an. „Ganz bestimmt werde ich solch ein Geschenk von Ihnen nicht annehmen, Lord John! Ich habe vor, wie es sich gehört, selbst das Bild zu kaufen!“

„Darüber können wir streiten, wenn Dumont den Preis festgesetzt hat.“ Finster blickte John auf den Franzosen hinunter und hoffte, ihn so einschüchtern zu können. Er war sich sicher, dass Dumont mit jedem Detail, das Lady Mary beschrieb, den Preis höher und höher angesetzt hatte. Jetzt war es an John, den Preis wieder herunterzuschrauben. „Seien Sie so ehrbar, wie Sie immer behaupten zu sein, Dumont. Sie wissen, dass Sie dieses Gemälde kaum mehr verkaufen werden. Die meisten Kunden werden es für so hässlich wie die Sünde halten.“

„Es ist nicht hässlich!“, protestierte Lady Mary. „Es ist …“

„Es ist altmodisch, Dumont, und Sie wissen das“, sagte John entschieden, ohne sie zu beachten. „Ihre Ladyschaft ist nur eine enthusiastische Kunstliebhaberin, und das wissen Sie ebenfalls. Ich gebe Ihnen zehn Livres dafür.“

Dumont starrte ihn finster an. „Warum wollen Sie mir nicht glauben, Mylord? Das Bild ist unverkäuflich.“

John seufzte müde. Er bot bereits mehr, als das Bild wert war, doch aus irgendeinem rätselhaften Grund war es für ihn sehr wichtig geworden, diesen Engel für das Mädchen zu kaufen. „Nun gut, Dumont. Elf Livres, und das ist ausgesprochen großzügig.“

Dumont blickte ihn immer noch böse an. „Es tut mir sehr leid, Mylord, aber ich fürchte, ich kann nicht annehmen.“

„Sie sind ein sturer alter Schurke, Dumont.“ John blickte auf das Bild. Lady Mary hatte recht: Der Engel hatte etwas Zauberhaftes. „Ich werde Ihnen zwölf Livres geben und keinen Sou mehr.“

Dumont stöhnte und senkte den Kopf. „Mylord, Mylord, ich bedauere aus tiefstem Herzen, aber ich kann nicht …“

„Ich gebe Ihnen zwanzig Louisdor für das Bild, Monsieur.“ Lady Mary hatte bereits einen prallen kleinen Beutel aus den Falten ihres Rockes gezogen und begann, die schweren goldenen Münzen auf den Ladentisch zu zählen. „Das müsste mehr als genügen. Winters, nehmen Sie das Bild von Seiner Lordschaft entgegen. Wir nehmen es mit ins Gasthaus, damit es in guter Obhut ist.“

Der Diener griff wie befohlen nach dem Bild, doch John entzog es ihm. „Also wirklich, Dumont! Was ist jetzt aus all Ihren Begründungen geworden, derentwegen Sie es nicht an mich verkauft haben?“

„Die Dame hat mit meinen Bedenken kurzen Prozess gemacht, Mylord“, seufzte Dumont schmerzlich, als hätte es je Zweifel daran gegeben, dass seine Gier triumphieren würde. Er griff schnell nach den Münzen und ließ sie in die Innenseite seiner Weste gleiten. „Ich fühle mich geehrt und bin entzückt, dass das Bild nun ihr gehört.“

„Bitte, Mylord.“ Winters griff wieder nach dem Bild, und diesmal blieb John keine andere Wahl, als es loszulassen. Lady Mary hatte den Geldbeutel bereits in ihrer Tasche verschwinden lassen, als Dumont eine schmuddelige alte Decke herbeischaffte, die er und der Diener um das Bild schlugen.

Bald würde Lady Mary aus der Tür und in das geschäftige Treiben von Calais treten und für John auf immer verschwunden sein, so wie alle Frauen, die er auf seinen Reisen traf. Sie würde eine angenehme kleine Erinnerung hinterlassen, nicht mehr.

Doch dieses Mal, mit dieser Frau, sollte es nicht so sein, wünschte sich John. Er war nie ein großer Freund von Geheimnissen gewesen. Er hatte immer handfeste Tatsachen vorgezogen und verlangte stets nach Antworten auf seine Fragen. Jetzt wollte er wissen, wieso die Tochter eines englischen Dukes ohne große Begleitung durch Calais spazierte. Er wollte herausbekommen, wie eine so junge Dame ohne große Anleitung eine solche Kenntnis über Malerei besitzen konnte. Er wollte wissen, wieso dieses altmodische kleine Gemälde ihr so viel bedeutete, dass sie es mit einer unverantwortlich hohen Summe erwarb.

Und vor allem wollte er wissen, wie er sie wieder dazu bringen konnte, ihn anzulächeln.

Dover konnte warten. Mit einem Mal schien Calais einen längeren Besuch wert zu sein.

Er bot ihr den Arm. „Lassen Sie mich Sie zu Ihrer Unterkunft zurückbegleiten, Lady Mary“, sagte er. „Für britische Reisende kann Calais ein ziemlich unwirtlicher Ort sein.“

Sie betrachtete seinen Arm, als wäre er eine große giftige Schlange.

„Aber Sie selbst sind doch auch Brite, Lord John, oder?“, fragte sie. „Sie sind kein Franzose?“

Er seufzte und wünschte, er müsste nicht schon jetzt eine so komplizierte Frage beantworten. „Ich wurde in Irland geboren, nicht weit von Kerry. Also bin ich vermutlich mehr Brite als Franzose, Spanier oder Italiener. Aber ich verließ Irland schon vor so langer Zeit, dass ich es kaum noch als meine Heimat bezeichnen kann.“

Sie neigte den Kopf zur Seite. „Jeder hat eine Heimat, einen Ort, zu dem es ihn zurückzieht.“

„Dann nennen Sie mich einen Weltbürger“, sagte er mit einer weiten Armbewegung, als wollte er die ganze Erde umfassen. „Ich bin ein Wanderer, Lady Mary. Wo immer ich zu mir selbst finde, dort bin ich zu Hause.“

In den Ohren der meisten Frauen klang das sehr romantisch. Leider gehörte Lady Mary nicht zu ihnen.

Sie runzelte die Stirn. „Wie können Sie behaupten, nirgendwo und doch überall zu Hause zu sein? Das ergibt wenig Sinn, Lord John, wirklich sehr wenig Sinn.“

„Aber es ist wahr“, entgegnete John, entschlossen, auf seinem Standpunkt zu beharren. „Ich kann Ihnen die gastfreundlichsten Tavernen in den amerikanischen Staaten nennen, oder die unangenehmsten in Ostindien, die man besser meiden sollte, und alle anderen, die irgendwo dazwischen liegen, noch dazu. Calais ist wie ein vertrautes Dorf für mich, das ich schon oft besucht habe.“

„Dann dürften Ihnen in Calais auch sicher eine Vielfalt von Unterhaltungsmöglichkeiten bekannt sein, die nicht meine Anwesenheit erfordern.“ Sie nickte dem Diener zu, der sich anschickte, seiner Herrin die Tür zu öffnen. „Guten Tag, Lord John.“

Autor

Miranda Jarrett
Hinter dem Pseudonym Miranda Jarrett verbirgt sich die Autorin Susan Holloway Scott. Ihr erstes Buch als Miranda Jarret war ein historischer Liebesroman, der in der Zeit der amerikanischen Revolution angesiedelt war und 1992 unter dem Titel "Steal the Stars" veröffentlicht wurde. Seither hat Miranda Jarrett mehr als dreißig Liebesroman-Bestseller geschrieben,...
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Grand Passion on the Grand Tour