Komm mit mir nach Caracas

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Immer mehr schließt Polly das Baby, das sie von Raul erwartet, ins Herz. Und immer tiefere Sehnsüchte weckt der Diamanten-Tycoon in ihr. Doch für romantische Gefühle scheint kein Platz in seinem Leben. Nur wegen des Kindes nimmt Raul sie mit auf sein Anwesen, oder nicht?


  • Erscheinungstag 07.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753443
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Raul Zaforteza nahm ein großes Hochglanzfoto aus der Dokumentenmappe. „Das ist Polly Johnson. In sechs Wochen wird sie mein Kind zur Welt bringen. Ich muss sie vorher finden.“

Da er eine Blondine mit dem Gesicht und der Figur eines Supermodels erwartet hatte, war Digby beunruhigt, als er die zierliche Frau mit langem dunkelbraunem Haar, seelenvollen blauen Augen und einem unglaublich süßen Lächeln sah. Sie wirkte so jung und gesund, dass er sie sich beim besten Willen nicht als Leihmutter vorstellen konnte.

Als Rechtsanwalt in einer renommierten Londoner Kanzlei hatte er, Digby Carson, einige sehr schwierige Fälle gehabt. Doch das hier war neu für ihn: eine Leihmutter auf der Flucht, die entschlossen war, das Baby zu behalten. Mutlos betrachtete er seinen Klienten.

Raul Zaforteza hatte mit Gold- und Diamantminen ein Vermögen gemacht. Er war ein brillanter Geschäftsmann, ein legendärer Polospieler und – den Klatschkolumnen zufolge – ein notorischer Frauenheld. Mit seinen eins neunzig, dem muskulösen Körperbau eines Athleten und dem aufbrausenden Temperament war er eine Furcht einflößende Erscheinung, selbst für ihn, Digby, der ihn schon als Kind gekannt hatte.

„Soweit ich weiß, hat mein Anwalt in New York dich bereits über die Situation informiert“, erklärte Raul ungeduldig.

„Er sagte, es wäre zu vertraulich, als dass er am Telefon darüber sprechen könnte“, räumte Digby ein, der wesentlich älter war als Raul. „Wie, in aller Welt, bist du bloß auf so eine Idee gekommen?“

„Por Dios … Du weißt doch, wie ich aufgewachsen bin“, konterte Raul.

Digby wirkte, als wäre ihm unbehaglich. Als ehemaliger Mitarbeiter von Rauls mittlerweile verstorbenem Vater wusste er, dass Raul keine schöne Kindheit gehabt hatte.

Raul atmete scharf aus. „Ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, niemals zu heiraten. Keine Frau soll so viel Macht über mich und vor allem nicht über ein etwaiges gemeinsames Kind besitzen. Aber ich habe Kinder schon immer gemocht …“

„Ja …“

„Viele Ehen werden irgendwann geschieden, und normalerweise werden die Kinder der Frau zugesprochen“, erinnerte Raul ihn zynisch. „Daher erschien mir die Idee mit der Leihmutter als die praktischste Lösung. Es war keine impulsive Entscheidung, Digby, und ich habe keine Mühe gescheut, um sicherzugehen, dass ich eine geeignete Mutter für mein Kind finde.“

„Geeignet?“, wiederholte Digby, denn er wollte gern wissen, was Raul mit seiner Vorliebe für mondäne Blondinen darunter verstand.

„Als mein Anwalt in New York per Annonce eine Leihmutter gesucht hat, sind haufenweise Bewerbungen in der Kanzlei eingegangen. Ich habe einen Arzt und einen Psychologen beauftragt, die vielversprechendsten Kandidatinnen einer Reihe von Tests zu unterziehen, aber die endgültige Auswahl habe natürlich ich getroffen.“

Stirnrunzelnd betrachtete Digby das Foto. „Wie alt ist sie?“

„Einundzwanzig.“

„Und sie war die einzige geeignete Kandidatin?“

Raul verspannte sich. „Der Psychologe hatte einige Vorbehalte, aber Polly verkörperte all das, was ich mir bei der Mutter meines Kindes wünschte. Sicher, sie war jung und idealistisch, aber ihr Beweggrund war nicht Geldgier, sondern der Wunsch, ihrer kranken Mutter eine Operation zu finanzieren.“

„Ich frage mich, ob sie sich unter den Voraussetzungen darüber im Klaren war, worauf sie sich einlässt“, bemerkte Digby.

„Das ist jetzt müßig, denn sie erwartet ein Kind von mir“, meinte Raul trocken. „Aber ich werde sie bald finden. Ich weiß, dass sie vor zwei Monaten im Haus ihrer Patentante in Surrey war. Nur bevor ich sie finde, muss ich wissen, was für Rechte ich in diesem Land habe.“

Digby wollte ihm die schlechten Neuigkeiten erst mitteilen, wenn er alle Fakten kannte. Wenn sich eine Leihmutter in England entschied, das Kind zu behalten, würde kein Richter es ihr wegnehmen.

„Erzähl mir den Rest der Geschichte“, bat er.

Während er sprach, blickte Raul starr aus dem Fenster und dachte dabei daran, wie er Polly Johnson das erste Mal gesehen hatte, und zwar durch den Spionspiegel in der Kanzlei in New York. Sie hatte ihn an eine Porzellanpuppe erinnert.

Sie war ehrlich und couragiert – und so nett. Diese Eigenschaft hatte er noch nie bei einer Frau gesucht, und doch erschien sie ihm äußerst wünschenswert.

Und je länger er Polly beobachtete, desto mehr erfuhr er über sie, und desto mehr wünschte er sich, sie persönlich kennenzulernen, damit er die neugierigen Fragen seines Kindes später auch beantworten konnte. Sein Anwalt hatte ihm aber davon abgeraten und erklärt, nur wenn er anonym bliebe, könne er sich gegen etwaige spätere Forderungen absichern. Andererseits hatte er, Raul, schon immer auf seinen Instinkt vertraut und gegen alle Regeln verstoßen …

Nun musste er sich allerdings eingestehen, dass genau aus dem Grund auch alles schief gelaufen war.

„Nachdem du erfahren hattest, dass sie schwanger ist, hast du sie also in einem Haus in Vermont einquartiert und ihr ein Dienstmädchen, das schon lange für deine Familie arbeitet, zur Verfügung gestellt“, fasste Digby zusammen, da Raul in Schweigen verfallen war. „Und wo war ihre Mutter in der Zeit?“

„Nachdem Polly den Vertrag unterschrieben hatte, ist ihre Mutter in ein Genesungsheim gegangen, um Kraft für die Operation zu sammeln. Sie war sehr krank. Von dem Vertrag wusste sie nichts. Die Ärzte hatten Polly gewarnt, dass ihre Chancen allenfalls fünfzig zu fünfzig standen. Zwei Tage nach der Operation ist ihre Mutter gestorben“, erzählte Raul.

„Das ist bedauerlich.“

Raul warf Digby einen spöttischen Blick zu. Bedauerlich? Polly war am Boden zerstört gewesen, wie ihm Soledad, das Dienstmädchen, berichtet hatte. Daraufhin hatte er sich nicht länger von der Mutter seines Kindes fernhalten können.

Verständlicherweise hatte er befürchtet, sie könnte eine Fehlgeburt erleiden, und geglaubt, er müsste sie moralisch unterstützen. Immerhin war sie erst einundzwanzig und allein in einem fremden Land gewesen und hatte ein Kind von einem Fremden erwartet.

„Deswegen habe ich mich schließlich mit ihr in Verbindung gesetzt“, räumte Raul ein. „Da ich ihr schlecht sagen konnte, dass ich der Vater des Babys bin, musste ich sie täuschen.“

Digby zuckte zusammen. Raul hätte jeglichen Kontakt zu der Frau vermeiden müssen. Doch er war ein beängstigend vielschichtiger Mann. Er war ein rücksichtsloser Konkurrent und ein sehr gefährlicher Feind. An seiner Reserviertheit waren schon viele Frauen verzweifelt. Aber er war auch für seine Menschenfreundlichkeit bekannt und wenigen Auserwählten der beste Freund, den man sich vorstellen konnte.

Raul presste die Lippen zusammen. „Ich habe mir ein Wochenendhaus in der Nähe gemietet und dafür gesorgt, dass unsere Wege sich kreuzen. Meine Identität musste ich nicht leugnen, denn der Name Zaforteza sagte ihr nichts. In den darauf folgenden Monaten bin ich regelmäßig in die Staaten geflogen und habe sie besucht. Ich bin nie lange geblieben. Sie brauchte nur jemanden zum Reden …“ Er verstummte und zuckte die Schultern.

„Und?“

„Nichts und!“ Als Raul sich wieder umdrehte, funkelten seine dunklen Augen spöttisch. „Ich habe sie wie eine kleine Schwester behandelt. Ich habe sie ab und zu besucht, das war alles.“

Digby verkniff es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass er ein Einzelkind war und daher gar nicht wissen konnte, wie man eine kleine Schwester behandelte. Er selbst hatte drei Töchter, die allein bei der Erwähnung von Rauls Namen in Ohnmacht fielen. Als er Raul das letzte Mal zum Essen mit nach Hause genommen hatte, hatten sich alle drei in Schale geworfen und um seine Aufmerksamkeit gebuhlt. Selbst seine Frau hatte von ihm geschwärmt.

„Wann ist sie verschwunden?“, erkundigte sich Digby.

„Vor drei Monaten. Soledad ist einkaufen gegangen und hat sie allein gelassen“, gestand Raul grimmig. „Kannst du dir vorstellen, dass ich in den letzten drei Monaten kaum eine Nacht durchgeschlafen habe?“

„Es ist durchaus möglich, dass sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat …“

„Por Dios … Polly würde mein Kind nicht abtreiben! Sie ist sehr weiblich und sehr liebevoll. So etwas würde sie niemals tun!“, bekräftigte Raul.

„Du hast dich nach deinen Rechten erkundigt.“ Digby atmete tief durch und straffte sich. „Ich fürchte, nach britischem Gesetz haben unverheiratete Väter keine.“

Raul blickte ihn ungläubig an. „Das ist unmöglich.“

„Du kannst auch nicht anführen, dass sie eine schlechte Mutter wäre. Schließlich hast du sie selbst ausgesucht. Und als reicher Ausländer, der sein Geld dazu benutzt hat, um sie zu einer Entscheidung zu drängen, die sie später bereut hat, wirst du vor Gericht nicht gut dastehen …“

„Aber sie hat Vertragsbruch begangen“, erklärte Raul schroff. „Dios mío! Ich habe keine Lust, die Sache vor Gericht auszutragen. Es muss doch eine andere Möglichkeit geben, das Sorgerecht zu bekommen.“

Digby verzog das Gesicht. „Du könntest sie heiraten …“

Raul warf ihm einen strengen Blick zu. „Falls das ein Witz sein sollte, war er alles andere als komisch.“

Henry zog einen Stuhl für Polly hervor, als sie sich zum Abendessen an den Tisch setzte. Seine Mutter Janice Grey betrachtete sie stirnrunzelnd, denn Polly war jetzt im achten Monat schwanger und sah schlecht aus.

„Wenn du Henry jetzt heiraten würdest, bräuchtest du nicht mehr zu arbeiten“, sagte Janice. „Er könnte dir dabei helfen, das mit dem Nachlass deiner Patentante zu klären.“

„Es wäre das Beste, was du tun könntest.“ Henry, der helles, bereits lichter werdendes Haar hatte und kräftig gebaut war, nickte wichtigtuerisch. „Du musst dafür sorgen, dass du nicht zu viel Erbschaftssteuer zahlst.“

„Ich möchte niemanden heiraten.“ Pollys Züge waren angespannt, und ihr Lächeln wirkte gequält.

Einen Moment lang herrschte peinliches Schweigen, und Mutter und Sohn tauschten vielsagende Blicke.

Schuldbewusst, da sie keinen Appetit hatte, betrachtete Polly ihren Teller. Im Nachhinein war ihr klar, dass es ein Fehler gewesen war, das Zimmer bei Janice zu beziehen. Das Reihenhaus war zwar gemütlich, aber woher hätte sie wissen sollen, dass die Haushälterin ihrer inzwischen verstorbenen Patentante ihr das Angebot nicht ohne Hintergedanken gemacht hatte?

Janice und ihr Sohn kannten die Bedingungen in Nancy Leewards Testament. Sie wussten, dass sie, Polly, eine Million Pfund erben würde, wenn sie innerhalb eines Jahres einen Mann fand und mindestens sechs Monate verheiratet blieb. Und Janice wollte ihr einreden, dass es all ihre, Pollys, Probleme lösen würde, wenn sie Henry heiratete.

Und so berechnend Janice auch sein mochte, wäre es ein fairer Handel gewesen. Schließlich würde sie, Polly, eine ledige Mutter sein und konnte ohne einen Ehemann ohnehin keinen Anspruch auf das Erbe erheben. Henry war alleinstehend, ein richtiges Muttersöhnchen und hasste seinen Job. Mit nur einem Bruchteil der Million würde er sich als Steuerberater selbstständig machen können.

„Babys können sehr anstrengend sein“, erklärte Janice, nachdem Henry den Raum verlassen hatte. „Und ich weiß aus Erfahrung, dass es nicht leicht ist, ein Kind allein großzuziehen.“

„Ich weiß.“ Polly lächelte verträumt, denn sie freute sich auf die Geburt.

Janice seufzte. „Ich meine es doch nur gut mit dir, Polly. Du liebst Henry nicht, aber was hattest du davon, dass du dich verliebt hast?“

Abrupt kehrte Polly auf den Boden der Tatsachen zurück. „Nichts.“

„Es ist doch offensichtlich, dass der Vater des Kindes dich hat sitzen lassen. Und Henry und ich würden dich niemals im Stich lassen.“

Als Polly daran dachte, was Henry für eine Lebensauffassung hatte, unterdrückte sie einen Seufzer.

„Die Leute heiraten nicht immer aus Liebe, sondern aus allen möglichen anderen Gründen“, beharrte Janice. „Sicherheit, Geborgenheit, ein schönes Zuhause.“

„Ich brauche aber mehr.“ Langsam und schwerfällig stand Polly auf. „Ich lege mich noch ein bisschen hin, bevor ich zur Arbeit fahre.“

Atemlos vom Treppensteigen, legte sie sich in ihrem hübsch möblierten Zimmer aufs Bett und schnitt ein Gesicht. Sie würde Henry niemals heiraten, nur um die Bedingungen von Nancy Leewards Testament zu erfüllen.

Sie schämte sich der Tatsache, dass sie sich in einer so ausweglosen Situation befand, nur weil sie Geld gewollt hatte. Ihr verstorbener Vater, ein sehr religiöser Mann, hatte immer behauptet, Geld wäre die Wurzel allen Übels. Und in ihrem Fall hatte es sich leider bewahrheitet.

Ihre Mutter hatte im Sterben gelegen. Doch sie, Polly, hatte es nicht wahrhaben wollen, denn sie war ohne sie groß geworden und hatte kaum Zeit gehabt, sie neu kennenzulernen. Sie hatte einfach nicht glauben wollen, dass das Schicksal so grausam sein konnte.

Wie hatte sie je annehmen können, dass sie in der Lage sein würde, ihr Baby Fremden zu geben? Wie hatte sie je annehmen können, dass sie niemals versuchen würde, zu ihrem Kind Kontakt aufzunehmen? Sie war unglaublich naiv und unreif gewesen. Daher war sie vor einer unhaltbaren Situation davongelaufen, obwohl ihr klar gewesen war, dass man sie verfolgen und irgendwann auch finden würde …

Als sie daran dachte, dass man sie für ihr Verhalten zur Rechenschaft ziehen würde, brach ihr der Angstschweiß aus. Sie hatte einen Vertrag unterzeichnet, indem sie erklärt hatte, dass sie auf ihr Baby verzichten würde. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt, während man eine Riesensumme für die Behandlung ihrer Mutter ausgab, und dann die Flucht ergriffen. Sie hatte das Gesetz gebrochen, und dennoch hatte man sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen zur Unterschrift bewogen – aber das konnte sie nicht beweisen.

Manchmal wachte sie nachts auf, weil sie geträumt hatte, dass man sie an die USA auslieferte und vor Gericht stellte, ihr dann das Baby wegnahm und nach Venezuela schickte, wo es bei seinem unmoralischen, skrupellosen Vater ein Leben in Luxus führen würde. Und selbst wenn sie keine Albträume hatte, schlief sie wegen ihrer Schwangerschaft immer schlechter.

Und wenn es ihr besonders schlecht ging, sah sie Raul im Geist vor sich. Raul Zaforteza, dunkelhaarig, atemberaubend attraktiv und gefährlich. Was für eine leichte Beute sie für ihn gewesen war! Denn sie hatte sich hoffnungslos in ihn verliebt – und es war das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie sich verliebt hatte. Sie hatte nur von einem Treffen zum nächsten gelebt, immer in der Angst, dass er vielleicht nicht kommen oder ihre Schwangerschaft bemerken würde. Sie lachte hysterisch auf. Die ganze Zeit hatte er gewusst, dass sie schwanger war. Schließlich war er der Vater ihres Babys …

Eine Stunde später fuhr Polly zur Arbeit. Es war ein kühler, regnerischer Sommerabend. Diesmal nahm sie nicht den Bus, denn wenn das Baby erst einmal da war, würde sie jeden Penny brauchen.

Der Supermarkt, in dem sie im Schichtdienst als Kassiererin arbeitete, war hell erleuchtet und gut besucht. Als sie in der Garderobe ihren Mantel auszog, steckte die Filialleiterin den Kopf zur Tür herein und betrachtete sie stirnrunzelnd. „Du siehst sehr müde aus, Polly. Ich hoffe, dein Arzt weiß, was er tut, wenn er dir sagt, dass du immer noch arbeiten kannst.“

Polly errötete, als die Filialleiterin wieder ging. Sie war seit zwei Monaten nicht mehr beim Arzt gewesen, aber bei ihrem letzten Besuch hatte man ihr geraten, sie solle sich schonen. Nur wie sollte sie sich schonen, wenn sie ihren Lebensunterhalt verdienen musste? Und wenn sie Sozialhilfe beantragte, würde man ihr zu viele unangenehme Fragen stellen. Daher fühlte sie sich völlig ausgelaugt.

Bei Dienstschluss war Polly sehr müde und daher froh, dass sie am nächsten Tag freihatte. Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter und verließ den Supermarkt. Jetzt regnete es nicht mehr. Die Lichter der Straßenlaternen spiegelten sich auf dem nassen Asphalt, und das Wasser spritzte von den vorbeifahrenden Autos hoch und auf den Bürgersteig.

Polly ließ den Mantel offen, da sie ihn ohnehin nicht mehr zubekommen hätte. Jetzt dauert es nicht mehr lange, tröstete sie sich. Sie hatte das Gefühl, schon ewig schwanger zu sein, aber bald würde sie ihr Baby als eigenständigen Menschen kennenlernen.

Da sie ganz in Gedanken versunken war und den Kopf gesenkt hatte, merkte sie nicht, dass ihr jemand den Weg versperrte. Erst als sie fast mit ihm zusammenstieß, nahm sie den Mann wahr.

Sie schwankte und schrie auf, doch der Mann umfasste ihre Schultern und hielt sie fest. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie den Kopf zurückbeugte, um ihrem Retter ins Gesicht zu sehen.

Es war Raul Zaforteza. Mit versteinerter Miene blickte er auf sie herab, und ihr jagte ein Schauer über den Rücken.

Vor Entsetzen begann Polly zu zittern, als sie seinem Blick begegnete. Seine Augen funkelten wie die eines Tigers, der im Begriff war, sich auf seine Beute zu stürzen.

„Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem du dich vor mir verstecken könntest“, erklärte er mit dem für ihn so typischen Akzent, der alle möglichen Erinnerungen in ihr wachrief. „Die Jagd ist vorbei.“

2. KAPITEL

„Lass mich los, Raul!“, brachte Polly hervor. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

„Du erwartest ein Kind von mir“, erwiderte Raul ruhig. „Welcher Mann würde da weggehen?“

Plötzlich verspürte sie einen heftigen Schmerz in den Schläfen, und ihr wurde übel. Sie presste eine Hand an die Schläfe.

„Por Dios … Was ist?“ Er verstärkte seinen Griff, als sie schwankte. Im nächsten Moment hob er sie hoch und drückte sie an sich. Als er im Licht einer Straßenlaterne ihr Gesicht sah, fluchte er auf Spanisch.

„Lass mich runter …“ Die Ironie der Situation war ihr durchaus bewusst, denn es war das erste Mal, dass er ihr so nahe kam.

Raul ignorierte jedoch ihren Protest. Auf sein Nicken hin kam die Limousine, die auf der anderen Straßenseite parkte, herüber. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete die hintere Tür. Raul verfrachtete Polly auf den Rücksitz, doch bevor er neben ihr Platz nehmen konnte, beugte sie sich heraus, weil sie sich übergeben musste. Dann ließ sie sich auf den Sitz sinken und presste sich ein Taschentuch auf die Lippen. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt.

Niemand sagte etwas, und in einem Anflug von Humor dachte sie daran, dass Raul vermutlich noch nie miterlebt hatte, wie sich jemand übergab. Und obwohl sie sich ihrer Unfähigkeit, ihren Körper zu beherrschen, schämte, hätte sie keine Entschuldigung über die Lippen gebracht.

„Kannst du dich aufsetzen?“

Als sie eine Hand auf den Sitz stützte, zog er sie hoch. Dabei stieg ihr der herbe, leicht exotische Duft seines Aftershaves in die Nase.

„Jetzt hast du mich also gefunden“, erklärte sie, wobei sie es vermied, ihn anzusehen.

„Es war nur eine Frage der Zeit. Zuerst bin ich zu dem Haus gefahren, in dem du wohnst. Janice Grey war nicht gerade entgegenkommend. Zum Glück wusste ich schon, wo du arbeitest“, sagte Raul ausdruckslos.

Polly spürte förmlich die Barriere zwischen ihnen und die spannungsgeladene Atmosphäre. Er hatte sie gefunden. Sie hatte alles getan, um unentdeckt zu bleiben – sie war nach London gezogen, ohne eine Telefonnummer oder eine Kontaktadresse zu hinterlassen, und hatte sogar ihre Freunde belogen. Aber alles war vergeblich gewesen.

Erneut durchzuckte sie ein heftiger Schmerz, und sie kniff die Augen zusammen.

„Was ist?“, erkundigte Raul sich heftig.

„Mir platzt der Schädel“, erwiderte sie benommen und zwang sich, die Augen wieder zu öffnen.

Er betrachtete gerade ihren runden Bauch – fasziniert und bestürzt zugleich.

Und sie betrachtete ihn – sein schwarzes Haar, die dichten, geschwungenen Brauen, die schmale, arrogante Nase, die hohen Wangenknochen und den perfekt geformten, sinnlichen Mund. Er sah so fantastisch aus, dass er stets alle Blicke auf sich zog. Allerdings hätte kaum eine Frau es gewagt, ihn in die Enge zu treiben, denn gleichzeitig strahlte er Härte aus.

Das Baby bewegte sich, und Polly zuckte zusammen.

Daraufhin sah Raul sie fragend an.

„Darf ich?“, fragte er rau.

Erst als sie bemerkte, wie er die Hand ausstreckte, wurde ihr bewusst, was er meinte. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf ihren Bauch gerichtet, und der angespannte Zug um seinen Mund war verschwunden.

„Darf ich fühlen, wie mein Kind sich bewegt?“, fügte er hinzu.

Polly warf ihm einen ablehnenden Blick zu und versuchte mit zittrigen Händen, ihren Mantel zuzuziehen. „Fass mich ja nicht an!“

„Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es keine so gute Idee.“ Er rutschte zum Fenster und wirkte jetzt reserviert und eisern beherrscht.

Dennoch erinnerte er sie an ein wildes Tier auf der Flucht. In Vermont hatte er sie nie so angesehen, aber sie hatte immer gespürt, welche Leidenschaft in ihm steckte, und es hatte sie gleichermaßen fasziniert und beängstigt. Äußerlich ganz Weltmann, war er im Grunde seines Wesens alles andere als cool und berechenbar.

„Bring mich nach Hause“, sagte sie angespannt. „Wir können uns morgen treffen, um miteinander zu reden.“

Raul nahm den Hörer ab und sprach auf Spanisch mit seinem Chauffeur. Polly wandte sich ab.

Sie erinnerte sich daran, wie er in Vermont mit Soledad Spanisch gesprochen hatte, und daran, wie nervös und dienstbeflissen diese ihm gegenüber gewirkt hatte. Sie war der Situation, in die er sie gebracht hatte, nicht gewachsen gewesen. Schließlich war sie in seinen Augen nur ein Dienstmädchen gewesen. Raul Zaforteza war kein Mann, der es gewohnt war, auf die Gefühle und Bedürfnisse unbedeutender Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, und in Soledads Fall hatte er für diese Überheblichkeit einen höheren Preis bezahlt, als er je ahnen würde.

Als die Limousine sich in Bewegung setzte, kehrte Polly in die Gegenwart zurück und beobachtete Raul, der gerade ein längeres Telefonat auf Spanisch führte. Verstohlen ließ sie den Blick über seine breiten Schultern, die schmale Taille und die muskulösen Beine schweifen.

Ich darf dich nicht anfassen, aber jeder deiner Blicke ist ein visueller Angriff“, bemerkte er scharf, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Ich werde dich zum Frühstück verspeisen, Kleine!“

Ihre Schläfen pochten, und Polly schloss die Augen. So viele Erinnerungen stürmten auf sie ein, dass sie völlig durcheinander war. Raul, zärtlich, lachend, ohne eine Spur von Kälte in den Augen. Und seine Besorgnis galt einzig dem Baby in ihrem Bauch. Sie war für ihn nie etwas anderes gewesen als ein menschlicher Brutkasten, der bei guter Laune und gesund erhalten werden musste.

„Du siehst furchtbar aus“, informierte Raul sie angespannt. „Du hast abgenommen, und dabei warst du sowieso schon schlank …“

„Das kann man mir jetzt wohl nicht mehr vorwerfen.“

„Deine Knöchel sind geschwollen.“

Erschöpft beugte Polly den Kopf zurück. Mittlerweile war es ihr egal, wie sie in seinen Augen aussah. In Vermont hatte sie zehnmal besser ausgesehen, und doch hatte er sich nicht im Entferntesten zu ihr hingezogen gefühlt. Allerdings war es ihr erst im Nachhinein klar geworden. „Du wirst mein Baby nicht bekommen“, warnte sie ihn. „Niemals.“

„Beruhige dich“, wies er sie an. „Wenn du dich aufregst, schadest du dir nur.“

„Meine Gesundheit kommt immer an erster Stelle, nicht?“

„Desde luego … natürlich“, bestätigte er, ohne zu zögern.

Polly zuckte zusammen, weil sie wieder einen stechenden Schmerz verspürte. Sie hörte, wie er ein Fach und anschließend eine Flasche öffnete und etwas in ein Glas goss, und erschrak, als er ihr dann ein kaltes Tuch auf die Stirn presste.

„Ich werde mich jetzt um dich kümmern. Du siehst richtig elend aus“, bemerkte er missbilligend, während er sich über sie beugte. „Ich wollte dich anschreien und dich zum Zittern bringen. Aber wie könnte ich das jetzt noch tun?“

Mühsam öffnete sie die Augen und sah ihn an. In seinen Augen lag ein wütender und frustrierter Ausdruck, der im Widerspruch zu seiner netten Geste stand. Es fiel Raul sehr schwer, nett zu ihr zu sein, das war ihr klar.

„Du hast mich gelehrt zu hassen“, flüsterte sie.

„Das Einzige, was uns verbindet, ist mein Baby. Etwas anderes gibt es nicht“, bekräftigte er. „Wir werden erst miteinander reden, wenn du dich von deinen Gefühlen freimachst und dich auf den Vertrag besinnst.“

Hass flammte in ihr auf. Und genau das brauchte sie, denn der Hass linderte den Schmerz, den Raul ihr zufügte.

„Mistkerl“, brachte sie hervor. „Du verlogener, hinterhältiger Mistkerl …“

Genau in dem Moment stoppte die Limousine. Als der Chauffeur ausstieg, betrachtete Polly verblüfft das hell erleuchtete moderne Gebäude mit dem wunderschön angelegten Grundstück, vor dem er gehalten hatte. „Wo sind wir?“, fragte sie ängstlich.

Eine Schwester in Tracht kam mit einem Rollstuhl aus dem Eingang.

Schweigend stieg Raul aus und ging um dem Wagen herum, um die Tür selbst zu öffnen.

„Du brauchst medizinische Betreuung“, erklärte er.

Entsetzt sah Polly ihn an. Aufgrund ihrer Recherchen in der Bibliothek wusste sie, dass er in dem Ruf stand, besonders rücksichtslos zu sein. „Ich lasse mich nicht von dir in die Klapsmühle sperren!“, rief sie in Panik.

„Deine Fantasie geht mit dir durch, chica. Ich würde der Mutter meines Kindes niemals Schaden zufügen. Und mach ja keine Szene, denn mir geht es nur um deine Gesundheit!“, warnte er sie scharf, während er sich herunterbeugte und sie aus dem Wagen hob.

„Der Rollstuhl, Sir“, verkündete die Schwester.

„Sie ist ganz leicht. Ich trage sie.“ Er ging mit ihr durch die Tür, die sich automatisch öffnete. Die Mutter seines Kindes. Das Stichwort für Rücksichtnahme und Zurückhaltung, überlegte Polly bitter. Schließlich bestand die Gefahr, dass der menschliche Brutkasten versagte. Da sie sich jedoch so elend fühlte, dass ihr alles vor den Augen verschwamm, barg sie den Kopf an Rauls Schulter.

„Ich hasse dich“, murmelte sie dabei.

Autor

Lynne Graham
<p>Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen. Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem Schreiben....
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Millionaires Wanted