Küss mich, Chefkoch!

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Mindestens ein Jahr lang keine Dates! Das hat sich Bobbie Barnett nach ihrer Scheidung vorgenommen. Dumm nur, dass die Funken sprühen, wann immer sie auf Spitzenkoch Lincoln Cress trifft. Als er sie bittet, bei gesellschaftlichen Events seine Freundin zu spielen, kann sie einfach nicht Nein sagen. Obwohl Bobbie der Versuchung unbedingt widerstehen will, landet sie bald mit Lincoln im Bett. Sie fragt sich, ob aus den prickelnden Nächten mehr werden könnte. Da erfährt sie etwas, das ihre Emotionen aus ganz anderen Gründen hochkochen lässt …


  • Erscheinungstag 14.03.2023
  • Bandnummer 2281
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515528
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

März

Über den Rand ihres Champagnerkelchs hinweg beobachtete Bobbie Barnett das knutschende Pärchen in einer Nische des Restaurants. Das Ambiente war angemessen romantisch: Eiskübel mit Champagner, brennende Kerzen, ein Dessert aus Erdbeeren mit Sahne. Ganz, wie man es von einem exklusiven Restaurant mitten in Manhattan erwarten durfte.

„Hach, wie süß“, murmelte Bobbie und setzte ihre Kamerabrille mit der schwarzen Fassung auf, um die beiden heimlich zu filmen. „Zu dumm, dass sie nicht seine Frau ist.“

Als der Mann seine Hand unter den Tisch gleiten ließ, wandte Bobbie den Blick ab, um sich und seiner Frau den skandalösen Anblick zu ersparen. Um zu beweisen, dass die Intuition einer Frau – vermutlich ausgelöst durch viele einsame Nächte im Ehebett – nicht getrogen hatte, wurde Bobbie fürstlich bezahlt. Dieser Mann ging definitiv fremd.

Das Bauchgefühl log nie.

Und als Privatdetektivin konnte Bobbie sich auf ihres verlassen.

Sie wurde von wohlhabenden und einflussreichen Leuten beauftragt, Geheimnisse zu ergründen, Kriminalfälle aufzuklären und Betrug zu entlarven. Ihr Job war ihre Berufung, genau wie er es für ihren Vater Bobby gewesen war. Von ihm, dem Privatdetektiv und ehemaligen Kriminalbeamten, hatte sie das Unternehmen geerbt, als er in Rente ging. Seit frühester Jugend war sie dazu erzogen worden, aufmerksam durchs Leben zu gehen und die richtigen Fragen zu stellen. Wie selbstverständlich hatte sie ihr Examen als Privatdetektivin abgelegt, und nach zwölf Jahren im Geschäft gehörte sie zu den Besten.

Ihr Smartphone, das mit dem Display nach unten auf dem Tisch lag, summte, und sie drehte es um. Eine Textnachricht von ihrer Kundin, Mrs. Ferguson.

Irgendwas Neues?

Und ob, dachte Bobbie und presste kurz ihre mit karamellfarbenem Lipgloss geschminkten Lippen zusammen.

Sie konnte sich nur allzu gut in die betrogene Ehefrau einfühlen. Zwar war die Wut auf ihren Exmann Henny Santana verflogen. Doch der Schmerz, ihn mit einer anderen Frau im Bett erwischt zu haben, blieb. Er haftete an ihr wie eine zweite Haut.

All die verlorenen Jahre.

Der Vertrauensbruch.

Wie dumm sie gewesen war, ihm zu glauben.

Mit einem Kopfschütteln tat sie die Erinnerungen ab und brachte ihre wilden Locken zum Tanzen. Dann nahm sie ihren Champagnerkelch und trank einen tiefen Schluck, ehe sie ihr Smartphone checkte.

Es war kurz vor halb neun.

An diesem Abend schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie arbeitete für eine Kundin und hatte eine Verabredung mit einem neuen potenziellen Auftraggeber.

Heute Morgen hatte sie einen Fall abgeschlossen. Ein hochkarätiger Schauspieler war spurlos verschwunden, sein Manager kurz vor dem Durchdrehen. Ein wenig Detektivarbeit alter Schule, unterstützt von modernen Technologien, hatte für Bobbie genügt, um herauszufinden, dass der Mann sich in einem Luxushotel aufhielt, wo er sich von einem heimlichen schönheitschirurgischen Eingriff erholte. Ohne das Geheimnis des Schauspielers preiszugeben, hatte sie dem Manager versichern können, dass sein Schützling wohlauf war.

Jetzt, am Abend eines langen, anstrengenden Tages, freute sie sich auf ein entspannendes Bad, ein wenig Meditation und dann – hoffentlich – auf erholsamen Schlaf, nackt unter ihrer weichen, frischen …

Sie sind B. Barnett?“

Beim Klang der tiefen Männerstimme mit dem britischen Akzent hob Bobbie abrupt den Kopf. Es gab nicht viel, was sie überraschen konnte, aber diesmal hatte es funktioniert.

Lincoln Cress.

Er stand leibhaftig an ihrem Tisch, groß, breitschultrig, mit seinen wohlbekannten markanten Zügen. Ausdrucksstarkes Kinn, breite Nase, tiefliegende Augen unter dichten Brauen. Hohe Wangenknochen und ein modischer Spitzbart, der seinen weichen Mund umrahmte. Doch dieser Mund verriet, dass Lincoln alles andere als erfreut war, Bobbie zu sehen.

Umgekehrt ging es ihr genauso. Obwohl – abgesehen von ihrer spontanen Abwehr war da noch etwas anderes, Aufregendes.

Sie räusperte sich und bot ihm an, sich zu ihr zu setzen. „Schön, Sie zu sehen, Mr. Lincoln“ sagte sie, als er stehen blieb.

„Zu sehen?“, gab er grob zurück. „Sie haben mich wochenlang verfolgt!“

Sie konnte seine Verärgerung verstehen.

Im vergangenen Herbst war sie beauftragt worden, Nachforschungen über Phillip Cress senior anzustellen. Er war ein anerkannter Kochguru und besaß ein kulinarisches Imperium. Zwei seiner fünf Söhne, Coleman und Gabriel, benötigten eine Auskunft über ihren Vater. Intensive Recherchen, die sie bis in Phillips Heimatstadt St. Ives in Cornwall, England, führten, brachten zutage, dass sein Name auf der Geburtsurkunde von Lincoln Cress auftauchte. Lincoln war ein unehelicher Sohn von Phillip, der später nach Amerika ausgewandert war und dort Nicolette Lavoie geheiratet hatte.

Danach wollten die Cress-Brüder mehr über ihren neuen Halbbruder wissen, und so war Bobbie erneut nach St. Ives gereist. Unter falschem Namen gab sie sich als Autorin aus, die ein Buch über Englands regional erfolgreiche Spitzenköche schreiben wollte. Doch Lincoln behandelte sie überaus feindselig und verhielt sich absolut unkooperativ. Wie oft er sie aus seinem Sternerestaurant hinauskomplimentiert hatte, konnte sie gar nicht mehr zählen.

Und sie war davon ausgegangen, dass sie diesen unhöflichen, wenn auch verdammt attraktiven Mann nie wiedersehen würde.

„Wenn Sie mit mir reden wollen, wäre es besser, Sie würden nicht von oben herab auf mich runterstarren, Mr. Cress“, sagte sie und spähte kurz hinüber zu der Nische, wo Mr. Ferguson das Date mit seiner Geliebten genoss.

Lincoln riss den Stuhl zurück und setzte sich endlich.

Sofort erschien ein Kellner. „Möchten Sie einen Aperitif?“

„Glauben Sie mir, Kevin“, bemerkte Bobbie, „was dieser Mann braucht, wird hier nicht serviert.“ Sie griff nach ihrem Champagnerglas.

„Zuerst stalken Sie mich, und jetzt werde ich beleidigt“, gab Lincoln zurück. Eindringlich musterte er ihr Gesicht.

Unwillkürlich fragte sie sich, ob ihm gefiel, was er sah. Und zum zweiten Mal an diesem Abend war sie überrascht. Der Typ reizte sie auf mehr als eine Weise.

„Dann lassen Sie sich Zeit“, sagte Kevin höflich und zog sich zurück.

„Ich habe nur meinen Job gemacht“, begann sie kurz angebunden. „Und da Sie jetzt hier in New York sind, gehe ich davon aus, dass Sie sich mit Ihrem Vater und Ihren Halbbrüdern in Verbindung gesetzt haben. Die Familie ist übrigens sehr reich. Also, wo ist das Problem?“

„Können Sie eigentlich ruhig schlafen, so ganz ohne Gewissen und Anstand?“, fragte er.

„Und wie fühlen Sie sich auf dem hohen Ross, auf dem Sie sitzen?“

„Sobald Sie mein Restaurant das erste Mal betreten haben, wusste ich, dass Ärger droht.“

„Unsinn.“ Sie strich über den Rand ihres Champagnerglases. „Wechseln Sie doch einfach mal die Perspektive, Mr. Cress. Ihrer Meinung nach war meine Tätigkeit lästig und aufdringlich. Aber eigentlich sollten Sie die Dinge positiv sehen. Immerhin haben Sie durch mich Ihren Vater gefunden.“

„Ich brauche sein Geld nicht“, erwiderte Lincoln kalt.

Bobbie nickte. „Das weiß ich.“ Erneut sah sie Zorn in seinen Augen aufblitzen. „Hören Sie, es war für mich, wie bereits erwähnt, nur ein Job“, fuhr sie fort. „Und ich bemühe mich redlich, Ihnen Ihr unmögliches Verhalten mir gegenüber nicht übel zu nehmen.“

„Na, Sie haben Nerven.“ Er stützte die Arme auf und beugte sich angriffslustig vor.

„Und Sie kommen mir vor wie ein sehr armseliger Mensch“, gab sie zurück und lehnte sich ebenfalls nach vorn.

Kampfbereit funkelten sie sich an, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt. Das kleine Blumenbukett zwischen ihnen auf dem Tisch duftete. Lincoln musterte Bobbie derart intensiv, dass ihr Mund trocken wurde. Sie widerstand der Versuchung, mit der Zunge ihre Lippen zu befeuchten. Stattdessen biss sie kurz auf ihre Unterlippe und zog sich dann zurück.

Als sie sah, wie sich sein Blick auf ihren Mund konzentrierte, begann ihr Herz wie wild zu klopfen.

Wie damals, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war.

Als sie das wunderschöne rustikale Restaurant an der Küste von St. Ives betreten hatte und so angetan war von den alten Eichenbalken, den Wildblumensträußen auf den Tischen und dem Duft nach frischen Fischgerichten, zubereitet mit Butter, Knoblauch und anderen Zutaten.

Zentral in dem intimen Raum lag die offene Küche. Bobbies Blick fiel sofort auf Lincoln Cress, der seinen Köchen knappe Anweisungen gab.

Ihr Atem stockte, und ihr Herz begann wie wild zu klopfen.

Das Porträt auf seiner Website wurde ihm nicht gerecht. Wie intensiv sein Blick war. Wie markant seine Züge. Wie gekonnt er jetzt eine Pfanne auf der Gasflamme hin und her schob und dann den Inhalt mit einer schnellen Bewegung wendete.

Der Mann und seine Kunst waren aufregend.

„Willkommen im SHORES. Mein Name ist Shirly. Möchten Sie einen Drink oder ein Amuse gueule?“

Widerwillig löste Bobbie ihren Blick vom Sternekoch und schaute zu der Kellnerin auf, die ein Tablett in der Hand hielt und freundlich lächelte. „Ich bin Kimberly Madison“, stellte Bobbie sich vor. „Ich schreibe ein Buch über die regionale Küche Englands.“ Die professionelle Lüge kam ihr leicht über die Lippen.

„Oh, ja. Sie sind die Amerikanerin, die angerufen hat“, erwiderte die Kellnerin in britischem Englisch mit einer Spur cornischem Dialekt.

Bobbie entging nicht, dass die junge Frau nervös zu Lincoln hinüberblickte. „Ich habe mir gedacht, ich komme einfach mal vorbei, um persönlich mit ihm zu sprechen. Falls er Interesse hat, sich an dem Projekt zu beteiligen, würde mir das sehr helfen“, sagte sie und schaute auf die Speisekarte, die auf ihrem Tisch lag. „Ich möchte übrigens gern den Tintenfisch probieren.“

Shirly nickte lächelnd und ging zur Bar, von der aus es einen Zugang zur Küche gab. Dort wechselte sie ein paar Worte mit Lincoln.

Und dann schaute er direkt hinüber zu Bobbie. Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln und winkte kurz.

Doch er starrte nur wütend herüber, ehe er sich wieder dem Gericht zuwandte, das er gerade zubereitete. Als er es auf einem Teller arrangiert hatte, schnauzte er noch ein paar Anweisungen für seine Mitarbeiter, dann kam er mit langen Schritten auf Bobbie zu. Seine hellbraune Haut kontrastierte sexy mit seinem schwarzen Chefkoch-Outfit, und sein durchdringender Blick raubte Bobbie fast den Atem.

Allerdings war ihr klar, dass dieser Mann nicht erfreut war, sie hier zu sehen. Trotzdem stand sie auf, als er vor ihrem Tisch stehen blieb, und streckte ihm die rechte Hand hin.

Er ignorierte ihre Geste. „Ich sagte Ihnen bereits am Telefon, dass ich kein Interesse habe und Sie mich mit Ihren Fragen verschonen sollen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie gehen mir auf die Nerven.“

Bobbie unterdrückte das Bedürfnis, ihm einen Kinnhaken zu verpassen. „Und Sie sind unhöflich“, gab sie zurück.

Er nickte. „Das folgt daraus. Gehen Sie bitte.“ Als sie gezögert hatte, hatte er sie am Ellbogen gepackt und sie nach draußen eskortiert.

„Lassen Sie das“, fauchte sie, doch da hatte er die gläserne Eingangstür schon vor ihrer Nase geschlossen. Verblüfft hatte sie ihm hinterhergestarrt.

Die Erinnerung an diese Szene ließ ihre Wut erneut aufflammen. Dieser Mann war unmöglich. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“, fragte sie. „Ich habe mich bereits bei Ihnen entschuldigt.“

„Suchen Sie sich einen Job, bei dem Sie nicht lügen, täuschen und Leute bespitzeln müssen“, entgegnete Lincoln scharf.

Und wie bei ihrem ersten Zusammentreffen wirkten seine Worte auf sie wie eine eiskalte Dusche, gerade, als sie sich eingestehen wollte, dass sie diesen Typ auf seine raue Art anziehend fand.

Lincoln Cress war ein ehrenhafter Mann, und er war stolz darauf. Er musste sich eingestehen, dass Bobbie Barnett eine bildschöne Frau war. Sie trug ihre wilden Locken überschulterlang, ihre braune Haut war glatt, und ihre vollen Lippen mit dem karamellfarbenen Lipgloss glänzten verführerisch. Sie hatte die Ausstrahlung einer Donna Summer, Star der Siebziger, und er war dafür durchaus empfänglich.

Ohne seinen durchdringenden Blick von ihr zu lösen, lehnte er sich zurück. „Kimberly.“ Sein Ton war schneidend. Er hatte sie sofort erkannt, doch nun wusste er, dass sie ihn in St. Ives belogen hatte.

„Bobbie. Mit ie, nicht mit y“, erwiderte sie.

Der Name passte zu ihr.

„Ich möchte mich noch einmal entschuldigen“, fügte sie hinzu.

In diesem Moment erschien der Kellner erneut.

„Ich bin nicht zum Essen hier“, sagte Lincoln, und Kevin zog sich erneut zurück.

Die letzte Woche war heftig gewesen. Zuerst der Anruf des Mannes, der nach dem, was man ihm stets gesagt hatte, sein Vater war. Der nun aber behauptete, er hätte von der Existenz seines unehelichen Sohnes nichts gewusst, bis eine Privatdetektivin ihm davon berichtete. Zuerst war Lincoln schockiert gewesen, dann folgte ein Wechselbad der Gefühle, bis schließlich Neugier die Oberhand gewann.

Neugier auf den Vater, von dem er bisher nur den Namen gekannt hatte.

Und er wollte die Wahrheit herausfinden. Denn seine Mutter hatte in all den vierundvierzig Jahren seines Lebens immer behauptet, sein Vater wisse von ihm.

Dann war da noch die Neugier auf seine fünf Halbbrüder. Immerhin war er Zeit seines Lebens Einzelkind gewesen.

Ganz abgesehen von all den anderen Dingen, die neu und aufregend waren.

Nachdem er den Anruf erhalten hatte, war Lincoln am nächsten Tag im Privatjet nach New York geflogen, um den weltberühmten Phillip Cress kennenzulernen und zwei DNA-Tests zu machen. Einen inoffiziellen und einen offiziellen, gerichtlich beurkundeten. Am nächsten Tag hatte er Nicolette Lavoie-Cress, Phillips Frau, und seine fünf Halbbrüder getroffen.

Fünf.

Phillip junior, Sean, Gabriel, Cole und Lucas.

Alle waren jünger als er.

Das Zusammentreffen war nicht reibungslos verlaufen.

Lincoln hätte nicht sagen können, wer wütender auf ihn gewesen war. Seine Mutter tobte, als sie erfuhr, dass er seinen Vater aufsuchen wollte. Und Phillip junior grollte, weil Lincoln nun der älteste Sohn war.

Bobbies Smartphone summte. Sie nahm es, biss sich kurz auf die Lippe, runzelte die Stirn, und begann, eine Nachricht zu tippen. Während sie auf die Antwort wartete, strich sie mit gepflegten Fingerspitzen über die zarte Haut ihres tiefen Dekolletés. Sie trug ein cremefarbenes Satintop mit V-Ausschnitt, darüber eine olivgrüne Motorradjacke. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie erneut eine Nachricht schrieb.

Lincoln musste an den Abend denken, als er Bobbie zum ersten Mal begegnet war. Damals hatte sie auch gelächelt und ihm zugewinkt. Ihr Haar war geglättet und zu einem Knoten aufgesteckt, und sie hatte kein Make-up getragen. Wahrscheinlich, um eher dem Typ einer Autorin auf Recherche zu entsprechen.

Doch ihn hatte sie nicht täuschen können.

Eine Frau wie Bobbie Barnett würde sich nie in eine graue Maus verwandeln können.

„Sie sind unhöflich“, sagte er.

Bobbie schaute von ihrem Smartphone auf. „Nein, ich arbeite“, gab sie zurück, legte das Telefon weg, schob ihre Kamerabrille hoch und spähte über Lincolns Schulter hinweg.

Unwillkürlich drehte er den Kopf und schaute in dieselbe Richtung. „Beobachten Sie etwa dieses Pärchen?“, fragte er vorwurfsvoll.

„Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.“

„Gleichfalls“, zischte er ihr zu.

Sie drehte ihr Smartphone so, dass er das Display sehen konnte, auf dem eine Überweisung über fünfzehntausend Dollar angezeigt wurde. „Mein Geschäft läuft gut.“ Sie winkte dem Kellner.

„Für Geld machen Sie wohl wirklich alles“, bemerkte Lincoln sarkastisch.

Zornig funkelte sie ihn an. „Ich helfe meinen Kunden, ihre Probleme zu lösen“, erwiderte sie kalt. „Menschen, die hintergangen und betrogen werden. Unternehmer, die durch üble Machenschaften drohen, pleite zu gehen. Menschen, die eine geliebte Person durch ein Verbrechen verloren haben. Menschen, die Schutz brauchen. Und ich helfe, damit Familien wieder zusammenfinden.“

Kevin kam an den Tisch.

„Die Rechnung bitte“, sagte Bobbie und strich eine Haarsträhne hinters Ohr, sodass die große goldene Creole, die sie trug, sichtbar wurde.

„Sofort, Ms. Barnett“, antwortete Kevin und ging davon.

Bobbie und Lincoln maßen einander schweigend wie zwei Kontrahenten im Ring.

Dann stand Bobbie auf und zog einen Banknotenclip aus der Tasche ihrer Cargo-Hose. Als Kevin wieder erschien, legte sie ein paar Geldscheine in die kleine Mappe, die er ihr hingelegt hatte, und gab sie ihm zurück.

Auch Lincoln stand auf. Er war groß, aber in ihren bronzefarbenen Stilettosandalen waren ihre Augen auf gleicher Höhe mit seinen Lippen. Als sie zu ihm hochschaute, fielen ihre Locken zurück. Die großen goldenen Creolen schimmerten.

Sie ist hinreißend, dachte er.

Ein wenig atemlos blickten sie einander an. Forschend.

In diesem Moment gab es einen Tumult am Tisch in der Nische.

Lincoln und Bobbie drehten sich gleichzeitig um und sahen eine elegant gekleidete Frau am Tisch des Paares, das Bobbie im Visier gehabt hatte. Das Gesicht des Mannes und sein Hemd waren nass.

„Lächerlich“, bemerkte Lincoln abfällig.

Bobbie hatte ihre Kamerabrille abgesetzt. Ihre braunen Augen leuchteten zufrieden.

„Das ist Ihr Werk, nicht wahr?“, fragte er. „Und? Sind Sie stolz auf sich?“

„Ja, ziemlich“, gab sie zu. „Dieser Mann hat seiner Frau eingeredet, sie sei psychisch krank, weil sie ihn verdächtigte, untreu zu sein. Dabei hatte sie die ganze Zeit recht. Heute Abend vergnügt er sich mit seiner Geliebten, obwohl es sein fünfzehnter Hochzeitstag gewesen wäre.“

„Sie scheinen das persönlich zu nehmen“, stellte Lincoln fest.

„Lassen Sie mal Ihre Chakren reinigen und sorgen Sie für eine neue Perspektive“, sagte sie nonchalant. „Und dann empfehle ich noch guten Sex.“

„Wie bitte?“

„Das sind die drei Dinge, die in Ihrem Leben fehlen.“ Sie musterte ihn von oben bis unten.

Lincoln unterdrückte das Bedürfnis, ihr mitzuteilen, wie großartig sein Sexleben war. „Halten Sie sich raus aus meinem Leben, B. Barnett“, befahl er und setzte sich wieder.

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Die Geste irritierte ihn.

„Vorsicht, Mr. Cress“, warnte sie. „Sie könnten meine Dienste eines Tages brauchen.“

Von ihrem Handgelenk stieg der Duft ihres Parfüms in seine Nase. Verführerisch.

„Niemals“, gab er zurück.

„Dann auf Nimmerwiedersehen.“

„Hoffentlich.“

Sie wandte sich um und ging davon.

Gegen seinen Willen schaute Lincoln ihr nach. Ihr sexy Hüftschwung in der tiefsitzenden Cargo-Hose war ein echter Hingucker. Er zwang sich, wegzuschauen.

Diese Frau war unmöglich. Sex-Appeal hin oder her.

„Verzeihung, Mr. Cress?“

Neben dem Tisch stand der Kellner. „Ms. Barnett hat hundertfünfzig Dollar für Ihr Dinner und Ihre Drinks bezahlt.“ Kevin reichte Lincoln einen gefalteten Zettel sowie die Speisekarte.

Er las die Notiz und hörte dabei ihre samtweiche Stimme. „,Vielleicht bekommen Sie nach einem guten Dinner und ein paar Drinks bessere Laune. Finden Sie inneren Frieden. B.’“ Genervt legte er den Zettel weg und schaute hinüber zu der Nische, wo die betrogene Ehefrau gerade reinen Tisch machte. Die Stimmen der Beteiligten waren gedämpft aggressiv.

Lincolns Ding waren Dreiecksbeziehungen noch nie gewesen. Wenn er sich auf jemanden einließ, dann ausschließlich, egal, wie lange die Zweisamkeit währte. Allerdings legte er Wert darauf, sich nicht zu binden. Und deshalb war auch seine Beziehung zu Raven zerbrochen. Nach ein paar Monaten hatte sie angefangen, über eine gemeinsame Zukunft zu spekulieren. Als er sich nicht darauf einließ, hatte es schlimme Auseinandersetzungen gegeben.

„Mr. Cress?“, hakte Kevin nach.

Rasch überflog Lincoln die Speisekarte. Das Restaurant servierte hochkarätige amerikanische Küche. „Den Krabbentoast vorweg“, sagte er. „Danach das Brathähnchen mit Rucola-Salat, als Dessert nehme ich den Käsekuchen.“

„Was möchten Sie trinken?“

„Scotch. Pur.“ Lincoln zog das Smartphone aus der Tasche seines maßgeschneiderten Sakkos. Stirnrunzelnd überflog er die zwölf Nachrichten, die ihm seine Mutter, Poppy Bridges, in den letzten Stunden geschickt hatte. Poppy war stinksauer auf ihn, und nachdem er ihre Anrufe nicht mehr annahm, textete sie ihn zu. Verräter, Mistkerl, waren noch die harmloseren Beschuldigungen.

Lincoln verehrte seine Mutter, aber sie war verdammt anstrengend.

Poppy mochte gute Musik, war immer zu Scherzen aufgelegt und amüsierte sich gern. Als Barkeeperin tat sie das fast jeden Abend, und Lincoln hatte früh erwachsen werden müssen. Sie hatten in einem kleinen Apartment über dem Pub gewohnt. Morgens schlief seine Mutter noch, also stand der kleine Lincoln allein auf, frühstückte und ging zur Schule. Es gab in seinem Leben wenig Strukturen, kaum feste Regeln, dafür lamentierte Poppy oft darüber, was Phillip Cress ihr angetan hatte. Erst schwängerte er sie, dann ließ er sie sitzen und ging nach Paris.

Immer hatte Lincoln sich nach einem Vater gesehnt und gehofft, was Poppy erzählte, wäre nicht wahr. Als Erwachsener kamen dazu eine große Portion Skepsis und unterdrückter Zorn.

Sobald sein Drink serviert worden war, nahm Lincoln einen großen Schluck. Auf ihm lastete seine Vergangenheit, dazu kam jetzt Poppys völlig unrealistische Angst, dass er sie verlassen, England den Rücken kehren und bei seinem Vater leben würde.

Phillip Cress senior.

Das Bedürfnis, seinem Vater irgendwie nahe zu sein, und ein natürliches Talent fürs Kochen hatten dazu geführt, dass Lincoln ebenfalls Koch wurde. Nun besaß sein Restaurant einen Michelin-Stern. Darauf war Lincoln überaus stolz, vor allem, da er sich die begehrte Auszeichnung selbst erarbeitet und nicht wegen irgendeiner Verbindung zum kulinarischen Imperium seines Vaters bekommen hatte.

Phillip Cress senior und seine Frau Nicolette Lavoie-Cress hatten ihre Karrieren als international anerkannte Spitzenköche zu einem Unternehmen ausgebaut. Cress Incorporation umfasste Restaurants, Kochshows bei einem großen Fernsehsender, eine private Kochakademie und eine wohltätige Stiftung. Die fünf Söhne waren alle bei Cress Incorporation in leitender Funktion beschäftigt und würden eines Tages ihren Teil erben.

Und jetzt war Lincoln in ihr Leben geplatzt. Vierundvierzig Jahre alt, erfolgreicher Sternekoch in England und ihr Halbbruder. Kein Wunder, dass er sich hier als krasser Außenseiter fühlte.

Die DNA-Tests hatten bestätigt, dass er tatsächlich der uneheliche Sohn von Phillip war. Sofort nachdem dies feststand, hatte der Senior sein Testament geändert. Nun würde auch Lincoln erben.

Genau diese prompte Reaktion ließ Lincoln daran zweifeln, ob sein Vater tatsächlich so verantwortungslos gewesen wäre, seine schwangere Freundin sitzen zu lassen, wie Poppy immer behauptete.

Doch für den Moment schob er alle Grübeleien beiseite. Sein Dinner war köstlich, auch wenn er sich ein wenig mehr Knoblauch an den Bratkartoffeln gewünscht hätte. Das Hähnchen war vorzüglich, und er aß mit gesundem Appetit.

„Wie schade, dass ein so attraktiver Mann allein essen muss.“

Abrupt schaute Lincoln auf. An seinem Tisch war eine hochgewachsene, hübsche Rothaarige aufgetaucht. Sie trug ein figurbetonendes weißes Kleid und lächelte verführerisch.

„Und ich finde es schade, dass Sie das ändern wollen“, gab er zurück und aß ungerührt weiter.

„Oh, wie unhöflich“, sagte die Frau verletzt.

„Und von Ihnen war es nicht unhöflich, mein Dinner zu stören?“

Beleidigt zog die Rothaarige ab und kehrte zu ihrem Tisch zurück, wo drei Freundinnen die Szene beobachtet hatten. Alle vier steckten die Köpfe zusammen und warfen ihm erboste Blicke zu.

Lincoln war es egal. Er war nach Amerika gekommen, um Verbindung zu seinem Vater aufzunehmen. An einer Affäre hatte er gerade überhaupt kein Interesse.

Als er fertig gegessen hatte, winkte er dem Kellner und bat um die Rechnung. Um die hundertfünfzig Dollar, die Bobbie hinterlassen hatte, nicht unkommentiert stehen zu lassen, gab er hundert Dollar Trinkgeld. „Ach, und Kevin, bitte bringen Sie den Damen da drüben eine Flasche Champagner mit meiner Entschuldigung“, fügte er hinzu und stand auf.

Er war immer direkt und mochte keine Umwege. Manche nannten das arrogant. Aber er hatte einfach keine Zeit für Spielchen.

Er nahm auf dem Rücksitz der verdunkelten Limousine Platz, die Cress ihm zur Verfügung gestellt hatte, und schaute aus dem Wagenfenster auf die Lichter Manhattans. Die Stadt war laut, schnell und bunt. Ein großer Kontrast zu seiner Heimat St. Ives. Dort gab es lange Sandstrände, alte Steinhäuser und viele Blumen. Alles ging gemächlich seinen Gang. Man kannte seine Nachbarn.

Erst ein einziges Mal hatte Lincoln St. Ives für längere Zeit verlassen, damals, als er seine Ausbildung in der Schweiz gemacht hatte. Sobald er fertig war, kam er zurück und arbeitete sich hoch bis zum Chefkoch. Nach mehr als zehn Jahren kaufte er dann den Pub, in dem seine Mutter so lange hinter der Bar gestanden hatte, und ihn in ein erstklassiges Restaurant verwandelt, SHORES.

Nun war er zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten. Und dann gleich New York. Der Trubel war überwältigend.

Der Chauffeur hielt vor dem Stadtpalais der Familie Cress. Es lag im historischen Viertel Lenox Hill in der Upper East Side von Manhattan. Das fünfstöckige viktorianische Haus war nicht nur von außen eindrucksvoll. Es beherbergte Dienstbotenzimmer, einen Weinkeller, eine Profiküche, einen Fahrstuhl und einen Medienraum. Dazu mehrere Suiten mit sechs Schlafzimmern, und der gesamte dritte Stock war dem Eigentümer vorbehalten.

Autor

Niobia Bryant
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