Liebesbriefe nach London

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

"Du bist mein Vater!" Schockiert hört Liam die Worte der 15-jährigen Casey. Doch ein Blick auf Caseys wunderschöne Mutter Missy verrät ihm, dass das Mädchen nicht lügt: Ihre Affäre damals hatte Folgen! Hat Missy seine Liebesbriefe nach London deshalb nie beantwortet?


  • Erscheinungstag 18.09.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779757
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ihr Lügner! Ihr habt mir versprochen, mich zu Liam Murphy zu bringen und nicht, mir die Rückseite irgendeines dämlichen Stalls zu zeigen!“

Als die heiße Augustmorgenbrise die mädchenhafte Stimme zu Liam herübertrug, versetzte ihm der britische Akzent einen Stich. Die Erwähnung seines Namens lenkte ihn von seinem geschäftlichen Telefonat ab.

Eigentlich hätte er sich längst an das britische Englisch gewöhnt haben müssen.

Das seit zwanzig Jahren bestehende Familienunternehmen Murphy Mountain Log Homes in Destiny, Wyoming, hatte nämlich kürzlich einen wichtigen Auftrag im Vereinigten Königreich an Land gezogen, den Bau eines gigantischen Blockhauses für einen berühmten schottischen Schauspieler. Als Geschäftsführer verbrachte Liam viel Zeit am Telefon und bei Meetings mit Menschen, die das Englisch der Queen sprachen.

Was nichts daran änderte, dass ihm bei dem Klang einer sanften weiblichen englischen Stimme jedes Mal nostalgische Erinnerungen kamen.

An eine Zeit, als er noch das Gefühl gehabt hatte, dass ihm die ganze Welt offenstand.

Aber das war leider eine Ewigkeit her.

„Spinnt ihr jetzt total?“, riss ihn die Stimme des Mädchens aus seinen Erinnerungen. „Nie im Leben!“

Das Mädchen hörte sich aufgebracht an, doch in ihrer Stimme schwang auch Angst mit. Liam wusste nicht genau, was da ablief, konnte es sich aber gut vorstellen.

Er beendete das Gespräch, steckte sein Handy ein und ging hinter den Stall.

Das erste Rodeo in Destiny war gerade in vollem Gang, überall auf dem Gelände standen Wohnmobile und Pferdeanhänger herum. Viele Menschen hatten hart daran gearbeitet, alles zu organisieren. Liams Firma war der Hauptsponsor, und obwohl das Event nur einen Tag dauerte, hatte das Preisgeld für den Sieger zahlreiche Teilnehmer und Fans angezogen.

Das Letzte, was Destiny jetzt gebrauchen konnte, war Ärger.

Liam sah das Trio, als er um die Ecke bog. Zwei Cowboys in Jeans, karierten Hemden und Stetsons hatten ein junges Mädchen in die Mitte genommen. Das Alter der jungen Männer war schwer einzuschätzen, doch sie war eindeutig jünger als achtzehn. Das machte das Sixpack Bier, das einer der Cowboys dabeihatte, umso bedenklicher. Und es war noch nicht mal Mittag.

„Komm schon, lass uns in unserem Wohnmobil ein Bier zischen.“ Einer der Cowboys legte dem Mädchen einen Arm um die Taille. „Danach suchen wir diesen Murphy für dich.“

„Nicht nötig“, sagte Liam betont freundlich und schlenderte auf die Gruppe zu. „Ich bin schon da.“

Die jungen Leute drehten sich ruckartig zu ihm um. Auf den Gesichtern der beiden Cowboys spiegelte sich Überraschung wider, auf dem des Mädchens Erleichterung.

Die dunkelblauen Augen kamen Liam sofort bekannt vor, genauso wie vorhin die Stimme. „Kann ich euch irgendwie helfen?“, fragte Liam. „Habt ihr Fragen zum Rodeo?“

Der eine Cowboy ließ das junge Mädchen los, die verwirrt zwischen dem Rodeoprogramm in seiner Hand und Liam hin- und hersah. Sie hatte es so gefaltet, dass Liams Foto ganz oben lag.

Liam und seine fünf Brüder waren alle mit Pferden aufgewachsen und hatten schon als Kinder bei Rodeos mitgeritten, doch nur Liam war mit achtzehn Jahren Profireiter geworden. In seinen ersten beiden Jahren hatte er zu den fünf besten des Landes gehört – bis eine Schulterverletzung in der dritten Saison seine Karriere beendet hatte.

Das war inzwischen dreizehn Jahre her.

„Hallo, Mr. Murphy. Wir haben gerade nach Ihnen gesucht“, erklärte er jüngere der beiden Cowboys.

Aha, jetzt war er also auf einmal Mr. Murphy. „Ist das dein Bier?“ Liam zeigte auf das Sixpack. „Du bist doch bestimmt noch keine einundzwanzig.“

„Ich … also …“

„Das ist meins“, schaltete der ältere Cowboy sich ein. „Er trägt es für mich.“ Er lockerte kurz seine linke Hand, bevor er sich breitbeinig vor Liam aufbaute. „Wir wollten gerade zurück zu unserem Wohnmobil.“

Liam erwiderte seinen Blick gelassen. Er war vierunddreißig und hatte keine Lust, sich mit einem Jungen zu prügeln, der mehr als zehn Jahre jünger war als er. „Dann würde ich vorschlagen, dass du es ihm wieder abnimmst. Um Missverständnissen vorzubeugen.“

Der Cowboy versuchte, Liam niederzustarren, gab es jedoch irgendwann auf. Demonstrativ griff er nach dem Alkohol und schlug dem Jüngeren auf eine Schulter. „Komm, Bro, lass uns hier verschwinden.“

Liam sah den beiden jungen Männern hinterher und nahm sich vor, den Sheriff über den Vorfall zu informieren, bevor er die Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen mit den schulterlangen blonden Haaren mit blauen und pinkfarbenen Strähnen richtete. „Alles okay mit dir?“, erkundigte er sich. „Haben die beiden dich belästigt?“

Das Mädchen musterte Liam vom Stetson bis hin zu seinen Cowboystiefeln, bevor sie den Blick wieder auf sein Gesicht richtete. „Sind das wirklich Sie?“

Das Foto in ihrem Programm stammte noch aus Liams erster Saison. „Ja, aber es ist schon alt.“ Sein Blick fiel auf eine kleine Reisetasche im Gras. Er hob sie hoch. „Ist das deine?“

„Ja. Danke.“

Liam fragte sich, warum das Mädchen wohl nach ihm suchte. Abgesehen von dem schrill gefärbten Haar, dem dunklen Augen-Make-up und dem Nasenpiercing war sie sehr hübsch. Sie trug hautenge Jeans und dazu ein schwarzes T-Shirt mit einem pinkfarbenen Totenkopf. Die braunen Lederstiefel mit türkisfarbener Stickerei sahen nagelneu aus. Kein Wunder, dass sie humpelte, als sie auf ihn zukam. „Hast du die erst heute gekauft?“

Sie nickte und senkte den Blick zu seinen Füßen. „Sieht man sofort, oder? Meine Füße tun schrecklich weh.“

Ihr Akzent versetzte ihm wieder einen schmerzhaften Stich. „Der Verkäufer hätte dir Socken geben sollen.“

„Wollte er auch.“ Sie zuckte die Achseln. „Aber ich hatte schon welche an. Sehen Sie?“

Auf einem Fuß balancierend versuchte sie den Stiefel am anderen Fuß abzustreifen, verzog jedoch vor Schmerz das Gesicht.

„Ich glaube, wir sollten dich erst mal zum Erste-Hilfe-Zelt bringen“, sagte Liam. „Schaffst du es bis dahin?“

„Bleibt mir denn etwas anderes übrig?“ Gereizt riss sie ihm die Reisetasche aus der Hand und drehte sich um. „Das war das letzte Mal, das ich auf einen amerikanischen Cowboy gehört habe! Alles Verrückte!“

„Nicht alle.“ Liam schlenderte neben ihr über den Rasen, belustigt über ihren plötzlichen Stimmungswechsel. Sie erinnerte ihn an seine Nichte Abby, die vor ein paar Wochen sechzehn geworden war. Sein älterer Bruder hatte alle Hände voll mit ihr zu tun, ganz zu schweigen von den Zwillingen Luke und Logan, die ein paar Jahre jünger waren. „Du solltest gut aufpassen, mit wem du dich einlässt.“

„Ach, echt? Himmel, Sie klingen genau wie meine … autsch!“ Sie stolperte über einen Stein, fing sich jedoch wieder. „Verdammt, tat das weh!“

„Darf ich dir einen weiteren Vorschlag machen?“

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und fuhr sich mit einem Handrücken über die Augen, bevor sie ihn aufsässig anfunkelte. „Klar, warum nicht?“

Als Liam die Tränen in ihren Augen sah, zog sein Herz sich schmerzlich zusammen. „Wie wär’s, wenn ich dich hinbringe? Je eher sich jemand deinen Fuß ansieht, desto besser geht es dir wieder.“

„Hinbringen?“ Sie zog die Augenbrauen auf eine Art und Weise zusammen, die Liam seltsam vertraut war. „Sie meinen, Sie wollen mich tragen?“, fragte sie, bevor er darüber nachdenken konnte, an wen sie ihn erinnerte.

„Genau. Natürlich nur, wenn dir das recht ist.“

Sie presste ihre Reisetasche an die Brust und musterte ihn skeptisch.

Verdammt, vielleicht war das hier doch keine gute Idee. Immer mehr Menschen bevölkerten das Gelände. Liam waren schon ein paar neugierige Blicke aufgefallen. Klatsch war in der Kleinstadt Destiny ein beliebter Zeitvertreib, und die Murphys schienen immer jede Menge Gesprächsstoff zu liefern, ob sie wollten oder nicht.

Die ganze Stadt redete noch über Liams Bruder Devlin, der im Juni mit seiner neuen Freundin nach London gezogen war, obwohl er sie erst wenige Monate kannte.

Und vor drei Wochen hatten Liam und Nolan an einer Junggesellenauktion teilgenommen, die Geld für das Sommerlager zusammenkriegen sollte. Dass die hübsche Staatsanwältin von Laramie bei Liam den Zuschlag bekommen hatte, war der Lokalzeitung immerhin eine Schlagzeile wert gewesen. Gut, dass die Presse keinen Wind von ihrem Date letzte Woche bekommen hatte, das zwar nett, aber nicht besonders aufregend gewesen war.

„Okay.“ Das Mädchen zuckte mit einer zur Schau gestellten Gleichgültigkeit die Achseln, die Liam an seine Nichte erinnerte. Ihre Reaktion amüsierte ihn so, dass er die neugierigen Blicke der Passanten vergaß und sie hochhob.

Sie hielt ihre Tasche mit einer Hand fest und schlang Liam den anderen Arm um den Hals. „Wiege ich viel?“, fragte sie, als er sie zum Zelt trug.

Liam unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Ganz egal, wie alt Frauen wurden, sie hörten nie damit auf, Fangfragen zu stellen. „Natürlich nicht. Ich wette, du wiegst keine hundert Pfund.“

„Achtundvierzig Kilo.“

„Siehst du? Ich hatte recht.“

Nach wenigen Minuten kam er beim Zelt an und setzte das Mädchen auf einen leeren Stuhl. Während einer der Helfer die Blasen an ihren Füßen versorgte, nutzte Liam die Zeit, sie eingehender zu betrachten. Er war inzwischen davon überzeugt, dass er sie schon mal irgendwo gesehen hatte, aber wo? War sie vielleicht eine Freundin seiner Nichte oder die Tochter einer seiner Angestellten? Bei dem Akzent war das allerdings eher unwahrscheinlich.

„Warum sehen Sie mich so an?“

Liam blinzelte überrascht. „Sorry. Du hast mir noch gar nicht erzählt, warum du mich suchst.“

Das Mädchen zog sich wieder die Stiefel an, diesmal über ein dickes Paar Socken, und blickte sich im Zelt um. Sie waren ungestört. „Komm ich Ihnen eigentlich bekannt vor?“

„Du …“ Er verstummte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie auf ein Ja von ihm hoffte, aber er hatte immer noch keine Ahnung, wer sie war. „Nicht wirklich.“

Dramatisch aufseufzend wühlte sie in ihrer Reisetasche herum und förderte ein Handy zutage. „Der dämliche Akku ist fast leer, aber vielleicht …“ Ihre Finger flogen über eine lange Reihe Fotos, bevor sie ihm das Handy reichte.

„Wie wär’s mit ihr?“, fragte sie. „Kommt sie Ihnen bekannt vor?“

Der Anblick des Fotos verschlug Liam den Atem. Er verkrampfte sich von Kopf bis Fuß.

Zügel anziehen, Füße fest ran und immer hübsch oben bleiben.

Das war seit Teenagerzeiten Liams persönliches Rodeo-Mantra. Er schärfte es sich jedes Mal ein, wenn er wieder auf ein wildes Pferd stieg.

Die meisten Leute glaubten, dass es beim Rodeo nur darum ging, sich nicht abwerfen zu lassen, aber da war viel mehr zu berücksichtigen. Rodeo war ein perfekt choreografierter Tanz, bei dem der Reiter sich synchron zu jeder Drehung und jedem Sprung des Pferdes bewegte, ohne das Tier oder sich selbst berühren zu dürfen.

Beim Anblick von Missy Ellington – seiner ganz persönlichen Herzensbrecherin – schoss ihm dieses Mantra wieder durch den Kopf.

Sie war während seines letzten Highschooljahres Austauschschülerin aus London gewesen. Er hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt, genau wie sie sich in ihn. Sie waren unzertrennlich gewesen, bis ihre Beziehung kurz nach der Abschlussprüfung mit einem hässlichen Streit über ihre Zukunftspläne geendet hatte. Pläne, über die sie nie zuvor gesprochen hatten, Pläne, die sich als sehr unterschiedlich herausgestellt hatten.

Liam hatte ein paar sehr dumme Sachen zu ihr gesagt, und als Reaktion darauf war Missy nach London zurückgeflogen.

Er hatte sie nie wiedergesehen oder mit ihr gesprochen. Manchmal, wenn er einen alten sentimentalen Countrysong hörte, musste er wieder an sie denken. Genauso, wenn ihm der Hauch eines Pfirsichparfums in die Nase stieg … oder er eine weibliche Stimme mit einem britischen Akzent hörte. Liam hatte es bisher niemandem gegenüber zugegeben, doch Missy war die Liebe seines Lebens gewesen. Zumindest damals.

Auf dem Foto sah sie fast genauso aus wie bei ihrer letzten Begegnung. Langes blondes Haar, helle Porzellanhaut, sanfte blaue Augen. Sie lächelte, wenn auch nicht in die Kamera. Sie hatte den Blick auf ein kleines Baby in ihren Armen gerichtet.

„Das Foto wurde im April vor fünfzehn Jahren gemacht.“ Das Mädchen drehte das Handy zu sich herum. In diesem Augenblick lächelte es genauso wie die Frau auf dem Foto. Wie Missy. „Ich war damals erst zwei Wochen alt.“

Vor fünfzehn Jahren …

Die Monate und Jahre flossen in Liams Kopf zu einem wirren Chaos zusammen. Er hatte plötzlich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren … beziehungsweise vom Pferd geworfen zu werden.

„Missy …“ Liams Stimme brach. Er räusperte sich heiser. „Missy Ellington ist deine Mutter?“

„Klar.“ Das Mädchen hob den Blick zu ihm und sah ihn ernst an. „Und du bist mein Vater.“

Verdammt! Er sah immer noch gut aus!

Missy Dobbs hatte eigentlich damit gerechnet, dass Liam Murphy sich nach sechzehn Jahren verändert hatte, aber nein, er war sogar noch attraktiver als der Junge, der ihr vor all den Jahren das Herz gebrochen hatte.

Sie holte tief Luft. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und würde jetzt dabeibleiben, ganz egal, wie viel Angst sie auch hatte. Sie stand gerade mitten im Flughafengetümmel und wartete auf den Flug zu dem Ort, mit dem sie vor sechzehn Jahren eigentlich für immer abgeschlossen hatte.

Destiny, Wyoming.

Ihre Hände krampften sich um ihr Tablet, als sie wieder Liams Foto auf der Website der Firma seiner Familie betrachtete und versuchte, es mit dem wilden und verrückten Cowboy in Einklang zu bringen, den sie als Teenager gekannt hatte. Auf dem Foto wirkte er ernst und seriös, doch seine Brille mit dem dunklen Rahmen konnte das Funkeln in seinen Augen nicht verbergen. Er trug das Haar kürzer als früher, nur ein paar Strähnen fielen ihm etwas verwegen in die Stirn.

Ihr früherer Freund hatte Karriere gemacht. Er war inzwischen Geschäftsführer seines Familienunternehmens, doch das überraschte sie nicht. In Liam hatte schon immer mehr gesteckt als ein Rodeo-Star, auch wenn es mit achtzehn sein sehnlichster Traum gewesen war, durch die USA zu reisen und Rodeos zu gewinnen.

Ein Traum, der zu ihrer Trennung geführt hatte.

Missy war danach zurück nach Hause geflogen und hatte einen unseligen One-Night-Stand mit ihrem Exfreund gehabt. Das Ganze hatte zu einer Ehe geführt, weil man ihr erzählt hatte, dass er der Vater ihres Kindes war.

Erst jetzt, nach vielen Jahren, wusste sie die Wahrheit.

Liam Murphy war der Vater ihrer Tochter.

Was für ein Durcheinander!

Bisher hatte Missy noch nicht mit Casey darüber gesprochen, weil sie beruflich nach Los Angeles musste und keine Zeit mehr für ein so wichtiges Gespräch gehabt hatte. Stattdessen hatte sie sich heftig mit ihrer Mutter gestritten, die anscheinend die ganze Zeit über die Wahrheit gewusst hatte.

Das Ganze war vor zwei Wochen passiert.

Inzwischen, am Freitag, hatte sie ihren Job am Filmset erledigt. Casey würde am Montag in die USA nachkommen, damit sie beide einen längeren Urlaub machen konnten. Was hieß, dass Missy nur ein Wochenende blieb, um nach Destiny zu fliegen, an Liams Tür zu klopfen und ihm mitzuteilen, dass er eine Tochter hatte.

Als sie ihr Handy in ihrer Handtasche klingeln hörte, holte sie es rasch raus, kannte jedoch die Nummer auf dem Display nicht. Hoffentlich war das nicht jemand vom Set, der ihre Urlaubspläne durchkreuzen wollte. „Hallo?“

„Mom, ich bin’s, Casey.“

Wie ertappt knallte Missy den Deckel ihres Tablets mit Liams Foto zu. „Ach hallo, Liebes. Warum rufst du nicht von deinem Handy aus an?“

„Der Akku ist leer. Ich lade es gerade auf.“

Aus dem Flughafenlautsprecher dröhnte eine Durchsage. Missy senkte den Kopf, um das Geräusch so gut wie möglich auszublenden. Sie überschlug die Zeitdifferenz zwischen Kalifornien und London. „Bist du zu Hause? Du musst allmählich anfangen zu packen.“

„Also … nicht wirklich.“

Diese Worte, gepaart mit Caseys nervösem Tonfall, ließen bei Missy sämtliche Alarmglocken schrillen. „Packen macht an einem Freitagabend vielleicht keinen Spaß, aber du kannst nicht bis zur letzten Sekunde warten …“

Casey schnitt ihr mitten im Satz das Wort ab. „Mom, ich brauche mir keine Gedanken mehr über das Packen zu machen, weil ich schon hier bin.“

Hier? In Los Angeles?

Missy sah sich hektisch nach einem Übersichtsplan um. „Was meinst du damit, hier? Bist du am Flughafen in Los Angeles?“

„Nein, in Wyoming.“

Was?!

Missy hatte das unangenehme Gefühl, dass ihr jetzt endgültig die Kontrolle über ihr Leben entglitt. Sie ließ sich auf den unbequemen Sitzplatz neben sich fallen.

„Mom? Hast du mich verstanden?“, fragte Casey. „Mom?“

„Wie hast du … warum bist du …?“, stammelte Missy. „Warum zum Teufel bist du nach Wyoming geflogen? Und dann auch noch allein?“

„Ich sollte doch auch allein nach L. A. fliegen, oder? Außerdem reise ich ja nicht zum ersten Mal allein!“

Stimmt, seit ein paar Jahren begleitete Casey ihre Mutter während der Schulferien zu Filmsets, aber das waren alles Europaflüge ohne Umstieg. „Ja, aber warum …“ Missys Herz setzte einen Schlag aus, als ihr die Wahrheit dämmerte. „Warum bist du in …?“

„Was glaubst du denn? Ich habe gehört, wie du dich vor deinem Flug nach Kalifornien mit Grandma gestritten hast. Wegen des Testergebnisses, das du in Grandpas Schreibtisch gefunden hast. Ich kann einfach nicht fassen, dass sie dir das angetan haben! Uns beiden!“ Casey war so aufgebracht, dass ihre Worte sich förmlich überschlugen. „Und du hast mir bisher kein Wort davon erzählt!“

Oje, so hatte Missy sich dieses Gespräch nicht vorgestellt. „Liebes, ich …“

„Ich mache dir ja keinen Vorwurf. Das ist auch nicht gerade ein geeignetes Thema für ein Gespräch zwischen Tür und Angel“, fuhr Casey fort. „Aber bei eurem Streit hast du den Namen eines Mannes und einer Stadt in Wyoming erwähnt, und nach ein bisschen Onlinerecherche habe ich beschlossen, meine Flugpläne zu ändern. Ich bin heute Morgen in Cheyenne gelandet.“

Missy versuchte, mit den Worten ihrer Tochter Schritt zu halten, doch die letzten gingen im lauten Rauschen in ihren Ohren und in der Aufforderung unter, ihr Flugzeug zu boarden. Sie suchte ihr Gepäck zusammen und stellte sich zu den anderen Passagieren in die Schlange. Die Bordkarte in ihrer Hand zitterte.

Casey war also in Wyoming. Sie wusste über Liam Bescheid.

Tu was! Tu endlich was!

Missy stand noch immer unter Schock, als sie zu ihrem Sitz in der ersten Klasse ging. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen oder tun sollte. „Okay, ich will, dass du am Flughafen auf mich wartest. Ich lande um …“

„Mom, ich bin nicht mehr in Cheyenne, sondern schon in Destiny! Und weißt du was?“, rief Casey. „Ich habe ihn gefunden.“

Destiny! Missys ungestüme Tochter war also von London zu einer kleinen ländlichen Gemeinde im Westen der USA geflogen und hatte ihren Vater gefunden.

Missy ließ sich betäubt auf ihren Sitz fallen und starrte hilflos vor sich hin.

„Mom? Bist du noch dran? Mom?

Missy musste irgendwie aus ihrer Tochter herauskriegen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Vor allem wollte sie wissen, wie Liam reagiert hatte, als Casey die Bombe hatte platzen lassen, doch leider würde sie ihr Handy gleich ausschalten müssen, und Casey hatte noch keine Ahnung, dass sie auf dem Weg nach Wyoming war.

Missy holte mehrmals tief Luft. Nach dem dritten Mal hatte sie ihre Stimme wieder halbwegs im Griff. „Liebes, wir müssen miteinander reden.“

„Das kann man wohl sagen.“

Missy keuchte erschrocken auf, als ihr die heisere sexy Stimme aus ihrer Jugendzeit ins Ohr drang. Ihr stockte der Atem, und ihr wurde von Kopf bis Fuß heiß, so verrückt das auch war. „Liam?“

Sie hörte ihn tief einatmen, bevor sich ein langes Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, in dem all die Jahre und Meilen, die sie trennten, mitzuschwingen schienen.

Missy hatte in England nie über ihn gesprochen, weder mit ihren Freundinnen noch mit ihrer Tochter, und schon gar nicht mit ihren Eltern. Manchmal kam es ihr so vor, als sei das eine Jahr ihres Lebens einer anderen Frau passiert.

„Casey sagt, du warst in den letzten Wochen in Los Angeles“, hörte sie Liam irgendwann kühl und geschäftsmäßig sagen. „Wenn du mir mitteilst, wo du bist, werde ich einen Flug nach Wyoming für dich arrangieren.“

„Ich sitze bereits im Flieger nach Cheyenne“, antwortete Missy gereizt. „Er landet um halb sechs.“

Liam schwieg wieder. Musste er die Nachricht erst mal verdauen?

„Ich werde dich abholen“, antwortete er schließlich.

Natürlich würde er das. Und da sie sich bisher noch keine Gedanken gemacht hatte, wie sie von Cheyenne nach Destiny kommen wollte, konnte sie schlecht protestieren. Außerdem, je eher sie Casey wiedersah, desto besser. „Kann ich bitte noch mal mit meiner Tochter sprechen?“

Kurz darauf drang Caseys Stimme an Missys Ohr. „Was, du bist schon unterwegs? In diesem Augenblick?“

Autor

Christyne Butler
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Willkommen in Destiny