Sinnliche Küsse eines Earls

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Schön wie ein Engel, aber teuflisch geschäftstüchtig: Die quirlige Modistin Sophy hat nur ein Ziel - einflussreiche Damen für ihre eleganten Entwürfe zu begeistern. Da können die Avancen des Earl of Longmore nur stören, auch wenn sie sich mitunter bei frivolen Gefühlen für den sorglosen Lebemann ertappt. Als dessen Schwester London nach einem Skandal fluchtartig verlässt, spitzt sich die Lage pikant zu. Denn Sophy weiß: Wenn sie ihre wichtigste Kundin wiederhaben will, darf sie die delikate Angelegenheit nicht Longmore überlassen! Während der gemeinsamen Verfolgungsjagd fällt es ihr unerwartet schwer, der sinnlichen Versuchung zu widerstehen …


  • Erscheinungstag 10.10.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737771
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

DANKSAGUNG

Dass dieses Buch überhaupt erscheinen konnte, verdanke ich meiner verständnisvollen, inspirierenden Lektorin May Chen, meiner unermüdlichen Agentin Nancy Yost, meiner geistreichen Freundin und Blog-Partnerin Isabella Bradford alias Susan Holloway Scott, die eine Koryphäe in Fragen Mode ist, und meinen treuen, verrückten Schwestern Cynthia, Vivian und Kathy mit ihrem ausgeprägten Sinn für Humor. Vor allem aber verdanke ich es meinem intelligenten, unverzagten Ehemann Walter, der sich jeden Tag aufs Neue als mein großer Held erweist.

PROLOG

Achtet auf seine grimmige, provozierende Art, seine rabenschwarzen Locken und seine aristokratische, um nicht zu sagen arrogante Haltung die er niemals aufgibt, ganz gleich, ob er einer reizenden Dame zulächelt oder einen katzbuckelnden Gläubiger abfertigt.

The Court Magazine, Sketches from Real Life, 1835

London

Donnerstag, 21. Mai 1835, sehr früh am Morgen

Diese Dirnen wussten, wie man feiert.

Nachdem sich die gesellschaftliche Crème de la Crème am Mittwochabend bei Almack’s mit Tanz und Kartenspiel vergnügt hatte, begab sich der vergnügungssüchtige Teil anschließend zu Carlotta O’Neill, in deren Haus ganz andere Freuden auf die Ankömmlinge warteten. Neben einem Roulettetisch und weiteren Glücksspielen warteten in den Salons von Londons derzeitiger Kurtisanenkönigin einige halbseidene Damen mit sehr pikanten Lustbarkeiten auf.

Das ließ sich Harry Fairfax, Earl of Longmore, natürlich nicht entgehen.

Carlottas Haus war nicht gerade der Ort, an dem der Marquess of Warford seinen siebenundzwanzigjährigen Sohn und Erben gerne sah, doch der Earl of Longmore wusste seit langem, wie tödlich langweilig es war, den Wünschen seiner Eltern zu entsprechen.

Er war nicht wie seine Eltern, sondern kam eher nach seinem Großonkel, Lord Nicholas Fairfax. Sie hatten bei das gleiche pechschwarze Haar, die gleichen stechenden dunklen Augen, und sie waren so hochgewachsen und muskulös, dass sie wie verruchte Piraten wirkten. Zudem besaßen beide das Talent, Dinge zu tun, die sie besser nicht tun sollten.

Deshalb war Harry Fairfax bei Carlotta.

Sie lag halb auf ihm und verströmte wahre Wolken von Parfum. Leider redete sie nur mit ihm. „Nun kommen Sie schon, Sie sehen sie doch beinahe täglich“, sagte sie, „Nun verraten Sie uns doch schon, wie die frischgebackene Duchess of Clevedon so ist.“

„Brünett“, erwiderte er, wobei er das rotierende Rouletterad nicht aus den Augen ließ. „Hübsch. Sie behauptet, Engländerin zu sein, verhält sich aber wie eine Französin.“

„Das, mein Lieber, hätten wir auch dem Spectacle entnehmen können.“

Foxe’s Morning Spectacle war Londons wichtigstes Klatschmagazin. Longmores Vater, ein Mann mit strengen Prinzipien, bezeichnete es als widerwärtigen Schund, was ihn allerdings nicht davon abhielt, es zu lesen. Jeder in London las den Spectacle, ganz gleich ob Kupplerin, Zuhälter oder Mitglied der Königsfamilie. Jedes darin veröffentlichte, hübsch formulierte Detail über die Braut des Duke of Clevedon stammte aus der Feder der blonden Schwester der Braut, Miss Sophia Noirot, das wusste Harry Fairfax. Diese war tagsüber eine brave Damenschneiderin und nachts Tom Foxes versierteste Spionin.

Harry fragte sich, wo sie wohl heute Nacht sein mochte. Bei Almack’s hatte er sie nicht erspäht. Dass Schneiderinnen und Putzmacherinnen, und zudem noch französisch angehauchte, an Eintrittskarten für Almack’s gelangten, war in etwa so wahrscheinlich wie die Aussicht darauf, sich plötzlich unsichtbar machen zu können. Sophia Noirot, von ihrer Familie Sophy genannt, besaß die Fähigkeit, sich nach Belieben unsichtbar zu machen. Ihre aparte Figur und ihre Kunst, sich zu verstellen, verschafften ihr überall Zugang, und sei es, indem sie sich als Aushilfsbedienstete verkleidete. Auf diese Weise förderte sie viele prickelnde Details für Foxes Revolverblatt zutage.

Das Rouletterad hielt inne. Einer der Herren am Tisch fluchte, während das leichte Mädchen, das als Croupier fungierte, Harry einen Haufen Jetons zuschob.

Er klaubte sie zusammen und reichte sie Carlotta.

„Soll ich Ihren Gewinn für Sie aufbewahren?“, fragte sie.

Er lachte. „Ja, meine Teuerste, bewahren Sie ihn gut auf. Kaufen Sie sich davon eine nette Spielerei oder was immer Ihnen beliebt.“

Sie hob ihre sorgsam gezupften Brauen.

Vor Harry Fairfax’ innerem Auge blitzten Bilder von Sophia Noirot auf. Bis vor zwei Sekunden war er noch, ebenso wie Carlotta, felsenfest davon überzeugt gewesen, mit ihr sogleich in ihr Schlafzimmer zu verschwinden. Carlotta wurde eigentlich von Lord Gorrell ausgehalten, doch der verfügte zwar über die finanziellen Mittel, nicht aber über die notwendige Manneskraft, um Carlotta vollauf zu befriedigen.

Da der Earl of Longmore von den Alimenten seines Vaters sowie seinen Spielgewinnen lebte, war er zwar nicht gerade finanziell interessant, er konnte Carlotta aber gewiss auf andere Weise befriedigen. Doch er erkannte, dass sie ihn wohl kaum länger als fünf Minuten faszinieren könnte. Selbst für seine leichtlebigen Verhältnisse rechtfertigte das kaum eine größere finanzielle Investition, geschweige denn die väterliche Standpauke, die eine solche unweigerlich mit sich führen dürfte.

Mit anderen Worten: Er war Carlotta bereits überdrüssig.

Bald nachdem er Carlotta seinen Gewinn überlassen hatte, verabschiedete er sich zusammen mit zwei seiner Kameraden und zwei von Carlottas Ehrendamen. Sie fanden eine Droschke und machten sich nach kurzer Diskussion auf den Weg zu einer verschrienen Spielhölle in St. James. Dort würde Harry wenigstens auf eine zünftige Schlägerei hoffen können.

Angeödet von der Konversation seiner Begleiter, richtete er den Blick aus dem Fenster. Zu dieser Jahreszeit ging die Sonne bereits früh auf, und obwohl die Scheibe der Kutsche verschmutzt war, sah Harry genug. Eine farblos gewandete Frau eilte mit einem schäbigen Korb die Straße entlang. So, wie sie aussah, war sie keine von Londons zahlreichen Straßendirnen, sondern eine gewöhnliche Frau. Sie befand sich zu einer Stunde auf dem Weg zur Arbeit, zu der ihre Brotgeber aus den Kreisen der beau monde gerade erst von ihren Vergnügungen nach Hause kamen.

Sie schritt rasch aus, aber nicht rasch genug. Eine Gestalt schoss aus einer Gasse hervor, entriss ihr den Korb und stieß sie zu Boden.

Sofort war der Earl of Longmore auf den Beinen. Er schob das Fenster auf, öffnete von außen den Kutschenschlag und sprang aus der fahrenden Droschke heraus, ohne etwas auf das Gekreisch und die Rufe seiner Gefährten zu geben. Er stolperte, fand flink das Gleichgewicht wieder und setzte dem Dieb nach. Seine Beute war schnell und schlug geschickt Haken. Zu einer belebteren Tageszeit hätte er seinen Verfolger bald abgeschüttelt, doch es war noch früh, und so kam niemand Harry in die Quere. Ohne nachzudenken, stürmte er dem Räuber wütend hinterher. Als der Kerl in einen engen Hof schlüpfte, dachte Harry keine Sekunde an einen Hinterhalt oder an eine andere Gefahr. Es hätte ihn ohnehin nicht aufhalten können.

Der Bursche flitzte auf eine Tür zu, die sich einen Spaltbreit öffnete. Zweifellos wurde er erwartet. Doch Harry war schneller. Er packte den Halunken und zerrte ihn rückwärts, woraufhin die Tür wieder zugeknallt wurde.

Harry rammte den Dieb gegen die nächstbeste Wand. Der Mann sackte in sich zusammen, glitt zu Boden und ließ den Korb fallen. Obwohl er kaum merklich verletzt sein durfte, blieb er reglos und mit geschlossenen Augen sitzen.

„An deiner Stelle würde ich sitzen bleiben“, zischte Harry. „Du dreckiger Feigling. Eine Frau zu überfallen.“ Er hob den Korb auf und ließ den Blick über den Hof schweifen. Wenn er Glück hatte, würden gleich ein paar bedrohliche Kumpanen ihrem Freund zu Hilfe eilen.

Sie kamen leider nicht. Alles blieb ruhig, obwohl Harry spürte, dass er beobachtet wurde. Gemächlich schlenderte er zurück zur Piccadilly. Die junge Frau lehnte an einem Schaufenster und weinte. „Nehmen Sie sich den Vorfall nicht zu Herzen“, tröstete er sie, „hier haben Sie Ihr kostbares Gut.“ Er fischte einige Münzen aus der Tasche und reichte sie ihr zusammen mit dem Korb. „Was, zur Hölle, ist nur in Sie gefahren, einfach blindlings draufloszulaufen, ohne sich vorzusehen?“

„Die Arbeit“, stammelte sie eingeschüchtert. „Ich muss zur Arbeit, Eure Lordschaft.“

Er fragte nicht, woher sie wusste, dass er ein Lord war.

Jeder kannte den Earl of Longmore.

„Diebe und trunkene Aristokraten machen die Straßen unsicher und sind auf Ärger aus, und Sie bewegen sich völlig unbewaffnet mittendrin“, tadelte er sie. „Was ist nur in die Frauen von heute gefahren?“

„Ich weiß nicht.“

Sie bebte wie ein Blatt im Wind. Beim Sturz hatte sie sich Schürfwunden zugezogen, und ihre Kleider waren staubig. Sie konnte froh sein, dass keiner der zahllosen weinseligen aristokratischen Flegel auf seinem Heimweg über sie gestolpert war.

„Kommen Sie mit“, forderte er sie auf.

Sie folgte ihm über die Straße zur Droschke. Er wusste nicht, ob sie dies tat, weil sie zu aufgewühlt oder schlicht eingeschüchtert war, selbst Seinesgleichen verschreckte er manchmal. Seine Gefährten hätten in ihrem Rausch einfach weiterfahren können, waren jedoch geblieben, um sich den Spaß nicht entgehen zu lassen.

„Raus, allesamt raus“, befahl Harry.

Unter Protest verließen seine Freunde schwankend die Droschke. Sie musterten die fade wirkende Frau. „Die ist nicht Ihr Typ, Lord Longmore“, befand Lord Hempton.

Lord Crawford schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, Ihr Niveau ist gesunken.“

Harry ignorierte ihn. „Wo wollen Sie hin?“, fragte er die Frau.

Sie starrte von ihm zu seinen Freunden und von diesen zu den beiden leichten Damen.

„Beachten Sie sie nicht“, sagte Harry. „Niemanden interessiert sich hier für Sie. Wir wollen nur zur nächsten Party. Also, wo soll Sie der Kutscher absetzen?“

Sie schluckte. „Bitte, Eure Lordschaft, ich war auf dem Weg zur Gesellschaft der Putzmacherinnen für die Bildung mittelloser Frauen.“

„Donnerwetter, der Name macht was her“, murmelte Crawford.

„Ich arbeite dort“, fuhr sie fort, „und ich werde zu spät kommen.“

Sie nannte dem Earl of Longmore die Adresse, die dieser sofort an den Kutscher mit der strikten Anweisung weitergab, das Mädchen so schnell wie möglich dort abzuliefern, sofern er sich keinen Ärger einhandeln wolle

Er half der jungen Frau in die Droschke, schloss den Schlag und schickte den Kutscher mit einem Wink fort.

Harry Fairfax dachte an die Putzmacherinnen.

Genauer gesagt dachte er nur an eine ganz bestimmte blonde.

Er ließ seine Begleiter stehen, damit sie eine andere Droschke auftreiben konnten, und schlenderte zur nahe gelegenen St James’s Street. Um zu Crockford’s zu gelangen, musste er am White’s Club vorbei. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Maison Noirot, dem Atelier und Ladengeschäft der Schwestern Noirot, die hier als französische Damenschneiderinnen und Putzmacherinnen wirkten.

Harry ging langsam an dem Geschäft vorbei, ehe er innehielt und zu den oberen Geschossen hinaufsah. Dort wohnten noch immer zwei der drei Schwestern.

Dann ging er weiter zu Crockford’s. Er amüsierte sich köstlich, während er im Spiel eine hohe Summe verlor, nur um sie gleich darauf wieder zu gewinnen.

Es langweilte ihn bald. Nach einer Stunde verließ er Crockford’s wieder zu einer für seine Kreise außerordentlich frühen Stunde. London erwachte allmählich zum Leben. Fußgänger gingen die St James’s Street entlang, die ersten Wagen rumpelten über die Gassen. Die Läden waren noch geschlossen.

Harry wusste, dass das Maison Noirot erst um zehn Uhr öffnete, wenngleich die Näherinnen bereits um neun Uhr mit der Arbeit begannen.

Er hatte sich im Laufe der vergangenen Wochen ein ungefähres Bild von Sophia Noirots Gewohnheiten verschafft.

Er wartete.

1. KAPITEL

In der vergangenen Woche befand sich die beau monde in heller Aufregung, nachdem Sir Colquhoun Grants Tochter mit Mr Brinsley Sheridan durchgebrannt ist. (…) Das junge Paar hatte sich am Freitagnachmittag gegen fünf Uhr die Kutsche eines Freundes geliehen (…) und war Hals über Kopf in Richtung Norden geflohen.

The Court Journal, Samstag, 23. Mai 1835

London,

Donnerstag, 21. Mai 1835

Mit der neusten Ausgabe des Foxe’s Morning Spectacles platzte Sophy Noirot in das Frühstückszimmer von Clevedon House, in dem der Duke und die Duchess of Clevedon gerade beim Frühstück saßen.

„Habt ihr es schon gelesen?“, rief sie, während sie die Zeitung zwischen ihrer Schwester und ihrem frischgebackenen Schwager auf den Tisch fallen ließ. „Der ton ist völlig aus dem Häuschen, ist das nicht köstlich? Man schiebt Sheridans Schwestern die Schuld in die Schuhe. Drei Schwestern, die niederträchtige Ränke schmieden, nur wir sind es nicht gewesen! Oh du meine Güte, ich habe mich halb totgelacht, als ich das gelesen habe.“

Teile der beau monde hatten die drei Inhaberinnen des Maison Noirot, das Sophy um jeden Preis zur feinsten Schneiderei von ganz London machen wollte, in den vergangenen Tagen mit den drei Hexen aus Macbeth verglichen. Man raunte sich zu, sie hätten den Duke of Clevedon verhext, anders wäre er niemals auf die Idee gekommen, diese Ladeninhaberin zu ehelichen.

Marcelline und Clevedon beugten sich über die kaum getrocknete Druckerschwärze.

Die Gerüchteküche hatte bereits gemunkelt, dass Sheridan und Grant gemeinsam ausgerissen waren. Der Spectacle war wie gewohnt das erste Blatt, das diese Vermutung bestätigte.

Marcelline blickte auf. „Hier steht, dass Miss Grants Vater am Kanzleigericht gegen Sheridan klagen will. Das ist in der Tat brisant.“

In diesem Augenblick trat ein Diener ein. „Lord Longmore, Euer Gnaden“, verkündete er.

Nicht jetzt, verdammt, dachte Sophy. Durch ihre Hochzeit mit dem Duke of Clevedon hatte auch ihre Schwester die beau monde jüngst in Aufruhr versetzt und sich eine der einflussreichsten Damen zur Todfeindin gemacht. Und das war ausgerechnet die Mutter des Earls of Longmore, Lady Warford. Seitdem liefen ihnen die Kundinnen scharenweise davon. Sophy grübelte verzweifelt darüber nach, wie sie diesen Schaden begrenzen sollte.

Und nun kam er.

Der Earl of Longmore betrat das Frühstückszimmer mit einer Zeitung unter dem Arm.

Sophys Puls beschleunigte sich, ohne dass sie es verhindern konnte.

Sie bewunderte sein tiefschwarzes Haar und seine blitzenden dunklen Augen. Seine Nase war edel geschnitten, und obwohl sie ob seiner vielen sinnlosen Prügeleien schon ein Dutzend Mal hätte gebrochen sein müssen, behielt sie ihre gerade, arrogante Form. Der Mund des Earls wirkte hart und zynisch.

Dieser Mann war die Ausgeburt maskuliner Schönheit.

Wenn er doch nur mehr Verstand besäße.

Nein, besser nicht. Ein kluger Mann war lästig. Außerdem hatte sie gar keine Zeit für diesen oder irgendeinen anderen Mann. Sie musste ihr Geschäft vor dem drohenden Untergang bewahren.

„Ich habe euch den neuesten Spectacle mitgebracht“, sagte er und blickte sich um, „aber offenbar war ich nicht schnell genug.“

„Sophy hat ihn schon mitgebracht“, erwiderte Marcelline.

Der Earl musterte Sophy aufmerksam, die seinen Blick kühl erwiderte. Gemächlich schritt sie zur Anrichte, wo sie die Speisenwärmer inspizierte und sich darauf konzentrierte, ihren Teller zu füllen.

„Miss Noirot“, bemerkte er. „Sie sind früh auf den Beinen, wie ich sehe. Waren Sie gestern Abend nicht bei Almack’s?“

„Wie kommen Sie denn darauf?“, entgegnete sie. „Nicht einmal der Spanischen Inquisition gelänge es, den Patronessen eine Eintrittskarte für mich abzuluchsen.“

„Seit wann warten Sie auf eine Einladung? Sie haben mich enttäuscht. Ich war zu neugierig, in welcher Verkleidung Sie diesmal erscheinen würden. Mein Lieblingskostüm ist Ihr Aufzug als Dienerin aus Lancashire.“

Das war auch Sophys Lieblingsverkleidung.

Allerdings sollte es ein dunkles Geheimnis sein, dass sie sich auf Veranstaltungen der gehobenen Gesellschaft einschlich, um Klatsch für Foxe aufzuschnappen. Niemandem achtete dort auf die Bediensteten, außerdem war Sophy eine Noirot und darin geübt, sich ebenso unsichtbar zu machen, wie aufzufallen.

Aber er hatte sie bemerkt.

Für einen Mann mit einem derart kleinen Spatzenhirn hörte und sah er erstaunlich viel.

Sie trug ihren Teller zur Tafel und setzte sich neben ihre Schwester. „Ich bedaure es zutiefst, Ihnen den Spaß verdorben zu haben.“

„Schon in Ordnung“, meinte er. „Ich habe mich anderweitig vergnügt.“

„Man sieht’s“, warf der Duke of Clevedon ein. Er musterte seinen Freund von Kopf bis Fuß. „Auf der Party muss es ja ganz schön hoch hergegangen sein. Da du uns sonst nie so früh beehrst, vermute ich, dass du dich auf dem Heimweg befindest.“

Wie die meisten Leute von Stand kam auch der Earl of Longmore selten vor Mittag aus den Federn. Das zerzauste schwarze Haar, das schlaffe Krawattentuch und die Falten in Gehrock, Weste und Hose sagten Sophy, dass er noch nicht im Bett gewesen war, zumindest nicht in seinem eigenen.

Ihre Fantasie beflügelte sie, und sie sah den Earl plötzlich nackt inmitten zerwühlter Laken vor sich. Sie hatte ihn nie hüllenlos erlebt und würde sich auch künftig vor diesem Anblick hüten, aber sie hatte schon viele Statuen und Bilder betrachtet sowie vor vielen Jahren die besten Stücke einiger großspuriger Pariser Burschen.

Resolut wischte sie ihre Gedanken beiseite.

Eines Tages würde sie schon einen ehrbaren Herren heiraten, der sie in Ruhe arbeiten ließ.

Der Earl of Longmore war nicht nur alles andere als ehrbar, er war obendrein auch noch ein Riesendummkopf, der ihr ständig in die Quere kam. Und er war der älteste Sohn jener Frau, die die Noirot-Schwestern nur zu gern vom Erdboden getilgt hätte.

Nur ein selbstzerstörerisch veranlagter Schafskopf würde sich mit ihm einlassen.

Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf seine Kleider. Aus Sicht der Expertin war seine Garderobe tadellos. Der enge Schnitt betonte jeden muskulösen Zoll, angefangen bei den kräftigen Schultern über die breite Brust und die schmale Taille bis hinab zu den langen, sehnigen Beinen.

Abermals bemühte sich Sophy um einen klaren Kopf. Sie erinnerte sich daran, dass sich ihr Leben nur um Kleider und Hüte drehte. So begutachtete sie den Aufzug des Besuchs mit dem nüchternen Blick einer Kennerin, die das Werk eines anderen Routiniers bewertet.

Sie wusste, dass der Earl den Abend gewöhnlich in eleganter Gewandung begann. Dafür sorgte sein Kammerdiener Olney. Seinem Aussehen nach zu urteilen, war einiges geschehen, seit Olney seinen Herrn gestern Abend verabschiedet hatte.

„Du warst schon immer der große Intellektuelle der Familie“, gab er gerade zurück. „Deine Mutmaßung trifft ins Schwarze. Ich bin unter anderem bei Crockford’s eingekehrt, um die Erinnerung an die trostlosen Stunden bei Almack’s auszumerzen.“

„Du hasst die Veranstaltungen dort“, bemerkte der Duke of Clevedon trocken. „Daher darf man wohl annehmen, dass eine Frau dahintersteckt.“

„Meine Schwester, um genau zu sein“, erklärte Harry Fairfax. „Was Männer angeht, ist sie leider ein Hohlköpfchen. Meine Eltern werden nicht müde, über diesen Umstand zu lamentieren. Selbst mir entgeht nicht, was für armselige Bewunderer sie hat. Es sind allesamt Wüstlinge und Habenichtse. Ich habe mich in Claras Nähe rumgedrückt und eine bedrohliche Miene aufgesetzt, um sie zu verschrecken.“

Das konnte sich Sophy nur zu gut vorstellen. Niemand besaß die Fähigkeit, so finster unter halb geschlossenen Lidern auf die Welt herabzusehen wie der Earl of Longmore. In solchen Momenten wirkte er wie ein gewaltiger Raubvogel.

„Welch ungewöhnlich brüderliche Regung“, spottete der Duke.

„Dieser Einfaltspinsel Lord Adderley hat versucht, sich an Clara heranzumachen.“ Harry goss sich Kaffee ein und nahm neben dem Duke of Clevedon Platz. „Er hält sich für unwiderstehlich. Ich hingegen denke eher, dass er der Mitgift nicht widerstehen kann.“

„Man munkelt, dass sein Schuldenberg zusehends wächst“, sagte der Duke.

„Mir gefällt sein feixendes Grinsen nicht“, fuhr Harry fort. „Und ich bezweifle, dass ihm überhaupt etwas an Clara liegt. Meine Eltern verabscheuen ihn aus vielerlei Gründen.“ Er schwenkte seine Kaffeetasse in Richtung Zeitung. „Sheridans Coup dürfte sie auch nicht gerade beruhigen. Dir hingegen kommt er verflixt gelegen, schätze ich. Die Sache dürfte auf exzellente Weise von deiner delikaten Hochzeit ablenken.“

Er blickte zu Sophy. „Der Zeitpunkt hätte nicht günstiger sein können. Sie hatten nicht zufällig Ihre Hände im Spiel, Miss Noirot?“

„Wenn dem so wäre, hätte ich dem Duke längst eine Flasche seines besten Champagners abgeschwatzt und mir selbst zugeprostet“, erwiderte sie trocken. „Ich wünschte wirklich, ich hätte etwas derart Perfektes inszenieren können.“

Die Schwestern Noirot waren, was das Schneidern anging, in gleichem Maße talentiert. Doch jede von ihnen verfügte darüber hinaus noch über andere, individuelle Fähigkeiten. Marcelline, die älteste von ihnen, war eine begnadete Künstlerin und entwarf einzigartige Kleider. Die rothaarige Leonie, das Nesthäkchen, war ein Finanzgenie, und Sophys Stärke lag im Verkauf. Sie vermochte Herzen aus Stein zu erweichen, noch dem größten Geizkragen Geld abzuknöpfen und den Leuten buchstäblich alles aufzuschwatzen. Ihre Schwestern behaupteten oft, sie könne Beduinen Sand verkaufen.

Wäre Sophy in der Lage, einen Skandal zu arrangieren, um die Empörung der Gesellschaft von ihrer Schwester abzulenken, hätte sie es getan. Sie liebte Marcelline und freute sich, dass diese einen Mann gefunden hatte, der sie vergötterte. Doch Sophy musste sich noch davon erholen, dass ihre kleine Welt aus den Fugen geraten war. Bislang hatte sich diese nur um ihre kleine Familie und das Geschäft gedreht. Sie war sich nicht sicher, ob Marcelline und ihr geliebter Duke wussten, in was für eine Bredouille sie das Maison Noirot mit ihrer Hochzeit gebracht hatten und in welcher Gefahr der Laden schwebte.

Andererseits waren die beiden frisch verheiratet, und Liebe schien den Verstand weit mehr zu vernebeln als Lust. Derzeit brachte Sophy es jedenfalls nicht übers Herz, das junge Glück dadurch zu trüben, dass sie ihre und Leonies Befürchtungen preisgab.

Das junge Paar tauschte verliebte Blicke. „Was meinst du?“, fragte der Duke an Marcelline gewandt. „Möchtest du die Ablenkung nutzen und dich wieder an die Arbeit begeben?“

„Ich muss ohnehin“, erwiderte Marcelline und sah Sophy an. „Lass uns rasch verschwinden, ma chère sœur. Die Tanten dürften innerhalb der nächsten Stunde zum Frühstücken herunterkommen.“

„Die Tanten“, wiederholte Harry, „sind die immer noch hier?“

Clevedon House bot genug Platz, um gleich mehrere Familien komfortabel unterzubringen, und wann immer die Tanten des Dukes nur kurz nach London kamen, quartierten sie sich nicht im Hotel, sondern im Nordflügel von Clevedon House ein.

Sie hatten sich kürzlich eingefunden, um die Hochzeit zwischen dem Duke und Marcelline zu verhindern.

Ursprünglich wollten Marcelline und der Duke sofort heiraten, nachdem er sie zur Heirat überredet oder verführt hatte. Doch Sophy und Leonie bewahrten einen kühlen Kopf und setzten sich durch.

Sie zeigten auf, zu was für einem Tumult eine überstürzte Hochzeit führen würde und wie schädlich sich dies auf das Geschäft auswirken könne. Wenn jedoch ein Teil der Verwandtschaft des Dukes der Zeremonie beiwohnen und das Bündnis damit billigen würde, dürfte sich die Empörung in Grenzen halten.

Also hatte der Duke seine Tanten eingeladen, die gleich in Scharen anrückten, um die schockierende, nicht standesgemäße Ehe zu unterbinden. Doch keine der großen Damen konnte dem Charme der drei Noirot-Schwestern und deren Geheimwaffe, Marcellines sechsjähriger Tochter Lucie Cordelia, widerstehen. Binnen Stunden knickten sie ein.

Nun dachte sie darüber nach, wie sie Marcelline zu Ansehen und Akzeptanz verhelfen konnten. Sie wollten sie sogar der Königin vorstellen.

Sophy bezweifelte, dass es ihnen helfen würde. Vermutlich würde es Lady Warfords Hass nur noch mehr anheizen.

„Ja, sie sind noch hier“, nickte der Duke. „Sie können sich ganz offenbar nicht losreißen.“

Marcelline erhob sich, und die anderen taten es ihr gleich. „Ich gehe besser, bevor sie eintrudeln. Sie haben sich noch nicht mit dem Gedanken angefreundet, dass ich weiterarbeite.“

„Es heißt wohl, dass die Damen Ihnen mit ihren Moralpredigten in den Ohren liegen“, spekulierte Longmore. „Wie gut ich das nachvollziehen kann.“ Er lächelte sie mitfühlend an und verbeugte sich.

Harry konnte einen ganzen Raum für sich vereinnahmen, und auch wenn er derangiert und von einem Hauch Ruchlosigkeit umgeben war, so verbeugte er sich doch mit der fließenden Eleganz eines Dandys.

Erstaunlich, wie geschmeidig und lässig er sich im Körper eines markigen Raufboldes bewegte. Welch eine Männlichkeit er dabei verströmte.

Sophy war eine Noirot und somit nicht nur leicht erregbar, ihr mangelte es auch an moralischen Prinzipien.

Sollte er diese Schwäche an ihr je erkennen, wäre sie verloren.

Sie deutete einen Knicks an und hakte sich bei ihrer Schwester unter. „Nun, wir sollten keine Zeit verlieren. Ich habe Leonie versprochen, nicht länger als eine halbe Stunde zu bleiben.“

Eilig verließen die Frauen den Raum.

Harry sah ihnen nach. Genauer gesagt, sah er Sophy nach. Sie war ein bezauberndes und raffiniertes Energiebündel.

„Dieser Laden“, sagte er, als die beiden außer Hörweite waren. „Ich möchte deiner Gattin nicht zu nahe treten, aber sind die Schwestern noch zu retten?“

„Das kommt ganz auf den Standpunkt an“, antwortete der Duke.

„Offenbar bin ich nicht wirr genug, um das zu begreifen. Sie könnten den Laden doch schließen und hier bei dir leben. Platz und Geld hast du genug. Wieso wollen sie unbedingt weiterhin um andere Frauen herumscharwenzeln?“

„Aus Leidenschaft“, erwiderte der Duke. „Ihre Arbeit ist ihre Leidenschaft.“

Harry wusste nicht genau, was Leidenschaft war, denn sie hatte ihn bisher verschont.

Das letzte Mal war er mit achtzehn Jahren vernarrt gewesen.

Der Duke war sein engster Freund und wusste davon, deshalb schüttelte Harry den Kopf und schwieg, während er zur Anrichte ging, um seinen Teller großzügig mit Eiern, Speck, Brot und einer üppigen Portion Butter zu füllen. Er trug den Teller zum Tisch und begann zu essen.

Harry hatte Clevedon House immer als sein Zuhause betrachtet und war aufgefordert worden, es auch weiterhin zu tun. Die Duchess mochte ihn offenkundig. Ihre blonde Schwester hingegen würde ihn am liebsten erschießen, wie er wusste, doch das machte sie für ihn nur interessanter.

Deshalb hatte er ihr aufgelauert. Deshalb war er ihr vom Maison Noirot bis nach Charing Cross gefolgt. Er hatte die Zeitung in ihrer Hand erspäht und seine Schlüsse gezogen.

Durch irgendeinen faulen Zauber gelang es Foxe’s Morning Spectacle für gewöhnlich, sich nicht nur schneller als die Konkurrenzblätter auf die Straßen Londons und in die schmuddeligen Hände der Zeitungsjungen zu stehlen, sondern auch noch mit den brandaktuellen Skandalen aufzuwarten. Obgleich viele Lustbarkeiten der beau monde erst gegen elf Uhr abends begannen und nicht vor der Morgendämmerung endeten, füllte Foxe die Seiten seines Schundblattes mit jenen schlüpfrigen Details, die sich erst wenige Stunden zuvor ereignet hatten.

Das war keine geringe Leistung, vor allem wenn man berücksichtigte, dass der „Morgen“ gerade in den gehobenen Kreisen eine flexible Zeiteinheit war und sich gut und gern bis in den Nachmittag erstrecken konnte.

Neugierig darauf, was Sophy zu solch früher Stunde nach Clevedon House trieb, hatte Harry dem nächstbesten Zeitungsjungen eine Ausgabe von Foxe’s Morning Spectacle abgekauft und sich eine Weile darin vertieft. Er war inzwischen mit Sophias Artikeln vertraut und wusste, dass er diese besser nicht auf nüchternen Magen genoss. Dennoch hatte er sie beharrlich durchgelesen. Er wusste nicht, inwieweit sie beim Sheridan-Skandal mitgemischt hatte, aber das war auch nichts Neues. Sie tat eine Menge Dinge, die ihn verblüfften. Schon allein ihr Gang war einzigartig. Sie hielt sich wie jede andere Frau von Stand, doch in ihrem Hüftschwung lag etwas verstörend Frivoles.

„Ich habe Marcelline in dem Wissen geheiratet, dass sie ihre Arbeit nicht aufgeben würde“, unterbrach der Duke Harrys Gedanken. „Denn wenn sie es täte, wäre sie wie jede andere. Sie wäre nicht länger die Frau, in die ich mich verliebt habe.“

„Liebe“, murmelte Harry verächtlich, „ist ein schlechter Ratgeber.“

Sein Freund lächelte. „Eines Tages wird sie auch dich ereilen. Und ich werde zusehen und mich köstlich amüsieren.“

„Die Liebe wird sich an mir die Zähne ausbeißen“, konterte Harry. „Ich bin nicht wie du, ich habe kein empfindsames Naturell. Falls die Liebe mich gefügig machen wollte, müsste sie mich vorher fesseln und das zu Brei schlagen, was einige optimistisch als meinen Verstand bezeichnen.“

„Vermutlich. Es dürfte das Ganze umso erheiternder gestalten.“

„Darauf kannst du lange warten. Momentan ist eher Claras Liebesleben ein Problem.“

„Ich nehme an, dass es auf Warford House seit meiner Hochzeit nicht einfach für euch beide ist.“

Der Duke wusste es nur zu gut. Da Lord Warford sein Vormund gewesen war, waren Harry und er zusammen aufgewachsen. Sie standen eher wie Brüder denn als Freunde zueinander. Der Duke of Clevedon hatte Clara von Kindesbeinen an vergöttert, jeder war fest davon ausgegangen, dass beide einmal heiraten würden. Doch dann war der Duke seiner Damenschneiderin begegnet, und Clara hatte ihn zum großen Entsetzen ihrer Eltern, Brüder und Schwestern, ja der gesamten beau monde, in die Wüste geschickt.

„Mein Vater hat sich beruhigt“, sagte Harry, „meine Mutter allerdings nicht.“

Was stark untertrieben war.

Seine Mutter war außer sich. Selbst der harmloseste Hinweis auf den Duke oder dessen Frau löste bei ihr einen Tobsuchtsanfall aus. Immerzu zankte sie mit Clara und brachte diese schier zur Raserei. Und Harry zogen sie in ihre Auseinandersetzungen mit ein. Kein Tag verging, ohne dass Clara ihn bat, dringend herbeizueilen und irgendetwas zu unternehmen.

Er und Clara waren beide zur Hochzeit des Dukes erschienen, um dieser Verbindung ihren Segen zu erteilen. Der Spectacle hatte es prompt verkündet und Warford House damit in ein Schlachtfeld verwandelt.

„Ich verstehe, warum Clara mich abgewiesen hat“, gestand der Duke.

„Es hätte mich auch gewundert, wenn du es nicht verstanden hättest. Immerhin hat sie es laut und en detail vor dem halben ton kundgetan.“

„Was ich hingegen nicht verstehe, ist, warum sie Adderley nicht den Laufpass gibt“, sinnierte der Duke.

„Er ist groß, blond und wirkt wie ein Dichterling. Er weiß die Damenwelt mit Worten zu umgarnen. Wir Männer durchschauen ihn, aber die Frauen nicht.“

„Mir will trotzdem nicht in den Kopf, was Clara da reitet“, fuhr der Freund ungehindert fort. „Jedenfalls werden Marcelline und ihre Schwestern der Sache auf den Grund gehen. Es liegt in ihrem geschäftlichen Interesse, ihre Kundinnen zu kennen, und Clara ist etwas ganz Besonderes. Sie ist ihre beste Kundin und bringt Marcellines Kreationen äußerst vorteilhaft zur Geltung. Schon deshalb wollen die Schwestern nicht, dass Clara einen Hungerleider ehelicht.“

„Verdingen sie sich auch als Kupplerinnen?“, hakte Harry nach. „Wenn dem so ist, wünschte ich, sie würden einen geeigneten Kandidaten für Clara aufspüren, damit mir diese tristen Abende bei Almack’s künftig erspart blieben.“

„Überlasse das nur Sophy. Sie ist unsere Partylöwin und bekommt mehr mit als jeder andere.“

„Darunter auch vieles, was die Betroffenen lieber unter den Teppich kehren würden“, warf Harry ein.

„Sie hat ein ausnehmend scharfes Auge fürs Detail.“

„Und eine ausnehmend scharfe Feder“, ergänzte Harry. „Bei all den wortgewaltigen Ergüssen über Zierbänder, Schleifen und Spitze hier sowie Rüschen dort ist unschwer zu erkennen, was im Spectacle aus ihrer Feder stammt. Kein Faden bleibt unerwähnt.“

„Aber auch die Gesten und Blicke entgehen ihr nicht. Sie hört genau hin. Niemand versteht es, Geschichten so zu erzählen, wie sie es tut.“

„Wie wahr“, sagte Harry, „es gibt wohl kein Adjektiv oder Adverb, dem sie nicht auf der Stelle verfallen würde.“

Der Duke lächelte. „Mit eben dieser Mischung aus Klatsch und genau beobachtetem Detail zieht sie Kundinnen an Land, wobei sie alles wie ein Drama darzustellen vermag. Wie man mir zutrug, hat dies auf Damen dieselbe Wirkung wie barbusige Frauen auf Männer.“ Er tippte mit einem Finger auf den Spectacle. „Ich werde sie bitten, Clara im Auge zu behalten. Wenn ihr beide auf sie achtgebt, gerät sie schon nicht in Schwierigkeiten.“

Harry hatte keinerlei Einwände gegen Unternehmungen, an denen Sophia Noirot beteiligt war.

Im Gegenteil, er konnte sich viele weiterer Unternehmungen mit ihr vorstellen. Die gemeinsame Wacht über seine Schwester würde ihm einen Vorwand liefern, sich stets in Sophys Nähe aufzuhalten und diese Nähe mit etwas Glück zu intensivieren.

„Mir fällt keine geeignetere Frau für diese Aufgabe ein“, sagte er.

In Gedanken war sie für ihn „Sophy“. Allerdings hatte sie ihm nie zugestanden, sie bei diesem Kosenamen zu nennen. Es blieb ihrer Familie vorbehalten. Daher geboten ihm die Umgangsformen selbst seinem alten Freund gegenüber, sich der korrekten Anrede für die älteste unverheiratete Dame einer Familie zu bedienen.

„Solange du und Sophy auf Clara aufpasst, werden die Wüstlinge und Habenichtse keine Chance haben. Argus persönlich könnte nicht besser auf sie achthaben.“

Harry zermarterte sich das Hirn. „Du meinst diesen Hund?“

„Den Riesen mit den vielen Augen“, stellte der Duke richtig. „‚Und sie setzte den großen und starken Argus als Wache für sie ein, der mit seinen vielen Augen in jede Richtung blickt‘“, zitierte er aus irgendeinem Werk. „‚Und die Göttin weckte unermüdliche Kräfte in ihm. Niemals trübte Schlaf all seine Augen, sodass seine Wachsamkeit niemals nachließ‘.“

„Ein wenig überzogen, will mir scheinen“, kommentierte Harry. „Aber du warst schon immer ein großer Romantiker.“

Eine Woche später

„Wie konnten Sie nur, Warford?“

„Teuerste, Sie wissen doch, dass ich Seiner Majestät nichts zu befehlen habe!“

„Aber das ist untragbar! Diese Kreatur, die er geehelicht hat, bei Hofe einzuführen! Ausgerechnet am Geburtstag des Königs! Als wäre sie ein Mitglied des Königshauses, das ihm seine Aufwartung macht!“

Harry war gefangen in der Kutsche, in der er mit seiner Mutter, seinem Vater und Clara gerade den St. James Palace hinter sich ließ. Obwohl ihn die Veranstaltungen bei Hofe zu Tode langweilten, hatte er der Geburtstagsgesellschaft des Königs in der Hoffnung beigewohnt, dort einen gewissen nicht geladenen Gast zu treffen. Allerdings hatte er nur Sophys Schwester gesehen, die „Kreatur“ also, über die seine Mutter wetterte. Sein Plan, sich davonzustehlen oder sich auf die Jagd nach einer gleichfalls angeödeten Gattin oder Witwe zu begeben, war missglückt. Dem Palast mangelte es nicht an dunklen Winkeln für ein flüchtiges Vergnügen.

Doch Harrys Suche war erfolglos. Das Meer aus Federn und Diamanten setzte sich vor allem aus biederen Matronen und unschuldigen Mädchen zusammen. Letztere heiratete man nur, als Kandidatinnen für ein wenig Kurzweil unter Treppen waren sie tabu.

„Sonderbar, in der Tat“, murmelte sein Vater. Auch wenn ihn die Hochzeit seines früheren Mündels nicht mehr entrüstete, so hatte er es doch vor langer Zeit aufgegeben, mit seiner Gattin zu hadern.

„Mir erschien es keineswegs sonderbar“, wandte Harry ein.

„Keineswegs sonderbar?“, zischte seine Mutter. „Keineswegs sonderbar! Niemand wird im Rahmen der königlichen Geburtstagsgesellschaft bei Hofe eingeführt.“

„Nur ausländische Würdenträger“, warf sein Vater ein.

„Schon allein die Bitte um eine solche Ausnahme verstößt gegen die Etikette“, echauffierte sich seine Mutter. Sie übersah dabei geflissentlich, dass sie ihren Mann zu einem nicht minder empörenden Verstoß gegen die Etikette angestiftet hatte. Immerhin hatte er den König dazu bringen sollen, der Duchess of Clevedon den Titel abzuerkennen.

Doch es war am Mann und nicht am Sohn, dieses aufzuzeigen. Leider hatte das jahrelange Eheleben aus seinem Vater einen Feigling gemacht.

„Ich kann nicht glauben, dass Ihre Majestät zu etwas Derartigem fähig ist, nicht einmal um Lady Adelaides willen“, fuhr seine Mutter verbittert fort. „Aber ich werde es wohl glauben müssen. Die Königin hat einen Narren an der jüngsten Tante des Dukes gefressen.“ Sie bedachte Clara mit einem wütenden Blick. „Lady Adelaide Ludley hätte ihren Einfluss zu deinen Gunsten geltend machen können, aber du musstest ja unbedingt die undankbarste Tochter sein, die je gelebt hat, und den Duke of Clevedon sitzen lassen!“

„Ich habe ihn nicht sitzen lassen, Mutter“, hielt Clara dagegen. „Man kann niemanden sitzen lassen, mit dem man nicht verlobt ist.“

Harry hatte diesen Streit schon zu oft erlebt, um ihm noch einmal zu lauschen. Zumal er mit den Kontrahentinnen eingepfercht in einer geschlossenen Kutsche saß. Während seine Mutter immer schriller keifte, stand ihr Clara in nichts nach. Normalerweise hätte er den Wagen einfach gestoppt und wäre ausgestiegen, um dem Gezänk den Rücken zu kehren.

Clara konnte sich verteidigen, doch das Dumme war, dass es nur neue Reibereien und noch mehr Gezeter nach sich zog. Clara würde Harry nur wieder unzählige Male bitten, nach Warford House zu eilen, bevor ein Unglück geschah.

Also suchte er fieberhaft nach einer anderen Lösung. „In meinen Augen wurde das Ganze hinter den Kulissen eingefädelt, um Ihre Gefühle nicht zu verletzen, Mutter.“

Es folgte die Art von grimmig angespannter Stille, die sich immer dann einstellte, wenn seine Eltern überlegten.

„Angesichts der vielen Tanten des Dukes befand sich die Königin in der Zwickmühle“, führte er seinen Gedanken weiter aus. „Sie konnte schlecht die gesamte Familie Clevedon brüskieren, und darauf wäre es hinausgelaufen, denn schließlich haben die Tanten die Duchess akzeptiert.“

„Die Duchess“, wiederholte seine Mutter gallig. „Die Duchess.“ Ihre Miene war hasserfüllt.

„Auf diese Weise wurde die Sache wenigstens dezent abgewickelt“, fuhr Harry fort, „und nicht vor den Augen des gesamten ton.“

Während seine Mutter diesen Gedanken wutschnaubend verarbeitete, hielt die Kutsche vor Warford House. Dienstboten öffneten den Schlag und halfen den Damen hinaus. Harry und sein Vater folgten. Als seine Mutter und Clara auf dem Gehsteig standen, schüttelten sie ihre Röcke aus.

Harry sagte nichts mehr, und auch Clara schwieg, doch sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, ehe sie ihrer Mutter ins Haus folgte.

Sein Vater verharrte am Fuße der Treppe. „Kommst du nicht mit hinein?“

„Ich denke nicht“, erwiderte Harry. „Ich habe mein Bestes gegeben, um die Wogen zu glätten. Mehr kann ich nicht tun.“

„Die Sache ist keineswegs erledigt“, sagte sein Vater mit gedämpfter Stimme. „Nicht für deine Mutter. Ihre Träume sind geplatzt, ihr Stolz ist verletzt, und sie fühlt sich persönlich gekränkt. Du weißt, wie sie ist. In dieser Familie wird der Frieden erst dann wieder Einzug halten, wenn Clara einen annehmbaren Ersatz für den Duke of Clevedon gefunden hat. Das wiederum wird nicht geschehen, solange sie diesen Haufen von Hampelmännern ermutigt.“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Bitte sorge dafür, dass diese Meute verschwindet, verflixt.“

Ein Uhr morgens

Samstag, 30. Mai 1835

Auf dem Ball der Countess of Igby

Longmore hielt nun schon eine Weile nach Lord Adderley Ausschau. Wie sich herausgestellt hatte, was der Bursche einfach zu blöd, um die dezenten Hinweise zu verstehen. Deshalb wollte sich Harry einer eingängigeren Herangehensweise bedienen und so lange auf den Kerl eindreschen, bis er begriff, dass er die Finger von Clara zu lassen hatte.

Allerdings hat sich auch Sophia Noirot auf Lady Igbys Party eingefunden, und da Harry, anders als der hundertäugige Riese Argus, nur über zwei Augen verfügte, war er abgelenkt.

Sophy huschte hin und her, ohne von irgendwem auch nur beachtet zu werden, mit Ausnahme der üblichen Tölpel, die in den weiblichen Bediensteten nur Objekte für ihr eigenes Vergnügen sahen. Da er sie aber zu seiner Vergnügung erkoren hatte, war er mehrmals dazwischengegangen, bis ihm klar wurde, dass sie gar keine Hilfe benötigte.

Einem Gentleman, der ihr zu nahe gekommen war, hatte sie „aus Versehen“ heißen Tee auf die Weste geschüttet. Ein anderer war ihr in ein Vorzimmer gefolgt, wo er stolperte und auf der Nase landete. Ein dritter war ihr über einen Korridor in einen anderen Raum nachgestiegen. Er humpelte, als er einen Moment später wieder zurückkam.

Durch Sophys Abenteuer hatte er nicht nur Lord Adderley, sondern auch Clara aus den Augen verloren, die er doch vor Wüstlingen und Habenichtsen behüten sollte. Dies wäre weniger schlimm gewesen, hätte Sophy sie aufmerksamer beschattet. Aber Sophy musste sich selbst gegen Schürzenjäger verteidigen.

Das allerdings ging Harry nicht durch den Kopf. Denken zählte sowieso nicht gerade zu seiner Lieblingsbeschäftigung, und sich gedanklich mit zwei oder mehr Dingen zugleich auseinanderzusetzen brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er dachte eher an Männer, die sich an etwas vergriffen, dass er als sein Eigentum betrachtete. So entging ihm, das auch seine Mutter Clara nicht länger im Fokus hatte, weil sie sich in einer höflich-giftigen Konversation mit ihrer Busenfreundin und Erzfeindin Lady Bartham befand.

Niemand achtete auf Clara, die sich mit Lord Adderley im Walzertakt auf das andere Ende des Ballsaales und damit zur Terrassentür zubewegte. Niemand sah das Zwinkern, das der zwielichtige Lord seinen Kumpanen zusandte.

Erst die Bewegung in der Menge holte Harry abrupt zurück in die Wirklichkeit.

Die Bewegung war kaum wahrnehmbar, und das war beabsichtigt. Doch Männer wie Harry hatten ein Gespür dafür. Mühelos erfasste er, dass etwas in der Luft lag und dass die Aufmerksamkeit in Teilen des Saales auf etwas Neues ausrichtet war. Er spürte, dass ein Kampf bevorstand.

Etwas zog ihn auf die Terrasse.

Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass gerade etwa aus dem Ruder lief. Was, wusste er nicht, aber die Alarmsignale waren unmissverständlich. Harry ließ sich stets von seinem Instinkt leiten, deshalb ging er eilig auf die Terrasse zu.

Er musste sich keinen Weg durch die Menge bahnen. Wer ihn kannte, machte freiwillig Platz, wohl wissend, dass er sich ansonsten Platz verschaffen würde.

Er stürmte hinaus auf die Terrasse, wo sich eine Zuschauertraube gebildet hatte. Auch diese wich zurück.

Nichts und niemand versperrte ihm die Sicht.

2. KAPITEL

NEUER STIL. SCHNEIDERKUNST. Madame und Mrs Follett bitten um die Gunst all jener Damen, die ihre Dienste noch nicht in Anspruch genommen haben, und bedanken sich bei all jenen, die dies bereits getan haben. Die unvergleichliche Exklusivität von Fasson und Sitz ihrer Kleider, gepaart mit höchst moderaten Preisen, stellt sogar anspruchsvollste Kundinnen zufrieden. New Bond Street 53, London, und Rue Richelieu, Paris. Adresse merken.

Anzeige in The Court Journal, Samstag, 28. März 1835

Lord Adderley.

Und Clara.

In einem dunklen Winkel der Terrasse.

Nicht so dunkel allerdings, dass Harry nicht zu erkennen vermochte, wie Lord Adderley unbeholfen versuchte, das Mieder von Claras Kleid wieder zurechtzuziehen.

Ihre Schneiderinnen hatten den Ausschnitt des weißen Kleides unanständig tief angesetzt, sodass ohnehin schon jeder lüsterne Bock auf dem Ball einen Blick auf ihre Spitzenunterkleider erhaschen konnte. Während Lord Adderley sie begrapscht hatte, hatte er ihr offenbar Ärmel und Korsettträger über die Schultern und fast bis hinab zu den Ellbogen gestreift. Wie es aussah, war es ihm gar gelungen, das Korsett zu lösen.

Clara schlug seine ungeschickt nestelnden Finger fort, und er stellte sich vor sie, um sie abzuschirmen. Dafür war er jedoch zu schmal. Eine blonde, blauäugige Schönheit mochte Clara sein, zierlich hingegen war sie nicht. Als Folge präsentierte sie ihre kostspielige Unterwäsche und jede Menge Haut einem jeden Gaffer, der zufällig in der Nähe war.

Dazu zählten die Dutzenden Menschen, die auf die Terrasse geströmt waren und wie Geier über dem Leichnam von Claras Reputation kreisten.

„Diese Knitter in den Plisseefalten wird ihre Zofe nie wieder glätten können“, murmelte die Bedienstete neben Harry.

Harry fragte sich, wem in einem solchen Moment etwas derart Triviales wie die Knitter in Claras Gewandung auffallen konnten. Dann wurde ihm bewusst, wer die Urheberin des Kommentares war: Sophy Noirot.

Das allerdings nahm er nur noch am Rande wahr. Was den Gutteil seines Bewusstseins beanspruchte, war die Szene vor ihm, die er wie durch einen roten Flammenvorhang sah. „Ich werde diesem Hundesohn die Knitter glätten“, knurrte er.

„Seien Sie kein …“ Die Stimme verstummte.

Harry marschierte bereits über die Terrasse, wobei er alle Gäste aus dem Weg stieß, die nicht schnell genug zurückwichen.

Schnurstracks stapfte er auf Lord Adderley zu und rammte ihm die Faust ins Gesicht.

„… Idiot“, endete Sophy.

Sie bezwang einen tiefen Seufzer.

Hätte sie doch bloß den Mund gehalten. Schließlich trat sie hier als Bedienstete auf, und Dienstboten bezeichneten ihre Vorgesetzten nicht als Idioten. Zumindest nicht laut.

Eben das war das Dumme mit Harry Fairfax. Er kam ihr ständig in die Quere, vor allem dann, wenn sie klar denken musste.

Sie schob ihre erste, emotionale Reaktion beiseite und besann sich auf ihre praktische Seite, die Cousine Emma ihr vorgelebt hatte. Cousine Emma war eine überaus nüchterne Pariserin gewesen.

Von jenem praktischen Standpunkt aus betrachtet, handelte es sich hier um eine Katastrophe.

Lady Clara war die wichtigste Kundin des Maison Noirot. Sie erstand die teuersten Kreationen und kaufte den Feindseligkeiten ihrer Mutter zum Trotz in verschwenderischen Mengen ein. Lord Warfords Beauftragter beglich die Rechnungen stets umgehend und in voller Höhe. Er hatte den Auftrag, keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Schneiderinnen zu machen.

Lord Adderley war dank seiner Spielsucht so gut wie pleite.

Wenn sich Lady Clara schon kompromittieren lassen musste, dann doch nicht mit ihm. Hätte Sophy unter den oberen Zehntausend wählen können, wäre er erst an neuntausendneunhundertsechsundfünfzigster Stelle gekommen.

Wäre Harry etwas bedachter und weniger arrogant gewesen, hätte sie ihm geraten, sich nicht auf den Verführer seiner Schwester zur stürzen. Da er jedoch in keiner dieser Kategorien punkten konnte, sparte sie sich die Mühe, ihm zu sagen, dass Mord die Situation nur verkomplizieren und Lady Claras Ruf endgültig ruinieren würde.

Der Earl of Longmore war wütend und musste sich abreagieren, und zudem verdiente es Lord Adderley, versohlt zu werden. Sie war ja selbst versucht, ihn zu versohlen.

Nicht allein deshalb schloss sie weder die Augen, noch wandte sie sich ab.

Sie hatte den Earl of Longmore schon kämpfen sehen. Es war ein Anblick, der den Puls einer Frau zum Rasen brachte, sofern sie nicht zimperlich war. Sophy war es ganz gewiss nicht.

Der Hieb hätte Lord Adderley zu Boden schicken müssen, doch er stolperte lediglich rückwärts.

Er schien härter zu sein, als er wirkte. Allerdings hielt er dem Angriff nur stand, er verteidigte sich aber nicht. Ob er damit irgendeinem obskuren ritterlichen Kodex folgte oder nur sein Gesicht mitsamt seinen Zähnen retten wollte, vermochte Sophy nicht zu sagen.

Der Earl indes war zu echauffiert, als dass er es bemerkte.

Wieder ging er mit erhobenen Fäusten auf Lord Adderley los.

„Wage es ja nicht, Harry!“, rief Lady Clara und stellte sich vor ihren Verehrer. „Rühre ihn nicht an.“

Dann brach sie in Tränen aus. Es waren exzellente Tränen, nicht einmal Sophy hätte es besser machen können, und sie war eine Expertin auf dem Gebiet. Indem Lady Clara die Verletzung ihres Liebhabers beklagte, dessen Auge im Begriff war, prachtvoll blau zuzuschwellen, strömten die Tränen nur so über ihr makelloses Gesicht, und ihre sahneweißen, üppigen Brüste bebten unter den tiefen Schluchzern. Lady Clara spielte ihre Rolle schlicht perfekt.

Damit dürfte ihr die Anteilnahme sämtlicher anwesender Herren sicher sein. Die Damen, zufrieden damit, den Niedergang der schönsten Frau Londons mit angesehen zu haben, würden sich dazu herablassen, Mitleid zu empfinden. „Sie hätte einen Duke heiraten können“, würden sie sich zuraunen, „und nun muss sie sich mit einem mittellosen Lord begnügen.“

Die beau monde würde genüsslich aus der Rede zitieren, mit der Lady Clara dem Duke of Clevedon einen Korb gegeben hatte. „Wieso sollte ich mich mit dir begnügen?“

Kurz hatte es den Anschein, als wolle Lord Longmore seine Schwester beiseiteschieben, doch dann schien ihm aufzugehen, dass es sinnlos war. Seufzend verdrehte er die Augen, und Sophy sah, wie sich seine kräftige Brust hob und senkte.

Schließlich warf er die Arme in die Luft und ging.

Die Zuschauer drängten näher und nahmen Sophy die Sicht.

Egal. Jeden Augenblick würde die Marchioness of Warford vom Sündenfall ihrer Tochter erfahren, und Sophy schuldete es dem Spectacle, zugegen zu sein. Zudem musste sie noch einem verstörenden Gerücht auf den Grund gehen, das sie in einem der Ruheräume für die Damen aufgeschnappt hatte.

Es würde eine lange Nacht werden.

Sie wandte sich ab und hielt nach einer diskreten Route zum anderen Ende des Ballsaales Ausschau. Im Gegensatz zur männlichen Dienerschaft erwartete man von den Dienstmädchen, sich im Hintergrund zu halten. Sie sollten den Räumlichkeiten fernbleiben, in denen sich die Festivität hauptsächlich abspielte, und sich möglichst nur in den Korridoren für die Dienstboten bewegen. Obendrein war es an ihnen, den Damen in den Ruheräumen aufzuwarten, Säume und Strümpfe zu flicken, Schals und Umhänge zu holen, die Ohnmächtigen mit Riechsalz zu versorgen und hinter den allzu Berauschten sauber zu machen.

Sie überlegte gerade, von welchem der beiden Korridore sie am besten lauschen konnte, als der Earl of Longmore ihr in den Weg trat.

„Sie“, sagte er.

„Ich, Eure Lordschaft?“, fragte sie, wobei sie die Vokale langzog wie ein waschechtes Lancashire-Mädchen. Ihr war bewusst, dass sie sich kurz vergessen und mit Harry Fairfax gesprochen hatte, wie sie es normalerweise tat. Aber sie verstand es, ebenso unverfroren zu lügen wie ihre Schwestern. Sie sah den Earl mit weit aufgerissenen blauen Augen an und mimte die begriffsstutzige Hinterwäldlerin.

„Ja, Sie“, beharrte er. „Ich würde Sie noch aus einer Meile Entfernung erkennen, Miss …“

„Oh, nicht doch, Eure Lordschaft. Nennen Sie mich einfach nur Norton. Kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Lassen Sie das“, entgegnete er unwirsch. „Mir steht der Sinn nicht nach Ihren Spielereien.“

„Sie werden mich noch in Schwierigkeiten bringen, Sir“, zischte Sophy. Sie verkniff sich, „Sie Hornochse“ anzufügen. Sie blieb ihrer Rolle treu und lächelte dümmlich, während sie ihn mit großen Augen ansah. Sie hoffte inständig, dass er ihre stille Botschaft verstand. „Keine Tändeleien mit den Gästen.“

„Wie, zum Teufel, hat er das geschafft?“, fragte er stattdessen. „Und warum, um alles in der Welt, hat sie sich das gefallen lassen? Hat sie denn vollständig den Verstand verloren?“

Sophy schaute sich verstohlen um. Die Gäste waren damit beschäftigt, die Neuigkeit von Lady Claras Entehrung zu verbreiten. Lord Longmore hingegen war für sie uninteressant, vielleicht fürchtete sie sich aber auch vor ihm. Nach seinem Auftritt würde niemand, der auch nur ein Quäntchen Verstand besaß, es wagen, ihn zu reizen.

Sie fasste ihn am Arm. „Hier entlang“, zischte sie.

Zum Glück leistete er keinen Widerstand, sonst wäre es Sophy nie gelungen, ihn von der Stelle zu bewegen.

Offenbar überrumpelte sie den Earl, denn er fügte sich und ließ sich von ihr fortziehen. Sie führte ihn in einen der Dienstbotenkorridore. Da die meisten Bediensteten einen Vorwand gefunden hatten, sich in der Nähe von Lady Clara und Lord Adderley herumzudrücken, hoffte Sophy, hier ungestört zu sein.

Sie schaute, ob die Luft rein war, bevor sie ihre Hand vom Arm des Earls löste. „Und nun hören Sie mir zu“, sagte sie barsch.

Entgeistert starrte er erst auf seinen Arm und dann auf Sophy. „Wenigstens lassen Sie diese alberne Maskerade als Landpomeranze aus Lancashire.“

„Können Sie auch nur ansatzweise einschätzen, was mit mir geschieht, sollte meine Maskerade auffliegen?“

„Was kümmert es Sie?“, hielt er dagegen. „Ihre Schwester hat einen Duke geheiratet.“

„Es kümmert mich aber, Sie Riesenhornochse.“

Er zuckte zurück und lupfte seinen Augenbrauen. „Habe ich etwa etwas Falsches gesagt?“

„Ja“, zischte sie erneut. „Am besten sagen Sie gar nichts mehr, sondern hören mir einfach nur zu.“

„Grundgütiger, wir werden das doch jetzt nicht ausdiskutieren, oder?“

„Oh, doch, es sei denn, Sie wollen Ihrer Schwester nicht helfen.“

Harry kniff nachdenklich die Augen zusammen.

„Glauben Sie mir, ich bin über die jüngsten Entwicklungen ebenso unglücklich wie Sie“, sagte Sophy. „Ahnen Sie überhaupt, wie schlecht sich diese Affäre auf unser Geschäft auswirken wird?“

„Ihr Geschäft“, äffte er nach.

Er sprach leise, aber sie wusste, dass er alles andere als gelassen war. Er unterdrückte seine Wut mit aller Macht. Es ließ die Luft um ihn her förmlich vibrieren. Sophy verstand, weshalb die Menschen das Weite suchten, sobald der Earl of Longmore jemanden oder etwas aufs Korn nahm.

Diese Stimmung war jedoch das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Sophy musste ihn auf andere Gedanken bringen, und ausnahmsweise würde sie sich dafür einmal der Wahrheit bedienen.

„Lord Adderley ist bis über den Hals hinaus verschuldet. Die Geldverleiher werden noch das Einkommen seiner Erst-, Zweit- und Drittgeborenen verpfänden“, flüsterte sie. „Leonie könnte Ihnen auf den Penny genau sagen, wie viel er noch besitzt, aber ich bezweifle, dass es noch mehr als ein Penny ist.“

„Das ist mir bekannt“, entgegnete Harry. „Doch ich wüsste zu gern, wie meine Schwester mit ihm auf der Terrasse landen konnte. Ich weiß, dass sie naiv ist, aber sie ist nicht geistig minderbemittelt.“

„Das kann ich Ihnen leider auch nicht erklären“, erwiderte Sophy. „Ich hätte schwören können, dass sie ihn und all die anderen lediglich benutzt hat, um sich im Poussieren zu üben. Sie hat nie zu verstehen gegeben, dass sie irgendwen favorisiert.“

„Sind Sie sicher?“, bohrte er nach.

Sein Tonfall gefiel ihr nicht, er verhieß nichts Gutes für Lord Adderley. Auch wenn sie diesen Aufschneider nicht mochte, durfte sie nicht zulassen, dass der Earl of Longmore ihn in Stücke riss.

„Ich habe gehört, dass er sehr einnehmend sein kann“, bemerkte sie. „Und Clara, das weiß ich, fühlt sich …“ Sie stockte.

„Oh, reden wir jetzt über Gefühle?“

Sophy hätte ihn am liebsten geohrfeigt.

„Ja, genau“, sagte sie. „Ich erspare Ihnen die Einzelheiten und komme gleich auf den Punkt. Lady Clara ist aufmüpfig. Vermutlich hat sie nur darauf gewartet, sich endlich danebenbenehmen zu können, sobald Ihre Mutter nicht so genau hinsieht. Adderley sah seine Chance und nutzte sie, in dem er eine Nichtigkeit zu einem Skandal aufbauschte.“ Sie runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht, doch das zu ergründen, musste sie auf später verschieben.

Erst einmal musste sie sich um den Mann vor ihr kümmern. Wenigstens spuckte er keine Galle mehr.

„Ich werde ihn fordern müssen“, knurrte Harry Fairfax verbissen. „Und das bedeutet, dass ich in aller Herrgottsfrühe in irgendeinen finsteren Wald stapfen und dabei meine kostbaren Stiefel ruinieren werde: Mir graut schon jetzt vor dem Aufstand, den Olney wegen des Schießpulvers an meinen Manschetten machen wird.“

Sophy packte ihn am Revers. „Hören Sie zu.“

Der Earl of Longmore sah verwirrt auf Sophys Hände.

Er war nicht der hellste Kopf, und es gab eine Menge Dinge, die ihn verwirren konnten. Sophy schüttelte seine Rockaufschläge. „So hören Sie mir doch zu“, bat sie eindringlich. „Sie können ihn nicht einfach umbringen.“

„Und warum nicht?“

Heilige Götter, schenkt mir Geduld. „Wenn Ihr ihn tötet“, sagte sie, so ruhig sie konnte, „ruiniert Ihr Lady Claras Ruf auf ewig. Daher flehe ich Euch an, nichts zu unternehmen, Lord Longmore. Überlasst es besser uns.“

„Uns?“

„Meinen Schwestern und mir.“

„Was haben Sie vor? Wollen Sie Lord Adderley vielleicht mit Kleidern traktieren, bis er tot umfällt? Oder wollen Sie ihn fesseln und mit Modebeschreibungen foltern?“

„Wenn nötig“, erwiderte Sophy kühl. „Aber bitte zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf.“

Der Earl starrte sie an.

„Lassen Sie die Finger von dem Mann. Sie dürfen ihn weder verletzen noch töten“, wiederholte Sophy. Sie fürchtete, Lord Longmore könne sie nicht richtig verstanden haben. „Ihr rechter Haken war exzellent, eine beeindruckende Demonstration Ihrer brüderlichen Rage.“

„Tatsächlich? Sie komponieren nicht zufällig gerade Ihren Lobgesang auf die Reputation meiner Schwester, der in der morgigen Ausgabe des Spectacle erscheinen wird?“

Autor

Loretta Chase
Loretta Chase wuchs in Neu-England auf und machte zunächst was Sprache und Schreiben angeht nicht nur freudvolle Erfahrungen, denn in der Schule wurde sie in Rechtsschreibung und Grammatik richtiggehend gedrillt. Trotzdem – oder gerade deshalb? - studierte sie nach der Schule Literatur an der berühmten Clark University. Sie schrieb damals...
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