Skandalöse Geheimnisse einer Lady

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Plötzlich Countess! Spontan hat Emmaline Westwood eingewilligt, den attraktiven Cal Rutherford, Lord Ashendon zu heiraten. Das Arrangement hat rein praktische Gründe: Als ehemalige Lehrerin soll Emm die beiden ungestümen Schwestern des Lords und seine Nichte im Zaum halten, während ihr Gatte in Ruhe seinen Geschäften nachgeht. Die Sinnlichkeit und Leidenschaft, mit der Cal die nächtliche Seite ihrer Ehe zelebriert, lässt Emm jedoch bald von mehr als einer Zweckehe träumen. Da machen plötzlich skandalöse Details aus Emms Vergangenheit in Londons feinsten Kreisen die Runde und drohen ihren – und damit auch Cals – Ruf zu ruinieren. Sind ihre Tage als Countess nun gezählt?


  • Erscheinungstag 22.06.2021
  • Bandnummer 367
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500890
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Libby Barker und Rita Al-Mourani –
Freundinnen, Kolleginnen und begeisterte Leserinnen.

PROLOG

Nein, Schmähung ist’s, die schärfer schneidet als das Schwert.

William Shakespeare, Cymbeline

Berkshire, England, 1811

Es tut mir leid, Liebling, aber du hast wirklich keine Wahl!“ Sir Humphrey Westwoods Stimme klang beherrscht. Traurig. Aus unerfindlichen Gründen schmerzten seine Worte dadurch umso mehr und erschütterten ihre ohnehin fragile Fassung stärker, als wenn er geschrien oder ihr Prügel angedroht hätte.

Sie fasste ihn am Ärmel. „Vater, wer hat dir solche Dinge erzählt – solch abscheuliche Lügen? Wer?“

Mit einem kurzen Ruck seines Armes schüttelte er ihre Hand ab. „Es ist allgemein bekannt. Irwin sagt, dass jeder in der Gemeinde, selbst der Pfarrer – der Pfarrer! –, seit Wochen davon wisse. Jedoch hätten sich alle zu sehr geniert, es mir zu sagen.“ Sorgenfalten ließen ihn müde wirken. „Es heißt, der Vater erfahre es stets als Letzter.“

Er nahm seinen Hut. „Ich gehe zur Kirche. Nein, meine Liebe, du bleibst hier. Du hast für genügend Aufsehen gesorgt. Ich kann den Leuten ohnehin schon kaum noch in die Augen schauen.“

„Aber Vater, es stimmt nicht. Nichts davon ist wahr!“ Zitternd und regelrecht krank vor Bestürzung – und Verrat –, sah sie zu, wie er sich den Mantel überstreifte und den Schal umlegte. Sie trat zu ihm, um ihm zu helfen, den Schal in den Mantel zu stecken, wie sie es immer tat, doch er entzog sich ihr, als ertrüge er ihre Berührung nicht.

„Versuch nicht, mich zu umgarnen, Emmaline! Das wird dir diesmal nichts nützen.“

Sie ließ die Hände sinken und trat zurück, zutiefst getroffen.

„Irwin ist trotz allem bereit, dich zu heiraten – mir ebenso wie dir zuliebe. Sei dankbar dafür und tu, was man dir aufträgt.“ Seine Miene zerriss ihr schier das Herz. Ihr Vater war ebenso verletzt, ebenso niedergeschmettert wie sie.

Aber sie würde nicht, sie konnte unmöglich … Eher würde sie sterben, als ihres Vaters Freund und Nachbarn Mr. Irwin zu ehelichen.

„Vater, ich schwöre dir, ich habe nicht getan, was behauptet wird.“

Doch die vernommenen Lügen machten ihren Vater offenbar taub und blind vor Scham. Die Lügen ebenso wie der Fehltritt, den sie einst begangen hatte.

Betrübt schüttelte er den Kopf. „Dass du dich derart schändlich gebärdest … Ich habe als Vater versagt.“ Er öffnete die Haustür. „Ich werde jetzt zur Kirche gehen und das Aufgebot bestellen. Irwin hat mich anschließend zum Dinner eingeladen. Wenn ich zurückkehre, wirst du dich nicht länger sträuben, ihn zu heiraten. Ansonsten werde ich mich endgültig von dir lossagen.“

Die eisige Unerbittlichkeit seiner Worte brannte sich ihr bis ins Mark.

Leise erwiderte sie: „Ich werde mich nicht fügen, Vater. Ich möchte aus Liebe heiraten – so wie du und Mutter …“

„Lass deine Mutter aus dem Spiel!“ Seine Stimme bebte. „Zum ersten Mal bin ich froh – jawohl, froh! –, dass sie nicht mehr erleben muss, was aus ihrer Tochter geworden ist.“

„Es tut mir leid, Vater.“ Sie flüsterte fast, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Aber ich habe nichts Unrechtes getan, nicht dieses Mal. Und ich werde mich nicht zwingen lassen, einen Mann zu heiraten, für den ich nichts empfinde.“

Bekümmert antwortete ihr Vater: „Dann bist du nicht länger meine Tochter.“ Damit schloss er die Tür.

1. KAPITEL

Wir wissen, was wir sind, aber nicht, was wir sein könnten.

William Shakespeare, Hamlet

London 1819

Wie hast du mich genannt?“ Major Calbourne Rutherford blieb abrupt stehen, kaum dass er das dezent eingerichtete Regierungsbüro betreten hatte. Es gehörte dem Ehrenwerten Gil Radcliffe und lag im Herzen Whitehalls, des Londoner Regierungsviertels.

Radcliffe hob die Brauen. „Hast du es nicht gewusst?“

Cal schüttelte den Kopf. „Soll das heißen, dass meinem Bruder Henry etwas zugestoßen ist? Und dass ich der neue Lord Ashendon bin?“ Cals Vater war vor einem Jahr gestorben, und Cals älterer Bruder Henry hatte Titel und Ländereien übernommen.

„Ich dachte, deswegen wärest du nach London zurückgekommen, nach immerhin … wie lange ist es her – zehn Jahre?“ Radcliffe bat Cal mit einer Geste, Platz zu nehmen, und trug seinem Sekretär auf, ihnen Tee und Plätzchen zu bringen.

„Verdammt!“ Cal ließ sich schwer auf den Stuhl sinken. Er verspürte nicht etwa Trauer – er und Henry hatten sich nie nahegestanden. „Henry war noch nicht einmal vierzig. Was ist passiert? Wie ist er gestorben?“

„Er hat sein Pferd in gestrecktem Galopp durch einen reißenden, felsigen Fluss gejagt. Der Gaul ist gestolpert, dein Bruder wurde abgeworfen und hat sich das Genick gebrochen – natürlich sturzbetrunken.“ Kurz schwieg er, ehe er hinzufügte: „Das Pferd musste getötet werden. Jammerschade – prächtiges Tier.“

Cal schnaubte. Welch Ironie. Henry hatte fast sein ganzes Leben lang an den Fleischtöpfen Londons gelebt, während Cal im zarten Alter von siebzehn Jahren für sein Vaterland in den Krieg geschickt worden war. Wenn irgendwer jung hätte sterben sollen …

Radcliffe lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte nachdenklich drein. „Wenn du nicht hier bist, um dein Offizierspatent abzugeben, weshalb dann?“

Der Sekretär kam mit Tee und Ingwerplätzchen herein. Cal wartete, bis er wieder gegangen war. „Nun?“, drängte Radcliffe.

Cal trank einen Schluck Tee. Heiß, stark und süß, wie er ihn mochte. Er nahm sich einen Keks und kaute ihn geräuschvoll, Radcliffes Spannung genießend. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass El Escorpión Engländer ist.“

„Der Skorpion ist Engländer?“ Radcliffe richtete sich auf. „Nein! Unmöglich! Ist das gewiss?“

Cal verzog das Gesicht. „Nein. Es ist nur so ein Gefühl.“

„Ein Gefühl.“ Radcliffe schnaubte und lehnte sich abermals zurück. „Ich bitte dich.“

Radcliffes Skepsis kränkte Cal keineswegs. Auch er hätte ungehalten reagiert, wäre einer seiner Offiziere mit nichts als einer Ahnung in den Knochen zu ihm gekommen, nachdem er zwei Jahre lang erfolglos einen berüchtigten Meuchelmörder gejagt hätte. Doch so vage und dürftig dies war, hatte Cal doch den Eindruck, endlich etwas in der Hand zu haben. „Als er beim letzten Mord sein Gewehr gehoben hat, um zu schießen, habe ich seine Silhouette vor dem Nachthimmel gesehen und …“

Radcliffe beugte sich vor. „Hast du ihn erkannt?“

„Nein, er war zu weit entfernt. Aber als ich später darüber nachdachte, ging mir auf, dass etwas an seinen Bewegungen mir vertraut war.“

„An seinen Bewegungen?“

Cal nickte. „Im Krieg habe ich mehrmals Seite an Seite mit Männern des Schützenregiments gekämpft, und etwas an seiner Haltung und daran, wie er das Gewehr angelegt hat, erinnert mich an einen dieser Burschen. Ich weiß, dass ich ihn schon einmal gesehen habe. Ich kann dir keinen Namen nennen, und vermutlich würde ich sein Gesicht nicht wiedererkennen, aber ich bin mir absolut sicher, dass er Engländer ist und im Krieg als Scharfschütze gedient hat. Ich glaube, er benutzt sogar ein Baker-Gewehr; wenn er einen Mann aus über zweihundert Schritt Entfernung in den Kopf trifft … nun, das gelingt nicht mit jeder Waffe.“

Radcliffe nickte versonnen. „Denkbar wäre es. Und nun wähnst du ihn wieder in England?“

Cal schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Er ist untergetaucht, wie üblich – er könnte sich in einem Dutzend Ländern aufhalten. Doch ich will mir im Hauptquartier des Schützenregiments eine Liste der ausgeschiedenen Scharfschützen holen und prüfen, was sie heute so treiben. Viel ist das nicht, aber …“

„Mehr, als wir bislang hatten“, ergänzte Radcliffe zufrieden und zog sich Schreibfeder und Papier heran. „Ich werde dir einen Urlaubsschein ausstellen.“

Cal blinzelte. „Einen Urlaubsschein? Aber ich bin doch im Dienst.“

„Du musst einige persönliche Dinge regeln – dich um Titel und Erbe kümmern, Papiere unterzeichnen, Angelegenheiten klären. Persönliche Angelegenheiten.“

Einwände wären sinnlos gewesen. Radcliffe genoss es, sich orakelhaft zu geben. In der Schule war er brillant, aber undurchsichtig gewesen, und schon damals hatte er in dem Ruf gestanden, Informationen zu sammeln – Informationen aller Art, politischer wie auch privater Natur. Damit war er perfekt geeignet für die Position, die er heute bekleidete. Er stand im Mittelpunkt eines Intrigennetzes, das sich von London aus über den halben Globus erstreckte und das er von seinem Schreibtisch aus verwaltete.

Radcliffe stellte das Dokument mit einer schwungvollen Unterschrift aus und löschte die Tinte mit Sand. Er griff nach seinem Amtssiegel, ohne welches der Schein ungültig gewesen wäre, und drückte ihn in den heißen scharlachroten Wachsklecks, ehe er Cal das Papier reichte.

Cal warf einen kurzen Blick darauf. „Vier Wochen? Ich hoffe, so lange wird es nicht dauern.“

Radcliffe lächelte dünn. „Du solltest dich als Erstes mit deinem Anwalt in Verbindung setzen.“

Cal begab sich auf direktem Weg zum Büro von „Phipps, Phipps & Yarwood“, der Anwaltskanzlei, die für seinen verstorbenen Vater tätig gewesen war. Zu erfahren, dass er nun Lord Ashendon war, hatte ihn erschüttert. Doch er würde sein Leben davon nicht durcheinanderbringen lassen.

Mit ausgedehnten Ländereien und großem Reichtum gingen gewisse Verantwortungen einher, ebenso wie mit dem Titel. Verantwortungen, auf die Cal als jüngerer Sohn nie vorbereitet worden war. Und auf die er alles andere als erpicht war.

Er hatte stets seine Pflicht getan, war ein guter Soldat gewesen, obwohl ihm die Verluste und die Zerstörung des Krieges ein Gräuel gewesen waren. Jetzt, in Friedenszeiten, gefiel es ihm, für sein Land die verworrenen europäischen Staatsangelegenheiten zu ergründen. Napoleons Umtriebe hatten Grenzen ausradiert und Bündnisse zerschmettert. Ein neues Europa bildete sich heraus, und die Machtspiele nahmen kein Ende. Und sie faszinierten ihn.

Cal ging, wohin er geschickt wurde, und erledigte, was immer Whitehall in Gestalt von Gil Radcliffe ihm auftrug. Derzeit war er darauf angesetzt, einen Auftragsmörder mit dem Namen „der Skorpion“ aufzuspüren und entweder festzunehmen oder zu beseitigen.

Und nachdem der Skorpion Cals Freund Bentley umgebracht hatte, war die Jagd ihm eine persönliche Berufung geworden.

Davon durfte – und wollte – er sich nicht ablenken lassen.

„Was soll das heißen, Sie haben keine Abschrift von Henrys Testament? Sie sind der Familienanwalt. Sie sollten eine in Ihren Akten haben.“

Phipps, der Anwalt, verlagerte unbehaglich sein Gewicht auf dem Stuhl. „Ihr Bruder hat sich bereits vor acht Jahren von dieser Kanzlei getrennt, nach einer … einer Meinungsverschiedenheit mit Ihrem Vater.“

„Verstehe.“ Cal war durchaus in der Lage, zwischen den Zeilen zu lesen. Henry war seit jeher aufbrausend gewesen und hatte dasselbe hitzköpfige, cholerische Temperament wie ihr Vater besessen. Und beide waren nachtragend gewesen. „Ich nehme an, die beiden haben sich nie versöhnt.“

Der Anwalt deutete ein Nicken an. „Soweit ich weiß nicht, Mylord. Und nach den wenigen Informationen, die mir vorliegen, war Ihr Bruder … kein würdiger Nachfolger für den Titel Ihres seligen Vaters. Die Familiengeschäfte … liegen etwas brach. Bis wir sein Testament gefunden und die Testamentseröffnung beantragt haben, sind uns die Hände gebunden.“

Cal fluchte in sich hinein. Wie typisch für Henry, ein vermaledeites Chaos zu hinterlassen.

„Ich gehe davon aus, dass Sie Ihr Offizierspatent abgeben werden, Mylord.“

Cal schüttelte den Kopf. Die ganze Sache war verdammt ärgerlich, aber er wollte verflucht sein, wenn er seinen Dienst quittierte. „Falls nötig, werde ich meinen Urlaub verlängern, aber sobald die Angelegenheit erledigt ist, habe ich vor, auf den Kontinent zurückzukehren. Ich habe dort Verpflichtungen.“

Phipps sah ihn entgeistert an. „Aber von jetzt an haben Sie Verpflichtungen in England, Mylord.“ Sein Tonfall besagte, dass keine ausländische Verpflichtung sich mit den englischen messen könne.

Cal zuckte mit den Schultern. „Um das Tagesgeschäft des Anwesens können sich Bevollmächtigte kümmern.“

Phipps kräuselte die Lippen. „Zumindest, Mylord, sollten Sie umgehend Vorkehrungen für Ihre Angehörigen treffen.“

„Angehörige?“ Cal runzelte die Stirn. „Ich habe keine … Oh, Sie meinen meine Halbschwestern.“ Natürlich. Er hatte die Mädchen seit Jahren nicht gesehen, aber er erinnerte sich an die reizenden kleinen Geschöpfe, die ihm wie Welpen überallhin gefolgt waren. „Wo sind sie derzeit?“

„In Bath, Mylord.“

„Also noch auf der Schule.“ Auf irgendeiner vornehmen Mädchenschule, wenn er sich recht entsann.

„Nein, Mylord, sie befinden sich in der Obhut von Lady Dorothea Rutherford.“

„Dann sind sie in guten Händen“, erwiderte er gleichgültig. Tante Dottie dürfte die trauernden kleinen Mädchen unter ihre Fittiche genommen haben, und nach einer angemessenen Trauerzeit würden sie auf ihre Schule zurückkehren können. „Also, muss ich irgendetwas unterzeichnen?“

Der Anwalt presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Ich möchte Sie daran gemahnen, Mylord, dass Ihre Halbschwestern gemäß dem letzten Willen Ihres Vaters ein beträchtliches Vermögen geerbt haben, das bis zu ihrer Vermählung beziehungsweise ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag treuhänderisch verwaltet wird. De facto sind sie begehrte Erbinnen und sollten als solche vor Mitgiftjägern geschützt werden.“ Er verstummte kurz, bevor er fortfuhr. „Ob Ihre Tante dieser Aufgabe gewachsen ist, vermag ich nicht zu beurteilen.“ Sein Ton machte deutlich, dass er ernsthafte Zweifel daran hegte, diese aus Taktgefühl jedoch für sich behielt.

Cal schwieg. Phipps war eindeutig eine kleinliche Krämerseele.

„Ihre Tante obliegt ebenfalls Ihrer Fürsorge. Im Gegensatz zu Ihren Schwestern, hat Ihr Vater ihr keinerlei finanzielle Zuwendungen zugestanden. Ja, Mylord, das erscheint auch mir recht ungewöhnlich – die einzige unvermählte Schwester ohne einen roten Heller zurückzulassen. Doch entgegen all meinen Empfehlungen hat er es Ihrem Bruder überlassen, für sie aufzukommen.“

„Grundgütiger! Er hat sie Henrys Mildtätigkeit ausgeliefert? Es grenzt an ein Wunder, dass Tante Dottie nicht darbend auf der Straße lebt. Was hat den alten Herrn bloß geritten?“

„Ganz Ihrer Meinung, Mylord.“

„Sorgen Sie dafür, dass sie umgehend einen Teil meiner persönlichen Einkünfte erhält. Einen großzügigen Teil. Sobald das Testament vollstreckt ist, können wir eine langfristigere Regelung treffen, basierend auf den Erträgen des Anwesens.“

Er hatte eine Schwäche für Tante Dottie. Seit er in den Krieg gezogen war, hatte sie ihm zahllose Strümpfe aus warmer roter Wolle gestrickt – rot, damit sie zu seiner scharlachroten Uniform passten. Sie hatte sie ihm geschickt, so schnell sie stricken konnte – genug, um ihn selbst sowie die Hälfte seiner Freunde zu versorgen.

Letztere hatten zunächst über die Farbe gelacht, waren in den harten Wintern im Gebirge jedoch dankbar für die Strümpfe gewesen. Tante Dotties scharlachrote Strümpfe hatten so manchen Zeh vor Frostbeulen bewahrt.

Zudem hatten sie so manches weiße Stück Unterwäsche im Waschzuber rosa gefärbt, doch da weder Strümpfe noch Wäsche sichtbar getragen wurden, hatte sich niemand allzu sehr daran gestört.

Nun da er unter zivilisierteren Bedingungen arbeitete und keine Uniform mehr trug, brauchte er sie nicht länger, und dennoch folgten ihm Pakete voller scharlachroter Strümpfe quer durch Europa. Dabei hatte er seiner Tante mehrmals versichert, keine Verwendung mehr dafür zu haben.

„Selbstverständlich, Mylord.“ Phipps machte sich eine Notiz. „Und die Mädchen?“

„Vorerst sollten sie in Bath bei Tante Dottie gut aufgehoben sein.“

„Ich empfehle Ihnen dringend, sie zu besuchen, Mylord.“

Cal stand auf. „Ist das alles?“

Phipps nickte knapp. „Wo werden Sie Quartier nehmen, Mylord? Für den Fall, dass ich Sie kontaktieren muss.“

„Ich nehme an, Ashendon House steht leer?“

„Ganz recht, und zwar seit Ihres Vaters Ableben – Ihr Bruder hat sein eigenes Haus vorgezogen.“ Er zögerte sichtlich, ehe er hinzufügte: „Er hat sämtliche Dienstboten Ihres Vaters entlassen.“

Cal furchte die Stirn. Einige dieser Dienstboten waren jahrzehntelang für seinen Vater tätig gewesen. „Darf ich davon ausgehen, dass er den Älteren ein Ruhestandsgeld zugebilligt und den Übrigen ein Arbeitszeugnis ausgestellt hat?“ Er las die Antwort in Phipps’ Miene.

Verflucht mochte Henry sein, dieser selbstsüchtige Lump. Einen Bediensteten ohne Zeugnis zu entlassen bedeutete, ihn zur Arbeitslosigkeit zu verdammen. Ein schändlicher Lohn für jahrelange treue Dienste.

Phipps räusperte sich unsicher. „Ich, nun, ich habe mir die Freiheit genommen, den wenigen, die mich aufgesucht haben, Referenzen auszustellen. Was die anderen angeht – soviel ich weiß, hat ein Großteil des höhergestellten Personals rasch wieder eine Anstellung gefunden. Ihr seliger Vater war in Adelskreisen als anspruchsvoller Brotherr bekannt, weshalb man – zu Recht – davon ausging, dass ein jeder Dienstbote, der länger als sechs Monate in seinen Diensten stand, hervorragend ausgebildet und zuverlässig sein muss.“

Cal nickte. „Forschen Sie nach, was aus dem Rest geworden ist. Wer im Ruhestandsalter ist, soll eine angemessene Pension erhalten, abhängig von den Dienstjahren. Was die anderen anbetrifft: Machen Sie sie ausfindig und geben Sie mir dann Bescheid. Mein Vater stand in dem Ruf, ein gerechter Mann zu sein, und ich werde nicht zulassen, dass mein Bruder diesen Ruf besudelt.“

Lächelnd notierte sich Phipps einen entsprechenden Vermerk. „Haben Sie vor, Ashendon House wieder zu öffnen, Mylord? Sofern Sie wünschen, werde ich veranlassen …“

„Nein, lassen Sie alles, wie es ist. Ich werde in meinem Club unterkommen – dem ‚Apocalypse‘.“ Ashendon House war das Londoner Domizil seines Vaters gewesen und zu groß und herrschaftlich für Cals Geschmack. Es würde sich nicht lohnen, für die paar Nächte, die er in London zu bleiben gedachte, ein gutes Dutzend Dienstboten einzustellen. Zudem wollte er keine falschen Hoffnungen wecken.

„Ihr Vater war Mitglied bei ‚White’s‘.“ Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war.

„Der ‚Apocalypse Club‘ ist mir durchaus genehm.“ Er war vor einigen Jahren für Offiziere und ehemalige Offiziere gegründet worden, die im Krieg gewesen waren. Im Club herrschte eine legere, hemdsärmelige Atmosphäre, die Cals Stimmung entgegenkam.

Außerdem stieß er dort womöglich auf Männer, die im Schützenregiment gedient hatten und Informationen beisteuern konnten.

Der „Apocalypse Club“ erwies sich als genau das Refugium, das Cal sich erhofft hatte. Gleich am ersten Abend stieß er auf einige alte Bekannte. Er verbrachte einen geselligen Abend, ließ sich die neuesten Begebenheiten und Gerüchte berichten und ging zeitig zu Bett.

Am folgenden Morgen gönnte er sich ein herzhaftes englisches Frühstück – ein nostalgischer Genuss nach dem kontinentalen Frühstück, an das er sich gewöhnt hatte. Anschließend machte er sich auf den Weg zum Hauptquartier des Schützenregiments, um herauszufinden, wer nach dem Krieg entlassen worden war.

Die Scharfschützen des Schützenregiments hatten sich im zurückliegenden Krieg so sehr bewährt, dass sie nicht so drastisch dezimiert worden waren wie viele andere Regimenter. Die meisten waren nach wie vor in der Armee, was bedeutete, dass sich jeder ihrer Schritte nachverfolgen ließ. Dadurch wurde die Liste, die Cal abarbeiten musste, relativ überschaubar.

Bis zum Abend hatte er einen überaus nützlichen Namenskatalog erstellt – mit Männern, die berüchtigt dafür waren, jemanden aus über zweihundert Schritt Entfernung ins Auge zu treffen, und die nicht länger dienten.

Allerdings waren es zu viele Namen, als dass er sie allein hätte überprüfen können – die Männer waren über ganz Südengland verstreut. Widerstrebend – denn er wollte den Bastard selbst fangen – begab er sich mit dem Problem zurück zu Gil Radcliffe.

Sie unterteilten die Liste in fünf geografische Regionen. Cal wählte Südwestengland, was Bath ebenso umfasste wie seinen Familiensitz Ashendon Court in Oxfordshire – nun da er dafür verantwortlich war, sollte er zumindest nach dem Rechten sehen. Und wenn er schon einmal dort war, konnte er auch bei Tante Dottie und den Mädchen vorbeischauen.

Radcliffe wies die übrigen vier Gebiete einigen seiner fähigsten Männer zu.

Mit Radcliffes Hilfe konnte Cal rasch einige Namen von der Liste streichen. Vier Männer waren durch Unfall oder Krankheit gestorben. Zwei weitere waren bei Kneipenschlägereien umgekommen.

Drei der Männer auf der Liste waren wegen Wilderei deportiert worden. Darüber schüttelte Cal den Kopf. Erst bläute man ihnen Treffsicherheit ein, dann bestrafte man sie, weil sie jagten, um ihre Familie zu ernähren. Die Welt war absurd.

Radcliffe lud ihn für den Abend zum Essen bei „White’s“, seinem Club, ein, und dort begegnete Cal weiteren alten Bekannten. Einige kannte er aus der Armee, andere aus seinen lange zurückliegenden Schultagen. Frampton, einer seiner ehemaligen Schulkameraden, wirkte außerordentlich erfreut, ihn zu sehen, und bestand darauf, Cal für den nächsten Abend zum Dinner einzuladen.

„Du brauchst keine Abendgarderobe, altes Haus. Es wird bloß ein entspannter Abend en famille.“

Framptons Begeisterung erstaunte Cal, weil sie in der Schule kaum etwas miteinander zu tun gehabt hatten. Allerdings hatte er noch nichts vor, weshalb er die Einladung annahm.

Zu seiner Überraschung wurde er in den folgenden Stunden noch von weiteren Männern, an die er sich kaum erinnerte, zu zwanglosen, trauten Abendessen im Kreise der Familie eingeladen. Verwirrt, aber keinen Anlass sehend abzulehnen, sagte er allen zu. Er vermutete, dass es ihre Art war, einen heimkehrenden Soldaten zu empfangen, auch wenn der Krieg lange vorüber war. Sie ahnten nicht, dass Cal nach wie vor im Einsatz war, und er hatte nicht vor, es ihnen zu verraten.

Tags darauf arbeitete er sich weiter durch die Namensliste, wobei er in London begann. Er spürte zwei ehemalige Scharfschützen auf. Der eine, dereinst einer der Helden von Badajoz, war heute ein Trinker, ein abgemagertes Wrack. Seine Hand zitterte so sehr, dass er kaum die trübe Flasche zu halten vermochte, die er sich wie ein Säugling an die Brust presste.

Den anderen machte er mit einigen Schwierigkeiten auf der Straße ausfindig, wo er bettelte. Er hatte drei Finger seiner rechten Hand verloren und fand keine Arbeit. Ehemalige Soldaten trieben sich überall herum, ausgesondert, weil sie nicht länger benötigt wurden. Dieser war von Frau und Kindern verlassen worden, weil sie nicht bei einem Mann hatten bleiben wollen, der sie nicht ernähren konnte.

Cal gab ihm eine Guinee und ging davon, aufgewühlt von dem, was dem Mann widerfahren war.

England hatte seine tapferen Soldaten schmählich im Stich gelassen.

Abends saß Cal quasi auf Tuchfühlung zwischen Framptons überaus anschmiegsamen Schwestern. Die beiden wetteiferten um seine Aufmerksamkeit und schenkten ihm die ihre ungeteilt und enthusiastisch – was leicht nervenaufreibend war –, derweil Frampton und dessen Mutter wohlwollend lächelten.

Es war Jahre her, dass Cal einem schlichten Familienessen beigewohnt hatte – wenngleich dieses Mahl alles andere als schlicht war. Der Tisch bog sich unter erlesenen Speisen, denen die Schwestern Frampton kaum zusprachen. Stattdessen überhäuften sie Cal mit Fragen und Komplimenten. Ohne Pause. Was immer er äußerte, wurde wie ein Juwel unendlicher Weisheit oder ein Bonmot behandelt, das helles Gelächter zeitigte.

Überaus seltsam. Ob alle heimkehrenden Offiziere auf diese Weise willkommen geheißen wurden? Während die einfachen Soldaten auf der Straße verreckten?

Der Groschen fiel erst, als die Diener ein wahres Festmahl an Sahnecreme-Desserts und Götterspeise auftrugen, ohne dass die jungen Damen Frampton auch nur für eine Sekunde den sehnsuchtsvollen Blick von Cal abwandten.

Er dachte an die anderen Einladungen, die er erhalten hatte. All die ausnehmend herzlichen und gastfreundlichen Burschen, denen er begegnet war, hatten zufällig unvermählte Schwestern. Ihm stellten sich die Haare auf.

Sie hatten nicht etwa Major Cal Rutherford zum Dinner geladen, sondern den frischgebackenen Lord Ashendon – den reichen, ledigen, ungemein begehrten Lord Ashendon.

Cal war weibliche Avancen durchaus gewöhnt, doch seine Tändeleien und Liebschaften hatten sich auf mondäne Frauen beschränkt, kultiviert und erfahren – und ohne jedes Interesse an einer längerfristigen Bindung. Sie hatten seinen Körper, nicht seinen Namen und sein Vermögen gewollt, und das war ganz in seinem Sinne gewesen.

Unschuldige, aber entschlossene junge Damen auf der Jagd nach einem betuchten, adeligen Gatten waren eine gänzlich neue Erfahrung für ihn. Er hatte keine Muße für diesen Unfug. Er hatte einen Auftrag zu erledigen.

Die ältere Miss Frampton strich ihm mit einer Hand über den Oberschenkel. Cal schreckte zusammen und hätte beinahe seinen Rotwein verschüttet.

Die jüngere Miss Frampton drängte sich an ihn und streichelte seinen Arm.

Als die Damen sich nach dem Dinner zurückzogen und die Herren ihrem Portwein überließen, meinte Frampton: „Reizende Mädchen, meine Schwestern. Die besten Schwestern der Welt. Ich würde sie nicht jedem zur Frau geben.“

Cal nickte und stürzte seinen Portwein hinunter. Während Frampton sich weiterhin in Lobeshymnen auf seine Schwestern und deren zahlreiche Tugenden und Talente erging, traf Cal eine Entscheidung. Es war an der Zeit, sich die Männer vorzunehmen, die sich laut seiner Liste auf dem Lande aufhielten.

Gleich nach dem Dinner kehrte er in seinen Club zurück, bestellte sich einen starken Brandy und verfasste eine Reihe von bedauernden Absagen für die noch ausstehenden Einladungen mit der Begründung, dringende Familienangelegenheiten hätten ihn fortgerufen.

Er schickte sowohl Radcliffe als auch dem Anwalt Phipps eine Nachricht und beschied ihnen, dass er gleich morgen früh nach Bath aufbrechen werde. Einer der Männer auf seiner Liste lebte in der Nähe des Dorfes Three Mile Cross, das mehr oder weniger auf dem Weg lag.

Der Anwalt erwies sich als tüchtig, das musste Cal ihm lassen. Er hatte am Morgen darauf kaum sein Frühstück verzehrt, als ein Diener ihn davon in Kenntnis setzte, dass seine Kutsche bereitstehe.

Es war eine elegante Reisekutsche, von der die Räder sich gelb abhoben. Auf den glänzend schwarzen Seiten prangte das Ashendon-Wappen. Das Gespann aus vier zueinanderpassenden Braunen war unruhig. Der Kutscher grinste auf Cal herab und deutete einen Gruß an.

„Morgen, Master Cal – Mylord, sollte ich wohl sagen. Schön, dass Sie heil zurück sind.“ Es war der alte Kutscher seines Vaters.

Cal nickte, wobei er fieberhaft versuchte, sich an den Namen des Mannes zu erinnern. Hawkins, so hieß er.

Hawkins’ Grinsen wurde breiter, als Cal ihn namentlich begrüßte. „Herrlicher Tag für ’ne flotte Fahrt nach Bath, Mylord. Die Gäule sind ganz schön munter – müssen mal wieder ordentlich laufen.“

Cal begutachtete die Pferde. „Ein prachtvolles Gespann.“

Hawkins nickte. „Haben Ihrem Bruder gehört. Hab sie im Auge behalten, und als der Anwalt Ihres alten Herrn mir ’ne Nachricht geschickt hat … tja, da wusste ich, wo ich sie finde.“

Cal runzelte die Stirn. Hatte Hawkins etwa all die Monate seit dem Tod von Cals Vater auf der faulen Haut gelegen?

Hawkins lachte über die Frage. „Oh, wo denken Sie hin, Mylord? Hab in London als Droschkenkutscher angeheuert.“ Er verstummte und spuckte aus. „Droschken taugen nichts. War heilfroh zu hören, dass Sie wieder da sind und ’nen Kutscher brauchen.“

„Soll das heißen, Sie haben Ihre Arbeit aufgegeben, nur um mich nach Bath zu bringen?“

„’Türlich“, meinte Hawkins entrüstet, als verstünde sich das von selbst. „Hab mein Leben lang der Familie Rutherford gedient.“

Cal stieg in die Kutsche. Hawkins’ überstürzte Entscheidung gefiel ihm nicht. Viel hatte er von London noch nicht gesehen, aber offenbar war Arbeit rar.

Die Truppenverbände aus familiären und gesellschaftlichen Erwartungen drohten ihn einzukesseln, doch er war entschlossen, sich freizukämpfen. Er war niemand, der sich vor Verantwortung drückte, aber er würde sich nicht daran hindern lassen, sein Leben nach seinem eigenen Gutdünken zu führen.

Ihm gefielen das Abenteuer und die Unsicherheit – selbst die Gefahr – seines gegenwärtigen Daseins. Ein Adelstitel war das Letzte, das er wollte. Doch er würde tun, was er tun musste – nachdem er den Skorpion gefasst hatte.

Er würde den Bastard erwischen, koste es, was es wolle. Das war er Bentley schuldig.

Cal hatte Bentley auf der Schule kennengelernt. Er war mehrere Jahre älter als Bentley gewesen und ihm erst begegnet, als er eines Tages um eine Ecke gebogen war und ein dürres Bürschchen vor sich gesehen hatte, das sich nach Kräften bemühte, drei größere Burschen abzuwehren. Offenkundig hatte der Junge keine Ahnung vom Kämpfen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, es zu versuchen. Er ließ die Fäuste fliegen, ohne zu treffen, und obwohl er nach Strich und Faden verprügelt wurde, gab er nicht klein bei.

Trotz des mangelnden Geschicks bewunderte Cal den Schneid des Jungen. Er schritt ein, verjagte die Raufbolde und begutachtete den angerichteten Schaden. Bentley bot einen unvergesslichen Anblick – er war der wohl unansehnlichste Kerl, den Cal je vor sich gehabt hatte. Auf seinem langen, dünnen Hals saß ein zu großer Kopf, von dem Ohren wie Fledermausflügel abstanden. Er blutete, hatte ein blaues Auge und eine geschwollene Nase und war mit Kratzern und Prellungen übersät, doch er grinste von Ohr zu Ohr, während er Cal überschwänglich für die Hilfe dankte. Und ihn fragte, ob er ihm Boxen beibringen könne.

So viel Mut musste belohnt werden. Cal und seine Freunde nahmen den Jungen unter ihre Fittiche und beschützten ihn. Seitdem waren sie, wenn auch sporadisch, in Kontakt geblieben.

Unter Bentleys wenig verheißungsvollem Äußeren hatte ein brillanter Verstand gesteckt. Er verließ Oxford mit einem herausragenden Abschluss, trat dem diplomatischen Korps bei und tat sich bei den Verhandlungen auf dem Wiener Kongress hervor. Als Cal ihn das letzte Mal gesehen hatte, war ihm soeben eine verantwortliche diplomatische Position in Portugal übertragen worden.

Auch Bentleys verwitwete Mutter hatte den Kontakt zu Cal aufrechterhalten. Sie hatte ihm geschrieben, kurz nachdem Bentley seinen Auslandsposten angetreten hatte, und ihn gebeten, auf ihren Sohn aufzupassen. Er hatte versprochen, es zu tun.

Und dann hatte der Skorpion Bentley erschossen, direkt vor Cals Augen.

Noch immer wurde Cal manchmal von Albträumen geplagt, in denen er sah, wie Bentleys Kopf explodierte, wie sein schlaksiger junger Körper, alten Lumpen gleich, in sich zusammensackte, wie sich sein Blut auf die hellen portugiesischen Fliesen ergoss. Sein herausragender Verstand, sein unerschrockener Geist ausgelöscht wie eine Kerze – all seine Hoffnungen, Träume und Zukunftspläne von einer Gewehrkugel zerstört.

Und Cals Versprechen gegenüber Mrs. Bentley – gebrochen.

Bentleys Tod verfolgte ihn. Den mordenden Bastard zu fangen hatte für ihn oberste Priorität. Und danach? Wer wusste das schon?

Er konnte sich nicht vorstellen, in irgendeinem idyllischen Winkel Englands ein sesshaftes, häusliches Dasein zu führen, langweilige Unterredungen mit Gutsverwaltern zu durchleiden, Rechnungsbücher zu prüfen und mit Pächtern über Reparaturen und undichte Dächer zu schwadronieren. Und über Entwässerung. Und Schafe.

Oder der noch langweiligeren Pflicht nachzukommen, im Parlament zu sitzen und endlosen, monotonen Reden zu lauschen. Schlimmer noch – selbst welche zu halten.

Ihn schauderte.

Und weil er seinem Titel einen Erben schuldete – und die ganze verflixte Welt es wusste –, würden ihm bis in alle Ewigkeit Frauen vom Schlage der Frampton-Schwestern nachstellen. Und deren Mütter. Und Brüder.

Schlussendlich würde er einknicken und irgendeine hochwohlgeborene Dame ehelichen. Doch damit wäre es nicht vorbei – hinzu kämen die obligatorische Teilnahme am Gesellschaftsleben, die floskelhaften, endlosen Höflichkeiten. Vormittagsbesuche. Bälle. Soireen. Almack’s. Ratafia.

Konversation beim Frühstück.

Wieder erschauderte er. Er war doch erst achtundzwanzig, verdammt. Ihm blieben noch viele Jahre, um dem Anwesen einen Erben zu schenken. Momentan hatte er weder Zeit noch Lust, sich mit nichtigen Familienangelegenheiten zu befassen.

Die Kutsche rollte gut gefedert dahin, die Pferdehufe trommelten einen gleichmäßigen Rhythmus auf der harten, ebenen Oberfläche der Mautstraße – englische Straßen waren besser als ihre Pendants auf dem Kontinent.

Cal betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Wie grün England war; das hatte er ganz vergessen. Grün und friedvoll. Und öde. Er streckte die Beine aus, lehnte sich gegen das Lederpolster und schlummerte ein.

Es war dunkel, als sie Bath erreichten. Der Mond war hinter einer dicken Wolkendecke verborgen. Three Mile Cross hatte sich als fruchtloses Unterfangen erwiesen. Zwar hatte Cal den ehemaligen Scharfschützen aufgespürt, doch der Skorpion war er nicht gewesen. Der Mann arbeitete auf einem Anwesen als Wildhüter, und daher ließ sich lückenlos nachverfolgen, was er in den vergangenen Jahren getrieben hatte. Er hatte das Dorf nicht verlassen, geschweige denn das Land.

Allerdings hatte er Cal ein paar Hinweise gegeben und gewusst, wo sich einige der Männer auf der Liste heute aufhielten, weshalb der Besuch keine Zeitverschwendung gewesen war. Um kurz nach sieben schließlich klopfte Cal an die Tür seiner Tante.

Ihm wurde von einem alten weißhaarigen Mann geöffnet, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam, ohne dass er es zunächst einzuordnen vermochte. Endlich fiel es ihm ein. „Logan, richtig? Sie hätte ich hier nicht erwartet. Wie geht es Ihnen?“

Logan war Stallbursche auf dem Anwesen von Cals Vater gewesen, als Cal noch ein Junge gewesen war. Es war ungewöhnlich, einen Stallburschen als Butler fungieren zu sehen, aber harte körperliche Arbeit konnte er gewiss nicht mehr leisten – er musste mindestens fünfundsechzig sein. Tante Dottie hatte immer schon ein weiches Herz gehabt.

Logan strahlte. „Es geht mir gut, danke, Sir – mein Beileid zu Ihrem Verlust. Ihren Verlusten.“ Er nahm Cal Mantel und Hut ab. „Wir haben natürlich mit Ihnen gerechnet, nur nicht so bald.“ Offenbar sah er Cals Verblüffung, denn er fügte hinzu: „Mr. Phipps hat uns mitgeteilt, dass Sie kommen würden, ohne allerdings zu sagen, wann. Miss Dottie war ganz aufgeregt, als sie heute Abend seinen Brief erhalten hat. Sie waren immer ihr Liebling.“

Es schickte sich nicht für einen Butler, derart offenherzig zu sein, vor allem nicht in Bezug auf die Empfindungen seiner Dienstherrin, und auch die vertrauliche Anrede „Miss Dottie“ war unpassend. Doch vermutlich konnte man von einem Faktotum, das vom Stallburschen zum Butler aufgestiegen war, keine tiefergehenden Kenntnisse der Etikette erwarten, die den Umgang zwischen Personal und Herrschaft regelte.

„Sie finden sie im hinteren Salon – das ist der wärmste Raum im Haus. Die Kälte macht ihr inzwischen zu schaffen. Den Gang entlang, zweite Tür rechts, Sir – Mylord, sollte ich wohl sagen.“ Er grinste Cal entschuldigend an. „Ist schwer, sich umzugewöhnen.“

Da konnte Cal ihm nur beipflichten. „Lord Ashendon“ klang in seinen Ohren noch immer nach seinem Vater.

Als er die Salontür öffnete, verspürte er einen Stich. Tante Dottie war klein und rundlich wie früher, aber ihre berühmte Pfirsichhaut wirkte inzwischen wie leicht zerknitterte Seide, und ihr Haar, einst eine betörende rotblonde Lockenmähne, war nunmehr schlohweiß und schimmerte silbrig.

„Tante Dottie?“

Rote Wollknäuel und Strickzeug flogen von ihrem Schoß, als sie mit einem leisen Freudenschrei aufsprang und ihn innig in die Arme schloss. „Mein Augenstern, lass dich ansehen. Wie groß du geworden bist – und wie ansehnlich! Und diese Schultern!“ Prüfend legte sie den Kopf schräg und nahm Cal von Kopf bis Fuß in Augenschein, ehe sie knapp, aber entschieden nickte. „Bei Weitem der attraktivste der Rutherford-Männer! Wenn du mich morgen früh in die Brunnenhalle begleitest, werden mich sämtliche Damen zwischen fünfzehn und hundert beneiden.“

Lachend bückte er sich, um die versprengten Stricknadeln und Wollknäuel aufzuklauben. „Hundert, Tante Dottie?“

Sie ließ sich wieder in ihrem Sessel nieder und sagte ernst: „Mein lieber Junge, einige sind sogar älter! Du hast ja keine Ahnung. Ich komme mir dort blutjung vor – ein wunderbares Gefühl. Und obwohl manche steinalt sind – geradezu vorsintflutlich, sei versichert –, begaffen sie ungeniert jedes auch nur halbwegs passable Mannsbild.“ Sie lächelte ihn schelmisch an. „Recht ermutigend, im Grunde.“

„Ermutigend?“ Er wickelte ein Wollknäuel auf, das unter das Sofa gerollt war, und reichte es ihr.

Sie nickte. „Zu wissen, dass einem dies erhalten bleibt. Zu altern verliert an Schrecken, wenn man sieht, dass selbst Greisinnen noch flirten und an … du weißt schon was denken. Und es womöglich gar noch tun.“

Cal blinzelte. Du weißt schon was? Es tun? Nein – er würde nicht nachhaken. Dies war nicht die Art von Gespräch, das er mit seiner alten, ledigen Tante zu führen erhofft hatte. In dem wenig subtilen Bemühen, das Thema zu wechseln, fragte er: „Wo sind die Mädchen?“

Ein kurzes Schweigen folgte. Tante Dottie tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört, und konzentrierte sich stirnrunzelnd auf ihr Strickzeug. Die Tür ging auf, und Cal sah auf, fast damit rechnend, seine Schwestern zu erblicken, doch es war nur Logan mit einem Tablett.

„Ah, da sind Sie ja, Logan!“, rief Tante Dottie, und Cal meinte, Erleichterung herauszuhören. „Eine Stärkung für meinen Neffen, nicht wahr? Ausgezeichnet! Du musst ausgehungert sein, Cal, mein Liebling.“

Logan stellte das Tablett auf einem kleinen Tisch neben Cal ab, und er sah einen Teller mit herzhaften Sandwiches und einem Stück Pastete sowie einen Krug Ale.

„Iss nur, iss, mein Junge“, ermunterte Tante Dottie ihn.

Er nahm einen Schluck Ale und griff sich ein Sandwich. „Wo sind Rose und Lily, Tante Dottie?“

Abermals Stille. Cal biss von seinem Sandwich ab, schaute auf und ertappte seine Tante dabei, wie sie einen stummen, panischen Blick mit Logan tauschte.

Irgendetwas stimmte nicht. Er aß das Sandwich auf und wartete.

„Sie schlafen“, antwortete Logan nach einem Moment.

„Ja, ganz recht! Sie schlafen“, bekräftigte Tante Dottie und fügte hastig hinzu: „Oben. In ihrem Zimmer. Tief und fest. Wir sollten sie nicht wecken. Du wirst sie morgen früh beim Frühstück sehen. Danke, Logan, mein Lieber. Das wäre alles.“ Logan ging hinaus.

Cal schaute seine Tante an. „Logan, mein Lieber?“, bohrte er nach. „Tante Dottie, du solltest deinen Butler wahrlich nicht ‚mein Lieber‘ nennen.“

„Ach, pah, wieso nicht?“

„Weil er dein Butler ist.“

„Unfug! Ich bin seit meinem fünfzehnten Lebensjahr mit ihm befreundet. Mein Vater ist tot, so wie nun auch dein Vater, weshalb niemand mehr da ist, der sich daran stören könnte – du wirst mir doch nicht bieder kommen, oder, Cal? Denn wenn ich ihn ‚mein Lieber‘ nennen will, werde ich das tun.“

Cal blinzelte. Tante Dottie war immer schon ein Original gewesen, doch nun wurde sie offenbar wunderlich. Seelenruhig saß sie da und strickte, ein leises Lächeln auf den Lippen. Versuchte seine vermeintlich arglose kleine Tante etwa, vom strittigen Punkt abzulenken?

„So, so“, sagte er. „Meine Schwestern schlafen also tief und fest, und das um …“, er warf einen vielsagenden Blick auf die Kaminuhr, „… halb acht abends?“

„Oh, verflixt, ich habe eine Masche fallen lassen.“

Er wartete, während sie mit ihren Stricknadeln herumnestelte, die Wangen mit einem Mal gerötet.

„Nun?“, drängte er nach einer Minute.

„Hätten wir gewusst, dass du heute Abend eintreffen würdest, wären sie natürlich aufgeblieben“, erwiderte Tante Dottie, seinem Blick ausweichend. „Aber die armen Kleinen haben so sehr gegähnt und konnten sich kaum wach halten, weshalb ich sie gleich nach dem Essen zu Bett geschickt habe. Sie waren zum Umfallen müde. Die arme Lily wäre beinahe über ihrer Suppe eingeschlafen! Und wie sie gegähnt hat, herrje.“

Sie legte ihr Strickzeug beiseite. „Eigentlich bin auch ich müde.“ Sie streckte sich übertrieben und gab ein wenig überzeugendes Gähnen zum Besten. „Oje, ja, ich fürchte, ich bin reif fürs Bett. Sofern du es mir nachsiehst, Cal, mein Lieber, werde ich mich zurückziehen, weil ich …“, sie rang sich ein weiteres unechtes Gähnen ab, „… plötzlich sehr, sehr müde bin. Das Alter, weißt du.“

Sie war die so ziemlich schlechteste Lügnerin, die er je erlebt hatte.

Er stellte seinen Krug ab. „Also, Tante Dottie, wie wäre es, wenn du mir erzählst, was wirklich los ist? Wo sind meine Schwestern?“

2. KAPITEL

Was hat die Nacht mit Schlaf zu tun?

John Milton, Comus

Schuldbewusst dreinblickend, lehnte sich Tante Dottie im Sessel zurück und faltete abwartend die Hände im Schoß wie ein Kind, das einer Strafpredigt harrt. „Ich weiß es nicht genau“, gestand sie.

Cals Erheiterung über die Possen seiner Tante verflüchtigte sich. „Was soll das heißen, du weißt es nicht genau? Sind sie etwa davongelaufen? Oder schlimmer?“ Immerhin waren seine Schwestern Erbinnen. Und minderjährig. Gedanken an Lösegeld, Entführungen und Ärgeres schossen ihm durch den Kopf.

„Oh, nein, nein, nein“, erwiderte seine Tante hastig. „Nichts dergleichen. Wie gesagt, morgen früh zum Frühstück werden sie da sein.“ Sie lächelte ihn aufmunternd an. „Das sind sie immer.“

„Das sind sie immer?“ Cal verengte die Augen. „Heißt das etwa, sie verschwinden öfter?“

Tante Dottie krauste nachdenklich die Nase. „Öfter würde ich nicht sagen.“

„Großer Gott!“ Er starrte seine Tante an. „Also sind sie irgendwo dort draußen, allein und unbeaufsichtigt? Schutzlos? Allmächtiger, sie sind erst …“, rasch rechnete er nach und kam zu einem überraschenden Ergebnis, „… achtzehn und neunzehn.“

„Ja, mein Lieber, ich weiß.“

„Wieso zur Hölle lässt du sie einfach ziehen?“

„Nun, natürlich lasse ich sie nicht einfach ziehen“, entgegnete sie entrüstet. „Was denkst du denn von mir?“

„Was? Aber …“

„Nein, sie tun es einfach. Ich habe es mit Vorhaltungen probiert, aber …“, sie zuckte hilflos mit den Schultern, „… sie tun es trotzdem. Nun, du musst zugeben, dass sie es nicht leicht haben. Jung, hübsch und voller Leben und dürfen keine Feste und Bälle besuchen. Hätten wir gewusst, dass du kommst, wären sie gewiss geblieben, aber der Brief hat uns erst erreicht, nachdem sie zu Bett gegangen waren.“

Cal konzentrierte sich auf den wichtigsten Aspekt. „Weshalb können sie keine Feste und Bälle besuchen?“

Sie sah ihn entgeistert an. „Weil sie trauern, natürlich.“ Sie wies auf ihre eigene streng schwarze Garderobe. „Deshalb hat es sie ja so hart getroffen, dass dein Bruder nur elf Monate nach dem beklagenswerten Hinscheiden deines armen Vaters gestorben ist.“

Cal runzelte die Stirn. „Ich wusste gar nicht, dass Henry und die Mädchen einander nahestanden.“

„Oh, das haben sie nicht. Henry hat sie nie besucht. Ich bezweifle, dass er sie erkannt hätte, wäre er ihnen zufällig auf der Straße begegnet. Eben darum waren die Mädchen so betrübt über seinen Tod.“

Er grübelte darüber nach und gab kopfschüttelnd auf. „Ich kann dir nicht folgen.“

Tante Dotties Blick besagte, dass sie ihn für geistig minderbemittelt hielt. „Es bedeutet ein weiteres Trauerjahr für jemanden, für den sie nichts als … als Pflichtgefühl empfunden haben. Oder vielmehr gar nichts, wenn wir ehrlich sind.“ Versonnen fuhr sie fort: „Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn Henry kurz nach deinem Vater das Zeitliche gesegnet hätte und nicht kurz vor Ablauf der Trauerzeit.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber rücksichtslos ist er ja immer schon gewesen.“

Cal ging nicht auf diese verquere Logik ein. „Und ein weiteres Trauerjahr heißt ein weiteres Jahr ohne Feste und Bälle für dich und die Mädchen?“

Sie nickte. „Henry war ihr Halbbruder und mein Neffe – und obendrein das Familienoberhaupt. Ihn nicht angemessen zu betrauern wäre skandalös.“

Er hob die Brauen. „Und zwei junge Mädchen des Nachts durch die Straßen streifen zu lassen, ist nicht skandalös?“

Sie gab einen leisen ungnädigen Laut von sich. „Wie ich bereits sagte, Cal, lasse ich sie das keineswegs mit meinem Einvernehmen tun. Ich habe ihnen ihr Fehlverhalten aufgezeigt, sie getadelt und ihnen die möglichen Konsequenzen vor Augen geführt. Alles vergebens.“

„Du könntest sie nachts einschließen, sie ohne Abendessen ins Bett schicken – es gäbe ein Dutzend Möglichkeiten, ihnen beizubringen, auf dich zu hören.“

„Ich werde nicht den Kerkermeister für meine geliebten Nichten spielen!“, rief sie empört und fügte hinzu: „Außerdem wirkt das nicht. Einmal habe ich Logan aufgetragen, sie in ihrem Zimmer einzusperren, woraufhin sie aus dem Fenster geklettert sind – was, wie du zugeben musst, viel gefährlicher ist als … was immer sie tun, wenn sie unterwegs sind. Mir graut noch immer vor der Vorstellung, sie zerschmettert draußen auf dem Kopfsteinpflaster zu finden.“ Sie zog ein Spitzentaschentuch hervor, das Cal als unheilvolles Omen für dräuende Tränen wertete. „Und was, wenn ein Feuer ausbräche?“, schloss sie gequält. „Willst du, dass sie elendig im Bett verbrennen?“

„Tante Dottie …“

„Sieh mich nicht so an – ich habe keine Ahnung, wie sie entwischen. Logan meint, durch die Küchentür, weshalb er sie unverschlossen lässt, damit sie wieder hereingelangen. Nun, wir können sie nachts schlecht aussperren, oder? Ihnen könnte sonst etwas passieren! Außerdem erscheinen sie jeden Morgen frisch und munter an der Frühstückstafel.“

„Darauf wette ich“, murmelte er. Herrgott, kein Wunder, dass Phipps ihn gedrängt hatte, nach Bath zu reisen. Es war offensichtlich, dass die Mädchen seiner Tante auf der Nase herumtanzten.

„Sie haben nichts Böses im Sinn“, betonte sie. „Sie sind einfach nur jung und lebensfroh und … und ein wenig rastlos.“

Cal sah das anders. Das Problem bestand eindeutig in mangelnder Disziplin, doch es würde nichts bringen, darauf herumzureiten. Es war sinnlos, von seiner weichherzigen Tante zu verlangen, seine Schwestern an die Kandare zu nehmen. Was das Unterfangen betraf, seine jungfräuliche Tante darüber aufzuklären, was schutzlosen jungen Mädchen widerfahren mochte … Sofern ihr dies noch nicht bewusst war, würde Cal es ihr nicht erläutern. Das würde ihren Kummer nur mehren – unnötigerweise.

Außerdem würde das ungebührliche Gebaren der Mädchen ein Ende haben. Dafür würde er sorgen. Vorausgesetzt, sie kehrten unversehrt zurück.

Nachdem seine Tante zu Bett gegangen war – nunmehr redlich müde –, richtete sich Cal am Küchentisch ein. Mit einer aktuellen Zeitung und einem Glas Kognak ausgerüstet, machte er es sich bequem und wartete auf die Rückkehr seiner aufmüpfigen Schwestern.

Er versuchte zu lesen, stellte jedoch fest, dass die Neuigkeiten aus England eine wenig erbauliche Zerstreuung darstellten. Das Land versank im Chaos, überall keimten Aufstände, Armut und Verbrechen. Er verstand es nicht. Der Krieg hatte England nicht einmal gestreift. Wie kam es, dass alles sich so grundlegend gewandelt hatte?

Schließlich warf er die Zeitung beiseite, erhob sich und schritt auf den Steinfliesen auf und ab. Untätigkeit lag ihm nicht. Was lachhaft war – immerhin hatte er im Rahmen seiner Arbeit auf dem Kontinent oftmals tage-, ja gar wochenlang geduldig und unauffällig warten müssen.

Doch auf seine jungen Halbschwestern zu warten, war eine gänzlich andere Angelegenheit.

Wo steckten diese Früchtchen, und was zum Henker trieben sie?

Einerlei. Sobald sie nach Hause kämen – ein „falls“ zog er gar nicht erst in Erwägung –, würde er verdammt noch mal dafür sorgen, dass ihr Vagabundendasein ein Ende hatte.

Henry hätte sie niemals in Tante Dotties Obhut geben dürfen. Allem Anschein nach wüsste sie nicht einmal eine Fliege zu bändigen.

Die Uhr über dem Herd schlug Mitternacht. Verflucht. Er würde ihnen den Hals umdrehen.

Vierzig Minuten später vernahm er draußen ein Geräusch. Er stand auf, verschränkte grimmig die Arme vor der Brust und wartete.

Die Küchentür ging auf, und auf der Schwelle erschienen zwei junge Frauen mit Kapuzenumhang und schwarzer Samtmaske. Im Eintreten unterhielten sie sich tuschelnd und leise kichernd.

„Wo zum Teufel seid ihr gewesen?“, donnerte Cal.

Sie zuckten zusammen und wirbelten erschrocken zu ihm herum. Die Größere erholte sich als Erste und konterte in demselben Tonfall, dessen er sich bedient hatte: „Wer zum Teufel sind Sie, und was haben Sie im Haus meiner Tante zu suchen?“

Nicht einer der Männer unter Cals Kommando hatte sich je erdreistet, ihm Paroli zu bieten. Er kniff die Augen zusammen. „Ich habe dir eine Frage gestellt, junge Dame.“

Sie reckte das Kinn. „Das geht Sie nichts an.“

Mit kalter Stimme, die seinen Soldaten einen Schauer über den Rücken gesandt hätte, sagte Cal: „Das geht mich sehr wohl etwas an, also heraus mit der Sprache, sofort. Und nehmt die albernen Masken ab.“

Die Kleinere schaute flüchtig ihre Schwester an, ehe sie ihre Kapuze zurückschob und ihre Maske löste. Sie zog das Cape enger um sich und musterte Cal, wie dieser befriedigt feststellte, großäugig und bang. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit einem Grübchen am Kinn, gewelltem dunkelblondem Haar und großen grauen Augen. Den Augen seines Vaters, die auch Cal geerbt hatte.

Das größere Mädchen schlug die Kapuze zurück, riss sich die Maske vom Gesicht und ließ sie achtlos auf den Küchentisch fallen. Offenbar war sie die Rädelsführerin. Sie war ein Abbild seiner verstorbenen Stiefmutter – eine Schönheit mit makellosen Zügen, blauen, von langen, dunklen Wimpern umrahmten Augen und einem goldblonden Lockenschopf, der zu einem eleganten Knoten aufgesteckt war.

Sie stand da und sah ihn herausfordernd an. „Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind, also wieso zum Teufel sollte ich mich Ihnen gegenüber rechtfertigen? Wir sind ausschließlich unserer Tante und gewiss nicht Ihnen zur Rechenschaft verpflichtet!“

Er verspürte eine – wenn auch nur vage – Anwandlung von Enttäuschung darüber, dass seine Schwestern ihn nicht gleich erkannt hatten. Andererseits – hätte er sie erkannt? Er bezweifelte es. Das letzte Mal hatten sie sich vor zehn Jahren gesehen. Andererseits befand er sich im Haus ihrer Tante, und das hätte ihnen auf die Sprünge helfen müssen. Selbst wenn sie nichts von seiner Rückkehr nach England gewusst haben sollten.

Ihre Widerspenstigkeit fuchste ihn, und anstatt sich zu erkennen zu geben, imitierte er unwillkürlich sein altes Kindermädchen: „Junge Damen, die sich einer solchen Sprache bedienen, betteln förmlich darum, dass man ihnen den Mund mit Seife und Wasser auswäscht.“ Nur dass es in seinem Fall „junge Herren“ geheißen hatte.

Die Größere verschränkte die Arme vor der Brust und zog spöttisch eine Braue hoch. „Wer hat denn angefangen mit den unflätigen Ausdrücken? Sie haben das Gespräch gleich mit Ihrem ersten Satz auf plebejisches Terrain geführt. Ich habe mich lediglich auf Ihr Niveau hinabbegeben.“

Cal setzte zu einer scharfen Zurechtweisung an, als das kleinere Mädchen – Lily? – einwarf: „Unser Kindermädchen hat das immer gesagt, und zwar in genau demselben Ton.“ Zaghaft legte sie Cal eine Hand auf den Ärmel. „Du bist Cal, nicht wahr? Unser großer Bruder Cal, der in den Krieg gezogen und nie zurückgekehrt ist.“

„Ja, ich … Uff!“ Er brach ab, weil sie ihn so überschwänglich umarmte, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.

Sie herzte und küsste ihn aufgeregt, wobei sie ihn mit Fragen bestürmte, ohne ihm Zeit für Antworten zuzugestehen.

„Wann bist du eingetroffen? Bleibst du? Welche Schwester bin ich? Lily natürlich, erinnerst du dich nicht? Früher hast du mich auf deinen Schultern umhergetragen. Ich weiß noch, dass du mir riesig vorkamst. Ich hätte dich gleich erkennen müssen – du ähnelst Vater sehr, nicht wahr, Rose? Aber mehr noch dem Porträt von Großvater Rutherford. Warum hast du dich nicht angekündigt, Cal – weiß Tante Dottie davon? Oh, welch wunderbare Überraschung! Hast du schon gegessen?“

Derart mit Zuneigung überschüttet zu werden, warf ihn aus der Bahn. Lachend tat er sein Bestes, ihre Fragen zu beantworten, aber wirklich wichtig war ihr offenbar nur eine.

„Nein, ich werde nicht bleiben. Ich bin bloß hier, um … um einige Angelegenheiten zu regeln. Henrys Tod hat die Dinge verkompliziert, aber sobald ich alles geklärt habe, werde ich auf den Kontinent zurückkehren.“ Junge Mädchen brauchten nichts über Attentäter und Mord zu erfahren.

„Oh.“ Das dämpfte ihre Begeisterung sichtlich. „Oh, tja, es ist trotzdem schön, dich zu sehen, und sei es nur für eine Weile. Nicht wahr, Rose?“

Rose wirkte weit weniger entzückt, ihn zu sehen. Sie trat zu ihm, umarmte ihn höflich und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Willkommen zu Hause, Bruder.“

Lily streifte ihren Umhang ab und warf ihn über einen Stuhl. „Hast du Hunger?“ Sie schaute auf sein leeres Glas. „Soll ich dir nachschenken? Warum sitzt du überhaupt so spät in der Küche?“

„Hier ist es wärmer“, erwiderte Rose rasch und bedachte ihre Schwester mit einem warnenden Blick.

Lily begriff offenbar nicht. „Ja, doch im Salon ist es viel gemütlicher. Sollen wir Cal nicht dorthin bringen und …?“

„Ich sitze nach Mitternacht noch in der Küche“, verkündete Cal streng, „weil meine außer Rand und Band geratenen kleinen Schwestern allein durch die Nacht streifen und ihr Leben aufs Spiel setzen, während ihre Tante schier krank vor Sorge ist. Außerdem …“

„Unsinn“, fiel Rose ihm ins Wort. „Tante Dottie weiß ganz genau …“ Sie verstummte.

„Wo ihr wart?“, beendete Cal den Satz für sie.

„Nein.“ Sie errötete leicht, sprach jedoch weiter, mit jenem kühlen Trotz, der ihm allmählich vertraut war. „Aber sie weiß, dass wir immer unversehrt nach Hause kommen.“

„Sie weiß gar nichts dergleichen!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass beide Mädchen zusammenschreckten, und sein Glas hüpfte. „Sie weiß nur, dass euch alles Mögliche hätte zustoßen können. Ihr hättet überfallen werden können! In London – und anderen Städten, und glaubt ja nicht, in Bath gäbe es keine Verbrecher – werden Leute bewusstlos geschlagen und ihrer Kleider beraubt. Feiner Kleider, wie ihr sie unter euren ungemein feinen Umhängen tragt, bis hin zu eurer spitzenbesetzten Batistunterwäsche. In der Unterwelt bringen solche Kleider ein hübsches Sümmchen ein – und wie all die anderen Opfer ließe man euch nackt in der Gosse liegen.“ Er verstummte, um seine Botschaft wirken zu lassen. „Ihr könnt euch sicher vorstellen, was einem besinnungslosen, nackten Mädchen in der Gosse geschehen kann, oder?“

Rose deutete ein Schulterzucken an. „Uns ist nichts passiert.“

„Weil ihr Glück hattet.“ Er beschloss, schonungslos vorzugehen. „Ihr hättet geschändet werden können – jawohl, geschändet. Oder verprügelt. Oder entführt und in die Sklaverei verkauft. Mädchenhandel – wisst ihr, was das bedeutet? Ihr hättet in einen türkischen Harem oder einem Bordell in irgendeiner schäbigen Stadt in der Fremde landen können. Um nie wieder aufzutauchen.“

Lily starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an, Rose hingegen voll unverhohlener Skepsis.

„Ihr hättet ermordet werden können. Aber was mich angeht, besteht eure schändlichste Sünde darin, eurer Tante Kummer zu bereiten. Sie war heute Abend in Tränen aufgelöst“, log er. „Als sie mir gebeichtet hat, dass sie keine Ahnung hat, wo ihr seid – ja, eure sanftmütige, reizende alte Tante war in Tränen aufgelöst, weil sie für die Betreuung und das Wohl zweier rücksichtsloser, ungehorsamer, eigensinniger, aufsässiger, selbstsüchtiger Wildfänge verantwortlich ist.“

„Falls Tante Dottie tatsächlich in Tränen aufgelöst war, dann nur, weil du gemein zu ihr warst und sie herumkommandiert und angeschrien hast. Du hast sie aufgeregt, so wie du gerade Lily aufregst“, hielt Rose dagegen, legte ihrer Schwester einen Arm um die Schultern und drückte sie. „Siehst du? Dank dir weint sie jetzt.“

Zu Cals Entsetzen schimmerten Lilys große graue Augen feucht, und dicke Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie weinte still, ohne einen Laut von sich zu geben, ohne zu schluchzen, zu jammern oder zu schniefen. Sie stand einfach da und blickte ihn kummervoll an.

Es war ihm immer ein Gräuel, Frauen weinen zu sehen, aber dies hier … Durch die Lautlosigkeit wurde es umso verstörender.

„Lily, nicht doch, ich wollte nicht …“ Hilflos streckte er eine Hand aus, doch beide Mädchen wichen zurück. Verdammt, er hatte sie erschrecken wollen, damit sie gehorchten, und nicht, damit sie ihn fürchteten. „Na, na, kein Grund zu weinen. Ich bin mir sicher, dass es euch leidtut. Die Hauptsache ist, dass ihr es bereut, und morgen werden wir uns überlegen, was zu tun ist.“

Lilys jammervolle Gestalt schützend im Arm, sah Rose ihn verächtlich an. „Ich finde, du hast genug getan. Ich werde Lily jetzt nach oben bringen.“ Sie wandte sich mit ihrer Schwester zur Tür. „Vermutlich wird sie heute Nacht kein Auge zutun. Deine Drohungen und Schreckensszenarien werden ihr wahrscheinlich Albträume bescheren. Sie ist überaus anfällig für Albträume.“

An der Tür fügte sie hinzu: „Du verstehst dich wahrhaftig darauf, eine Heimkehr unvergesslich zu gestalten, Bruderherz. Lily war so froh, dich zu sehen – und nun schau sie dir an. Hoffentlich bist du stolz auf dich.“ Leise schloss sie die Tür, sodass Cal mit seinen Gewissensbissen und seiner Verzweiflung allein war.

Er hasste es, wenn Frauen weinten. Nie fühlte er sich ohnmächtiger als in solchen Situationen. Er kam sich wie ein ausgemachter Unhold vor, weil er schuld an Lilys Tränen war. Lily war ein kleiner Engel, warmherzig und unschuldig. Offenbar war nicht sie das Problem – sondern Rose.

Rose hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Bei Gott, sie war eine harte kleine Nuss. Sie hatte ihm beharrlich und ungerührt getrotzt und ihm deutlich vor Augen geführt, dass sie sich ihm nicht zu beugen gedachte, Bruder hin oder her.

Sie würde sich eines Besseren besinnen, denn er würde ihren Ungehorsam nicht hinnehmen. Und auch nicht ihre Unverfrorenheit.

Insgeheim war er beinahe stolz auf sie, weil sie sich nicht hatte einschüchtern lassen. Wäre sie als Junge zur Welt gekommen, sie hätte einen großartigen Soldaten abgegeben. Er hatte die Mädchen genauso abgekanzelt, wie er einen pflichtvergessenen jungen Offizier unter seinem Kommando abgekanzelt hätte, doch hatte Rose das beeindruckt? War sie eingeknickt? Kein bisschen.

Aber Rose war kein Junge. Sie war ein verfluchtes Ärgernis. Und zumindest vorläufig war sie sein verfluchtes Ärgernis.

Und noch immer wusste er nicht, wo sie gewesen waren und was sie getrieben hatten.

Kaum war die Küchentür hinter ihnen zugefallen, nahm Rose den tröstenden Arm von Lily. Sie eilten die Treppe hinauf, huschten in ihr gemeinsames Schlafzimmer und schlossen die Tür hinter sich.

„Du kannst jetzt aufhören“, meinte Rose und warf Lily ein Taschentuch zu. „Hierher wird er uns nicht folgen.“

„Es dauert einen Moment“, erwiderte Lily, wobei sie sich behutsam die Wangen abwischte. „Ich bin nämlich kein Wasserhahn.“

„Aber du bist mindestens so gut – nein, besser! Ich wünschte, ich hätte diese Gabe. Sie ist eine solch hervorragende Waffe.“

„Keine Waffe, eine Verteidigung“, stellte Lily richtig. „Oder eine Ablenkung. Heute allerdings komme ich mir ein wenig schäbig vor, weil ich Cal an seinem ersten Abend zu Hause damit zugesetzt habe.“

„Pah! Er hat es verdient, er war absolut unausstehlich. Dieses ganze Gerede von Mädchenhandel und türkischen Bordellen und Kleiderraub und nackt in der Gosse enden. Er wollte uns nur ein schlechtes Gewissen bereiten, und daher haben wir – nun gut, du – dafür gesorgt, dass er ebenfalls eines hat. Ich muss schon sagen, es hat wunderbar gewirkt. Hast du sein Gesicht gesehen?“

Lily nickte. „Ich komme mir trotzdem gemein vor.“

„Unsinn, es war eine exzellente Strategie. Ihm liegt nichts an uns, Lily. Er ist genau wie Vater und Henry – er schert sich keinen Deut um uns oder unsere Gefühle, solange wir ihm nur keinen Ärger machen. Er hat ja nicht einmal vor, in England zu bleiben.“

„Vielleicht, aber …“

„Zehn Jahre war er fort und hat kaum je von sich hören lassen, und was tut er bei seiner Rückkehr als Erstes? Er bleibt wach, um uns aufzulauern und anzuherrschen.“

„Angeherrscht hat er uns eigentlich nicht“, widersprach Lily. „Er war einschüchternd, aber auf sehr stille Weise.“

Rose lächelte breit. „Wie deine Tränen.“

„Ich wünschte, du hättest ihm nicht gesagt, dass ich Albträume habe.“

„Aber die hast du.“

„Ja, doch nicht oft.“ Lily hängte ihr Kleid auf, ein Kleid aus laubgrünem Tupfenmusselin mit dunkelrosa Biesen. „Ich habe ihn als gutherzigen großen Bruder in Erinnerung.“

„Von den wenigen Malen, die wir ihn zu Gesicht bekommen haben.“

„Ja, aber das war nicht seine Schuld. Meist war er auf der Schule, und danach ist er in den Krieg gezogen.“

„Der Krieg ist seit Jahren vorbei, doch ist er heimgekommen? Hat er auch nur ansatzweise Interesse an uns bekundet? Oder hat er uns hiergelassen, damit wir … damit wir hier versauern!“ Rose hängte ihr himmelblaues Kleid aus schimmerndem Baumwollstoff auf und glättete es wehmütig. „Es ist seit einem Jahr aus der Mode, und ich liebe es immer noch. Ich habe es so satt, Schwarz zu tragen! Nach der Trauerzeit nächstes Jahr werde ich über zwanzig sein, Lily. Ich möchte jetzt leben, nicht erst nächstes Jahr!“

Seufzend steckte Lily ihre Strümpfe ineinander. „Ich weiß.“ Sie zog sich ihr Nachthemd über den Kopf. „Glaubst du, es hat Tante Dottie wirklich bekümmert, dass wir unterwegs waren?“

„Falls ja, ist das allein ihm anzulasten. Sie mag nicht gutheißen, dass wir uns ab und zu davonstehlen, aber sie macht kein Gewese davon – abgesehen von dem einen Mal, da wir aus dem Fenster gestiegen sind. Und sie weiß, dass wir auf uns aufpassen können. Ihr zumindest liegen wir am Herzen. Sie sieht keine lästigen Plagegeister in uns.“

Lily nickte. „Tante Dottie ist ein Schatz.“

Rose sah sie an. „Du hast viel von ihr, weißt du.“

Lily seufzte und legte sich die Hände auf den rundlichen Bauch. „Ich weiß. Ich versuche ja schon, weniger zu essen, aber dick bin ich dennoch.“

„Du Dummchen, damit meinte ich, dass du gutherzig, fürsorglich und sanftmütig bist. Und wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht dick, sondern kurvenreich bist?“

„Ich wäre lieber schön, so wie du.“

„Ha! Und ich wäre lieber frei, um zu tun, was ich will.“

Am folgenden Morgen machte sich Cal noch vor dem Frühstück daran, einige Briefe zu verfassen. Der wichtigste davon war an seine Tante Agatha in London gerichtet. Er hätte ihr einen Besuch abstatten sollen, gleich nachdem er nach England zurückgekehrt war – sie legte größten Wert auf korrekte Umgangsformen –, aber dafür war es nun zu spät.

Tante Dottie war berüchtigt für ihr weiches Herz; ihre ältere Schwester indes wurde rundheraus gefürchtet. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Mädchen ihr auf der Nase herumtanzen würden.

Er schrieb auch an Phipps, um ihn davon zu unterrichten, dass er noch drei, vier Tage lang in Bath weilen würde, und er wies ihn an, ihm etwaige Post hierher nachzusenden. Es gab mehrere Männer auf seiner Liste, die er von Bath aus überprüfen konnte.

Er fand Wachs, um die Briefe zu versiegeln, und frankierte sie mit einem Freistempel der Armee. Erst da ging ihm auf, dass er seine Korrespondenz nunmehr als Lord Ashendon frankieren konnte. Er nahm den Brief an den Anwalt zur Hand und schrieb die kurze Bitte auf das Kuvert, man möge das Ashendon-Siegel finden und ihm schicken.

Die Uhr auf dem Gang schlug zehn, als er die Briefe auf den Korridortisch legte, damit sie aufgegeben wurden. Just in dem Moment kamen seine Tante und die beiden Mädchen die Treppe herunter.

Sie glichen einer Krähenparade, allesamt in strenges Schwarz gehüllt. Cal blinzelte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Mädchen vergangene Nacht kein Schwarz getragen hatten.

Schwarz stand Rose, denn es betonte ihr blondes Haar und ihren hellen Teint. Lilys Wangen hingegen schien es alle Farbe zu entziehen. Vielleicht war die Blässe auch das Ergebnis von Albträumen, die sie ihrem lange verschollenen Bruder verdankte.

Er rang sein schlechtes Gewissen nieder. Lieber ein paar Albträume als das, was jungen Mädchen, die allein durch die Nacht streiften, widerfahren konnte.

„Guten Morgen, Tante Dottie, Rose, Lily.“

Strahlend drehte sich Tante Dottie zu seinen Schwestern um. „Seht ihr, Mädchen, das ist die wundervolle Überraschung, die ich euch versprochen habe – euer Bruder Cal, der endlich aus dem Krieg heimgekehrt ist.“

Offenbar hatten die Mädchen ihr nichts von der Begegnung letzte Nacht erzählt. Sie rührten sich nicht. Tante Dottie lachte und schob sie behutsam vorwärts. „Nicht so schüchtern, Mädchen, das ist euer Bruder. Derselbe nette Bursche, der er früher schon war, nur größer und mit breiteren Schultern. Na los, heißt ihn mit einem Kuss willkommen. Wisst ihr noch, wie sehr ihr ihn vermisst habt, nachdem er fortgegangen war?“

„Guten Morgen, Cal“, murmelte Lily. Sie trat vor und küsste ihn so artig wie flüchtig auf die Wange. Der Unterschied zu der warmen, innigen Umarmung vergangene Nacht hätte nicht größer sein können.

„Guten Morgen, Bruderherz.“ Rose hauchte Küsse in die Luft neben seinen Wangen. „Eine wirklich wundervolle Überraschung.“ Sie entblößte ihre Zähne, die Parodie eines Lächelns.

Demnach herrschte Krieg.

Tante Dottie bemerkte die Anspannung anscheinend nicht. Cal machte Platz, um den Damen den Vortritt in das Frühstückszimmer zu lassen. Tante Dottie ging voran, und Lily bildete die Nachhut.

„Wie hast du geschlafen, Lily?“, fragte er gedämpft, als sie eintraten.

Sie sah ihn seltsam, fast schuldbewusst an. „Sehr gut, danke.“

„Das freut mich“, erwiderte er leise.

Autor

Anne Gracie
<p>Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Geschichte generell, aber auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist Inspirationsquelle für Anne, deren erster Roman für den RITA Award in der Kategorie beste Erstveröffentlichung...
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