Vorhang auf für die skandalöse Lady

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Die bildhübsche Lady Joan Wilde ist berüchtigt für ihre Skandale. Neuerdings ist sie entschlossen, in einem Theaterstück die Rolle des Hamlet zu spielen – in Männerkleidung! Thaddeus Erskine Shaw, Viscount Greywick, ist fassungslos, als er von diesem Plan erfährt. Der Auftritt würde Joans gesellschaftlichen Ruin bedeuten. Als Gentleman sieht er es als seine Pflicht an, die Adelige vor sich selbst zu beschützen. Er nimmt ihr ein Versprechen ab: Wenn er ihr hilft, bei der Aufführung einen Skandal zu verhindern, wird sie danach umgehend einen von drei Ehekandidaten heiraten, die er ihr präsentiert. Doch bald kann der Viscount selbst sich Joans Liebreiz nicht mehr verschließen …


  • Erscheinungstag 01.08.2023
  • Bandnummer 394
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516259
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch ist meiner wunderbaren Freundin und
Autorenkollegin, Lisa Kleypas, gewidmet.

Inmitten einer Pandemie historische Liebesromane
zu schreiben, ist eine Herausforderung, doch Lisas vergnügte Unterstützung bei der Entwicklung der Charaktere dieses Buches hat mir den Rücken gestärkt und mir ermöglicht, einen heiteren Roman zu schreiben.

1. Kapitel

Lindow Castle

Landsitz des Duke of Lindow, Cheshire

20. August 1784

Ich brauche Kurven, wenn du willst, dass ich eine Frauenrolle spiele“, beschwerte sich Otis Murgatroyd und blickte stirnrunzelnd in den Spiegel.

„Ich versuche es ja“, sagte Joan und zerrte an den Schnüren seines Korsetts. „Zieh deinen Bauch ein.“

„Ich dachte immer, die Walfischknochen würden das erledigen“, brummte Otis. „In den Anzeigen von Madame Turcotte wird behauptet, ihre Korsetts könnten eine Steinmauer biegen.“

Lady Joan Wilde, Tochter des Duke of Lindow, zog ein letztes Mal kräftig, bis sich eine winzige Kurve in der Taille ihres besten Freundes zeigte. Sie schnitt eine Grimasse, als sie ihre geröteten Finger sah, und schnürte das Korsett zu. „Und jetzt die Turnüre. Eine Robe à l’anglaise hat wenigstens keine Polster.“

Otis’ Kleid war auf dem Dachboden ausgegraben worden und völlig aus der Mode. Aber er würde sich ja auch nicht wie eine Frau gekleidet in die feine Gesellschaft begeben, sondern lediglich auf der privaten Bühne auf Lindow Castle auftreten. Dreißig Minuten später brach Joan erschöpft auf dem Sofa zusammen und schwor sich, den Lohn ihrer Kammerzofe zu erhöhen.

Otis dagegen sah frisch wie das sprichwörtliche Gänseblümchen aus. Er trug einen grünen Unterrock mit einer gelb gestreiften Organdy-Schürze und darüber einen erdbeerfarbenen Rock. Dazu ein passendes Mieder und ein Spitzenschultertuch, dessen Rüschen bis ans Kinn reichten.

„Deine Perücke rutscht“, stellte Joan fest. Er trug das, was ihre Tante eine „Stachelbeerperücke“ nannte, mit fein gekräuselten Löckchen über den Ohren, was in der Tat Ähnlichkeit mit einem Stachelbeerstrauch hatte.

Otis rückte die Perücke gerade, dann nahm er einen Hut aus erdbeerfarbener Seide, verziert mit einer dunkelgrünen Schleife, und setzte ihn auf die Perücke. Die Schleife rückte er in einen verwegenen Winkel zurecht. „Ich liebe es, diese bunten Farben zu tragen.“

„Du warst schon immer bestrebt, wie der Regenbogen auszusehen“, sagte Joan trocken. In den drei Jahren, seit sie Otis kannte, war seine Kleidung immer gewagter geworden. Seine Aufmachung bei einem Empfang in einem Salon der Königin war berühmt-berüchtigt – damals hatte er einen apricotfarbenen Gehrock zu lila Kniehosen getragen.

„Aber jetzt bin ich auch noch so gebogen wie einer“, meinte Otis lachend.

„Du hörst dich aber nicht an wie eine Dame“, sagte Joan.

„Und ich bin nicht sehr hübsch.“

Das stimmte. Als Mann war Otis auf lausbubenhafte Art gut aussehend, wenn auch recht klein, aber in Frauenkleidern war er erschreckend unansehnlich. „Du dagegen siehst in Kniehosen so schön aus wie eh und je“, fügte er hinzu.

Joan zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihrer Schönheit stets eher als Nachteil denn als Gewinn angesehen, da ihr goldenes Haar, die blauen Augen und die makellose Haut sie zum Ebenbild eines gewissen preußischen Grafen machten, mit dem ihre Mutter durchgebrannt war und damit einen Skandal verursacht hatte.

Mehr als ein Gentleman hatte die bloße Vorstellung verworfen, eine Frau zu heiraten, deren Haarfarbe von ihrer illegitimen Abkunft zeugte.

Zum Glück war Joan auf Lindow Castle aufgewachsen, umgeben von einer riesigen, liebevollen Familie. Sie hatte stets gewusst, wer sie war – eine Wilde. Der Duke würde jeden umbringen, der ihm ins Gesicht sagte, sie wäre nicht seine Tochter.

Sie stand auf und betrachtete sich im Spiegel. Anstelle einer Dame sah sie einen goldhaarigen, blauäugigen Jüngling, gekleidet in einen schlichten Gehrock aus rauchigem Grün mit Silberstickereien an der Vorderseite und den Ärmeln.

Jung und feingliedrig, aber ein Mann mit allen Privilegien eines Mannes.

Sie grinste ihr Spiegelbild an. „Mein Lieblingsteil an diesem Kostüm ist der Degen.“ Sie legte eine Hand an den Griff und warf sich in Pose, ein leicht gebeugtes Knie ein wenig ausgestellt.

„Wenn die Matronen von deinen Beinen in diesen Kniehosen Wind bekommen“, sagte Otis, „wird man dich aus der feinen Gesellschaft verbannen. Endgültig.“

Joan zuckte erneut mit den Schultern. In den letzten zwei Jahren hatte sie ständig kurz vor dem Ruin gestanden. Manchmal hatte sie keine Schuld an dem Skandal getragen, zum Beispiel, als der junge Lord Stuckley sie von einem Ball entführt hatte, um eine Heirat zu erzwingen. Sie hatte ihn mit dem Griff seines eigenen Schwertes bewusstlos geschlagen. Im ton galt das als ausgesprochen undamenhaft, und die Tatsache, dass sie anschließend zum Ball zurückgekehrt war und die Nacht durchgetanzt hatte, wurde als grober Angriff auf die kultivierte Empfindsamkeit gewertet.

Ihr Vater war wütend auf Stuckley gewesen, nicht auf Joan. Doch als Joan dabei erwischt wurde, wie sie in einer Gartenlaube einen Marquess küsste – und anschließend das Angebot ausschlug, eine Marchioness zu werden –, war er gar nicht glücklich. Ein paar Wochen später küsste sie den Ehrenwerten Anthony Froude auf einer Galerie, die vom gesamten Ballsaal aus hervorragend einsehbar war. Dieser Skandal weitete sich noch aus, als sie Lady Froude darüber informierte, dass die Küsse ihres Sohnes nur deshalb berauschend gewesen seien, weil er sich bereits eine Flasche Brandy einverleibt hatte.

„Vater hat mir erlaubt, für dieses Stück Hosen zu tragen. Er weiß, dass ich es leid bin, immer nur die Jungfrau in Not zu spielen“, erklärte Joan jetzt. „Aber ich sollte hinzufügen, dass er mir verboten hat, das Grundstück in männlicher Aufmachung zu verlassen. Der Duke hat sein Verbot allerdings nicht auf dich in einem Kleid ausgeweitet.“

„Ich nehme an, wir gehen direkt zum Schlosstor“, sagte Otis. Er hatte Erfahrung mit Joans Plänen.

„Natürlich, wir müssen unsere Kostüme ja in der Öffentlichkeit auf die Probe stellen“, erwiderte Joan. Sie setzte ihre Perücke auf, ein zierliches Ding, das knapp auf ihr geflochtenes Haar passte. Sie hatte nur zwei ordentliche Locken über jedem Ohr und einen kurzen Zopf im Nacken. „Dein Kammerdiener hat deine Augenbrauen sehr gut hinbekommen, aber du brauchst noch Puder und ein paar Haarnadeln, um deine Perücke festzustecken.“

Otis machte Anstalten, sich auf den Hocker vor dem Frisiertisch zu setzen, doch er verschätzte sich, und er und seine riesige Turnüre landeten auf dem Boden.

In einem Wirrwarr aus Röcken lag er da und schaute zu ihr hoch. „Warum trägt irgendjemand, der bei klarem Verstand ist, einen Reifrock?“

„Hoch mit dir!“ Joan reichte ihm die Hand und ignorierte die Frage, auf die sie keine Antwort hatte. Sie zog ihn hoch, hob seine Perücke auf und befestigte seinen Hut.

„Ich würde lieber meinen Text üben, als spazieren zu gehen“, sagte Otis, nahm Joans Puderquaste und puderte sich großzügig das Gesicht. „Die einzige Textzeile, an die ich mich aus Hamlet erinnere, ist der Vater des Prinzen, der Gedenke mein stöhnt.“

„Es ist etwas faul im Staate Dänemark“, sagte Joan gut gelaunt. „Hamlets Vater wird von seinem Onkel getötet, der das Königreich übernimmt und Hamlets Mutter heiratet. Hamlet schimpft mit seiner Mutter und beendet die Beziehung zu Ophelia – das bist du – und unternimmt mit ein paar Piraten eine Seereise. Am Ende kehrt er zurück, um Rache zu üben, und im letzten Akt sind alle tot.“

„Einschließlich Ophelia, also mir“, betonte Otis. „Solche Stücke liegen mir nicht, wie ich ganz offen sagen muss. Wenn ich mich recht entsinne, klagt sie endlos darüber, dass Hamlet sie nicht liebt. Auswendiglernen war noch nie meine Stärke. Außerdem müsste Hamlet schon blind sein, um sich in mich zu verlieben.“

Er deutete auf den Spiegel. Joan musste zugeben, dass Otis’ kantiges Kinn auch unter einer dicken Schicht Puder nicht verschwunden war.

„Der Schlüssel zum Schauspiel ist die Vorstellungskraft“, erläuterte sie ihm. „Konzentriere dich auf eine traurige Dame. Weißt du noch, wie Miss Trestle geweint hat, als ihr Spaniel gestorben ist? Ahme einfach ihren Gesichtsausdruck nach.“

Joan war unbegabt für jegliche Handarbeit; sie konnte das Pianoforte nicht spielen, und die von ihr gemalten Aquarelle waren nicht vorzeigbar. Ihr einziges Talent war das Theaterspielen.

Leider war es Damen nur gestattet, anmutige, damenhafte Rollen zu spielen, und auch das nur in gelegentlichen privaten Aufführungen. Sie war es leid, die holde Maid zu mimen, die darauf wartet, dass der Prinz sie rettet. Sie wollte den Prinzen spielen, der gegen Piraten kämpft.

Zum Glück hatte ihr Vater ihrem Flehen endlich nachgegeben und ihr gestattet, einen Prinzen zu spielen – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ein Mitglied der Familie oder eine Freundin die Rolle von Hamlets Geliebter übernahm. Nachdem sämtliche Frauen in ihrer Familie sich einhellig geweigert hatten, die Ophelia zu spielen, und sei es nur für einen Abend, war ihr Freund Otis in die Bresche gesprungen.

Er versuchte, einen Schmollmund zu machen, womit er aussah, als litte er unter Verdauungsstörungen. „Ich nehme an, du hast dir einen wahren Fürsten ausgesucht, den du imitieren willst?“

„Fürstlicher geht es kaum“, bestätigte Joan. Viscount Greywick, der zukünftige Duke of Eversley, war der aufgeblasenste, lästigste Mann, den sie je getroffen hatte. Er hatte zwei ihrer Schwestern den Hof gemacht, doch zum Glück hatten sowohl Betsy als auch Viola ihn abgewiesen.

Sie konzentrierte sich für einen Moment, um sich die Haltung seiner Schultern (natürlich arrogant), den Schwung seiner Lippen (alles andere als vergnügt) und seinen Blick (nahezu gottgleich, da er niemals auch nur den geringsten Fehler machte) ins Gedächtnis zu rufen.

Laut Jeremy, einem ihrer Schwäger, war Greywick schon in Eton perfekt gewesen.

Ein Musterknabe.

Eine Ehre für den englischen Adel.

Alles, was sie nicht war.

Sie drehte sich zu Otis um und nahm den Ausdruck aristokratischer Herablassung an, die Haltung eines Mannes, der seinen Stammbaum für wichtiger hielt als seinen Charakter. Oder besser: der glaubte, sein Stammbaum wäre sein Charakter.

Eines Tages würde Greywick ein Duke sein, und soweit Joan erkennen konnte, vergaß er diese Tatsache niemals, nicht für einen Moment.

Außerdem weilten er und seine Mutter zurzeit zu Besuch auf dem Schloss und würden der Aufführung von Hamlet beiwohnen. Die Vorstellung, Greywick vor seinen Augen nachzuahmen, war überaus vergnüglich.

„Nicht schlecht.“ Otis hob seine Brauen. „Du wirkst wahrhaft fürstlich. Aber war Hamlet so herablassend? Ich dachte, er wäre eher ein netter Bursche.“

„Hamlet ist ein Prinz“, sagte Joan. „Sobald er laufen konnte, wurde ihm beigebracht, dass er etwas Besseres ist als alle anderen.“

„Ich wäre lieber arrogant als melancholisch.“ Otis versuchte erneut, einen Schmollmund zu machen. „Oh, ich bin so eine Heulsuse. Ich werde ins Wasser gehen, weil der Prinz meine Kurven nicht zu schätzen weiß.“

„Auf geht’s!“, rief Joan und wandte sich zur Tür. „Wir können deinen Text in der Bibliothek üben.“

„Geh du vor. Ich brauche noch einmal den Nachttopf“, sagte Otis. „Wie auch immer das funktionieren soll.“ Er hob seine schweren Röcke an und ließ sie auf den Boden fallen.

Joan lachte. „Es ist nicht einfach, eine Dame zu sein. Ich sehe dich unten.“

Draußen auf dem Korridor blieb sie kurz stehen, um ihren Degen auszurichten. Der Gürtel gehörte einem ihrer Brüder und war nicht für die Hüfte einer Dame gemacht.

Joan war schlank, aber sie hatte Rundungen an den richtigen Stellen – oder an den falschen, wenn es um Degen ging.

Sie wählte die Hintertreppe als Abkürzung zur Bibliothek, doch sobald sie das Erdgeschoss erreicht hatte, begann der Gürtel, erneut zu rutschen. Mit gesenktem Kopf kämpfte sie gegen die Schnalle, während sie um die Ecke bog und direkt in jemanden hineinlief.

„Verzeihung“, sagte sie und blickte auf.

Zum Teufel aber auch.

Er war es.

2. Kapitel

Thaddeus Erskine Shaw, Viscount Greywick, war der Familie Wilde aufrichtig zugetan. Seine Mutter war eine enge Freundin der Schwester des Dukes, Lady Knowe; er selbst war ein Schulfreund der Söhne und von einem der Schwiegersöhne Seiner Gnaden.

Aber Joan gehörte nicht zu seinen Favoriten.

Ihre Schwester Betsy war klug und witzig; ihre Schwester Viola war herzig und anmutig. Er hätte zu gerne eine der beiden geheiratet.

Joan dagegen hatte er nie als seine zukünftige Duchess in Erwägung gezogen – weil sie illegitimer Abkunft war, doch vor allem, weil sie so schrecklich nervtötend war. Ausgesprochen lästig.

„Lady Joan“, sagte er tonlos.

Irgendwann während der letzten Saison hatten sie aufgehört, sich mit mehr als einem Mindestmaß an Höflichkeit zu begrüßen. Irgendwann? Er wusste auf die Minute genau, wann ihre verhaltene Feindseligkeit in offenen Krieg umgeschlagen war.

Am zehnten April hatte er sich vor ihr verbeugt und sie um einen Tanz gebeten – aus reiner Höflichkeit, denn er wollte weiß Gott keine Zeit mit ihr vergeuden. Sie hatte einen Moment geschwiegen und dann gesagt: „Sie müssen mir vergeben. Ich habe Kopfschmerzen. Ich denke, ich werde nach Hause fahren.“ Sie hatte nicht einmal versucht, überzeugend zu wirken, und da niemand in London so überzeugend lügen konnte wie sie, kam das einer unverhohlenen Beleidigung gleich.

Er hatte sich noch einmal verbeugt, woraufhin sie sich entfernt hatte. Obwohl er Befriedigung verspürte, weil er wusste, dass er keine Miene verzogen hatte, brannte heißer Zorn in seinem Inneren.

Wenige Minuten später war sie an ihm vorbeispaziert, vertraulich Arm in Arm mit dem Ehrenwerten Anthony Froude. Sie hatte die verdammte Frechheit besessen, ihm einen Blick zuzuwerfen, ehe sie Froude auf die Galerie zog und den Mann bis zur Besinnungslosigkeit küsste.

Als sie sich das nächste Mal trafen, verbeugte er sich nicht, sondern nickte lediglich. Sie blinzelte, als könnte sie sich nicht daran erinnern, warum er so kühl war. Dann warf sie ihm einen vernichtenden Blick zu und sagte: „Sie grollen mir, nicht wahr? Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so empfindlich sind. Möglicherweise sehen Sie mich auch als völlig inakzeptabel an. Es bleibt zu hoffen.“

Erneut musste er ihr nachsehen, als sie davonging.

Und jetzt …

Selbst hier im schwach erleuchteten Korridor des Schlosses strahlte sie. Das war das Vertrackte bei ihr: Sie sah einfach atemberaubend aus. Nicht, dass Schönheit für eine Wilde unüblich gewesen wäre.

Aber sie war keine Wilde.

Sie hatte weder die dunklen Brauen des Dukes noch sein schwarzes Haar oder sein Kinn. Ihre goldenen Brauen hatten dieselbe Farbe wie ihr Haar, und ihre Nase war eine perfekte Nachbildung der Nase dieses berühmt-berüchtigten Preußen, obgleich in der weiblichen Ausgabe.

Doch seiner Ansicht nach war es nicht dieses Haar, das sie so außergewöhnlich machte. Es war die Art, wie sie ihre Augen sprechen ließ. Und ihre Lippen: Keine andere Frau hatte einen Mund wie sie. Eine volle Unterlippe, einen ausgeprägten Amorbogen und eine anmutige Hebung der Mundwinkel, sodass sie ständig amüsiert wirkte. Dazu die Art, wie sie lachte …

Er schüttelte diese Idiotie ab.

„Was zum Teufel tragen Sie denn da?“, fragte er grimmig, gleichermaßen verärgert über sich selbst wie über sie.

„Kniehosen“, antwortete sie und lächelte ihn unverschämt an.

„Das sehe ich.“ Joan war schon im besten Fall eine Versuchung, aber jetzt? Da die Seide sich eng um ihre Schenkel schmiegte? „Sie dürfen keine Hosen tragen.“

„Es bedeutet mir so viel, dass Sie es missbilligen“, entgegnete Joan. Ihr Lächeln wurde breiter, und ihre blauen Augen funkelten plötzlich vor Freude.

Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Ich sehe schon seit Jahren, wie Sie diesen Gesichtsausdruck einsetzen. Sie wissen doch gewiss, dass er bei mir nicht funktioniert?“

Er log. Er hatte gesehen, wie Joan jedem Gentleman unter sechzig Jahren in London schöne Augen gemacht hatte, und obwohl er wusste, dass es nur eine Darbietung war …

Trotzdem. Er war schließlich ein Mann.

Kein Mann konnte ihrem gut eingeübten Blick ungerührt widerstehen. Diesem Blick, der ihr Gesicht in das einer sinnlichen, lachenden Verführerin verwandelte, diesen Augen, die schworen, dass er der begehrenswerteste Mann auf der Welt sei.

Der Gesichtsausdruck verschwand wie weggewischt, und sie starrte ihn ungeduldig an. „Gehen Sie mir aus dem Weg, wären Sie so freundlich, Greywick? Mein Vater weiß, dass ich diese Hosen trage, und er billigt es. Wir stimmen ja wohl beide darin überein, dass er die einzige Autorität unter dem König ist, die ich anzuerkennen habe.“

Ärger stieg in ihm auf. Er war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass der Duke of Lindow sich Joan gegenüber sträflich großzügig verhielt, doch dies hier grenzte an Blasphemie. „Seine Gnaden billigt es?“ Er zwang die Worte durch die zusammengebissenen Zähne heraus. „Er billigt es, dass man Sie in dieser Aufmachung sieht?“

„Sie brauchen nicht so ein entsetztes Gesicht zu machen“, sagte Joan. Offenkundig war sie vollkommen unbeeindruckt von seinem Tonfall, den er nur ausgesprochen selten einsetzte. Sie musterte ihn aus schmalen Augen. „Wenn Sie nicht aufpassen, werden Sie noch selbstgerechter und unduldsamer, als Sie es ohnehin schon sind. Sie sehen so griesgrämig aus wie ein Quäker in einer Schenke.“

„Ich sehe entsetzt aus, weil ich es bin. Das wird Ihr Ruin sein.“ Er knurrte fast, als er das Wort aussprach, und hatte Mühe, sich zusammenzureißen. Wenn sie ruiniert wäre, würde man sie aus der feinen Gesellschaft verbannen.

Aus den Kreisen, in denen er sich bewegte. Aber das war ihm egal.

„Wissen Sie, wie oft ich genau diesen Satz schon gehört habe?“ Sie zuckte mit den Schultern. „So gut wie jede Woche in den letzten zwei Jahren. Für den Fall, dass Sie sich nach dem Warum fragen, Greywick – es wird daran liegen, dass ich eine Erbin bin, und die Tochter eines Dukes, zumindest dem Namen nach. Macht und Geld triumphieren über Illegitimität.“

„Sie sind unbesonnen und gleichgültig“, sagte er tonlos.

„Das auch“, stimmte sie zu. „Würden Sie jetzt bitte Ihren ungeschlachten Körper aus dem Korridor bewegen? Ich könnte meinen Degen ziehen und meinen ersten Stoß wagen – ha! Verstehen Sie? Mein Vorspiel als Mann!“

„‚Vorspiel‘?“ Er hörte selbst, wie ungläubig seine Stimme klang.

„Du liebe Güte. Ich habe vermutlich den kleinlichsten Mann von ganz London schockiert … schon wieder. Wozu tragen Männer heutzutage überhaupt noch Degen? Warum? Damit sie sich selbst erregen können, indem sie so tun, als hätten sie einen Anspruch auf Männlichkeit. Ihre Gegner spießen sie lieber auf anstatt …“

„Es wird Ihr Ruin sein“, wiederholte er und unterbrach sie. „Man wird Sie aus der feinen Gesellschaft ausschließen.“

„Wehe mir!“, rief Joan. „Stellen Sie sich nur vor: Wenn ich nicht gezwungen wäre, einen zukünftigen Duke auf geistlosen Bällen und bei geschmacklosen Dinnern zu unterhalten, müsste ich es vielleicht nicht erdulden, von ihm für eine ganze Saison verachtet zu werden. Wenn er mich nicht ignoriert.“ Ihre Stimme war eisig.

Thaddeus spürte einen Muskel an seinem Kinn zucken. „Ich … Sie tanzen gerne.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Wand. „Nur mit manchen. Reden Sie weiter, Eure Lordschaft. Dies ist ein unschätzbarer Moment der Inspiration. Ich werde mir jedes Wort eines titeltragenden königlichen Bastards einprägen.“

„Ich bin kein …“ Er biss die Zähne zusammen.

„Oh, richtig“, sagte sie leichthin. „Ich bin der Bastard, nicht Sie. Und Sie sind auch nicht königlich, aber glauben Sie mir, Sie sind königlicher als König George persönlich, also bleibe ich dabei.“

„Worüber reden Sie da?“

„Prinz Hamlet“, sagte sie und hob eine Braue. „Mein Auftritt. Sie wissen doch gewiss Bescheid darüber?“

Thaddeus runzelte die Stirn. Seine Mutter und er waren am Abend zuvor angekommen und wollten vierzehn Tage bleiben. Der Butler hatte eine Vorstellung der Kompanie des Theatre Royal in der Drury Lane erwähnt. „Ich dachte, eine Theatergruppe würde das Schloss besuchen.“

„Ich spiele den Prinzen von Dänemark“, sagte Joan. „Mein Vater lässt nicht zu, dass ich eine Liebesszene mit einem Schauspieler der Kompanie spiele, also wird Otis die Ophelia spielen. Nicht, dass man es eine Liebesszene nennen könnte, wenn Hamlet Ophelia anschreit, sie möge in ein Kloster gehen.“

„Otis Murgatroyd spielt die Ophelia – in einem Kleid?“, fragte Thaddeus zweifelnd. „Ist die Vorstellung also so etwas wie eine Pantomime?“

„Keine Pantomime, sondern eine ernsthafte Aufführung des Hamlet“, sagte Joan. Ihre Augen funkelten übermütig. „Ich werde den Prinzen spielen, in genau diesen Kniehosen.“

„Nein.“

„Das war ein guter Blick“, meinte sie anerkennend. „Ich glaube nicht, dass ich dieses zuckende Kinn hinbekomme, aber …“ Sie blickte finster drein und schloss die Lider zur Hälfte. „Wirke ich wie ein wütender Edelmann? Hamlet ist zeitweise erschreckend zornig.“

„Sie spielen die männliche Hauptrolle in einem Shakespeare-Stück, vor Publikum, zusammen mit professionellen Schauspielern“, sagte Thaddeus. Er hatte Mühe, das alles zu begreifen. „Das dürfen Sie nicht, Lady Joan. Das können Sie nicht tun.“

Er sah genau, wann sie sich wirklich erzürnte. Joan liebte es, in Rollen zu schlüpfen. Er hatte erlebt, wie sie sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit von der kecken Jungfrau in die geübte Verführerin verwandelte. Kein Gesichtsausdruck, den sie aufsetzte, hatte eine Wirkung auf ihre Augenfarbe, doch jetzt verdunkelten sich ihre Augen zu einem kalten Stahlblau, und sie verspannte sich am ganzen Körper. „Ich betrachte meine Familie und ein paar Vertraute nicht als ein Publikum.“

„Seien Sie keine Närrin“, knurrte er. „Die Nachricht wird die Runde machen. Was wird aus Ihrer jüngsten Schwester, wenn Sie ruiniert sind?“

Sie bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. „Artie ist eine Wilde, Greywick. Eine echte Wilde, nicht so wie ich. Niemand aus Ihren geschätzten Kreisen wird sich darum scheren, wenn ich nie wieder in der Gesellschaft auftauche. ‚Endlich sind wir dieses Gelumpe los‘ – wird man – werden Sie – sagen.“

Ungläubig starrte Thaddeus sie an. „Niemand hat Sie in meiner Gegenwart je ‚Gelumpe‘ genannt“, sagte er und hörte den drohenden Unterton in seiner Stimme. „Das würde niemand wagen.“

„Nur, weil Sie das Vergnügen für sich selbst reservieren“, gab sie zurück. „Nur zu Ihrer Information – man hat mich schon alles Mögliche genannt, von ‚turbulenter Göre‘, bis ‚Dirne‘, aber ‚von niederer Geburt‘ und ‚Liebeskind‘ sind meine Favoriten.“

„Die Leute haben Ihnen das ins Gesicht gesagt?“

„Von dem Moment an, als ich mit meinen Schwestern in der Schule eintraf“, bestätigte Joan.

Etwas in Thaddeus’ Brust löste sich, als er den Ausdruck in ihren Augen sah. Es hatte ihr nichts ausgemacht.

„Ich gebe nichts auf die Meinung selbstgerechter Moralisten“, bestätigte sie.

Offenkundig zählte sie ihn zu diesen Moralisten.

„Sie sind die Einzigen, die sich unnötig aufregen werden, wenn die feine Gesellschaft herausfindet, dass ich in meinem eigenen Haus eine Hosenrolle gespielt habe.“

„Sie irren sich“, stellte er fest.

„Sie übertreiben maßlos“, sagte Joan ungeduldig. „Meine Schwester Betsy hat sich als Mann verkleidet, um zu einer öffentlichen Auktion zu gehen, und kurz darauf hat sie einen Marquess geheiratet. Ihren Freund Jeremy, auch wenn es mir schwerfällt, zu glauben, dass Sie Freunde haben.“

Thaddeus zuckte zusammen.

„Verzeihung“, sagte sie. „Das war wirklich unfreundlich. Ich bin sicher, dass Sie zu Leuten freundlich sind, die Sie Ihrer Zeit für würdig erachten, wie Jeremy und Betsy. Ich meine, ich weiß, dass Sie es sind.“

„Ich halte Sie meiner Zeit nicht für unwürdig“, erklärte Thaddeus und spürte, wie sein Kinn erneut zu zucken begann. „Ich … tue es nicht.“

Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Sie waren in Wilmslow, als Betsy zu der Auktion gegangen ist. Es ist erst – wie lange? – vier Jahre her.“

„Ich habe Ihre Schwester nicht zum Auktionshaus begleitet“, stellte Thaddeus klar. Er fühlte sich wie ein Fass Schwarzpulver, das jeden Moment hochgehen könnte.

Hatte er in der Vergangenheit ihre Gefühle verletzt? Joans Miene war unmöglich zu enträtseln. Sie war wie ein Chamäleon, Gefühle jagten in rascher Folge über ihr Gesicht. Ganz bestimmt hatte sie nie den Eindruck erweckt, es würde sie kümmern, was er von ihr hielt oder zu ihr sagte.

„Vermutlich, weil Sie es nicht gebilligt haben“, erwiderte Joan. „Würden Sie jetzt bitte aus dem Weg gehen? Ich kann diese Unterhaltung nicht länger ertragen, gleichgültig, wie nützlich sie für meinen Auftritt ist.“

Thaddeus blieb wie festgewachsen an seinem Platz stehen, wütende Worte sammelten sich in seinem Kopf. Es stimmte, er war nicht auf diesen speziellen Ausflug mitgekommen. Er öffnete den Mund, um alles zu erklären – aber er verteidigte seine Entscheidungen niemals.

Ein Gentleman bewies seinen Wert, indem er an den Regeln festhielt, die die Zivilisation lenkten – und an seinem eigenen Verhaltenscodex. Nur Ehre gab einem Mann das Recht, sich einen Gentleman zu nennen. Er erklärte nicht.

„Sie verschwenden keinen Gedanken daran, was für eine Auswirkung Ihr Verhalten auf andere hat“, sagte er stattdessen.

„Es wird keine geben“, entgegnete Joan rundheraus. „Meine Familie bewundert mich, und sie werden mich auch danach noch lieben. Sie werden nicht erstaunt sein, wenn die Gesellschaft mich verstößt; sie rechnen seit Jahren damit. Ich wäre nicht überrascht, wenn meine Brüder schon darauf wetten, wann es endlich passiert.“

„Sie verstehen nicht“, sagte er durch zusammengebissene Zähne. „Andere Menschen werden durch diejenigen, die die Regeln missachten, verletzt. Ihre Rücksichtslosigkeit wird Schaden anrichten.“

Mit gerunzelter Stirn sah sie ihn an. „Papperlapapp.“ Sie beugte sich vor, gerade weit genug, damit er den Holunderblütenduft wahrnehmen konnte, der ihren Haaren entströmte. Er hatte damit gerechnet, ein weicher, honigsüßer Duft, der undefinierbar zu ihr gehörte.

Sie stieß ihn gegen die Brust, kräftig genug, dass er durchgerüttelt wurde. „Nicht jeder lebt gemäß Ihren unmöglichen Ansprüchen, Greywick. Für Sie ist niemand gut genug. Zwei meiner Schwestern waren nicht gut genug!“

„Das ist nicht wahr! Sie haben sich entschieden, …“

„Und warum?“ Ihre Stimme erstarb, und ihre Blicke trafen sich. „Warum wohl haben sie sich in einen anderen Mann verliebt, wenn Sie zur Stelle waren, mit Ihnen getanzt haben, den zukünftigen Duke gespielt und sich ganz allgemein aufgeführt haben wie ein dressierter Hanswurst in einem feinen wollenen Gehrock?“

Einen Moment lang herrschte Schweigen. „Ich nehme an, Sie wollen damit sagen, dass man mich nicht mögen kann“, sagte er. „In diesem Fall können Ihre Schwestern sich tatsächlich glücklich schätzen, dass sie fliehen konnten.“

Reue blitzte in ihren Augen auf, doch ehe sie etwas erwidern konnte, hob er eine Hand. „Ihre Ansicht ist berechtigt, wenn auch nicht willkommen. Gleichwohl hänge ich nicht allein aus Gründen der Schicklichkeit an den Regeln der Gesellschaft. Andere Menschen werden verletzt, wenn selbstsüchtige, achtlose Menschen tun und lassen, was sie wollen, und jeder sich selbst der Nächste ist.“

Seine letzten Worte hallten im Korridor wider, und Joan wich tatsächlich einen Schritt zurück.

Die Luft zwischen ihnen war von Spannung erfüllt, als hätte soeben der Blitz neben ihnen eingeschlagen.

Es gab Momente, in denen eine Dame knicksen sollte, und andere, in denen sie das Weite suchen sollte. Dieser Augenblick lag irgendwo dazwischen.

Kein Knicks, aber auch kein Davonlaufen.

Nur ein würdevoller Rückzug, Schultern gerade und hocherhobenen Hauptes.

3. Kapitel

Lindow Castles günstige Lage an der Hauptstraße durch Cheshire hatte zur Folge, dass Familienangehörige, Freunde und bloße Bekannte zu jeder Tages- und Nachtzeit an der Schlosstreppe ausstiegen. Sie erwarteten, eine Mahlzeit und ein warmes Bett zu bekommen, um am Morgen nach Staffordshire oder, in die andere Richtung, nach Schottland weiterzureisen.

„Wir sind nichts anderes als eine Posthalterei“, war der Duke hin und wieder zu vernehmen, während der Butler, Prism, alles in Bewegung setzte, damit jeder unerwartete Gast einen Bettwärmer und ein frisch bezogenes Bett bekam.

Anders als ihre Stiefschwester Viola genoss Joan die Gesellschaft der Gäste. Aber sie liebte auch die Familienabende, an denen die Familie allein speiste. Oder die seltenen Gelegenheiten, wenn nur ein paar enge Freunde im Haus waren. Solche Mahlzeiten wurden im Frühstückszimmer serviert, und die Wildes traten ohne Umstände ein und versammelten sich in Sechsergruppen um die runden Tische.

Im Moment verspürte sie starke Unlust, neben oder auch nur in der Nähe von Greywick zu sitzen. Sie fühlte sich schon verletzt genug. Die Begriffe unbesonnen und gleichgültig gingen ihr unablässig durch den Kopf. Sie und Lord Greywick brachten das Schlimmste im anderen zum Vorschein. Sie war grausam gewesen, als sie gesagt hatte, er hätte keine Freunde. Natürlich hatte er Freunde! Ihre eigenen Brüder gehörten dazu.

Aber irgendwie machte das seine Verachtung für sie nur noch schlimmer. Sie war an Skandale gewöhnt; schon allein ihre Geburt war ein Skandal gewesen. Es war lächerlich, dass die Verachtung dieses speziellen Mannes sie so traf.

Vor dem Mahl blieb sie auf der anderen Seite des Salons und ging an Otis’ Arm zum Abendessen. An den Familienabenden scherten sich die Wildes nicht um gesellschaftliche Vorschriften, die vorsahen, dass der Duke und die Duchess nicht nebeneinandersitzen durften oder dass die Geschlechter getrennt werden mussten. Vor langer Zeit hatte Seine Gnaden verfügt, dass er neben seiner Gattin sitzen würde. Viola war hochschwanger und ließ sich auf den Stuhl neben ihre Mutter sinken. Ihr Gemahl, Devin, setzte sich neben sie. Lady Knowe saß immer bei ihnen, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte, und heute Abend leistete ihre enge Freundin, die Duchess of Eversley, ihr Gesellschaft.

Otis, wieder in Gehrock und Kniehosen, führte Joan zu einem Tisch in der Nähe, gerade als sie feststellte, dass die einzigen freien Plätze im Raum …

Und schon kam der grübelnde Viscount auf sie zu.

„Ist schon einmal jemandem aufgefallen, dass durch die moderne Sitzordnung zwei Inseln entstanden sind?“, fragte Otis fröhlich. „Eine für die Erwachsenen und eine für uns. Dort drüben ein voll besetzter Tisch mit sechs Leuten, und hier sind wir nur zu dritt.“

„Ich halte mich selbst für einen Erwachsenen“, sagte Greywick und setzte sich, ohne Joan in die Augen zu schauen.

„Das sind Sie zweifelsohne“, meinte Joan und tadelte sich im Stillen, kaum dass die Worte heraus waren. Sie weigerte sich, sich zu einer weiteren Runde Beleidigungen mit ihm herabzulassen. „Viola und Devin sitzen am ‚Erwachsenen-Tisch‘; deine Theorie hat also weder Hand noch Fuß, Otis.“

„Hier versammeln sich die Unverheirateten“, erwiderte Otis. „Du kannst nicht behaupten, eine Ehe würde eine Person nicht reifen lassen. Nach allem, was ich gesehen habe, ist das eine ausgesprochen ermüdende Sache. Die Brautpaare sind so fröhlich, während diejenigen, die ihr Kind taufen lassen, aussehen, als hätten sie seit Monaten nicht geschlafen.“

Viola am anderen Ende des Raumes fing Joans Blick auf und fragte mit hochgezogener Braue, ob Devin und sie sich zu ihnen setzen wollten. Kaum merklich schüttelte Joan den Kopf.

Greywick war verdrießlich, aber sie waren erwachsen, verheiratet oder nicht. Sie konnten ohne weitere scharfe Worte zusammen zu Abend essen. Sie schüttelte die schwere Leinenserviette aus und breitete sie über der apricotfarbenen Seide ihres Abendkleides aus.

„Vermissen Sie die Kirche, Mr. Murgatroyd?“, fragte der Viscount Otis. Als pflichtbewusster zweiter Sohn hatte Otis in Cambridge Theologie studiert und anschließend eine Gemeinde übernommen. Doch schon kurz darauf hatte er das Priesteramt aufgegeben.

„Beileibe nicht“, entgegnete Otis. Als er seine Gründe erläuterte, warum er den Klerus nach nur zwei Wochen verlassen hatte, ließ Joan ihre Gedanken schweifen.

Etwas an der Erfahrung, Hosen zu tragen, machte sie wagemutig. Was, wenn sie keinen Gentleman heiraten würde, wie ihre Familie erwartete? Was, wenn ihre Zukunft sich vollkommen von der ihrer Geschwister unterschied? Was, wenn sie das Schloss verlassen würde, so wie ihre Mutter es getan hatte?

Otis hatte die Erwartungen seiner Familie an ihn über Bord geworfen. Seit seiner Kindheit hatte man ihm eingetrichtert, er würde eines Tages Priester werden. Trotzdem hatte er sich geweigert, nachdem er es versucht hatte.

Sie schaute sich um und versuchte, sich ein anderes Leben vorzustellen. Prism gab sich stets größte Mühe, auch im Frühstückszimmer die Pracht des Esszimmers des Schlosses zu kopieren. Silberbesteck lag auf den Tischen wie der versprengte Schatz eines Königs, und die Teller mit dem Goldrand, die er heute Abend hatte aufdecken lassen, verstärkten diese Illusion noch. Diener standen an den Wänden, bereit, beim leisesten Zucken eines Fingers herbeizueilen.

Ihre eigene Mutter, die zweite Duchess, hatte dem Schloss den Rücken gekehrt und war mit ihrem Liebhaber geflohen. Soweit Joan wusste, hatte Yvette es niemals bereut. Für sich selbst war Joan sicher, dass sie die Fallen des Wohlstands nicht brauchte, ja, sie nicht einmal wollte. Sie brauchte weder Diener noch Butler.

Prism herrschte uneingeschränkt und inszenierte jede Mahlzeit mit der Leidenschaft eines Theaterdirektors. Aber andere Menschen, gewöhnliche Menschen, kochten sich ihr Abendessen selbst und speisten allein mit ihren Liebsten. Die Theaterkompanie, die Lindow Castle jedes Jahr besuchte, lebte in farbenfrohen Wagen, und manchmal wurde am offenen Feuer gekocht und gegessen.

„Joan?“, fragte Otis und band sie in die Unterhaltung mit ein.

Greywick sah sie fragend an. „Woran denken Sie gerade, Lady Joan?“

„An Flucht“, antwortete sie aufrichtig. „Das ist deine Schuld, Otis, mit deinem Gerede von der Flucht aus dem Pfarrhaus. Ich habe mich gefragt, wie es wohl wäre, aus Lindow zu fliehen.“

„Die Ehe würde dir diese Freiheit schenken“, sagte Otis und tätschelte ihren Arm. „Ich weiß, dass deine verheirateten Geschwister so regelmäßig nach Hause zurückkehren wie Brieftauben, aber die meisten Menschen sehen in der Ehe eine Ausrede, um dem Haus ihrer Kindheit fernzubleiben. Außer zu Weihnachten, wenn überhaupt.“

„Das wusste ich nicht“, meinte Greywick mit verwunderter Miene.

„Was wussten Sie nicht?“, fragte Joan.

„Dass Sie beide verlobt sind.“

„Das sind wir nicht“, sagte Joan, und im selben Moment sagte Otis: „Wir doch nicht!“

„Wir sind Freunde“, fügte Joan hinzu. Sie beugte sich vor und versetzte Otis einen sanften Knuff. „Beste Freunde, da er zugestimmt hat, ein Korsett und ein Kleid anzuziehen, damit ich eine männliche Rolle spielen kann.“

„Sehr zuvorkommend von Ihnen“, sagte Greywick zu Otis.

„Ja, in der Tat“, sagte Otis. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich eingewilligt habe. Ich mag das Korsett nicht, und von der Herausforderung, einen Nachttopf zu benutzen, will ich gar nicht erst reden.“

„Sie würden sich nie zu so etwas bereit erklären, oder?“, fragte Joan Greywick aufrichtig neugierig.

„Ein Korsett anziehen? Ich hoffe, nicht. Und ein Kleid? Niemals“, erklärte der Viscount.

„Mein Vater ist mit seinem Korsett praktisch verheiratet“, meinte Otis. „Wenn ich bedenke, dass mir die Erfahrung von heute Nachmittag schon gereicht hat, sollte ich wahrscheinlich keinen Kuchen mehr essen.“

Sie waren mitten im ersten Gang, als ein Diener leise eintrat und Prism etwas ins Ohr flüsterte. Der Butler schien zu glauben, die Familie würde verhungern, sobald er nicht da war und mit seinem Adlerauge sofort sah, wo ein Teller leer war und umgehend mit dem Zucken einer Braue einen Diener dorthin dirigierte. Trotzdem verließ er jetzt den Raum.

Fünfundvierzig Minuten später hatte Joan Prisms Abwesenheit völlig vergessen, als der Butler die Türen öffnete und ankündigte: „Lady Bumtrinket!“

Joans Stiefmutter sprang von ihrem Platz auf, und alle anderen im Raum folgten ihr. „Großtante Daphne, was für eine Überr… – was für eine Freude, Sie zu sehen!“

Lady Bumtrinket gehörte zu jenen gut gepolsterten englischen Damen, die vor Rechtschaffenheit nur so schillerten, wie ein praller Lachs, der sich springend flussaufwärts bewegte. Sie war im Recht, und zwar immer, selbst wenn das Wasser in eine andere Richtung zu fließen schien.

Törichter Fluss.

Eine Dame ihrer Statur, Abstammung und Erziehung glaubte, es nicht nötig zu haben, sich an gesellschaftliche Zwänge zu halten, die andere hätten zögern lassen. Sie war in ihren Achtzigern, vielleicht auch schon in den Neunzigern, und hatte schon lange aufgehört, die gesellschaftlichen Umgangsformen für sich selbst als bindend zu betrachten.

Sie war eine Verwandte des ersten Gatten der Duchess of Lindow, Sir Peter Astley. Scharfsinnigere Leute würden vermutlich meinen, dass sich die Verbindung aufgelöst oder sich zumindest geschwächt hätte, sobald Sir Peter durch einen Duke ersetzt worden war.

Nicht so Lady Bumtrinket.

Sie hatte ihr Leben im Schoße des Adels verbracht. Dukes, Earls und der gelegentliche Baron waren für sie so alltäglich wie die Luft, die sie einatmete, und so ging es, seit sie das herzogliche Anwesen verlassen hatte, auf dem sie geboren worden war.

Naserümpfend schaute Viola zu Joan. Großtante Daphne wurde von den Wilde-Sprösslingen von ganzem Herzen verabscheut. Grund dafür war ihre Neigung zum „offenen Wort“ – eine Redewendung, die bei Engländern oftmals als Ausrede für reine Unhöflichkeit diente.

„Wie schade, dass Viola nicht an unserem Tisch sitzt“, sagte Joan. „Sie fürchtet sich vor Großtante Daphne.“ Otis, Greywick und sie gingen in Richtung Tür, wo Joans Vater und Stiefmutter den Gast begrüßten.

„Als ich ihr das letzte Mal begegnet bin“, meinte Otis bedrückt, „sagte sie zu mir, ich sei klein und rund wie Schmalzkuchen. Noch ein Grund, warum ich wohl besser auf Kuchen verzichte.“

„Das ist nicht wahr“, sagte Joan zu ihm. „Falls du dich dadurch besser fühlst – sie verabscheut mich. Ihrer Ansicht nach hätte ich vermutlich irgendwo auf dem Land großgezogen werden sollen. Oder man hätte mich einfach irgendwo auf dem Acker liegen lassen sollen, so wie die Römer es mit ihren ungewollten Babys gemacht haben.“

Das zornige Aufblitzen in Greywicks Miene erschreckte sie. „War sie zu Ihnen auch so grässlich?“, fragte Joan. „Keine Sorge, die Dame wird gewiss zu meinen Eltern gesetzt werden.“

In der Tat beeilte Prism sich bereits, einen Stuhl rechts neben dem Duke, dem Ehrenplatz, aufstellen zu lassen.

„Ich glaube, nicht“, sagte Lady Bumtrinket, rauschte an ihrer Nichte vorbei und durchquerte den Raum. „Ich werde hier sitzen, Prism.“ Mit einem knochigen Finger deutete sie auf den Platz neben Greywicks Teller. „An diesem Tisch ist mehr Platz. Meine Leibesfülle ist vor allem der gegenwärtigen Mode geschuldet, gleichwohl muss ich genügend Platz haben.“

Während Joan und Viola höflich knicksten und dafür ein majestätisches Nicken erhielten, rief Prism drei Diener herbei, die den Tisch kurz umschwärmten und frisches Porzellan, Kristall und Silber aufdeckten.

„Ich nehme zwei Kiebitzeier, weich gekocht“, erklärte Lady Bumtrinket dem Butler, sobald sie Platz genommen hatte. „Ich schränke mich ein, Prism. Einschränkung ist der Fluch der Alten, einer Gruppe, zu der ich mich nur widerwillig selbst zähle.“ Blinzelnd sah sie Otis an, der sich zusammen mit den anderen ebenfalls wieder gesetzt hatte. „Ich könnte Ihnen ein oder zwei Rezepte verraten, junger Murgatroyd.“

„Vielen Dank“, entgegnete Otis.

Die Dame musterte Greywick gebieterisch. „Ich habe Sie eine halbe Ewigkeit nicht gesehen, Viscount. Wo haben Sie gesteckt?“

„In den üblichen Schlupfwinkeln“, erwiderte er. „Wie geht es Ihnen, Lady Bumtrinket?“

„Ich bin gereizt, dank der Einschränkungen“, schnauzte sie. „Ihnen würde ein wenig Maßhalten auch ganz guttun. Um die Brust herum haben Sie ungewöhnlich zugelegt. Oder polstern Sie Ihren Gehrock aus?“

Greywick fehlten offenkundig die Worte.

„Ich sehe, Sie haben“, sagte Lady Bumtrinket triumphierend. „Ich schlage vor, dass Sie ihren Kammerdiener auf der Stelle entlassen und sich einen suchen, der Ihnen in der Kunst, ein Duke zu sein, ein besserer Ratgeber ist. Ich meine, ein zukünftiger Duke. Wir alle wissen, dass Ihr Vater seine Pflichten vernachlässigt, indem er davongelaufen ist, um in einem anderen Haushalt zu leben.“

Joan blinzelte. Sie wusste, dass Lord Greywicks Vater, der Duke of Eversley, seit Jahren mit seiner Mistress zusammenlebte. Aber sie hatte nie gehört, dass es je in der Öffentlichkeit erwähnt worden wäre.

Das höfliche Lächeln erreichte kaum Greywicks Mundwinkel. „Ich versichere Ihnen, dass in seiner Abwesenheit gut für das Anwesen gesorgt ist, Lady Bumtrinket.“

„Man kann Ihnen schwerlich die Schuld geben, wenn er die aristokratischen Gepflogenheiten ignoriert, zumal man kaum behaupten kann, Sie hätten einen Vater gehabt“, fuhr sie fort, ohne auf seine Bemerkung zu achten. „Gehen Sie nur mit Bedacht vor, wenn Sie sich Ihre Duchess erwählen. Mit großem Bedacht.“

Lord Greywick reagierte mit einer wortlosen Feindseligkeit, die Joan insgeheim recht unterhaltsam fand. Trotzdem verspürte sie unvermittelt den Drang, ihn zu verteidigen. Sie war an Lady Bumtrinket gewöhnt, aber er hatte sie womöglich noch nie so aus der Nähe erlebt.

„Ich erinnere mich, dass Sie vor einigen Jahren versuchten, eines der Wilde-Mädchen zu heiraten“, sprach Lady Bumtrinket, ohne Luft zu holen, weiter. „Das wäre eine gute Wahl gewesen, aber die Jüngste ist noch im Kindesalter, nicht wahr?“ Sie ließ ihren Blick über den Tisch schweifen. Bei Joan hielt sie inne. „Immer noch unverheiratet?“, fragte sie.

„Ja, das bin ich“, antwortete Joan. Sie wandte sich an Greywick. „Ist es nicht merkwürdig, wie sich die Sitten ändern? Die Gouvernante des Dukes brachte mir bei, niemals Fragen über den Familienstand zu stellen.“

„Ihre Gouvernante wusste, dass Sie den höchsten Ansprüchen genügen müssen, um etwas Besseres zu heiraten als einen Krämer“, verkündete Lady Bumtrinket. „Das gilt nicht für diejenigen unter uns, die im Zeichen des Hermelins geboren wurden. Wo wir gerade davon sprechen, ich habe kürzlich Ihren Vater gesehen“, sagte sie zu Greywick. „Bei diesem Wetter trug er eine Hermelinrobe. Ungewöhnlich, selbst für ihn.“

Allmählich tat der Viscount Joan ausgesprochen leid. Gleichgültig, wie wenig sie ihn mochte, er hatte es nicht verdient, dermaßen tyrannisiert zu werden.

Doch der Mann hatte ihre Unterstützung gar nicht nötig. „Mein Vater ist ein Duke dieses Königreichs“, erklärte er. „Wenn er wünscht, sich von Kopf bis Fuß in das Fell eines kleinen, gepunkteten Tieres zu kleiden, hat er jedes Recht, das zu tun.“

Etwas in seiner Miene ließ Lady Bumtrinket innehalten; sie schob die Lippen vor, dann hob sie einen Finger. Ein Diener sprang herbei. „Noch drei weichgekochte Eier“, sagte sie. „Mehr gut gebräunter Toast. Man sollte meinen, Lindow Castle mangelte es an Mitteln, wenn man sich dieses magere Essen ansieht. Ich nehme auch ein paar von diesen Brötchen, und einen Hauch von dem Rahmspinat. Meiner Ansicht nach verlangt die Verdauung nach Gemüse.“

Sie wandte sich wieder an Greywick. „Was tun Sie hier, wenn der Duke keine unverheiratete Tochter im passenden Alter hat?“

Joan gab einem boshaften Impuls nach und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Aber ich bin unverheiratet – wie wir soeben festgestellt haben, Lady Bumtrinket.“

Die Augen der Dame wurden schmal, dann sagte sie zu Thaddeus, offenkundig in der falschen Annahme, ein heiseres Flüstern wäre nicht quer über den Tisch hinweg zu verstehen: „Sie dürfen nicht einmal daran denken, Lady Joan – beachten Sie, dass ich diesen Ehrentitel benutze – zu Ihrer Gemahlin zu machen.“

Greywicks Kinn wurde sehr fest. „Ich sehe absolut keinen Grund, warum Lady Joan nicht meine Duchess werden sollte.“

Joans Meinung nach war das eine überraschende Antwort. Andererseits war er nicht der Mann, der irgendwelche Ratschläge in dieser Angelegenheit gutheißen würde.

„Ich schon!“, rief sie vergnügt. „Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Bemerkung nicht übel, aber Sie sprechen ja auch ganz offen über mein eheliches Schicksal. Lord Greywick und ich würden nicht zusammenpassen.“

„Natürlich würden wir zusammenpassen“, widersprach er und zeigte damit eine ungewöhnliche Sturheit. Kein Wunder – Lady Bumtrinket konnte diesen Eigensinn aus dem sanftesten aller Männer hervorkitzeln. Joans eigener Vater fand sie unerträglich, und er wurde nicht so leicht wütend.

„Ihr goldenes Haar wird nirgendwohin gehen“, sagte Lady Bumtrinket mit einer Gemeinheit, die nur diejenigen an den Tag legten, die vollkommen von sich überzeugt waren. „Greywick, Sie werden ein Duke sein, für meine Begriffe eher früher als später. Mit Ihrem Vater stimmt etwas nicht. Er ähnelte einer ausgehungerten Ratte, obwohl ich ihm das natürlich nicht gesagt habe.“

„Ich verstehe nicht, was die körperliche Verfassung meines Vaters mit Lady Joans Haar zu tun haben sollte“, sagte Thaddeus steif.

„Er wirft den Fehdehandschuh“, flüsterte Otis Joan ins Ohr.

„Das hat nichts mit mir zu tun. Greywick kann Einmischungen gleich welcher Art einfach nicht ertragen“, flüsterte Joan zurück.

„Ich weiß.“ Otis seufzte. „Aber Bumtrinket hat recht, dass Greywick dich nicht heiraten kann … dass er dich nicht heiraten wird. Ich kenne ihn kaum, aber er ist offenkundig prüde wie ein Quäker.“

„Das spielt ohnehin keine Rolle“, stellte Joan klar. „Ich würde ihn niemals nehmen.“

Wie das Glück es wollte, fiel ihr Satz genau in das Schweigen, das häufig nach einer von Lady Bumtrinkets mitfühlenden Bemerkungen einsetzte, wenn die Zuhörer noch schwankten, ob sie beleidigt oder lediglich erzürnt waren.

Rasch schaute sie zum Viscount, und zu ihrer Überraschung hatte sein Blick einen leicht forschenden Ausdruck.

„Ich nehme an, das ‚Er‘ bezieht sich auf Greywick“, sagte Lady Bumtrinket. „Das ist allerdings kaum von Bedeutung, nicht wahr, da der Mann niemals um Ihre Hand anhalten wird.“ Sie fixierte Otis mit kurzsichtigen Augen. „Wer sind Sie?“

„Mr. Otis Murgatroyd“, sagte Otis.

„Das wissen wir doch“, blaffte sie. „Ich meine, wer sind Sie? Ich habe nicht den ganzen niederen Adel im Kopf.“

„Mein Vater ist Sir Reginald Murgatroyd“, erklärte Otis ihr.

„Der zweite Sohn? Dritter? Fünfter?“

„Der zweite“, sagte Otis.

Sie blinzelte. „Ich dachte, er hätte seinen Zweiten in die Kirche abgeschoben.“

„Ich war für diesen Beruf nicht geeignet“, bekannte Otis freimütig.

Thaddeus räusperte sich.

Schwungvoll drehte Lady Bumtrinket den Kopf um, wie ein Falke auf der Jagd. „Sind Sie krank?“

„Nein.“

„Dann husten Sie nicht so. Ein Gentleman tut seine Meinung in Worten kund, nicht mit kehligen Äußerungen.“ Sie hob einen Finger, und ein Diener sprang an ihre Seite. „Ich hätte gerne eines dieser kleinen Täubchen, die ich auf der Anrichte gesehen habe. Und ein frisches Glas Milch. Diese hier ist warm geworden. Ach nein, ich werde ein Glas Wein nehmen. Und eine Nierenpastete, falls es die gibt.“

Der Diener verbeugte sich. Die Tür öffnete und schloss sich hinter ihm, und am anderen Tisch blickte der Duke in milder Überraschung auf. Im Allgemeinen waren Prisms Mahlzeiten so präzise vorbereitet, dass die Diener nicht hin und her rennen mussten, wie der Butler es nannte.

„Ich denke, das ist eine annehmbare Verbindung“, sagte Lady Bumtrinket. Ihr Blick ruhte auf Otis und Joan. „Lady Joans Mitgift muss vom Duke gut ausgepolstert worden sein, um die offenkundigen … Unzulänglichkeiten wettzumachen.“

„Sie ist genauso hoch wie die meiner Schwestern“, widersprach Joan.

„Ihre Bemerkung ist unverschämt und zeugt von schlechter Erziehung“, sagte Lord Greywick im selben Moment.

„Unsinn“, meinte Lady Bumtrinket mit deutlichem Nachdruck zu Greywick. „Ein weiteres Beispiel für Ihre unzureichende Kenntnis um Ihre Stellung. Ein Duke geht nicht sentimental an solche Dinge wie Ehe, Mitgift und Verbindungen heran. Ich muss Lindow gratulieren. Ein gut zusammenpassendes Paar. Ein gescheiterter Priester und eine …“ Ihr schien das richtige Wort zu fehlen.

„Eine Dame“, vollendete Greywick den Satz. Seine Stimme war hart, die Miene versteinert.

„Sie sind nicht gerade der heitere Typ, nicht wahr?“, sagte Lady Bumtrinket. Sie kramte in ihrem Retikül, zog eine Lorgnette mit einem langen, diamantbesetzten Griff hervor und musterte ihn gründlich. „Vermutlich muss man unter diesen Umständen ganz mürrisch werden. Es heißt, Ihr Vater und die ‚Familie seines Herzens‘ würden unter meinen Küchenmägden für beste Unterhaltung sorgen, aber in der eigenen Familie möchte man solche Sittenlosigkeit lieber nicht sehen.“

Als ihr ein Gedanke kam, schwieg sie einen Moment. „Ich vermute, das ist auch der Grund, warum Sie bei den anderen beiden Wilde-Mädchen keinen Erfolg hatten, Greywick. Wie ich hörte, ist Lindow ein sehr fürsorglicher Vater. Eines der Mädchen hat einen Duke geheiratet, die andere hat sich für einen Lord entschieden. Wie ich hörte, hat er eine Meise.“

Fassungsloses Schweigen folgte auf diese Beobachtung.

„Keiner meiner Schwäger hat eine Meise“, stellte Joan klar. Sie fühlte sich berufen, ihre Familie zu verteidigen.

„Seien Sie nicht so hitzköpfig“, sagte Lady Bumtrinket und deutete mit ihrer Lorgnette über den Tisch. „Sie wissen genau, was ich meine.“

„Nein, das weiß ich nicht.“

„Er ist geisteskrank“, behauptete Lady Bumtrinket.

„Niemand in dieser Familie ist geisteskrank oder hat eine Meise.“ Joan war ziemlich stolz auf ihren Tonfall; sie sollte ihn unbedingt verwenden, wenn Hamlet darauf beharrte, dass sein Vater ermordet wurde und niemand ihm glaubte.

„Das ist ein guter Moment, um zu bekräftigen, dass ich dich nicht heiraten werde, Joan“, säuselte Otis.

„Du brichst mir das Herz! Du willst nicht in eine Familie einheiraten, in der man sich Meisen hält?“, flüsterte Joan zurück.

„Ganz wie Sie meinen“, sagte Lady Bumtrinket und achtete nicht mehr auf Joans Protest als Hamlets Mutter auf den ihres Sohnes. „Ich will darauf hinaus, dass der Duke of Lindow wahrscheinlich aus guten Gründen nicht wollte, dass Ihre älteren Schwestern sich an Greywick binden. Wahnsinn ist vererbbar. Wissen Sie, was Ihr Vater zu mir gesagt hat?“, wandte sie sich an Greywick.

Wenn überhaupt, wurde seine Miene noch versteinerter.

„Der Duke of Eversley sang – er sang – Gottes grenzenlose Liebe“, rief Lady Bumtrinket. „Ein quäkendes Kirchenlied, das schon schlimm genug ist, wenn es an den Himmel gerichtet ist, und noch schlimmer, wenn der Sänger zu glauben scheint, ich würde seine Ansicht teilen, seine Mistress sei göttlich. Stellen Sie sich das bitte einmal vor. Es überrascht mich nicht, dass der Komponist dieses widerlichen Gewäschs Methodist war.“

Joan empfand einen weiteren Anflug von Mitleid für den schmallippigen Viscount. Aber was sollte sie sagen? Jeder wusste von der Besessenheit des Duke of Eversley für seine Mistress, auch wenn die meisten nicht am Abendbrottisch die Sprache darauf gebracht hätten.

„Ich habe dieses Lied gehasst, als ich Pfarrer war, und ich hasse es immer noch“, murmelte Otis. „Aber ich hätte nie gedacht, dass es als Entschuldigung für Ehebruch dienen könnte.“

„Die Wilde-Mädchen hätten gut gepasst“, fuhr Lady Bumtrinket nachdenklich fort. „Angesichts des befleckten Namens der Familie muss die zukünftige Duchess of Eversley Würde ausstrahlen, mächtige Verwandte haben und ohne Zweifel einen untadeligen Ruf vorweisen.“

Sie richtete den Blick wieder auf Greywick. „Sie werden auf so eine Frau warten müssen, oder der Name Ihrer Familie wird für immer besudelt sein. Sie sollten mehr lächeln, damit Sie die Väter nicht abschrecken. Grenzenlose Liebe, in der Tat.“ Sie schnaubte laut.

Joan konnte nicht länger schweigen. „Keine meiner Schwestern, weder Betsy noch Viola, wäre mit Lord Greywick glücklich geworden“, sagte sie fest. „Mein Vater, der Duke of Lindow, hätte die Verbindung sehr begrüßt, so wie jeder Vater der feinen Gesellschaft es begrüßen würde, sollte Seine Lordschaft sich entschließen, um die Hand seiner Töchter anzuhalten. Oder besser seiner Tochter, da er nur einmal einen Antrag zu machen bräuchte. Denn die Erste, die er fragt, wird seinen Antrag annehmen, mit dem Segen ihres Vaters.“

Greywicks erhobene Braue verriet, dass ihre verworrene Rede ihn zu erheitern schien, doch sie ignorierte ihn und konzentrierte sich auf Lady Bumtrinkets perlenartige Augen. Joans Schauspieltalent erwies sich wie so oft als hilfreich, aus ihrer Stimme sprach nichts als die Wahrheit. „Lord Greywicks Antrag anzunehmen, würde jede junge Frau glücklich machen und ihren Vater in Verzückung versetzen.“

„Nicht andersherum?“, murmelte Greywick.

„Und wie war es, als er Ihren Schwestern den Hof gemacht hat?“, fragte Lady Bumtrinket sichtlich verblüfft. „Jeder wusste, dass der Viscount um sie wirbt, nicht um beide gleichzeitig natürlich. Erstens ist er so groß. Man sieht ihn immer, er überragt alle anderen Tänzer.“

„Ganz im Gegensatz zu mir“, warf Otis heiter ein. „Zum Glück erlaubt es meine geringe Körpergröße, eher heimlich um jemanden zu werben.“

„Das müssen Sie Lord Greywick fragen“, sagte Joan zu Lady Bumtrinket und schenkte Seiner Lordschaft ein strahlendes Lächeln. „Er hat das Interesse an Viola und Betsy verloren, wenn ich es richtig sehe.“

„Schwer zu glauben“, meinte die Dame und sah den Viscount blinzelnd an. „Sehr schwer zu glauben.“

„Viola war ihm zu schüchtern, und Betsy war zu … zu unverschämt!“, fügte Joan hinzu, da Greywick nicht gewillt zu sein schien, ihre Geschichte zu unterstützen, die vollkommen erlogen war. Betsy hatte sich in jemand anders verliebt, und Viola hatte rasch geheiratet, nachdem sie dabei erwischt worden war, wie sie auf offener Straße einen Duke geküsst hatte.

„Sie werden Abstriche machen müssen“, riet Lady Bumtrinket dem immer noch schweigenden Lord Greywick. „Sie sollten an das Ansehen denken, nicht an die Persönlichkeit. Es spielt keine Rolle, ob Ihre Gattin schüchtern ist, solange sie einen ordentlichen Stammbaum hat.“

„Vielen Dank für Ihren Rat“, erwiderte der Viscount. Sein Tonfall war ruhig und höflich.

Joan mochte ihn nicht besonders, aber sie musste zugeben, dass er eine bewundernswerte Selbstbeherrschung zeigte.

„Ich sehe doch, dass Sie etwas Anleitung brauchen“, sagte Lady Bumtrinket und erwärmte sich für diese Aufgabe. „Lady Joan ist vom Markt, da sie Mr. Murgatroyd versprochen ist …“

„Nein, das ist sie nicht“, zischte Otis.

„Aber lassen Sie uns sie als Beispiel nehmen“, sagte Lady Bumtrinket.

„Lassen Sie uns das nicht machen“, widersprach Greywick.

„Eine Heirat mit einer Frau wie Lady Joan wäre eine Katastrophe für Ihre Kinder“, sagte Lady Bumtrinket. „Ihr Haar, die preußische Nase … solche markanten Merkmale werden sich in der Blutlinie fortsetzen. Wenn Sie mir meine offenen Worte verzeihen, Lady Joan“, fügte sie reichlich spät hinzu.

Joan war merkwürdig fasziniert. Bemerkungen über ihre zweifelhafte Abstammung wurden hinter ihrem Rücken gemacht oder ihr voll Wut und Verachtung zugezischelt, aber sie wurden nur selten öffentlich geäußert. Und schon gar nicht beim Abendessen am Tisch ihres Vaters.

Otis mischte sich ein. „Ich denke, wir sollten das Thema wechseln. Haben Sie schon davon gehört, dass die erste Postkutsche erfolgreich zwischen London und Bristol verkehrt?“

„Ich habe kein Bedürfnis, mit irgendeiner Person in Bristol zu korrespondieren“, erklärte Lady Bumtrinket naserümpfend.

„Mir wäre es eine Ehre, Lady Joan zu heiraten“, sagte Greywick beinahe tonlos, ganz im Gegensatz zur schrillen Stimme der alten Frau.

„Nein, das wäre es nicht“, gab Joan zurück.

Doch sie lächelte, denn es war eine nette Geste. Wahrscheinlich glaubte er, sie wäre beschämt, die Wahrheit über ihre skandalöse Geburt laut ausgesprochen zu hören. Er hatte keine Ahnung, wie wenig ihr solche Bemerkungen ausmachten.

„Lady Joan heiratet Murgatroyd“, sagte Lady Bumtrinket. Sie war es offenkundig nicht gewöhnt, dass man ihr widersprach. Ihre Wangen bekamen einen hübschen roten Schimmer, und ihre Stimme glich immer mehr einem Bellen. „Ihre Bemerkung beweist nur, wie wenig Sie von der feinen Gesellschaft verstehen. Sie können Lady Joan oder jemanden wie sie nicht heiraten.“

„Ich werde heiraten, wen immer ich will“, sagte Greywick leise, aber mit einem drohenden Unterton.

Sein Blick hätte Joan veranlasst, sich ihre nächsten Worte gut zu überlegen, aber Lady Bumtrinket starrte nur zurück. „Ich bin eine rechtschaffene Säule jener Gesellschaft, mit der Ihre Kinder sich vermischen werden wollen, aber sie werden nicht …“

„Wenn Sie mir meine offenen Worte vergeben“, unterbrach er sie, „meine Kinder werden sich vermischen, mit wem sie wollen, umso mehr, wenn sie auch nur halb so schön sind wie Lady Joan.“

Lady Bumtrinket öffnete den Mund, um eine Antwort zu krächzen, doch was immer sie sagen wollte, wurde von einem scharrenden Geräusch unterbunden. Alle Köpfe wandten sich zur Quelle des Geräuschs.

Die Duchess of Lindow hatte sich erhoben. „Großtante Daphne, ich weiß, dass jemand in Ihrem Alter sich früh zur Ruhe begeben muss. Ich werde Sie in Ihr Schlafzimmer begleiten.“

Joan unterdrückte ein Lächeln. Ihre Stiefmutter war nicht sehr imposant, doch sie war mit jedem Zoll eine Duchess. Als Ihre Gnaden vom anderen Tisch herüberkam und sich neben Lady Bumtrinkets Stuhl stellte, erhob sich die alte Dame lediglich mit einem leisen Brummen.

„Bitte entschuldigen Sie uns“, sagte die Duchess und lächelte Otis, Joan und Greywick zu. „Meine Tante muss leider morgen in aller Frühe abreisen, um ihre Reise fortzusetzen. Wir werden ihre Gesellschaft sehr vermissen.“

Die fragliche Dame öffnete den Mund, schloss ihn jedoch nach einem Blick von ihrer Großnichte rasch wieder. Der Duke begleitete die beiden Frauen zur Tür hinaus.

„Diese Frau ist ein Satan“, sagte Greywick. „Und das ist eine Tatsache, keine Beleidigung.“

„Achten Sie gar nicht auf Lady Bumtrinkets Rat“, sagte Joan und fühlte sich unbehaglich. Offenkundig hatte er kein Interesse daran, sie zu heiraten, sodass ihre Bemerkung überflüssig war, aber ihre Großtante war schließlich alles andere als feinfühlig.

„Ich würde es nicht ‚Rat‘ nennen“, sagte er. „Es war eine Unverschämtheit, die sich bei einem Kutscher leichter tolerieren lässt als bei einem Tischgenossen beim Dinner.“ Greywick hatte seine höchst aristokratische Miene aufgesetzt, doch dieses Mal fühlte Joan mit ihm mit.

„Mir fällt es schwer, mir Lady Bumtrinket als Kutscher vorzustellen – oder wäre es eine Kutscherin?“, bemerkte Otis.

„In einer besseren Welt könnten auch Damen Kutschen lenken“, sagte Joan, eifrig bemüht, das Thema zu wechseln.

Autor

Eloisa James
New-York-Times-Bestseller-Autorin Eloisa James schreibt nicht nur packende historische Liebesromane, sie ist auch Professorin für Englische Literatur. Eloisa lebt mit ihrer Familie in New York, hält sich aber auch oft in Paris oder Italien auf. Sie hat zwei Kinder und ist mit einem waschechten italienischen Ritter verheiratet.
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