Zwei Herzen im Frühling

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Durchtanzte Bälle, feurige Pferde, wilde Jagden: Von diesen Vergnügungen hat sich Captain Dominic Ransleigh nach einem Schicksalsschlag abgewandt. Bis die bezaubernde Theodora Branwall in sein zurückgezogenes Leben tritt. Temperamentvoll zeigt sie ihm, dass es immer einen Grund zum Tanzen gibt! Und ebenso für Zärtlichkeit und Küsse voller Leidenschaft …. Doch dann der Schock: Theodora reist nach London - um sich dort einen Ehemann zu suchen! Dominic eilt ihr hinterher, entschlossen, sie zur Frau zu nehmen. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist …


  • Erscheinungstag 19.01.2016
  • Bandnummer 564
  • ISBN / Artikelnummer 9783733762421
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Suffolk, Frühjahr 1816

In seinen Ohren dröhnte ein lautes Rauschen. Doch Dominic Fitzallen Ransleigh bemühte sich, es zu ignorieren, und wandte all seine Kraft auf, um sich aufzusetzen. Mit einem Zischen entwich die Luft aus seinen Lungen. Er biss die Zähne zusammen, denn plötzlich wurde der Schmerz so stark, dass die Landschaft vor seinen Augen zu verschwimmen schien. Wie einen dunklen Schatten nahm er seinen in Richtung der Stallungen davongaloppierenden schwarzen Hengst wahr.

Wenn Pferde lachen könnten, dachte Dom, dann würde das boshafte Tier sich jetzt vor Lachen biegen.

Natürlich war es sein eigener Fehler, dass Diablo ihn abgeworfen hatte. Von jeher hatte er sich die temperamentvollsten und schwierigsten Pferde ausgesucht, um sie für die Jagd zu trainieren. Jagdpferde mussten mutig und schnell sein. Vor einem Hindernis durften sie nicht scheuen. Und deshalb erforderte es eine feste Hand, um die starken, stolzen und dickköpfigen Tiere zu lenken.

Dom schaute auf die ihm verbliebene Hand. Seine Finger zitterten. Sein ganzer Arm zitterte infolge des wilden Ritts. Vorsichtig bewegte er die Gelenke. Zum Glück schien nichts gebrochen zu sein. Allerdings schmerzte seine linke Schulter noch immer heftig. Nun, zumindest war er nicht auf den Stumpf seines rechten Arms gefallen. Wenn das geschehen wäre, hätte er vermutlich das Bewusstsein verloren.

Ihm war klar, dass er noch eine Weile auf dem schlammigen Boden sitzen bleiben musste. Zumindest bis der Schwindel verschwand. Das Rauschen in den Ohren hatte nachgelassen. Auch konnte er jetzt wieder klar sehen. Diablo war nicht mehr zu erblicken. Dass der temperamentvolle Hengst ihn abgeworfen hatte, war eigentlich kein Wunder … Die Ärzte hatten ihn gewarnt, dass er vermutlich nie wieder in der Lage sein würde, ein ungestümes, kraftvolles Jagdpferd wie Diablo zu kontrollieren. Er hatte ihnen nicht glauben wollen. Nun hatte er den Beweis.

Endlich erhob Dom sich mit einem lauten Stöhnen. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als sich mit dem Unausweichlichen abzufinden. Nie wieder würde er eines der Jagdpferde aus seinem Stall reiten können. Also war es nur vernünftig, sich von den wertvollen Tieren zu trennen. Das war bitter. Er hatte den Kampf gegen das Schicksal verloren. Sein Stolz hatte ihn bisher daran gehindert, sich diese Niederlage einzugestehen. Aber nun sagte er sich, dass er die Pferde in London im Auktionshaus Tattersall’s anbieten musste, solange sie noch jung und kräftig waren und einen guten Preis erzielten.

Ich sollte auch den Vierspänner verkaufen, denn eine Kutsche mit mehr als zwei Zugpferden werde ich nicht mehr lenken können, dachte Dom niedergeschlagen.

Es gab nicht mehr viel, was ihn mit dem Mann verband, der er vor Waterloo gewesen war. Nach seiner schweren Verwundung hatte er viele Wochen in Brüssel bleiben müssen, bis er so weit genesen war, dass er die Reise nach Hause hatte antreten können. Erst seit seiner Rückkehr nach England hatte er sich eingestanden, wie vollkommen seine Welt sich verändert hatte. Er hatte seinen Abschied von der Armee genommen. Er hatte die Verlobung mit Elizabeth gelöst. Und er würde sich von seinen Pferden trennen müssen.

Würde er sich jemals an dieses neue Leben gewöhnen? Seit er denken konnte, war es sein Traum gewesen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Er wollte Pferde ausbilden und mit ihnen auf die Jagd reiten. Schon als Kind hatte er nichts lieber getan, als sich mit Pferden zu beschäftigen. Auch in seiner Studentenzeit in Cambridge hatte er jede Gelegenheit genutzt, um Pferde zu beobachten, ihr Verhalten zu studieren und mit ihnen zu arbeiten. Stets hatte er nach Tieren gesucht, die über jene besondere Mischung aus Kraft, Temperament und starkem Knochenbau verfügten, denn genau diese Kombination machte ein gutes Jagdpferd aus. Solche Tiere hatte er gekauft und trainiert. Gemeinsam mit seinen Freunden war er auf die Jagd geritten oder hatte an Hindernisrennen teilgenommen.

Man hatte die Gruppe Dom und seine Teufelskerle genannt.

Das allerdings lag Jahre zurück. Er war nicht mehr der unbekümmerte junge Draufgänger von damals.

Jetzt, als er sich langsam in Bewegung setzte, schmerzte ihn jeder Knochen und jeder Muskel. Doch es war seine Seele, die am meisten litt. Wie sollte er eine Zukunft bewältigen, die ihm so trostlos und leer erschien?

Früher hatte er kaum jemals das Bedürfnis verspürt, allein zu sein. Doch nach seiner Rückkehr aus Brüssel war London ihm zu laut, zu voll und zu hektisch erschienen. Er hatte nicht die geringste Lust verspürt, seinen Club oder einen Ball zu besuchen. Er hatte nicht einmal zu Tattersall’s gehen wollen, um die dort zum Verkauf angebotenen Pferde zu begutachten. Alles, was ihm früher Freude bereitet hatte, stieß ihn nun ab. Nicht einmal seinen Cousin Will hatte er um sich haben wollen, obwohl der ihn auf dem Schlachtfeld gerettet und sich anschließend wochenlang um ihn gekümmert hatte.

Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, ob das Haus, das lange leer gestanden hatte, bewohnbar war, hatte Dom den Entschluss gefasst, sich auf den Familienbesitz Bildenstone zurückzuziehen.

Am selben Tag hatte er sich auch von Elizabeth getrennt. Als er sich nun ihr hübsches Gesicht in Erinnerung rief, überkamen ihn Trauer und Bedauern. Aber er wusste, dass er das Richtige getan hatte. Er hätte sie unmöglich bitten können, sein Leben mit ihm zu teilen, denn es würde nicht mehr das sein, wie er es zuvor geführt hatte. Nie wieder würde er der Mann sein, den sie hatte heiraten wollen. Er würde nie mehr auf Bällen tanzen, nie mehr auf die Jagd reiten.

Zum Teufel! Entschlossen wandte er seine Gedanken anderen Dingen zu. Es tat zu weh, an all die zerschlagenen Hoffnungen und Pläne zu denken. Es war besser, sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Was in diesem Fall konkret bedeutete, dass er langsam Fuß vor Fuß setzen musste, um nach Bildenstone zurückzukehren.

Natürlich hieß es auch, dass er sich nicht mit der ferneren Zukunft beschäftigten durfte, die für ihn wie in einem finsteren Nebel verborgen lag.

Verzweiflung erfasste ihn, doch er straffte die schmerzenden Schultern und sagte sich, dass er genau wusste, warum er das gesellschaftliche Leben in London hinter sich gelassen, sich von seiner Verlobten getrennt und von seinen Verwandten zurückgezogen hatte. Er musste zu sich selbst finden – sofern etwas übrig geblieben war, das man finden konnte.

Langsam und nicht ohne Mühe ging er weiter. Auf der einen Seite begrenzte jetzt eine hohe Hecke die schlammige Straße. Als er um die Ecke bog, hinter der Diablo verschwunden war, sah er sich plötzlich einer jungen Frau gegenüber, die eine Stute am Zügel führte.

Dom zuckte zusammen. Die junge Frau blieb abrupt stehen. Das Pferd wieherte nervös und stieg.

„Runter, Firefly!“, befahl die junge Frau mit fester Stimme. Dann musterte sie ihn kurz und meinte lächelnd: „Sir, würden Sie mir bitte helfen? Ein wilder schwarzer Hengst hat meine Stute so erschreckt, dass sie mich abgeworfen hat. Ich hätte natürlich besser aufpassen müssen … Jedenfalls brauche ich nun Hilfe beim Aufsteigen.“

Dom, noch etwas verwirrt nach seinem Sturz, starrte sie wortlos an. Sie war recht groß für eine Frau. Dennoch erinnerte sie ihn mit ihren braunen Augen und dem brünetten Haar an einen kleinen Vogel. Ja, in ihrem altmodischen braunen Kleid sah sie aus wie ein Spatz.

Gelassen erwiderte sie seinen Blick. Weder seine Augenklappe noch der leere Ärmel, der – genau wie der gesamte Rest seiner Kleidung – infolge des Sturzes mit Laub und Matschspritzern verschmutzt war, schien sie zu erschrecken. Ihm jedoch wurde plötzlich bewusst, dass er wie ein Landstreicher aussah, der ein paar Nächte unter freiem Himmel geschlafen hatte.

Himmel, was musste sie von ihm denken? Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht schreiend die Flucht ergriffen hatte.

Bei dieser Vorstellung musste er unwillkürlich grinsen.

Im selben Moment veränderte sich auch der Gesichtsausdruck der jungen Frau. „Sir“, sagte sie sehr laut und deutlich, „helfen Sie mir jetzt?“

Wahrscheinlich hält sie mich nicht nur für einen schmutzigen, sondern auch für einen einfältigen Mann, dachte Dom amüsiert.

Doch als er endlich erfasste, worum sie ihn gebeten hatte, verschwand seine Belustigung augenblicklich. Denn er sah im Geiste Bilder von jungen Damen, die er in den Sattel gehoben, beim Walzer herumgewirbelt oder ins Bett getragen hatte. Mit zwei starken gesunden Armen.

Eine Welle des Zorns überlief ihn. „Ich kann Ihnen nicht helfen“, stieß er hervor und bewegte die Schulter, sodass der leere Ärmel hin und her schwang. „Einen guten Tag noch, Miss.“

Sie riss die Augen auf, als er sich an ihr vorbeidrängen wollte. „Sie können nicht? Oder wollen Sie nicht?“

„Sind Sie blind?“, gab er böse zurück.„Ich bin … behindert.“ Was er eigentlich hatte sagen wollen, war: Ich bin ein Krüppel. Aber er hatte das schreckliche Wort nicht über die Lippen gebracht.

Er wollte weitergehen, doch sie verstellte ihm den Weg. „Sie haben einen gesunden Arm, soweit ich sehe, und haben Ihr Leben nicht auf dem Schlachtfeld verloren wie mein Vater und so viele tapfere Soldaten. Aber anscheinend wollen Sie ihn nicht benutzen. Mein Vater hätte nicht gezögert, mir zu helfen, und sei es auch nur mit einem Arm.“

Ehe er etwas darauf erwidern konnte, wandte sie sich ab und zog ihr Pferd mit sich fort. Über die Schulter rief sie: „Ich werde nach einem Baumstumpf Ausschau halten. Der dürfte hilfsbereiter sein als Sie.“

Während sie entschlossen davonmarschierte, betrachtete Dom ihre entzückende Kehrseite. Er war ziemlich sicher, dass es weit und breit keinen Baumstumpf gab. Allerdings mochte er sich täuschen. Sein letzter Besuch in Bildenstone lag viele Jahre zurück. Was wohl auch der Grund dafür sein mochte, dass er die junge Frau nicht erkannt hatte. Damals musste sie noch ein kleines Mädchen gewesen sein.

Vermutlich hatte er die Tochter eines ehrbaren Nachbarn beleidigt. Sehr wohlhabend konnte die Familie nicht sein. Das hatte das schlichte, unmodische Kleid der jungen Frau verraten. Nun, er hatte sowieso nicht vor, Kontakt zu den Menschen in der Umgebung zu pflegen. Allerdings war damit zu rechnen, dass er dem Spatzenmädchen irgendwo erneut begegnen würde. Vielleicht konnte er sich dann für sein unhöfliches Benehmen entschuldigen.

Als Theodora die Straße entlangschritt, ohne einen Baumstumpf oder etwas Ähnliches zu entdecken, wuchs ihr Zorn. Offenbar gab es nichts, was ihr als Hilfe beim Aufsteigen dienen konnte. Und das bedeutete, dass sie den ganzen Weg nach Thornfield zu Fuß zurücklegen musste. Was wiederum zur Folge hatte, dass sie ihre Pläne vorerst aufgeben musste.

Das gefiel ihr gar nicht. Sie war unzufrieden mit sich selbst. Wenn sie nicht so in ihre Gedanken versunken gewesen wäre, hätte sie den schwarzen Hengst gewiss früh genug bemerkt, um ihre Stute zu kontrollieren. Mit festem Griff hätte sie Firefly daran gehindert, sie abzuwerfen. In Indien und als sie ihren Vater während des Krieges gegen Napoleon begleitet hatte, hatte sie viel schwierigere Situationen gemeistert.

Nun, es war sinnlos zu klagen. Sie würde den Besuch bei ihrem Nachbarn auf den nächsten Tag verschieben müssen.

Daheim würde sie als Erstes nach Charles sehen. Der Gedanke an den Jungen wärmte ihr das Herz. Und dann gab es ja auch noch die anderen Kinder. Vor allem die beiden Waisen, die erst seit Kurzem zu ihren Schützlingen gehörten, brauchten eine Menge Zuwendung. Zweifellos hatten sie Schlimmes erlebt.

Leider gab es nicht allzu viele Zimmer in Thornfield. Constancia, ihre portugiesische Gehilfin, würde zwar Schlafplätze für die neuen Kinder finden, aber es war höchste Zeit, ein Haus für die Waisen zu pachten. Eines, das über eine Küche, Schlafkammern und Schulräume verfügte. Eines, in dem die Kinder sich zu Hause fühlen konnten.

England mit seinen grünen Landschaften und dem oft nebligen Wetter musste ihnen sehr fremd und vermutlich beängstigend vorkommen. Schließlich kannten sie nur die so ganz anders wirkenden Gegenden der iberischen Halbinsel, durch die sie während des Krieges mit ihren Eltern im Tross der britischen Armee gezogen waren, bevor diese den Tod gefunden hatten. Sogar ihr selbst fiel es schwer, sich nach all den Jahren im Ausland an das Leben in England zu gewöhnen – und sie war längst erwachsen.

Sie seufzte auf und beschleunigte ihre Schritte. Nun gut, sie würde einen weiteren Tag lang darüber nachdenken können, welche Argumente sie bei ihrem Nachbarn vorbringen wollte. Sie mochte Thornfield Place und wollte dort bleiben. Deshalb musste sie den bis vor Kurzem abwesenden Besitzer des benachbarten Landguts davon überzeugen, ihr jenes vernachlässigte, weit ab vom Herrenhaus liegende Nebengebäude zu einem vernünftigen Pachtpreis zu überlassen. Sie musste ihm klarmachen, dass er ein gutes Werk tat, wenn er ihr ermöglichte, dort eine Unterkunft mit Schule für Kriegswaisen einzurichten.

In diesem Moment regte sich ihr Gewissen. Der Krieg hatte nicht nur Kinder zu Waisen gemacht, sondern auch unzählige Menschen zu Krüppeln.

Ich bin zu unfreundlich zu dem einarmigen, einäugigen Mann gewesen.

Möglicherweise war er kein Kriegsveteran. Doch er hatte die für einen Soldaten typische aufrechte Haltung gehabt. Vielleicht war er bei Waterloo verwundet worden. Wer so schwere Verletzungen davongetragen hatte, fragte sich vielleicht täglich, ob es nicht besser gewesen wäre, auf dem Schlachtfeld zu fallen.

Natürlich wäre es nicht besser gewesen. Sie selbst hätte alles darum gegeben, wenn ihr Vater, Colonel Richard Branwell, überlebt hätte. Oder wenn Marshall damals dem Tod entkommen wäre. Bitterkeit erfüllte sie, wenn sie an den Verlust ihres Verlobten dachte. Wäre er nicht in Spanien gefallen, hätte ihr Leben anders ausgesehen. Marshall und sie wären inzwischen verheiratet, hätten Kinder und würden glücklich miteinander sein.

Ja, manchmal verfluchte sie ihr Schicksal. Dennoch war es unfair gewesen, ihren Kummer und ihren Zorn an dem armen Soldaten auszulassen. Sie war so sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, dass ihr erst jetzt in den Sinn kam, wie dünn er gewesen war. Wie lange mochte es her sein, dass er eine gute Mahlzeit zu sich genommen hatte? Vielleicht sollte sie ihm irgendeine Arbeit in Thornfield verschaffen. Damit würde sie ihre Unhöflichkeit mehr als wettmachen.

Eine Stunde später erreichte sie endlich das Haus und überließ die Stute einem Stallburschen. Als sie in die Eingangshalle trat, teilte ihr Butler Franklin ihr mit, dass jemand auf sie wartete.

Da sie in der Umgebung keine Bekannten hatte – ausgenommen den im Ort Whitfield ansässigen Anwalt, der sie bei der Auswahl ihres Personals unterstützt hatte –, eilte sie verwundert zu dem Salon, in den Franklin den Gast geführt hatte. Wahrscheinlich wäre es höflicher gewesen, sich zuerst umzukleiden, doch ihre Neugier war so groß, dass sie keine Zeit verlieren wollte.

Sie öffnete die Tür und rief erfreut aus: „Tante Amelia!“

„Theodora, mein Liebling! Ich bin so froh, dich endlich in England begrüßen zu können!“ Strahlend schloss die alte Dame sie in die Arme.

Lady Amelia Coghlane, die Schwester ihres Vaters, und ihre Nachkommen waren ihre einzigen noch lebenden Verwandten. Tränen der Freude traten ihr in die Augen. „Wie schön, dich zu sehen, liebste Tante! Aber woher wusstest du, dass du mich hier finden würdest?“

„Ich hatte gehofft, du würdest mich in London besuchen, nachdem du Brüssel verlassen hattest. Aber in deinem letzten Brief teiltest du mir mit, dass du bereits den Anwalt meines Bruders gebeten hattest, dir bei der Suche nach einem Haus zu helfen, und dass du erst zu mir kommen würdest, wenn du alles andere geregelt hättest. Nun, so lange wollte ich nicht warten. Also erkundigte ich mich bei Richards Anwalt, wo du dich niedergelassen hast.“

„Ich freue mich sehr, dass du hier bist. Allerdings fürchte ich, dass Thornfield Place deinen Ansprüchen nicht gerecht wird. Das Haus ist noch nicht fertig eingerichtet, und ich habe nicht einmal genug Personal.“ Sie löste sich aus der Umarmung und musterte ihre Tante, die sie seit vielen Jahren nicht gesehen hatte. „Gut siehst du aus! Dieses weinrote Kleid steht dir hervorragend. Und es entspricht bestimmt der neuesten Mode.“

„Du siehst ebenfalls gut aus. Aber zu deinem Kleid kann ich dir kein Kompliment machen.“ Lady Amelia verzog das Gesicht. „Wir müssen dich unbedingt neu einkleiden. An den gottvergessenen Orten, an denen du mit meinem Bruder gelebt hast, war modische Kleidung vielleicht unwichtig. Hier jedoch musst du etwas für deine Erscheinung tun. Ich bin nur froh, dass du dir deine weibliche Figur bewahrt hast und unter der spanischen Sonne nicht braun wie eine Haselnuss geworden bist.“

„Schon meine Kinderfrauen in Indien behaupteten, es sei ein großes Glück, dass ich so gesund und anpassungsfähig bin.“

„So ganz anders als deine arme Mama … Gott sei ihrer Seele gnädig.“ Sie schluckte. „Ich kann es noch immer nicht fassen, dass nun auch Richard von uns gegangen ist.“

Obwohl sie ein heftiger Schmerz durchzuckte, sagte Theodora gefasst: „Papa fehlt mir sehr. Trotzdem freut es mich, dass du kein Schwarz mehr trägst. Soweit ich mich erinnere, hat dir die Farbe nie gestanden.“

„Du meinst also nicht, dass ich die Trauerkleidung zu früh abgelegt habe?“

Theodora schüttelte den Kopf.

„Es erscheint mir so unfair, dass mein Bruder sterben musste. Erst hat er all diese schlimmen Schlachten beinahe unverletzt überstanden. Zunächst in Indien. Dann in Spanien und Portugal. Und als der Krieg fast vorbei ist, wird er in Waterloo getötet … Doch genug davon. Wollen wir Tee trinken?“

„Gern. Ich habe großen Durst und werde sofort nach Franklin läuten.“

Der Butler erschien umgehend und nahm ihre Anweisungen entgegen. Nachdem er den Salon verlassen hatte, setzte Theodora sich zu ihrer Tante aufs Sofa. „Wie lange kannst du bleiben? Mrs Reeves macht eines der Gästezimmer für dich fertig. Wegen der Kinder ist es ein wenig unruhig im Haus. Aber ich hoffe, du wirst dich trotzdem wohlfühlen.“

„Die Kinder sind noch immer bei dir? Du hast mir von ihnen geschrieben. Von Jemmie und dem kleinen Mädchen. Und natürlich von Charles. Wie geht es Lord Everlys Sohn? Der arme elternlose Junge …“

„Gut. Er ist jetzt ein kluger und kräftiger Vierjähriger.“

„Er ist tatsächlich schon vier? Und Lord Wareton, sein Großvater, hat nie …“

„Nein. Lord Everlys Kommandant hat mehrmals an den Marquess of Wareton geschrieben. Zuletzt, als ich nach dem Tod von Charles’ Mutter mit dem Säugling zu Everlys Regiment zurückkam. Der Marquess wurde über alles unterrichtet. Doch wir haben nie eine Antwort auf die Briefe erhalten.“

Wie sehr sie darüber erleichtert gewesen war, verschwieg sie. Stattdessen sagte sie in ruhigem Ton: „Ich konnte Charles nicht im Stich lassen. Also behielt ich ihn bei mir. Und inzwischen kann ich mir nicht mehr vorstellen, mich jemals von ihm zu trennen.“

„Du bist jung genug, um zu heiraten und eigene Kinder zu bekommen“, stellte ihre Tante fest. „Es war wohl deine Christenpflicht, die arme Frau zu begleiten, als sie verwitwet und schwanger nach England zurückkehren wollte. Ich wünschte wirklich, ihr hättet London erreicht! Vielleicht hätte die Familie ihres Gatten sich ihr und dem Kind gegenüber dann anders verhalten. Welch ein Unglück, dass sie krank wurde und du mit ihr irgendwo in Portugal in einem Kloster Zuflucht suchen musstest!“

Theodora öffnete den Mund, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen.

„Ich verstehe ja“, fuhr Lady Amelia fort, „dass du es nach ihrem Tod für deine Pflicht hieltest, dich um das Baby zu kümmern, bis es seiner Familie übergeben werden konnte. Aber der Marquess hat den Jungen, wie du sagst, nie als seinen Enkel anerkannt. Das ist sehr bedauerlich. Doch mit dir hat es nichts zu tun. Meinst du nicht, du solltest den Jungen und auch die anderen Kinder in die Obhut der Gemeinde geben? Solange du zusammen mit deinem Vater auf dem europäischen Festland lebtest, brachte man dir und deinem seltsamen Haushalt sicher ein gewisses Maß an Nachsicht und wohl auch an Achtung entgegen. Nun allerdings ist Richard tot. Und hier in England wird man es sehr merkwürdig finden, wenn du die Kinder bei dir behältst.“

„Auf sich allein gestellt, hätten die Kinder betteln müssen und wären womöglich verhungert. Du hättest es auch nicht über dich gebracht, sie im Stich zu lassen.“

„Meine Liebe, es gehört sich einfach nicht für eine wohlerzogene junge Dame, sich um solche Kinder zu kümmern.“

„Glaubst du denn, ich sei in Indien und auf den Schlachtfeldern Europas zu einer wohlerzogenen jungen Dame herangewachsen?“

Lady Amelia warf ihr einen wütenden Blick zu. „Papperlapapp! Du entstammst einer angesehenen Familie, auch wenn du eine ungewöhnliche Erziehung genossen hast. Und da du außerdem eine reiche Erbin bist, könntest du wirklich noch eine gute Partie machen. Warum begleitest du mich nicht nach London und überlässt es mir, dich mit ein paar passenden Gentlemen bekannt zu machen?“

„Kein Gentleman wäre bereit, eine Frau zu heiraten, die die Kinder anderer Leute aufzieht. Und von Charles werde ich mich auf keinen Fall trennen.“

„Sei doch vernünftig, Mädchen! Du hast eine gute Figur und wunderschöne Augen. Wenn du dich angemessen benimmst und dich hübsch anziehst, wirst du mehr als einem Mann den Kopf verdrehen, zumal du die Enkelin eines Earls bist.“

Theodora schüttelte den Kopf.

„Wenn Charles dir wirklich so wichtig ist, dann solltest du schon deshalb heiraten, damit er einen Vater bekommt, der ihn zu einem echten Gentleman erzieht und ihm hilft, in der guten Gesellschaft Fuß zu fassen. Was die anderen Kinder betrifft … Es ist nicht gut, wenn du falsche Hoffnungen in ihnen weckst. Sie sollten einen Beruf erlernen, damit sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.“

Letzteres fand auch Theodora. Es war keineswegs ihre Absicht, den verwaisten Soldatenkindern die gleiche Erziehung zuteilwerden zu lassen wie Charles. Allerdings fühlte sie sich noch so fremd in England, dass sie nicht wusste, wie sie am besten für die Zukunft der Kinder sorgen konnte. Auf jeden Fall war sie fest entschlossen, ihnen Rechnen und Schreiben beibringen zu lassen und ihnen, wenn sie alt genug waren, bei der Suche nach einer Stellung zu helfen.

„Warum hast du dich eigentlich entschieden, nach Thornfield zu ziehen? Dein Vater hat dir doch mehrere Anwesen hinterlassen.“

„Der Anwalt erklärte, dass alle langfristig verpachtet seien. Thornfield entspricht meinen Vorstellungen, und ich hoffe, in der Nähe ein Gebäude anmieten zu können, in dem ich ein Waisenhaus mit Schule einrichten kann.“

„Warum machst du dir so viel Arbeit? Beinahe jede Gemeinde unterhält eine Einrichtung für Waisenkinder. Es dürfte kein Problem sein, zwei Kinder dort unterzubringen.“

Theodora senkte den Kopf.

„Möchtest du mir vielleicht etwas sagen?“, fragte Lady Amelia misstrauisch.

„Außer Charles leben inzwischen vier Kinder in meiner Obhut. Ich könnte es nicht ertragen, wenn man sie in ein Arbeitshaus steckte! Außerdem ist es mir ein Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun. Und da ich nicht mehr länger Papas Haushalt führen kann …“

„Sinnvoll wäre es zu heiraten! Du bist zu jung, um bis an dein Lebensende deinem gefallenen Verlobten nachzutrauern.“

„Ich bin siebenundzwanzig. Da gelte ich für die meisten Mitglieder der guten Gesellschaft schon als alte Jungfer.“ Dass es auch andere Gründe gab, eine Ehe nicht in Erwägung zu ziehen, wollte sie ihrer Tante lieber nicht gestehen.

Lady Amelia seufzte. „Ich war sehr enttäuscht, dass du es damals mit Everlys Gattin nicht bis nach London geschafft hast. Ich hatte mich so auf dich gefreut. Und ich hoffe noch immer, dass du für ein paar Wochen zu mir kommst, damit ich dich ein wenig verwöhnen kann. Vielleicht vergisst du dann die schlimmen Dinge, die du im Krieg erlebt hast.“

„Es gibt Dinge, die man nie vergessen kann“, murmelte Theodora. „Aber wenn du glaubst, wir wären ständig in Kämpfe verwickelt gewesen, dann täuschst du dich glücklicherweise. Wir wurden von einem Quartier ins nächste geschickt, schliefen manchmal in einem Schloss und dann wieder in einem Stall. Wir erhielten sogar relativ gute Verpflegung. Und wir trafen interessante Menschen. Vieles war einfach ein großes Abenteuer.“ Ein Abenteuer, das sie einerseits mit so unangenehmen Zeitgenossen wie Audley Tremaine zusammengebracht, ihr andererseits aber auch einen Schatz wie Charles beschert hatte. Ein Abenteuer, dessen Höhepunkt die leidenschaftliche Liebe zu Marshall gewesen war. Eine so große Liebe, dass der Schmerz über dessen Tod noch immer kaum zu ertragen war …

„Im Stall schlafen?“ Lady Amelia erschauerte. „Das nennst du ein Abenteuer?“

„Ich gebe zu, dass das Leben während eines Feldzugs für dich wahrscheinlich nicht das richtige wäre.“ Theodora lächelte. „Hier jedenfalls kann ich dir ein bequemes Bett anbieten. Ich werde Mrs Reeves bitten, dir dein Zimmer zu zeigen, denn ich muss mich jetzt erst einmal um die Kinder kümmern.“

„Kann ich dich nicht doch davon überzeugen, dass es gut wäre, die Kinder wegzugeben und mit mir nach London zu kommen?“

„Nein.“ Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, wenn sie sich bloß vorstellte, wie man ihre Schützlinge in einem Arbeitshaus behandeln würde.

„Schade. Du scheinst den Dickkopf deines Vaters geerbt zu haben. Die ganze Familie versuchte ihm auszureden, nach Indien zu gehen. Aber er ließ sich einfach nicht davon abbringen.“

„Ich weiß es zu schätzen, dass du dir Gedanken um meine Zukunft machst, Tante Amelia. Aber ich kenne mich so wenig mit den englischen Gepflogenheiten aus, dass ich dich wahrscheinlich ständig in Verlegenheit bringen würde.“

„Unsinn! Du bist eine kluge, hübsche und praktisch veranlagte junge Frau. An die gesellschaftlichen Regeln würdest du dich rasch gewöhnen. Bestimmt würde es dir nicht schwerfallen, einen Gatten zu finden. Natürlich ist es großherzig von dir, dich um die armen Waisen zu kümmern. Aber eine Frau sollte heiraten, um ihr Glück zu finden.“

„Du willst mich also unbedingt verkuppeln?“, fragte Theodora lachend. „Nun, versuch es, wenn es dich glücklich macht. Aber dann musst du jemanden finden, der mich so nimmt, wie ich bin.“

„Es geht mir um dein Glück“, meinte Lady Amelia würdevoll, „und nicht darum, mich zu amüsieren, indem ich Ehen stifte. Ich möchte, dass dein Leben wieder von Freude erfüllt ist und dass du die Wonnen des Ehelebens kennenlernst.“

Glück, Freude, Wonne … Unwillkürlich biss Theodora die Zähne zusammen. Sie hatte alles kennengelernt. Um dann zu erfahren, wie bitter es ist, alles zu verlieren. Sie hatte einen hohen Preis bezahlt für ein paar wundervolle Wochen mit Marshall. Und sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, diese Erfahrung zu wiederholen. Sie würde mit ihrem Leben zufrieden sein, solange sie dafür sorgen konnte, dass Charles in Sicherheit und glücklich war.

„Charles erfüllt mein Leben mit Freude. Und ich gehe davon aus, dass ich glücklich sein werde, solange ich den Waisenkindern helfen kann“, erklärte Theodora und gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange, ehe sie aus dem Raum eilte.

Auf dem Weg zum Kinderzimmer dachte sie: Ich habe mich für dieses Leben entschieden und sollte mich glücklich schätzen, etwas Sinnvolles leisten zu können. Aber sie hatte auch gar keine gar keine andere Wahl, seit sie in jenem portugiesischen Kloster einen so weitreichenden Entschluss getroffen hatte. Bei der Erinnerung daran lächelte sie. Nie würde sie vergessen, welches Glücksgefühl sie durchströmt hatte, als sie das Neugeborene zum ersten Mal in den Armen hielt.

2. KAPITEL

Entsetzlich erschöpft von dem langen Fußmarsch erreichte Dom endlich Bildenstone Hall. Er sehnte sich nach einem Glas Brandy mit Laudanum – das würde die Schmerzen lindern – und nach seinem Bett. Doch es war ihm nicht vergönnt, sich in sein Zimmer zurückziehen zu können. Denn Wilton, sein Butler, teilte ihm mit, dass der Squire sowie Lady Wentworth und ihre Tochter seit mehr als einer Stunde auf ihn warteten.

„Ich habe die Herrschaften in den Großen Salon geführt“, berichtete Wilton.

„Schicken Sie sie fort“, gab Dom zurück und schleppte sich in Richtung Treppe. Schlimm genug, dass seine Schulter und sein Armstumpf höllisch wehtaten und dass Kopfschmerzen ihn quälten! Er brauchte Ruhe! Keinesfalls wollte er jetzt höfliche Konversation machen.

„Sir“, begann Wilton vorsichtig, „der Squire erwähnte, dass es sich um eine dringliche Angelegenheit handelt, und dass er, wenn nötig, den ganzen Tag warten würde.“

Am liebsten hätte Dom sie alle zum Teufel gejagt: den Squire, Lady Wer-Auch-Immer, die junge Dame und zudem den Butler. Aber er besann sich auf seine gute Erziehung, schluckte und sagte: „Ich brauche einen Moment.“

Tatsächlich hatte er sich fest vorgenommen, so wenig Kontakt wie nur irgend möglich zu seinen Nachbarn zu halten. Doch ihm war natürlich klar gewesen, dass die in der Nähe ansässigen Mitglieder der guten Gesellschaft, insbesondere diejenigen, die zum Landadel gehörten, es als ihre Pflicht ansehen würden, ihn aufzusuchen. Schließlich war er der bedeutendste Grundherr weit und breit. Und deshalb konnte er sich seinen Pflichten nicht entziehen. Selbst dann nicht, wenn in seinem Kopf ein Schwarm Wespen um einen unermüdlich hämmernden Schmied herumzuschwirren schien. Wenn er also nicht wollte, dass sein Butler die Besucher mit der Begründung fortschickte, dass Mr Ransleigh vom Pferd gefallen war und sich vor Schmerz kaum rühren konnte, dann musste er den Squire und die beiden Damen empfangen.

Verflucht! Zweifellos hatte jeder in der Umgebung von Bildenstone mehr als genug Gerüchte über Dandy Dom, wie man ihn früher genannt hatte, gehört. Jeder wusste von seinen Erfolgen bei der Jagd und von seinen Kriegsabenteuern. Deshalb würde sich die Neuigkeit, dass er sich von seinem eigenen Pferd hatte abwerfen lassen, wie ein Lauffeuer verbreiten. Hinter vorgehaltener Hand würde man über ihn lachen. Das war etwas, das er einfach nicht ertragen konnte. Vielleicht war es dumm, so stolz zu sein. Aber vielleicht war es auch nötig, seinen Ruf zu wahren, damit man ihn nicht für einen Schwächling hielt, dem niemand mehr Achtung entgegenbrachte.

Also holte er tief Luft, straffte die Schultern und wandte sich nochmals an Wilton. „Richten Sie den Besuchern bitte aus, dass ich mich nach einem langen Ausritt erst ein wenig frisch machen muss.“

„Sehr wohl, Mr Ransleigh“, gab der Butler, sichtlich erleichtert, zurück und machte sich auf den Weg zum Salon, während Dom sich die Treppe hinaufquälte. In seinem Zimmer angekommen, läutete er nach Henries, der im Krieg sein Offiziersbursche gewesen war und ihm nun als Kammerdiener zur Seite stand.

Als Henries erschein, hatte Dom bereits die schlammverschmutzten Sachen ausgezogen und begonnen, sich zu waschen. Der Kammerdiener half ihm beim Abtrocknen, holte ein frisches Hemd sowie rehbraune Pantalons und einen dunkelblauen Gehrock und ging ihm beim Ankleiden zur Hand.

Sobald er fertig war, begab Dom sich zum Salon. Dem Wunsch, seine Schmerzen durch Laudanum zu unterdrücken, hatte er nicht nachgegeben, weil er fürchtete, sonst mitten im Gespräch mit seinen Besuchern einzuschlafen. Selten hatte er sich so erschöpft gefühlt. Dennoch zwang er sich zu einem Lächeln, als er die Tür öffnete.

„Squire Marlowe“, begrüßte er den kräftig gebauten Mann, der bei seinem Eintreten aufgestanden war und sich nun verneigte, „wie freundlich von Ihnen, mir einen Besuch abzustatten.“ Dann warf er einen kurzen fragenden Blick auf die Damen.

„Wir alle freuen uns, dass Sie sich entschlossen haben, nach so vielen Jahren wieder nach Suffolk zu ziehen“, meinte der Squire. „Darf ich Sie mit Lady Wentworth und Miss Wentworth bekanntmachen?“ Er nickte den Damen zu. „Dies also ist Mr Dominic Ransleigh, einer der Helden von Waterloo.“

„Ladies, willkommen in Bildenstone Hall!“ Dom verbeugte sich, und die Damen knicksten.

„Wir alle haben von Ihren Heldentaten gehört, Mr Ransleigh“, sagte Lady Wentworth, „und sind sehr stolz auf Sie.“

„Es ist schön, dass Sie sich nach so langer Zeit entschieden haben, wieder in Bildenstone Hall zu leben“, erklärte der Squire. „Wir alle haben Ihren Vater und Ihre Mutter – Gott sei ihren Seelen gnädig – sehr vermisst, als sie damals beschlossen, Suffolk zu verlassen, um in Upton Park zu wohnen.“

Hatten seine Eltern die Nachbarn unabsichtlich gekränkt, als sie damals fortgezogen waren? Wollte der Squire das mit seinen Worten andeuten?

„Als Lady Wentworth erfuhr, dass ich beabsichtigte, Ihnen heute einen Besuch zu machen“, fuhr Mr Marlowe fort, „bat sie mich, sie und ihre Tochter mitzunehmen. Lady Wentworth ist die Vorsitzende der Improvement Society der Pfarrgemeinde von Whitfield. Sie setzt sich für eine umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen und der Moral ein. Ihre Tochter unterstützt sie dabei. Doch leider wird Miss Wentworth uns bald verlassen, um eine Saison bei ihrer Patin in London zu verbringen.“

Deshalb also, dachte Dom, sind die Damen hier. Miss Wentworth war auf der Suche nach einem Ehemann.

Er hatte sich ein wenig erholt und konnte nun klarer denken. Wenn die Bewohner von Whitfield und Umgebung sich so für ihn interessierten, wie es den Anschein hatte, dann wussten sie vermutlich längst, dass er die Verlobung mit Elizabeth gelöst hatte. Als wohlhabender Neffe eines Earls galt er trotz seiner Kriegsverletzungen zweifellos als begehrenswerter Junggeselle. Lady Wentworth hoffte gewiss, er könne ihr Schwiegersohn werden.

Diese Hoffnung teilte Miss Wentworth offensichtlich nicht. Dom hatte bemerkt, dass die junge Dame abwechselnd seinen leeren Ärmel und seine Augenklappe musterte und dabei ihren Abscheu nicht verbergen konnte.

Welch ein Tag! Zuerst die selbstbewusste Frau, der er nach seinem Sturz vom Pferd begegnet war und die ihm vorgeworfen hatte, er würde seine Verletzungen als Entschuldigung vorschieben, um ihr nicht helfen zu müssen. Und nun diese wohl ein wenig jüngere Dame, die ihn anschaute, als sei er der Hauptdarsteller in einer Raritätenschau.

Sie hält mich für ein Monster, dachte er und könnte kaum entsetzter sein, wenn ich auf dem Jahrmarkt auftreten würde.

Einen Moment lang verspürte er das Bedürfnis aufzuspringen, sich mit einem lauten „Buh!“ vor ihr aufzubauen und zu beobachten, wie sie zurückschrak.

Doch in diesem Moment bemerkte sie, dass ihm ihr Benehmen aufgefallen war. Sie errötete und schenkte ihm das, was die meisten Männer wohl für ein bezauberndes Lächeln gehalten hätten.

Mit ihren goldenen Locken, den großen Augen und den vollen Lippen war sie sehr hübsch. Dennoch fand Dom sie überhaupt nicht anziehend.

Vielleicht sollte er ihr freundlich mitteilen, dass keine Gefahr für sie bestand. Er würde sich niemals in eine naive Schönheit verlieben, die nichts von der Welt gesehen hatte. Sofern er sich überhaupt zur Ehe entschloss, würde er eine Frau wählen, die ganz anders als Miss Wentworth war. Darüber hätte Letztere sicher Erleichterung empfunden. Dennoch wäre es äußerst unhöflich gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen. Und Lady Wentworth hätte ihm bestimmt nie verziehen.

Der Gedanke bewirkte, dass Dom seine Aufmerksamkeit wieder der Vorsitzenden der Improvement Society zuwandte, die begonnen hatte, ihm zu erklären, warum sie den Squire begleitet hatte.

„… weiß selbstverständlich, dass ich Ihnen eigentlich erst später meine Aufwartung hätte machen sollen. Zunächst hätte Sir John, mein Gatte, Ihnen einen Besuch auf Bildenstone abstatten sollen. Doch mein Anliegen ist so dringend, dass ich mir die Freiheit genommen habe, gemeinsam mit Squire Marlowe herzukommen. Sehen Sie: Die Improvement Society fühlt sich auch für das Armenhaus der Gemeinde zuständig. Dort leben diejenigen, die unverschuldet ins Unglück geraten sind. Wir unterstützen sie, so gut wir können, und geben ihnen die Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu verdienen.“

Lady Wentworth holte tief Luft, ehe sie in vertraulichem Ton fortfuhr: „Sie stimmen mir sicher zu, Mr Ransleigh, dass all jene unserer besonderen Fürsorge bedürfen, die durch die Umstände ihrer Geburt und durch das Leben in einer verwahrlosten Umgebung moralisch geschwächt sind. Die notwendige Unterstützung können wir ihnen allerdings nur zukommen lassen, wenn solche Kinder nicht in ihrer Nähe leben.“

Solche Kinder?“, echote Dom fragend. „Es tut mir leid, Lady Wentworth, aber ich verstehe nicht, worauf Sie anspielen.“

„Dann hat man Sie womöglich noch gar nicht informiert! Das ist … schändlich!“

Dom unterdrückte ein Seufzen. Lady Wentworths wichtigstes Anliegen war zweifellos, ihm ihre Tochter vorzuführen. Damit umzugehen war einfach, denn er hatte ausreichend Erfahrung darin, jungen Damen im heiratsfähigen Alter und ihren ehrgeizigen Müttern zu entkommen. Weniger einfach würde es sein, mit ihrem zweites Anliegen umzugehen, zumal er bisher nicht einmal begriffen hatte, worum es sich handelte.

„Wollen wir uns nicht setzen?“, schlug er verspätet vor. Und da er auf dem Tisch eine Teekanne und Tassen entdeckt hatte, setzte er hinzu: „Vielleicht möchten Sie noch eine Tasse Tee?“

Er widerstand der Versuchung, sich neben Miss Wentworth aufs Sofa zu setzen, um herauszufinden, ob sie ihre Abneigung gegen sein Äußeres überwinden würde, wenn man ihr ins Gedächtnis rief, dass er wohlhabend und einflussreich war. Stattdessen rückte er sich einen Stuhl heran. Dann wandte er sich an den Squire. „Vielleicht können Sie mir die Sache mit den Kindern erklären?“

Der wechselte einen kurzen Blick mit Lady Wentworth und sagte: „Gern, Mr Ransleigh. Vor ein paar Tagen erfuhr ich von Mr Scarsdale, dem in Whitfield ansässigen Anwalt, dass Thornfield Place an einen Theo Branwell vermietet wurde. Thornfield grenzt an Ihren Besitz, wie Sie sicher wissen. Und nicht weit davon befindet sich ein Nebengebäude von Bildenstone Hall, das dieser Theo Branwell nach Auskunft von Mr Scarsdale ebenfalls gern mieten oder pachten würde. Darin will er ein Waisenhaus unterbringen, in dem ausschließlich Soldatenkinder leben sollen.“

„Stellen Sie sich das vor!“ Lady Wentworths Stimme bebte. „Soldatenkinder! Niemand weiß besser als Sie, Mr Ransleigh, wie sehr sich das Leben während eines Feldzugs von unserem Leben unterscheidet. Wer mit dem Tross zieht, beachtet die für uns so wichtigen gesellschaftlichen Regeln nicht. Also haben diese Kinder nie gelernt, wie man sich in England benehmen sollte! Der Duke of Wellington selbst hat die einfachen Soldaten als den Abschaum der Erde bezeichnet …“

Ein sehr zweifelhaftes Zitat, dachte Dom.

„… Die Kinder solcher Männer sollen nun in unserer Nachbarschaft leben. Kinder, die inmitten von Raufbolden und Betrunkenen aufgewachsen sind und keine moralischen Grundsätze haben! Kinder, die …“ Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Tochter und flüsterte dann: „Kinder, die von Frauen zur Welt gebracht wurden, die … die den Männern zu Willen waren.“

Da Dom schwieg, fuhr sie in normaler Lautstärke fort: „Diesen Kindern fehlt es an jeder Vorstellung von Gut und Böse. Von Geburt an sind sie verdorben. Deshalb können wir sie unmöglich in unserer Nachbarschaft dulden. Die ehrbaren Leute hier haben ein Recht darauf, vor solchen Kindern geschützt zu werden. Zumal die Bewohner unseres Armenhauses kaum die moralische Stärke aufbringen können, sich dem schlechten Einfluss zu entziehen.“

Sie erschauerte. „Ein solches Waisenhaus wird schreckliche Ereignisse nach sich ziehen. Ja, ich mag mir die Folgen gar nicht ausmalen! Deshalb hielt ich es für meine Pflicht, so bald wie möglich mit Ihnen über dieses unangenehme Thema zu sprechen. Mr Branwell hofft zweifellos darauf, dass Sie Mitgefühl für diese Kinder aufbringen, da Sie selbst im Krieg gekämpft haben. Doch Sie sind ein Gentleman und erkennen sicher, welche Gefahren die Anwesenheit der Waisen für die ehrbaren Menschen hier mit sich bringen würde.“

Obwohl Dom sich durchaus für einen Gentleman hielt, verspürte er keinerlei Lust, sich auf die Seite der Vorsitzenden der Improvement Society zu stellen. Ihre durchdringende Stimme hatte seine Kopfschmerzen weiter verschlimmert. Er wünschte, das Gespräch so bald wie möglich zu beenden. Vor allem, da er fürchten musste, Lady Wentworth würde es so in die Länge ziehen, dass er zumindest die Chance erhielt, die hübschen Fußknöchel ihrer Tochter zu begutachten, wenn diese ihre Sitzposition veränderte.

„Ich verstehe Ihre Besorgnis, Mylady“, erklärte er. „Und die Ihre, Squire Marlowe. Deshalb möchte ich Ihnen versichern, dass ich keine übereilte Entscheidung treffen werde, wenn dieser Mr Branwell an mich herantritt. Und nun möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Wie mein Butler mir mitteilte, mussten Sie sich eine Weile in Geduld fassen, bis ich von meinem Ausritt zurück war. Gewiss warten noch viele wichtige Verpflichtungen auf Sie. Ich selbst bin mit meinem Verwalter verabredet und muss mich beeilen. Deshalb möchte ich mich nun von Ihnen verabschieden.“

Er erhob sich. „Lady Wentworth, Ihnen und der Improvement Society wünsche ich viel Erfolg. Miss Wentworth, Sie werden gewiss eine wundervolle Saison in London erleben. Squire, es war mir ein Vergnügen, Sie bei mir begrüßen zu dürfen.“

Während die drei ihm dankten und gleichzeitig versicherten, dass sie nicht in Eile seien, verbeugte Dom sich und eilte dann, so schnell die Höflichkeit es erlaubte, aus dem Raum. Er quälte sich die Treppe hinauf, erreichte sein Zimmer und schaffte es mit letzter Kraft bis zum Bett. Aufstöhnend ließ er sich auf die weiche Matratze fallen. Zum Glück stand ein Glas mit Brandy und Laudanum auf dem Nachttisch. Dom nahm einen tiefen Schluck und schloss die Augen. Voll bekleidet, schlief er ein.

Irgendwann in der Nacht erwachte er, stellte fest, dass das Glas auf dem Nachttisch noch nicht leer war, und trank den Rest des mit Laudanum versetzen Brandys. Dann schlief er tief und fest bis weit in den Morgen hinein.

Dennoch fühlte er sich erschöpft, als er endlich die Augen aufschlug. Sein Blick wanderte zum Nachttisch. Offenbar hatte Henries das Glas noch einmal gefüllt. Da Dom unter heftigen Schmerzen litt, leerte er es in einem Zug. Dann ließ er sich in die Kissen zurücksinken. Ihm war bewusst, dass er seit seiner wilden Zeit als Student in Cambridge niemals vor dem Frühstück Alkohol getrunken hatte. Aber er schämte sich nicht, sondern wartete nur ungeduldig darauf, dass die Wirkung des Laudanums einsetzte.

Schließlich ließen die Schmerzen nach, und Dom fühlte sich kräftig genug, um nach seinem Offiziersburschen zu läuten. Ein heißes Bad würde helfen, die Erschöpfung zu vertreiben. Dann würde er sich ankleiden und frühstücken. Anschließend wäre er bereit für den neuen Tag. Einen Tag, der vermutlich so leer sein würde wie jeder andere seit seiner Verwundung.

Früher hatte er schon beim Aufwachen darauf gebrannt, nach seinen Pferden zu schauen. Er war stolz darauf gewesen, dass man von ihm sagte, er würde die vielversprechendsten Jährlinge entdecken und sei in der Lage, die schwierigsten Pferde erfolgreich zu trainieren. Er hatte jeden Hengst dazu bringen können, über Hindernisse zu springen, vor denen er sonst scheute. Wie sehr hatte er es genossen, auf dem Rücken eines starken temperamentvollen Tiers zu sitzen, über Wiesen und Felder zu galoppieren und über Hecken, Bäche und Zäune zu setzen!

Dieses wundervolle Gefühl würde er nie wieder haben. Das wusste er seit dem vergangenen Tag.

Die Erkenntnis schmerzte tief.

Was sollte er mit den vor ihm liegenden Stunden anfangen? Sicher, er konnte in aller Ruhe die Londoner Zeitungen lesen und sich darüber informieren, welcher Preis gerade bei Tattersall’s für gute Jagdpferde gefordert wurde. Er konnte auch einen der ihm bekannten begeisterten Jäger anschreiben und ihn fragen, ob er daran interessiert sei, eines seiner Jagdpferde zu erwerben.

Die Vorstellung ließ seine sowieso schon gedrückte Stimmung auf den Nullpunkt sinken.

Dom seufzte. Er würde es nicht über sich bringen, heute den Verkauf seiner Pferde in Angriff zu nehmen. Also würde er sich wohl in die große und gut sortierte Bibliothek zurückziehen und sich auf die Suche nach einem Buch machen, das er lesen wollte. Während des Krieges war er glücklich gewesen über jeden langen Winterabend, an dem ihm ein gutes Buch in die Hand fiel. Einer der Gründe, warum er sich entschlossen hatte, nach Bildenstone zu ziehen, war, dass sein Großvater dort eine beeindruckende Bibliothek eingerichtet hatte.

Gewiss würde er etwas finden, das ihn gefangen nahm, sodass er seine Schmerzen und seine Unzufriedenheit eine Zeit lang vergessen konnte. Vielleicht würde es seine Stimmung noch etwas mehr heben, wenn er sich mit einem Buch in den Garten setzte. Ja, er würde nachschauen, ob der Pavillon, der auf Wunsch seiner Mutter erbaut worden war, sich in einem akzeptablen Zustand befand.

Früher oder später musste er sich natürlich damit beschäftigen, wie seine Zukunft aussehen sollte. Doch noch fühlte er sich dazu nicht in der Lage. Wenn die Schmerzen, mit denen er aus seinem gestrigen Abenteuer hervorgegangen war, erst einmal nachließen, würde es ihm gewiss leichter fallen, Pläne für die kommenden Monate und Jahre zu schmieden.

Eine Stunde später, nachdem er gebadet, sich angekleidet und gefrühstückt hatte, sah die Welt ein wenig freundlicher aus. Auf dem Weg zur Bibliothek begegnete Dom dem Butler, was ihn an einen Entschluss erinnerte, den er am Abend zuvor gefasst hatte. „Wilton“, begann er, „ich wünsche, dass Sie allen Besuchern sagen, dass ich nicht zu sprechen bin. Und ich meine wirklich alle Besucher. Sollte Gott persönlich auf meiner Schwelle erscheinen, dann schicken Sie auch ihn fort!“

Die Miene des Butlers verriet, wie unglücklich er über die Worte seines Herrn war. Er hielt sie wohl für eine Gotteslästerung, doch er nickte. „Wie Sie wünschen, Mr Ransleigh.“

„Gut“, murmelte Dom und ging weiter.

In der Bibliothek zog er verschiedene Bände aus den Regalen und stellte sie nach kurzer Begutachtung zurück. Um Cäsars De Bello Gallico zu lesen, war sein Latein zu schlecht. Ein anderes Buch erschien ihm zu oberflächlich. Wieder ein anderes zu wissenschaftlich. Schließlich fand er eine Übersetzung von Herodots Neun Bücher zur Geschichte. Da das Wetter, wie er enttäuscht hatte feststellen müssen, zu schlecht war, um sich in den Pavillon zu setzen, machte er es sich in einem Sessel beim Kamin bequem.

Wenig später hatte er die Welt um sich herum vergessen und fieberte mit dem persischen Feldherrn Xerxes der Schlacht gegen die Spartaner entgegen.

Erst als es klopfte und Wilton eintrat, bemerkte Dom, dass eine Menge Zeit vergangen sein musste. Sonst hätte er gewiss nicht plötzlich Hunger verspürt. Da er keine Lust hatte, sich aus dem bequemen Sessel zu erheben, sagte er: „Bitte richten Sie der Köchin aus, dass Sie mir etwas kalten Braten, Brot, Käse und Ale heraufschicken soll.“

„Gern, Mr Ransleigh. Doch zuerst …“ Der Butler zögerte. „Ich fürchte, ich muss Ihnen mitteilen, dass … Also, eine junge Dame war da, die Sie sprechen wollte. Ich habe ihr natürlich mitgeteilt, dass Sie heute keine Besucher empfangen. Woraufhin sie erwiderte, es handele sich um eine dringende Angelegenheit und sie wolle warten, bis Sie Zeit für ein Gespräch mit ihr fänden.“

Noch eine Dame mit einem wichtigen Anliegen? Um wen und um was mochte es sich handeln?

Ihm waren viele entgegenkommende junge Schönheiten begegnet, ehe er sich verlobte. Er hatte auf Bällen getanzt, Soireen besucht und Einladungen zu Picknicks und festlichen Frühstücksgesellschaften angenommen. Aber er war immer vorsichtig gewesen, denn er katte keine der Damen in eine kompromittierende Situation bringen wollen.

Wiltons Worte legten den Schluss nahe, dass die Besucherin ohne Begleitung erschienen war. Das allein schon konnte ihrem Ruf nachhaltig schaden. Dom runzelte die Stirn, musste sich jedoch eingestehen, dass seine Neugier geweckt war.

„Sie haben Sie doch hoffentlich nicht hereingebeten?“, fragte er den Butler.

„Nein, Sir. Ich habe mich natürlich an Ihre Anweisung gehalten. Also habe ich der jungen Dame die Tür vor der Nase zugeschlagen. So etwas habe ich nie zuvor getan.“

„Nun, damit dürfte das Problem gelöst sein. Sie wird vielleicht ein wenig warten, aber dann nach Hause gehen. Wenn Sie jetzt bitte dafür sorgen, Wilton, dass die Köchin mir ein Lunchtablett heraufschickt?“

Der Butler sah jetzt regelrecht unglücklich drein. „Sir, die junge Dame klopfte heute Morgen gegen zehn zum ersten Mal. Da lagen Sie noch im Bett, und ich zögerte nicht, sie fortzuschicken. Eine Stunde später sah ich, dass sie noch immer vor der Tür stand. Jetzt ist es zwei Uhr, und sie wartet nach wie vor.“

Zwar ärgerte es Dom, dass wieder jemand darauf bestand, ihn in seiner selbst gewählten Einsamkeit zu stören, gleichzeitig allerdings wuchs seine Neugier. Er war jahrelang nicht in Suffolk gewesen und kannte kaum jemanden aus der Nachbarschaft. Was also mochte die junge Dame auf dem Herzen haben? Warum harrte sie so geduldig und entschlossen aus, um ihn zu sprechen? Und war sie wirklich allein gekommen?

„Wer ist sie?“, erkundigte er sich. „Kenne ich sie? Handelt es sich womöglich um Miss Wentworth?“

„Oh nein, Sir!“ Wilton schien entsetzt über diese Vermutung. „Lady Wentworth würde ihrer Tochter nie gestatten, einen alleinstehenden Gentleman ohne Begleitung aufzusuchen. Die junge Dame hat mir ihren Namen nicht genannt. Als ich fragte, sagte sie lediglich, er würde Ihnen sowieso unbekannt sein.“

Die Besucherin war also wirklich allein. Das widersprach allen in der guten Gesellschaft geltenden Regeln. Die Angelegenheit wurde immer geheimnisvoller! Konnte Wilton sich getäuscht haben? Handelte es sich womöglich gar nicht um eine Dame? Das eröffnete Raum für Fantasien. Dom lauschte in sich hinein. Sein Körper war inzwischen so weit wiederhergestellt, dass er wahrscheinlich mehr Lust als Schmerz empfinden würde. Die Vorstellung gefiel ihm.

Autor

Julia Justiss
<p>Julia Justiss wuchs in der Nähe der in der Kolonialzeit gegründeten Stadt Annapolis im US-Bundesstaat Maryland auf. Das geschichtliche Flair und die Nähe des Meeres waren verantwortlich für zwei ihrer lebenslangen Leidenschaften: Seeleute und Geschichte! Bereits im Alter von zwölf Jahren zeigte sie interessierten Touristen das historische Annapolis, das für...
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