Der kleine Teegarten in Maidenshop

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Die verwitwete Gemma hat von Männern endgültig genug! Erst verschweigt ihr Schwager ihr monatelang, dass sie ein altes Gasthaus geerbt hat, und nun will der impertinente Ned Thurlowe ihr den Besitz streitig machen. Doch Gemma ist fest entschlossen, künftig für sich selbst zu sorgen und den Gasthof in einen feinen Teegarten umzugestalten. Immer wieder legt Ned ihr Steine in den Weg, denn er will das Haus unbedingt für seinen Männerclub nutzen. Ist etwa sein leidenschaftlicher Kuss auch nur ein Trick, um Gemma von ihrem Plan abzubringen? So muss es wohl sein, denn Gemma erfährt, dass Ned verlobt ist …


  • Erscheinungstag 01.03.2022
  • Bandnummer 376
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511018
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Chelsea, Carlos, Trinity und Josie. Alles Liebe!

Der Bund der Rationalen Männer

Der Bund der Rationalen Männer begann, wie so vieles, als Witz.

Bei ein, zwei Humpen Ale im Gasthaus The Garland, wo die Herrenwelt von Maidenshop sich traf, gelangte man zu dem Schluss, dass kein zurechnungsfähiger Mann je freiwillig heiraten würde. Das nämlich widerspreche jedweder Vernunft … und so ward der Bund geboren.

Oh, Männer mussten heiraten. Das wurde erwartet, und das Leben ist nun einmal voller Pflichten. Mit der Hochzeit schied ein Mann aus dem Bund der Rationalen Männer aus und wurde erst wieder aufgenommen, wenn er verwitwet war. Doch bis zur Trauung bot der Bund eine Kameradschaft, die hochgehalten und niemals vergessen wurde.

So blieb es über Generationen hinweg. Die Ironie des Dorfnamens Maidens-hop – Jungferntanz – war den Mitgliedern durchaus bewusst. Der Bund der Rationalen Männer stellte eine Oase des Wohlwollens und der Zufriedenheit dar … bis die Frauen schließlich siegten.

1. KAPITEL

London

März 1815

Dass er aus diesem irdischen Dasein geschieden ist, um seinen himmlischen Lohn zu empfangen.

Die Worte sprangen Gemma vom Papier aus förmlich an.

Jemand war gestorben?

Erst da ging ihr auf, wer gestorben war.

Die Beine gaben unter ihr nach, und sie sank auf den Schreibtischstuhl nieder.

Sie war hergeschickt worden, um ein Blatt Papier zu holen. Im vorderen Salon spielten Lady Latimer, die Schwägerin ihres verblichenen Ehemannes, und deren Freundinnen Karten, und sie brauchten das Papier zum Notieren der Punkte. Eine Schar eleganter Schnattergänse, die es offenbar genossen, Gemma herumzukommandieren. Da sie als mittellose Verwandte die bemitleidenswerteste aller Kreaturen war, existierte sie schließlich nur, um anderen zu dienen.

Der Brief war ganz hinten in die Schreibtischschublade gestopft worden, und Gemma hatte ihn in dem Glauben herausgezogen, es wäre ein alter Zettel, der sich noch verwerten ließe, sodass sie kein sauberes Blatt nehmen musste.

Nicht erwartet hatte sie, dass es sich um einen Brief handelte, an sie adressiert … und geöffnet.

Liebe Mrs. Estep,

Sie und ich wurden einander vorgestellt, als Sie vor einigen Monaten Ihren Onkel Andrew MacMhuirich besucht haben. Schweren Herzens muss ich der tragischen Pflicht nachkommen, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass er aus diesem irdischen Dasein geschieden ist, um seinen himmlischen Lohn zu empfangen. Lassen Sie mich eiligst anfügen, dass er nicht gelitten hat, sondern friedlich entschlafen ist.

Unsere kleine Gemeinde wird ihn vermissen. Das Garland war ein Stützpfeiler Maidenshops, der Mittelpunkt allen Geschehens. Ohne den „alten Andy“, wie wir ihn liebevoll genannt haben, werden wir nichts Rechtes mit uns anzufangen wissen.

Bitte lassen Sie es mich wissen, sollte ich Ihnen in Ihrer Trauer beistehen können. Ich bin Ihr ergebenster Diener.

Hochachtungsvoll

Pfarrer Gerald Summerall

St. Martyr’s Church

Maidenshop, Cambridgeshire

15. November 1814

Gemma starrte auf die ordentliche, maskuline Handschrift nieder und versuchte, den Worten einen Sinn abzuringen. Ihr Onkel Andrew war gestorben? Er war über sechzig gewesen, aber ein kerngesunder, rühriger Mann. Gerade erst hatten sie begonnen, familiäre Bande zu knüpfen, und nun war er fort. Dass er nicht gelitten hatte, war tröstlich. Er war ihr einziger noch lebender Verwandter gewesen. Sonst gab es niemanden.

Abermals las sie das Datum. 15. November 1814.

Einige Herzschläge lang bekam sie keine Luft.

In den vergangenen zwei Jahren hatte sie zu viele Todesfälle verwinden müssen: ihren Vater, danach das winzige Wesen, dessen Herz nicht länger als eine Woche geschlagen hatte, und schließlich ihren Nichtsnutz von Ehemann …

Jeder Tod hatte sie tiefer ins Chaos gestürzt.

Und nun hatte sie auch noch Andrew verloren, der die Güte selbst gewesen war, als sie dringend einen Freund gebraucht hatte. Sein Tod lag … wie lange zurück? Rasch überschlug sie die Zeitspanne. Mindestens drei Monate? Was musste Pfarrer Summerall von ihr denken? Er hatte ihr geschrieben, und sie hatte nicht geantwortet.

Schlimmer noch, sie hätte es gar nicht erfahren, wäre dieser Brief ihr nicht zufällig in die Hände gefallen.

Die Adresse auf der Rückseite bestand aus ihrem Namen und ihrer derzeitigen Anschrift bei Lord und Lady Latimer. Jemand hatte das Siegel erbrochen, den Inhalt gelesen und den Brief in die Schreibtischschublade gesteckt, ohne ein Wort zu sagen. Der Tod ihres Onkels war einfach übergangen worden – weswegen?

Gemma schaute sich um und betrachtete die neue Einrichtung. Die Vorhänge, die Teppiche, das verschnörkelte Mobiliar. Dies alles war mit dem Geld ihres Vaters bezahlt worden – Geld, das ihr zugestanden hätte, wäre es gerecht zugegangen. Doch dank der Rechtslage war es ihrem Ehemann zugefallen, gemäß den Wünschen ihres Vaters.

Paul Estep hatte kein Testament hinterlassen, als er gestorben war. Das taten Nichtsnutze selten. Das Gesetz hatte Gemma ein weiteres Mal genarrt, indem es ihr restliches Vermögen Reginald Estep, Lord Latimer, zugesprochen hatte, dem Bruder ihres Ehemannes.

Männer hatten ihr das angetan, wurde ihr bewusst. Männer hatten sich allein aufgrund ihres Geschlechts gegen sie verschworen und eingeheimst, was ihr hätte gehören sollen.

„Gemma, wo bleibt das Papier?“, ertönte Lady Latimers verdrießliche Kommandostimme aus dem Salon nebenan. „Wir möchten weiterspielen und nicht herumsitzen und unsere Zeit vergeuden.“

„Vielleicht genehmigt sie sich gerade ein Schlückchen“, sagte eine der anderen Frauen. „Ihr wisst ja, wie die Leute aus dem Norden sind.“ Ihre alberne Bemerkung wurde mit zustimmendem Gekicher honoriert, denn sie alle hatten schon rosige Wangen von der Bowle, die ein Geheimrezept des Butlers war.

Gemma krampfte die Finger um den Brief. Die Ehemänner jener Frauen würden niemandem Schande bereiten, indem sie sich wegen der Gattin eines anderen duellierten. Deren Ehemänner waren am Leben und sicherten ihnen dadurch einen Platz in der Gesellschaft. Deren Ehemänner beglichen ihre Rechnungen.

Jene Frauen hielten sich für ihr überlegen, nur weil sie den Fehler begangen hatte, auf Captain Paul Esteps ansehnliches Gesicht und seine Lügen hereinzufallen, darunter sein Gelübde, er würde sie lieben und ehren.

Barstow, der Butler, erschien in der Tür zum Korridor gegenüber vom Salon. „Lady Latimer wartet“, drängte er. „Sie sollten jetzt zu ihr gehen.“

Keiner der höherrangigen Angestellten zögerte, Gemma Anweisungen zu erteilen. Alle wussten, dass sie keinerlei Macht besaß. Sie war zwar keine Dienstbotin, doch als angeheiratete Verwandte galt sie auch nicht als Familienangehörige. Sie war eine unerwünschte Last.

In ihr regte sich Stolz. Ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann gewesen. Sie hatte ihrem Ehemann eine beträchtliche Mitgift eingebracht. Würde Lord Latimer ihr von seinem Erbe nur einen Witwenteil zugestehen, könnte sie gehen.

„Wo ist Lord Latimer?“, fragte Gemma und staunte darüber, wie ruhig sie klang, denn innerlich kochte sie förmlich. „Ich möchte mit ihm sprechen.“

„Seine Lordschaft ist beschäftigt.“

Beschäftigt? Damit, meine Post zu lesen?

„Er wird mich auf der Stelle empfangen.“ Die Trauer hatte sie viel zu lange gelähmt. Es war an der Zeit, tätig zu werden. Sie schritt zur Tür, die Rufe aus dem angrenzenden Salon ignorierend.

Der stämmige Butler trat ihr in den Weg. „Was denken Sie sich? Ich sagte, Seine Lordschaft ist beschäftigt. Lady Latimer hat Sie gebeten, ein Stück Papier zu holen, und das werden Sie jetzt tun. Ach, das wird mir zu dumm. Geben Sie mir, was Sie in der Hand haben, ich werde es selbst überbringen.“

Gemma war nicht bereit, den Brief herzugeben. Sie wich zurück, die freie Hand abwehrend gehoben, und bewegte sich auf den Salon zu. Da sie scheinbar Vernunft angenommen hatte und gehorchte, fuhr Barstow sich glättend über die Kleider und ließ von ihr ab.

„Da bist du ja, Gemma“, murrte Lady Latimer, den Mund voller Hefezopf. „Ich dachte schon, du würdest nie zurückkommen … Nein, warte, wo willst du hin?“

Gemma ignorierte sie, während sie schneller ausschritt und an den Tischen mit den Kartenspielerinnen vorbeirauschte, auf die Tür zum Korridor zu. Sie erreichte den Gang, noch ehe Barstow erkannte, dass er getäuscht worden war. Er war ihr gefolgt, vermutlich um sicherzustellen, dass sie Folge leistete.

„Haltet sie auf!“, rief er, an niemand Bestimmten gerichtet, da der einzige Lakai im Haus zu dieser Tageszeit in der Küche mit der neuen Spülmagd zu tändeln pflegte. Und die Damen durften angesichts der Menge an Bowle, die sie genossen hatten, nicht allzu flink sein.

Hinter Gemma gaben Lady Latimer und deren Freundinnen ihrer Verwirrung Ausdruck. „Barstow, wohin geht sie?“

„Du liebe Güte, sie sieht aus, als würde sie von einem Bären gejagt“, bemerkte eine Frau mit schwerer Zunge, während eine andere sich darüber beklagte, dass sie noch immer nichts habe, um ihre Punkte zu notieren.

Und Gemma fühlte sich frei.

Zum ersten Mal, seit die Erkrankung ihres Vaters ihr Leben vereinnahmt hatte, handelte sie eigenmächtig. Beflügelt von Zorn und dem Wunsch, für sich einzustehen, eilte sie den Korridor entlang zur Bibliothek. Dorthin zog sich Lord Latimer des Nachmittags gewöhnlich zurück, wenn er zu Hause weilte. Die Tür war geschlossen. Sie drehte den Knauf. Abgesperrt.

Er war dort drinnen.

Wahrscheinlich mit Mrs. Sutton, der Haushälterin. Es war ein offenes Geheimnis, dass er sich mit ihr zu Schäferstündchen traf. Die Einzige, die nichts davon wusste, war seine Gattin.

Lord Latimer war keineswegs wählerisch. Gemma hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, einen Stuhl unter den Knauf ihrer Schlafzimmertür zu klemmen, um ihn fernzuhalten, und es gab im Haus kein Dienstmädchen, das sich nicht darauf verstand, eine Begegnung mit ihm auf der Hintertreppe zu vermeiden.

Forsch klopfte sie an die Tür. Das Hartholz erzitterte unter der Wucht ihrer Wut. „Mylord, ich muss Sie sprechen“, verlangte sie mit dem Nachdruck einer Frau, die es endlich wagte, ihre Stimme zu erheben.

Gemma, Sie werden Seine Lordschaft nicht behelligen“, blaffte Barstow und marschierte auf sie zu.

Ihre Ladyschaft folgte ihm auf dem Fuße. „Was tut sie da? Was tut sie da?“, wiederholte sie immerzu, leicht angetrunken.

Gemma wünschte, sie wüsste, was sie tat. Ihr Bauchgefühl wie auch die seit Langem in ihr schwelende Empörung hatten das Kommando übernommen.

Sie trommelte fester gegen die Tür. „Lord Latimer, öffnen Sie.“

Zu ihrer Überraschung wurde die Tür aufgerissen, und heraus stürmte das Dienstmädchen, das für die oberen Stockwerke zuständig war. Sie war neu und hieß Beth. Ihre Lippen waren rot und geschwollen. „Danke“, hauchte sie, als sie an Gemma vorbeihuschte und den Korridor entlanghastete, als wären ihr sämtliche Höllenhunde auf den Fersen.

Gemma trat durch die Tür, um Lord Latimer zur Rede zu stellen. Dessen Blick ließ sie wissen, dass sie störte. Die Bibliothek war ein großes Zimmer mit hohen Fenstern, die nach hinten auf den Garten hinausgingen. Eine bequeme Sitzgruppe lud zum Lesen vor dem Feuer ein.

Seine Lordschaft stand hinter einem der Sessel. Er hatte den Gehrock abgelegt, und seine Kleider waren derangiert. Der oberste Knopf seiner Breeches stand offen. Er war ein kleiner Mann, anders als sein Bruder Paul, der fast sechs Fuß groß gewesen war. Abgesehen vom Größenunterschied ähnelten die Brüder sich mit ihrem dunklen Haar und den grauen Augen auf bemerkenswerte Weise. Jedermann hätte sie als gut aussehend bezeichnet, aber die Erfahrung hatte Gemma gelehrt, dass wahre Schönheit vom Wesen eines Menschen abhing.

Ausnahmsweise ließ sie sich von ihm nicht einschüchtern. „Wie können Sie es wagen, meine Post zu öffnen und vor mir zu verstecken.“ Sie hob den zerknitterten Brief.

Just in dem Moment erreichte Barstow sie und ließ seine Pranken auf ihre Schultern niederfahren. Sie reagierte, indem sie ihm einen Ellbogen so kräftig in die Seite stieß, dass er sie losließ und sich krümmte.

Gemma brachte sich außer Reichweite. Inzwischen hatte sie ein umfangreiches Publikum. Neben Lord und Lady Latimer hatten sich die Kartenspielerinnen eingefunden. Sie waren ihnen über den Korridor gefolgt, die Augen weit aufgerissen. Vermutlich konnten sie ihr Glück nicht fassen, ein solches Spektakel geboten zu bekommen. Gemma zweifelte nicht daran, dass sich die Geschichte noch vor Einbruch der Nacht in ganz London herumgesprochen haben würde.

Es war ihr gleich. Sie hatte genug davon, sich anständig und gesittet zu geben. Sie war in Manchester aufgewachsen, wo Unverblümtheit zum guten Ton gehörte, und mütterlicherseits floss ihr das Blut schottischer Rebellen durch die Adern.

Es war an der Zeit, sich entsprechend zu benehmen.

„Ich möchte meinen Witwenteil aus dem Erbe meines Mannes. Den schulden Sie mir, und ich will ihn.“

Natürlich hatte sie schon früher darum gebeten. Sie hatte höflich gefragt. Demütig. Kleinlaut. Als Antwort hatte sie Ausflüchte erhalten, Versprechen … Schweigen.

Und sie hatte es hingenommen, wohl wissend, wie prekär ihre Lage war. Dieser Brief nun war der ultimative Verrat.

„Sie können mir meinen Anteil nicht einfach vorenthalten“, fuhr sie fort. „Dieses Geld stammt von meinem Vater.“

„Der dich mit meinem Bruder verheiratet, sein Testament geändert und Paul zu seinem Erben ernannt hat. Es ist nicht meine Schuld, dass dein Vater dich nicht bedacht hat.“ Er richtete seine Kleider, griff nach seinem Gehrock und tat betont vornehm. „Oder dass dein Mann mir dein Wohlergehen überantwortet hat.“

„Paul war ein treuloser, spielsüchtiger Schuft, der als Ehemann versagt hat und nicht einmal ein guter Mensch war …“

Diese Bemerkung entlockte den Schnattergänsen ein schockiertes Keuchen …

Gemma wirbelte zu ihnen herum. „Als hätten Sie das nicht gewusst. Ich war der letzte Mensch auf Erden, der Pauls wahres Wesen kennenlernen durfte.“ An ihren Schwager gewandt, fügte sie hinzu: „Wie dem auch sei, selbst Sie, Lord Latimer, sollten begreifen können, dass es nur gerecht ist, mir etwas zuzugestehen.“

Seine Lordschaft schaute an ihr vorbei zu seiner Gattin. „Meine Liebe, meinst du nicht, dass unsere Gäste es im Salon bequemer hätten? Bitte, werte Damen, ich bedaure die unerquickliche Störung Ihres Nachmittags. Dies ist eine Angelegenheit sehr privater Natur, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Ich appelliere an Ihre Diskretion.“

„Ganz recht, kehren wir zu unseren Karten zurück, ja?“, drängte Lady Latimer, deren Lächeln zu breit, zu falsch war. Gemma wusste nicht, ob es der gegenwärtigen Szene oder dem Umstand geschuldet war, dass ein Dienstmädchen aus der gerade noch abgeschlossenen Bibliothek geflüchtet war.

Die Schnattergänse rührten sich nicht vom Fleck und tauschten vielsagende Blicke, als würden sie sich stumm darauf einigen, dass jetzt nicht der rechte Zeitpunkt war zu weichen.

Gemma ging auf, dass dies ihre einzige Chance war, das Blatt zu wenden. Sie würde Lord Latimer zwingen, ihr einen Witwenteil zuzugestehen, indem sie ihn beschämte. „Sie haben sich den Besitz meines Mannes angeeignet und mich leer ausgehen lassen. Sie haben mich an den Bettelstab gebracht.“

Sein huldvolles Lächeln verhärtete sich. „Wir haben uns um dich gekümmert, Gemma.“

„Zählt meine private Post einzubehalten auch dazu?“ In der Überzeugung, die Schnattergänse würden ihre Ansicht zur Wahrung des Briefgeheimnisses teilen, hielt sie den Brief hoch. „Mein Onkel Andrew war mein letzter lebender Verwandter. Ich hätte es verdient, von seinem Tod unterrichtet zu werden. Stattdessen hat irgendwer diesen Brief geöffnet, vor Monaten, und mir kein Wort gesagt.“

Lord Latimer trat selbstsicher vor. „Das stimmt. Ich bin das Oberhaupt dieses Hauses. Alles geht durch meine Hände – und ich hatte es verflixt satt, dich wegen meines Bruders in Schwarz herumlaufen zu sehen. Denn du hättest darauf bestanden, weiterhin Trauer zu tragen, wenn du es erfahren hättest. Ich verabscheue den Anblick schwarz verhüllter Frauenzimmer. So sentimental. Also, meine Damen, zurück zu Karten und Kuchen.“ Er wedelte mit den Händen, als wollte er Hühner verscheuchen. „Wir passen gut auf unsere Gemma auf. Keine Sorge. Wir glauben, dass eine weitere Berührung mit dem Tod ihr nur schadet.“

„Ja, wir passen gut auf sie auf“, wiederholte seine törichte Gattin, und da reichte es Gemma.

Ich kann selbst auf mich aufpassen … sofern Sie mir das Geld geben, das mir zusteht.“

„Genau das ist der Punkt, Gemma“, erwiderte Seine Lordschaft. „Dir steht kein Geld zu.“

Welch ungeheuerliche Behauptung. „Sie haben sich eine neue Kutsche von dem Geld geleistet, das ich als Mitgift in diese Familie gebracht habe …“, setzte sie an, doch er fiel ihr ins Wort.

„Ich habe die Kutsche von meinem Geld gekauft.“ Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch, sein Blick war kalt. „Ich habe den Besitz meines Bruders rechtmäßig geerbt. Er hat den Besitz deines Vaters geerbt, und das mit deines Vaters Segen. Hätte dein Vater gewollt, dass du über Geld verfügst, hätte er eine entsprechende Regelung getroffen.“

„Er hat Paul vertraut“, hielt sie dagegen und wäre beinahe an den Worten erstickt.

Niemand hätte Paul vertrauen dürfen. Er war ein Narr und hat närrische Entscheidungen getroffen. Jedermann weiß, dass Sir Michael seiner Frau verfallen und ein herausragender Schütze ist.“

Hitze stieg Gemma in die Wangen.

Nein, es war kein Geheimnis in London, dass ihr Ehemann zu Tode gekommen war, als er sich wegen der Gattin eines anderen duelliert hatte. Doch es war grausam von Lord Latimer, gerade jetzt davon zu sprechen, vor einem solchen Publikum.

Gemma kratzte ihren Stolz zusammen. „Und weiß auch jedermann in London, dass Sie mir die Nachricht vom Tod meines Mannes vorenthalten haben, bis ich auf der Suche nach ihm hergekommen bin? Da war er wie lange tot? Sechs Monate?“ Die Schmach, mit der sie doch ihn überhäufen wollte, ließ ihr die Stimme beben. „Tot und begraben, und seine Witwe wurde nicht informiert? Ist das Ihre Vorstellung davon, sich um mich zu kümmern?“

Lord Latimer verzog die schmalen Lippen zu einem schiefen Lächeln. „Vielleicht habe ich dich schlicht vor traurigen Nachrichten bewahren wollen.“

„Vielleicht haben Sie schlicht nicht gewollt, dass ich Ihren Anspruch auf mein Vermögen anfechte?“

„Es war nie dein Geld, Gemma. Weder dein Vater noch dein Ehemann haben dich je als Erbin in Erwägung gezogen. Ungeachtet dessen haben meine Gattin und ich dich als gute Christenmenschen aus reiner Herzensgüte aufgenommen, und so dankst du es uns? Du dummes, dummes Mädchen.“

Die Schnattergänse schnalzten beipflichtend. Natürlich ergriffen sie Partei für ihn und die Welt, in der Männer die Gesetze machten.

Gemma umklammerte den Brief und kämpfte gegen Tränen der Verzweiflung an. „Geben Sie mir meinen Anteil.“

Er schnippte mit den Fingern, direkt vor ihrem Gesicht. „Von mir bekommst du gar nichts. Und nun widme dich wieder den Aufgaben, mit denen meine Frau dich betraut hat, und sei in Zukunft dankbarer. Ohne uns säßest du mitsamt deinen teuren Kräutern und deinem Hokuspokus auf der Straße. Oh ja, ich weiß von deinen Umtrieben. Du verhökerst Zaubertränke in den Häusern rings um den Platz. Ich habe dich gewähren lassen, weil einige Nachbarn erwähnt haben, wie froh sie über deine Hilfe seien. Betreibe nur deine Kurpfuscherei, aber auf mein Wort hin ist Schluss damit. Hast du verstanden?“

Damit bezog er sich auf die Tees, Tonika und Salben, die sie herstellte. Die Heilkunst hatte sie während der Sommer gelernt, die sie bei ihrer Großmutter in Glasgow verbracht hatte.

Er neigte sich vor und flüsterte so leise, dass nur sie es hörte: „Außerdem solltest du freundlicher zu mir sein.“

„Niemals!“, rief sie. „Sie werden mich niemals anrühren.“ Und das würde auch kein anderer Mann je tun. Sie war fertig mit Männern.

„Zu schade“, lautete seine Antwort. Anscheinend war ihr Ausbruch ihm nicht im Mindesten peinlich. Er wandte sich seiner Gattin zu. „Komm, meine Liebe, geleiten wir deine Gäste zurück in den Salon, damit sie sich einen Nachschlag von der Bowle gönnen können, die Barstow so gern zubereitet.“ Er bot ihr seinen Arm.

Lady Latimer hakte sich unter, ohne zu zögern, und bedachte Gemma mit einem Naserümpfen, das von den übrigen Damen sogleich imitiert wurde. Barstow folgte ihnen, wobei er sich mit einer Hand die Seite hielt, die schmerzhafte Bekanntschaft mit Gemmas Ellbogen gemacht hatte.

Gemma sah ihnen nach, als sie den Korridor hinabgingen und im Salon verschwanden. Sie würden über sie herziehen und begierig aufsaugen, was immer Lord und Lady Latimer über sie verbreiteten. Diese Damen würden ihr nicht beistehen.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte blindlings die Hintertreppe hinauf. Sie rannte, so schnell ihre Beine sie trugen und ohne auch nur zum Luftholen innezuhalten, bis sie in der Sicherheit ihrer kleinen Mansardenkammer angelangt war. Sie schlug die Tür zu, öffnete sie und schlug sie noch einmal fester zu in dem Wissen, dass niemand sie hier oben hörte.

Das ließ ihre Wut verrauchen, und unwillkürlich sank sie neben ihrer armseligen Pritsche zu Boden und ergab sich den Tränen. Sie weinte bitterlich um ihren Vater, der stets ihr Bestes im Sinn gehabt hatte, solange sie sich seinem Willen gebeugt hatte; sie weinte um ihren Ehemann, der nicht der Mensch gewesen war, für den sie ihn gehalten hatte; sie weinte um Andrew, der es nicht verdient hatte, dass die Nachricht von seinem Tod mit monatelangem Schweigen quittiert wurde.

Zuletzt weinte sie um das Kind, das sie einst hatte hoffen lassen, sie würde ihren selbstsüchtigen Ehemann stolz machen. Sie hatte die Geschichte ihrer Tochter tief in ihrem Herzen vergraben und teilte sie mit niemandem.

Sie weinte, bis sie erschöpft war. Ausgelaugt.

Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen, mit einem Mal beschämt. Sie war aus härterem Holz geschnitzt, entstammte einer Linie starker Frauen, und doch wälzte sie sich hier auf dem Boden, ohne Stolz …

Es klopfte zweimal, ehe auch schon die Tür aufging und Mrs. Nichols, die Haushälterin, eintrat, gefolgt von dem Lakaien. Mit einem Nicken wies sie auf den Stuhl, der Lord Latimer aussperrte. Der Diener nahm ihn und verließ das Zimmer.

Mrs. Nichols blieb, die Hände gefaltet. Sie war zwanzig Jahre älter als Gemma und eine bodenständige Irin.

„Ich habe versucht, Sie zu warnen, Mrs. Estep. Sie können sich nicht gegen die Herrschaft auflehnen. Wir alle müssen lernen, uns zu fügen. Und das Beste aus allem zu machen.“

„Ich glaube nicht, dass diese Leute besser sind als ich. Oder als Sie.“

„Dann werden Sie niemals glücklich werden. Seine Lordschaft hat mich angewiesen, Ihnen auszurichten, dass er Sie nicht in Schwarz zu sehen wünscht. Sollten Sie Schwarz tragen, dürfen Sie dieses Stockwerk nicht verlassen.“ Nachdem sie ihre Botschaft übermittelt hatte, ging sie und schloss die Tür hinter sich.

Gemmas Temperament regte sich.

Lord Latimer glaubte also, sie ließe sich in die Knie zwingen?

Sie nahm ihr schwarzes Kleid vom Wandhaken. Insgesamt besaß sie fünf Kleider; immerhin war sie einst die Tochter eines reichen Mannes gewesen. Wegen Paul hatte sie kaum je Schwarz getragen. Für ihren Onkel hingegen würde sie es tun, und zwar so lange, wie es ihr gefiel – Lord Latimer konnte ihr gestohlen bleiben.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, löste sie ihr schweres Haar und steckte es erneut auf, als wollte sie ausgehen. Sie zweifelte nicht daran, dass Lord Latimer zu seinem Wort stehen würde. Er würde rasen vor Wut, wenn er sie in Schwarz sähe. Aber sie konnte sich ihm einfach nicht unterordnen. Hätte sie eine Wahl, würde sie zur Vordertür hinausgehen und nie mehr zurückkehren.

Doch wohin hätte sie sich wenden sollen? Sie hatte niemanden. Nur ihren Onkel Andrew – der ihr kurz nach ihrer Ankunft in London einen warmherzigen Brief geschrieben hatte. Was sein sei, sei auch ihres …

Sie rief sich den Brief ins Gedächtnis. Andrews Haltung hatte sie berührt. Er hatte ein Dorfgasthaus besessen. Gemma war auf dem Weg nach London gewesen, um Paul zur Rede zu stellen, und hatte einen wundervollen Abend mit ihrem Onkel verbracht. Er hatte ihr angeboten, bei ihm in Maidenshop zu leben, sollte ihrer Ehe kein Erfolg beschieden sein.

Wieso war sie nicht gleich zu ihm zurückgekehrt, als sie von Pauls Tod erfahren hatte? Vermutlich, weil sie zu stolz gewesen war. Anfangs hatte sie Lord Latimers Behauptung, er werde sich ihrer annehmen, Glauben geschenkt. Unter seinem Dach zu leben und gehorsam zu tun, was immer er wollte, entsprach allerdings nicht ihren Erwartungen. Sie war selbst schuld. Als feine Dame hatte sie ihr Leben lang geglaubt, dass Männer schon für sie sorgen würden. Wie naiv sie gewesen war. Vor allem, da ihre Großmutter ihr eingebläut hatte, eine kluge Frau lerne, für sich selbst zu sorgen.

Und nun war Andrew fort … doch das Gasthaus war noch da.

Gemma kniete sich hin und zog das Kästchen unter der Pritsche hervor, in dem sie ihre persönlichen Habseligkeiten verwahrte. Sie öffnete den Deckel, und ihr Blick fiel auf das Miniaturbild ihrer Mutter, den Rubinring, mit dem Paul ihr die Treue geschworen hatte, und den Stapel mit Rezepten und Weisheiten, den ihre Großmutter ihr vermacht hatte. Die Rezepte waren in der Familie ihrer Mutter von Frau zu Frau weitergereicht worden. Auch Briefe lagen in dem Kästchen. Gemma hob all ihre Briefe auf.

Andrews Schreiben war das oberste.

Sie legte den Brief von Pfarrer Summerall ins Kästchen und entfaltete den ihres Onkels. In jüngeren Jahren war er zur See gefahren, und obwohl er nie nach Schottland zurückgegangen war, hatte Gemmas Großmutter stets große Stücke auf ihn gehalten. Deshalb hatte Gemma ihre Reise unterbrochen, um ihn kennenzulernen, und sie hatte es nicht bereut. Andrew hatte ihr geschrieben, um sich zu vergewissern, dass sie London wohlbehalten erreicht hatte, und den Brief mit den gütigen Worten beendet: Wir sind die Letzten der MacMhuirichs und haben in puncto Familie nur noch einander. Was mein ist, ist Dein. Vergiss nie, dass ich für Dich da bin.

Das Gasthaus in Maidenshop war ein weitläufiges Gebäude in einem malerischen Dörfchen. Die Luft dort war sauber. Nicht voller Ruß, wie in London.

Und sie war Andrews einzige Erbin. Dieser Brief bezeugte es.

Mit einem Mal wusste Gemma, was sie zu tun hatte. Es war ein Wagnis, aber sie würde nicht hierbleiben und darauf warten, dass Lord Latimer den Türknauf drehte.

Sie war in ihrem Leben um vieles betrogen worden, weil sie sich auf andere verlassen hatte. Künftig würde sie sich nur noch auf sich selbst verlassen. Sie würde nach Maidenshop reisen und ihr Erbe einfordern.

Gemma stopfte in ihre große Reisetasche, so viel sie tragen konnte. Alles Übrige bedeutete ihr nichts. Sie leerte ihr Schatzkästchen mitsamt den Briefen und den kostbaren Rezepten in die Tasche und steckte auch den bestickten Beutel mit ihren Kräutern, Tees und Salben hinein. Die Tonika in den verschlossenen Flaschen würde sie zurücklassen müssen. Sie konnte neue zubereiten.

An Vermögen hatte sie den Rubinring sowie das, was ihr die Nachbarn in Mayfair für ihre Heilmittel bezahlt hatten. Das reichte für einen Neuanfang.

Gemma stahl sich die Treppe hinunter, ohne erwischt zu werden, und schlüpfte hinaus in den Garten. Sie nahm die Gasse hinter dem Haus. Binnen einer Stunde hatte sie den Ring veräußert. Viel hatte er ihr nicht eingebracht. Der Stein war winzig. Typisch für Paul. Wie auch für dessen Bruder.

Aber es genügte, um sich den billigsten Platz in der Postkutsche nach Maidenshop zu leisten – einem neuen Leben entgegen, wie sie verzweifelt hoffte.

Als sie später auf dem Dach der überfüllten Kutsche mit dem Ziel Newmarket saß, dachte sie an den gutherzigen Mann, dessen Tod ihr Silberstreif am Horizont war.

Der Wind wehte ihre Tränen fort.

2. KAPITEL

Maidenshop, Cambridgeshire

Küss mich“, verlangte Clarissa Taylor, wobei sie sich schwungvoll zu Ned Thurlowe umdrehte. Sie gingen einen Waldweg entlang, unweit des Hauses und doch fernab neugieriger Blicke.

Unseligerweise hatte Ned nichts von dem mitbekommen, was sie während des Spaziergangs gesagt hatte. Auch nicht ihre Aufforderung, ihn zu küssen. Im Geiste weilte er bei seinen Patienten. Als einziger Arzt in der Gegend war seine Zeit stets knapp bemessen. Zudem war er stolz auf seine Arbeit, ob er nun einen gebrochenen Arm richtete, das Fieber eines Kindes bekämpfte oder gar den Abszess an einem Pferdehuf behandelte. Als Landarzt musste man auf alles vorbereitet sein, und Ned genoss die Herausforderungen.

Hinzu kam, dass er und Clarissa inzwischen seit gut zwei Jahren verlobt waren. Ja, es war ungewöhnlich, so lange damit zu warten, vor den Altar zu treten, aber die Wahrheit lautete, dass Ned der Heirat nicht gerade entgegenfieberte. Nach dem Tod von Clarissas Adoptiveltern hatten die Matronen von Maidenshop verfügt, dass eine Heirat die beste Lösung sei. Nur deshalb hatte er um ihre Hand angehalten. Da war sie schon zweiundzwanzig gewesen, ein reifes Alter für die Ehe. Sie war ein Findelkind, war als Säugling auf der Kirchentreppe ausgesetzt worden. Pfarrer Taylor und dessen Frau hatten sie aufgenommen und dem Vernehmen nach innig geliebt. Leider waren sie gestorben, sodass Clarissa niemanden mehr hatte. Sie war auf die Almosen der Dorfbewohner angewiesen und lebte bei Squire Nelson und dessen Familie. Ned wusste, wie es war, ein Bastard zu sein und von der eigenen Familie nicht geliebt zu werden. Daher war er mit den Matronen übereingekommen, dass ein ehrenwerter Mann ihr eine sichere Zukunft bieten sollte … und die Wahl war auf ihn gefallen.

Er war alles andere als ein glühender Verehrer. Ein Jahr hatte es gedauert, bis er sie beim Vornamen genannt hatte. Immer wieder vergaß er es. Und er hatte nur einmal in der Woche Zeit, sie zu besuchen, wenngleich er sich seiner Pünktlichkeit rühmte. Jeden Freitag wurde er um Punkt zwei Uhr nachmittags für einen viertelstündigen Anstandsbesuch bei ihr vorstellig.

Sofern das Wetter es zuließ, wandelten sie stets diesen Pfad entlang. Für gewöhnlich redete Clarissa und erzählte von ihrer Woche, und Ned gab vor, ihr zu lauschen. Insgeheim dachte er über Dinge nach, die ihn beschäftigten – Naturwissenschaften, seine Vortragsreihe oder die Zukunft des Gasthauses The Garland.

Ned war Vorsitzender des Bundes der Rationalen Männer. Das Garland war seit Generationen quasi das Zuhause des Bundes. Nun jedoch, da der alte Andy verstorben war, fragten sich die Mitglieder beunruhigt, was aus ihrem beliebten Treffpunkt werden würde. Andererseits hatte bislang niemand Anspruch auf das Gebäude erhoben, sodass sie es weiterhin hatten nutzen können. Ned wusste nicht recht, ob die Sache Anlass zur Sorge gab oder nicht.

Und er wollte seine Kameraden nicht enttäuschen. Er war gern ein Mitglied des Bundes. Erstmals in seinem Leben hatte er das Gefühl, wirklich dazuzugehören. In London wurde hinter seinem Rücken getuschelt. In Maidenshop war er ein geschätzter Angehöriger der Gesellschaft.

Daher war er abgelenkt, als Miss Taylor einen Kuss verlangte, und ging einfach weiter. Erst nach mehreren Schritten merkte er, dass sie nicht länger neben ihm war.

Weil er ein Gentleman war, blieb er stehen – und da wurde ihm bewusst, was sie gesagt hatte. Sie küssen?

Sie hatte gar die Augen geschlossen und die Lippen geschürzt. So wartete sie, das Gesicht dorthin gewandt, wo er gerade noch gewesen war.

Was sollte er jetzt tun?

Ehe er einen Entschluss fassen konnte, schlug Miss Taylor die Augen auf. Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie überrascht, Ned nicht dort vorzufinden, wo sie ihn vermutet hatte. Der Kussmund verschwand, und gereizt zog sie die hübschen Brauen zusammen. Ihre Wangen färbten sich rosig, was ihr schmeichelte.

Clarissa war eine ausgenommen schöne Frau mit ihrem honigblonden Haar, den großen grünen Augen und dem makellosen Teint. Nicht ihrem Äußeren, sondern allein ihrer Herkunft war anzulasten, dass sie seit Jahren mit ihm als Verlobtem geschlagen war.

Und es war nicht ihre Schuld, dass er noch nicht bereit war zu heiraten.

Er verspürte schlicht nicht den Drang, sie zu küssen.

Und er hatte keine Ahnung, wieso nicht … abgesehen davon, dass er dem weiblichen Geschlecht an sich misstraute. Frauen erschienen ihm unbedacht in ihrem Streben – und als Menschen konnten sie bemerkenswert grausam sein.

Was nicht hieß, dass er nicht die eine oder andere Liaison gehabt hätte. Den Frauen gefiel sein Aussehen, und ein Mann hatte Bedürfnisse. Doch er suchte sich seine Affären weit entfernt von Maidenshop und stellte stets sicher, dass er die Oberhand behielt. Er war nicht darauf aus, seinem Vater nachzueifern, der sich zum Narren gemacht hatte, indem er sich von Londons gefragtester Kurtisane und seiner wutschnaubenden Ehefrau hatte in die Zange nehmen lassen. Ned war unschuldig in dieser Dreiecksbeziehung gefangen gewesen und hatte daraus gelernt.

Zugleich wollte er Clarissa nicht beschämen. War es falsch von ihr, um einen Kuss zu bitten? Jeder andere Mann hätte vermutlich längst auf einen gedrängt.

Daher kehrte er zu ihr zurück, lehnte sich vor und küsste sie züchtig auf die Wange.

Sie machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung, und er verstand sie. Es hatte sich ein wenig so angefühlt, als küsste er eine seiner Halbschwestern – wenngleich Clarissa ihm weit lieber war als Letztere.

Sie blickte zu Boden. Ihre dichten Wimpern lagen wie Fächer auf ihren Wangen. „Einen solchen Kuss habe ich nicht gemeint.“ Kurz verstummte sie, als ränge sie mit sich. „Ich wollte …“ Sie zwang sich sichtlich, ihm in die Augen zu schauen. „Ich wollte etwas mehr Leidenschaft.“

„Warum?“

Abermals zog sie die Brauen zusammen. „Was soll das heißen, warum? Ist das nicht nachvollziehbar? Es schien mir an der Zeit.“

Sie hatte recht. Er hatte keine vernünftige Erklärung.

Auf sein Schweigen hin fuhr sie fort: „Wann werden wir heiraten? Ich möchte dich nicht unter Druck setzen. Mir ist klar, dass wir kein Liebespaar sind und du nur um mich angehalten hast, weil du von den Matronen in die Ecke gedrängt worden bist.“

„Ganz so dramatisch war es nicht.“

„Doch.“ Sie setzte sich wieder in Bewegung und folgte dem Pfad in Richtung Haus. Sie trug ein Kleid aus grünem Kammgarn. Es war Anfang März, und der Wind ließ die Bänder ihrer Schute flattern. „Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, dass Mr. Balfour abgelehnt hat, weil er ein eingefleischter Junggeselle war? Inzwischen natürlich nicht mehr, allem Anschein nach ist er glücklich in seiner Ehe. Und was den anderen heiratsfähigen Junggesellen in dieser Gemeinde angeht, den Earl of Marsden – ich kann ihn nicht ausstehen. Er denkt nur an sich selbst.“

„Mars ist einer meiner engsten Freunde …“

Sie hob eine ihrer behandschuhten Hände. „Ich wollte niemanden kränken … obgleich mir ein Rätsel ist, wie irgendwer zu ihm aufschauen kann. Er ist ein Müßiggänger.“

„Nein, ist er nicht“, wandte Ned halbherzig ein. Was die letzte Zeit anbelangte, traf sie mit ihrem Urteil durchaus ins Schwarze.

„Du hättest den Matronen eine Absage erteilen können“, redete sie weiter. „Ich hätte als Gouvernante oder Gesellschafterin hinaus in die Welt ziehen können. Das hätte ich.“ Sie sprach, als versuchte sie sich selbst zu überzeugen, und Ned hätte sich verfluchen mögen, denn es hatte Momente gegeben, in denen er sich genau dies gewünscht hatte.

Er packte sie am Arm und zog sie zu sich herum. „Das ist ein hartes Dasein, das alle dir ersparen wollten. Vor allem ich.“ Das zumindest stimmte. „Ich weiß, wie es ist, in die Welt hinausgestoßen zu werden. Wobei ich mich glücklich schätzen konnte. Mein Studium hat es mir ermöglicht, auf eigenen Füßen zu stehen. Aber es ist nicht erstrebenswert, die Gesellschafterin irgendeiner tauben, verschrobenen alten Dame zu sein. Oder das Leben einer Gouvernante zu führen und ständig von einem Haushalt in den nächsten zu wechseln.“

„Womöglich wäre es besser gewesen, ich wäre als Mann zur Welt gekommen. Dann hätte ich die gleichen Chancen wie du gehabt.“

Das stimmte.

Offenbar sah sie ihm an, dass er sie verstand, denn sie nickte. „Es tut mir leid, dass du mich heiraten musst. Das ist eine Bürde …“

„Es ist keine …“

Sie legte ihm die behandschuhten Finger an den Mund, um seinen Einwand zu unterbinden. „Bitte, Ned, seien wir ehrlich zueinander …“

Da küsste er sie. Er wusste, wie man küsste, und er legte all seine Versiertheit hinein.

Verspürte er knisternde Leidenschaft? Nein.

Clarissa offenbar schon. Sie ging unerfahren, aber voller Eifer zur Sache und lehnte sich begierig vor.

Ned vertiefte den Kuss nicht, und sie forderte nicht mehr. Dafür wusste sie zu wenig.

Emily, seine letzte Liebschaft, eine Witwe aus Cambridge, hatte ihn bezichtigt, ihr etwas vorzumachen. Der Vorwurf hatte ihn aus der Fassung gebracht. Seine Mutter war die Manipulative gewesen. Er war bloß ein Mann mit Bedürfnissen, und er hatte geglaubt, Emily empfände genauso. Ihre Affäre hatte als schlichtes Arrangement begonnen, bevor sie auf mehr gedrängt hatte.

Aber was ist mit Gefühlen? hatte sie gefragt. Gott hat dir ein attraktives Gesicht gegeben, doch dein Herz ist aus Stein.

Ned hatte nicht begriffen, worum es ging. Geschlechtsverkehr war eine biologische Notwendigkeit. Welche Rolle spielte das Herz dabei?

Außerdem erforderten Gefühle Vertrauen, und Ned hatte gelernt, in dieser Welt nur zwei Menschen zu vertrauen – Marsden und Balfour. Im Übrigen war er Emily gegenüber von Anfang an ehrlich gewesen. Er hatte es lediglich auf die Annehmlichkeiten ihres Körpers abgesehen. Auf dem gesamten Planeten gab es kein weibliches Wesen, dem er so weit vertraute, dass er sich aus der Deckung gewagt hätte. Das traf nicht einmal auf Clarissa zu – und sie mochte er mehr als andere Frauen seines Bekanntenkreises.

Sie löste sich von seinen Lippen, die betörenden Augen geschlossen, als kostete sie jede Sekunde aus. Sie schmiegte sich an ihn, ihr Busen an seiner Brust, und atmete tief ein. „Du riechst nach Wind und Sturmwolken. Ich könnte mich in diesem Duft aalen.“

Er lachte. Welch versponnene Anwandlung. Manchmal roch sie schwach nach Rosen oder Veilchen, was durchaus angenehm war, und dennoch wollte er sich nicht in dem Geruch aalen. Und wenn doch, hätte er es gewiss niemandem verraten …

Jäh wurde ihm bewusst, was Emily gemeint hatte. Er war gefühlskalt.

So wie seine Mutter?

Nicht ein einziges Mal war er vom Duft einer Frau so sehr angezogen worden, dass er sie hätte an sich drücken wollen. Das ist nicht ganz korrekt, wandte sein medizinisch geschulter Verstand ein. Der Duft einer Frau erregte ihn wie jeden Mann.

„Es macht dir wirklich nichts aus, mich zu heiraten?“, fragte Clarissa und rückte von ihm ab. In den Tiefen ihrer Augen sah er ihre Ängste, ihre Zweifel – und es war an ihm, diese zu zerstreuen.

„Im Gegenteil, ich fühle mich geehrt“, log er.

Er spürte, wie sie sich entspannte. Lächelnd schmiegte sie sich neuerlich an ihn, und Ned zwang sich, nicht zurückzuweichen.

„Wann?“, fragte sie flüsternd. „Wann werden wir heiraten?“

Verdammt, noch mehr Fragen.

Offenbar deutete sie sein Zögern richtig, denn sie beharrte leise: „Ned, ich kann die christliche Nächstenliebe der Nelsons nicht ewig ausnutzen.“

„Ich weiß.“ Er trat einen Schritt zurück, weil er Abstand brauchte. „Es muss eine Entscheidung gefällt werden, aber nicht hier und jetzt.“ Welch Erleichterung diese Worte waren! „Für heute ist unsere Zeit fast abgelaufen. Ich kann das nicht sofort festlegen, weil ich mich auf den Weg machen muss. Die Witwe Smethers hat sich gestern den Knöchel verstaucht. Jedenfalls hoffe ich, dass er nur verstaucht ist. Er könnte auch gebrochen sein. Der Knöchel war so stark geschwollen, dass ich keine Diagnose treffen konnte. Vermutlich ist der Fall nun, da der Fuß über Nacht geschont wurde, besser zu beurteilen.

Danach“, fuhr er fort, ehe Clarissa weitere Forderungen aussprechen konnte, „muss ich bei den Balfours vorbeischauen.“ Er schritt aufs Haus zu, wo sein Pferd Hippocrates von einem Stallburschen des Squires umhergeführt wurde.

Er sah Enttäuschung über ihre Miene huschen. Dennoch folgte sie ihm und erkundigte sich höflich: „Wie geht es Mrs. Balfour und dem Kind?“ Kate Balfour war schwanger.

„Gut, obwohl mir nicht klar ist, weshalb Balfour darauf besteht, dass ich die Entbindung vornehme. Gemeinhin betätige ich mich nicht als Hebamme, aber sie sind gute Freunde von mir. Kate sagt, ich müsse zuhören …“

Ned verstummte, als ihn eine Erkenntnis traf. Er mochte nicht übermäßig einfühlsam sein, doch dann und wann gelangte er zu einer Einsicht. Kate hatte ihm bereits früh in ihrer Schwangerschaft beschieden, dass er ihr zuhören müsse, etwas, das ihm keineswegs leichtfiel. Er war ein viel beschäftigter Mann und bevorzugte es, eine Diagnose zu stellen und sich anschließend sogleich dem nächsten Patienten zu widmen. Sich in Geduld zu üben und Kate zuzuhören hatte ihre Freundschaft gefördert – und ihm zu einem besseren Verständnis vom Fortschreiten ihrer Schwangerschaft verholfen.

Nun ging ihm auf, dass er sich zwingen musste, auch Clarissa zuzuhören. Sie hatte recht damit, dass sie nicht ewig bei Squire Nelson leben konnte und sie ein Datum für die Hochzeit festlegen mussten.

Ned traf eine Entscheidung. „Wir werden nach dem Frost-Vortrag heiraten.“

Sie runzelte die Stirn. „Wieso so lange warten?“

„Clarissa, wann hätte ich vorher Zeit? Ich könnte jeden Augenblick zur Geburt bei den Balfours gerufen werden.“ Das stimmte nicht ganz. Kate Balfour würde erst in gut einem Monat niederkommen. „Zudem steht der Kotillon an.“ Mit diesem Tanz wurde der Sommerbeginn gefeiert. Es war das größte gesellschaftliche Ereignis in Maidenshop. Ned graute davor, wenngleich es ihm nunmehr einen plausiblen Vorwand verschaffte.

„Und außerdem“, ergänzte er, „werde ich bis dahin gänzlich von der Vorbereitung des Frost-Vortrags vereinnahmt sein.“ Der würde am Tag nach dem Tanz stattfinden. „Daher können wir wirklich nicht früher heiraten.“ Noch ehe er den Satz beendet hatte, senkte sich das Gefühl, dass dies falsch war, wie ein Bleigewicht auf ihn nieder. Sein Bauchgefühl forderte ihn dazu auf, seine Äußerung zurückzunehmen.

Doch er war ein Gentleman. Er hatte ihr eine Zusage gemacht, und ein Ehrenmann stand zu seinem Wort. Zwei Jahre Wartezeit waren genug.

Ihre Miene hellte sich auf. Ned las Nachsicht und Erleichterung darin – als hätte sie befürchtet, er hätte sie hinhalten wollen und es sich anders überlegt. „Ja, ich verstehe. Danke, Sir. Danke. Ich werde Ihnen die beste Ehefrau sein, die es je gab. Sie werden es nicht bereuen.“

Das tue ich jetzt schon.

Sie begann, sich darüber auszulassen, wie glücklich die Nelsons sein würden. Er nickte steif und schritt beharrlich seinem Pferd entgegen.

Natürlich gelang ihm nicht rechtzeitig die Flucht. Als sie die Auffahrt erreichten, kam Squire Nelson aus dem Haus. Clarissa eröffnete ihrem Vormund die gute Nachricht vom festgelegten Datum, und er rief im Haus nach seiner Frau und seinen Töchtern, damit auch sie die frohe Kunde vernehmen konnten. Alle gratulierten ihnen.

Und Neds Lächeln wurde zusehends gequälter.

Er konnte es kaum erwarten zu entkommen. Dankbar stellte er fest, dass er mit seinen Patienten nicht viel Arbeit hatte. Der Knöchel der Witwe Smethers war grün und blau, aber die Schwellung war leicht abgeklungen, sodass Ned befand, dass er nicht gebrochen, sondern lediglich verstaucht war. Kate Balfours Kind gedieh prächtig. Alles war gut.

Was nicht bedeutete, dass er sich mit dem Gedanken an die Ehe anzufreunden vermochte, sosehr er es auch versuchte. Die Vorstellung nagte an ihm.

Am Ende des Tages schließlich war ihm klar, dass er nicht zu einem einsamen, von seinem Diener Royce zubereiteten Mahl heimkehren konnte. Stattdessen ging er ins Garland. Dort war er schon länger nicht mehr gewesen.

Im vergangenen Frühjahr hatte er im Rahmen der Werbekampagne für seinen ersten Vortrag begonnen, neue Mitglieder zu gewinnen. Eine recht hohe Zahl an jungen Männern aus dem Dorf war beigetreten, und fast jeden Abend fanden sie sich im Garland ein. Nicht nur die Matronen beschwerten sich über die Zecherei, aber Männer brauchten einen Ort, wo sie unter sich sein konnten, ohne vom Weibsvolk behelligt zu werden. Und Ned hatte ihn selten dringender gebraucht als heute Abend. Die Ungeheuerlichkeit seines Zugeständnisses entsetzte ihn immer mehr.

Schlimmer noch, die Neuigkeit sprach sich in der Gemeinde bereits herum. Clarissa hatte offenbar keine Zeit verloren, allen das Datum mitzuteilen. Als er das Garland betrat, begrüßten die Burschen ihn mit dem für Männer üblichen Spott.

„Wir werden einen neuen Vorsitzenden brauchen!“, rief einer der Gebrüder Dawson. „Sie verlassen den Bund, Doktor. Wer heiratet, ist keiner von uns.“

„Sie enttäuschen uns“, bekräftigte sein Bruder. „So sehr, dass ich was trinken will.“

Die Gruppe lachte über den Witz.

Da erklang die vertraute Stimme eines Mannes, mit dessen Anwesenheit Ned nicht gerechnet hatte. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so töricht wären, in die Ehefalle zu tappen.“

Der Duke of Winderton lehnte an der Theke, vor jugendlicher Arroganz strotzend. Er war erst einundzwanzig, hatte dunkles Haar und eine markante Kieferpartie. Um die Hüften herum begann er füllig zu werden. Das war nicht der Fall gewesen, als er Maidenshop vor einigen Monaten verlassen hatte.

Allerdings wusste Ned, dass der Duke von seiner Mutter so sehr verhätschelt worden war, dass Vernunft und Maß ihm fremd waren. Balfour war Windertons Onkel und hatte als sein Vormund fungiert, eine Aufgabe, die ihm kein Vergnügen bereitet hatte.

Ned nahm den Hut ab und hängte ihn an einen Wandhaken zu den anderen. „Euer Gnaden, Sie sind aus London zurück.“

„Ich hatte die Stadt satt.“

Das war seltsam. Als der Duke Maidenshop den Rücken gekehrt hatte, war dies nicht ohne Groll geschehen. Er hatte verkündet, das Dorf sei ihm nicht länger genug. Anscheinend traf dies nunmehr auch auf London zu.

„Ich habe gerade Ihren Onkel getroffen. Er hat gar nicht erwähnt, dass Sie zurück sind.“

„Er ist nicht länger mein Vormund. Ich bin jetzt volljährig und brauche keinen Aufpasser mehr.“

Insgeheim dachte Ned, dass er das sehr wohl tat – nicht zuletzt, um Demut zu lernen.

„Sie sehen aus, als benötigten Sie etwas zu trinken“, bemerkte der Duke.

Sämtliche Vorbehalte gegenüber Winderton schwanden. „In der Tat.“

Unverzüglich wurde ihm ein Humpen Ale in die Hand gedrückt, und er vergaß den Duke. Winderton war nicht sein Problem. Er hatte genügend eigene, und das Ale schmeckte gut.

Neben dem Duke und den Dawson-Brüdern waren der Anwalt Shielding sowie Michaels zugegen. Was Letzterer trieb, hatte Ned nie so recht begriffen. Auch Squire Leonard, Jonathon Fitzsimmons, Nathanial Crisp und eine Schar anderer, die Ned kaum kannte, hatten sich eingefunden. Die jungen, neuen Mitglieder hatten sie mitgebracht.

Tranken sie tatsächlich zu viel, wie die Matronen monierten? Vermutlich. Aber heute Abend hatte Ned sich das verdient. Sollten die Matronen sich zum Teufel scheren, mitsamt ihren Ränkespielen, die ihn dazu verleitet hatten, sich für Miss Taylors Zukunft zu opfern.

Ihr die Ehe anzutragen war ritterlich gewesen, und nun musste er seinen Worten Taten folgen lassen. Ihm war, als hätte er sich selbst eine Schlinge um den Hals gelegt … die stetig enger wurde.

Ned griff nach einem weiteren Humpen.

3. KAPITEL

Gemma hatte nicht gewusst, dass sie von der Poststation an der Newmarket Road aus vier Meilen zu Fuß würde gehen müssen, um Maidenshop zu erreichen. Ein aufreibender Marsch nach einer Nacht in der Postkutsche.

Früher war sie in einer Privatkutsche gereist. Damals war sie noch davon ausgegangen, dass ihr Ehemann für die Kosten aufkommen würde.

Nach der Fahrt, die sie hinter sich hatte, waren vier Meilen ein langer Fußweg.

Da ihre Postkutsche nachts unterwegs gewesen war, hatte sie angenommen, es würde nicht viele Passagiere geben. Ein Trugschluss, wie sich herausgestellt hatte. Die Kutsche war überfüllt gewesen, und ihr selbst war ein Platz auf einer schmalen Bank auf dem Dach zugewiesen worden. Sie musste ihre Reisetasche auf den Schoß nehmen, und ständig drohte der Wind ihr die Schute vom Kopf zu reißen.

Der Kutscher musste betrunken sein. Die Fahrt die Straße entlang ließ sich nur als schwankend und halsbrecherisch beschreiben. Er hielt nur, um die Pferde zu wechseln und die schweren Postsäcke abzuladen. An jeder Poststation stiegen Passagiere aus, um sich etwas zu essen zu kaufen oder einen Moment lang ungestört zu sein. Sie wurden gewarnt, man werde sie zurücklassen, sollten sie nicht in der Kutsche sitzen, sobald der Kutscher abfahrbereit sei.

Gemma stieg nur zu gern mit den anderen aus, bis sie, wieder auf der Straße, beobachtete, wie eine Frau am Ende der Bank beinahe von der dahinrasenden Kutsche gefallen wäre. Die Frau war eingenickt und die Kutsche ins Schlingern geraten.

Glücklicherweise packte der geistesgegenwärtige Fahrgast hinter der Frau sie am Arm und rettete sie so. Ansonsten wäre die arme Frau von der Nacht geschluckt worden. Von da an war Gemma entschlossen, ihren Platz in der Mitte der Bank eisern zu verteidigen.

Während es ihr unmöglich war zu schlafen, war der riesige Mann zu ihrer Rechten in sich zusammengesackt, bis er ihr praktisch auf dem Schoß lag. Er schnarchte vernehmlich und roch recht streng. Der kleinere Herr zu ihrer Linken stieß ihr immerzu den Ellbogen in die Seite, bis Gemma sich auf die gleiche Weise revanchiert hatte.

Nun, nach zwölf ermüdenden Stunden, stand ihr der Marsch nach Maidenshop bevor. Sie schwang sich die schwere Reisetasche über die Schulter wie ein Matrose seinen Seesack und hielt sich vor Augen, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass es nicht regnete. Die Reise war beschwerlich genug gewesen.

Die Zeit während der Fahrt hatte sie sich damit vertrieben, Pläne für das Garland zu schmieden. Nun kostete es sie alle Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Gerade als sie glaubte, keinen Schritt mehr tun zu können, erreichte sie den Ortsrand. Dort stand der Kirchturm, und voraus an der Straße erblickte sie die weiß getünchten Mauern des Garland. Sie wurde schneller. Sie hatte es geschafft.

Das Gasthaus war ein wahres Zimmerlabyrinth unter einem Reetdach und verströmte Maskulinität. Es gab kein schmückendes Beiwerk wie beispielsweise einen einladenden Garten neben der Tür. Ein Schild aus altem, zersplittertem Holz zeigte die Konturen einer Girlande, die dem Gasthaus seinen Namen gab. Das Gebäude wirkte spartanisch, und die Botschaft war unmissverständlich: Die Leute kamen her, um zu trinken.

Gemma hatte schon die Hand am Griff der schweren Eingangstür aus Holz, hielt jedoch inne. Sie musste ihre Dankbarkeit bekunden. Also schloss sie die Augen. „Danke, Andrew. Mit deinem Segen will ich mir hier ein neues Leben aufbauen.“

Nach diesem aufrichtigen Gebet öffnete sie die Tür und trat aus dem Licht des späten Vormittags in die Dunkelheit des geschlossenen Gasthauses.

Bei ihrem letzten Besuch war Andrew damit beschäftigt gewesen, Krähenpasteten zu backen und alles für einen Vortrag des Bundes der Rationalen Männer vorzubereiten, eines hiesigen Herrenclubs.

Der Arzt des Dorfes hatte den Vortrag organisiert. „Er ist deswegen ganz aus dem Häuschen. Ist einer von denen, die gern denken. Aber die meisten Burschen werden wegen des Ales und meiner Krähenpasteten herkommen“, hatte Andrew sich gebrüstet.

„Tja, vielleicht werden sie etwas lernen“, hatte sie erwidert.

„Dafür muss man nüchtern sein“, hatte Andrew dagegengehalten.

Wie klar sie sich daran erinnerte, so wie auch an den Duft der Pasteten im Backofen und das Spätnachmittagslicht, das durch die Fenster hereingefallen war. Noch deutlich war ihr im Gedächtnis, wie sauber und ordentlich die Gaststube des Wirtshauses gewesen war und welch friedliche Atmosphäre hier geherrscht hatte. Der Frieden war es, der sie hergelockt hatte, ging ihr auf. Sie war auf der Suche nach einer Zuflucht.

Doch was sie betreten hatte, war keine solche.

Ihr war, als hätte sie in London mitten in einem Sturm gelebt, nur um an diesen Ort geweht zu werden, der unheimlich anmutete angesichts der Stille – und der Zerstörung. Ein Wolfsrudel hätte kein solches Ausmaß an Verwüstung anrichten können.

Die verschiedenen Räume des Gasthauses gingen unter der niedrigen Decke ineinander über. Es gab die Gaststube mit Theke, Tischen und Stühlen, daneben die sogenannte Schankstube, eine Kammer, in der die Fässer aufbewahrt wurden, und die Küche. Das spärliche Mobiliar und der Zierrat hatten sich seit letztem Frühjahr nicht geändert, doch Andrews Besitzerstolz fehlte.

Nun stand alles wild durcheinander, als hätte ein Riese die Stühle umhergeschleudert. Die Tische waren klebrig von verschütteten Getränken, und der Kamin roch, als wäre er seit Andrews Tod nicht mehr gereinigt worden. Die Ascheschicht maß eine gute Handbreit. Jemand hatte versucht, sie abzutragen, um ein neues Feuer zu entzünden, sodass kalte Asche auf dem Boden gelandet war. Fußabdrücke führten hindurch und quer durch den Raum.

Autor

Cathy Maxwell
Cathy Maxwell beschäftigt sich am liebsten mit der Frage, wie und warum Menschen sich verlieben. Obwohl sie bereits über 35 Romane veröffentlicht hat, bleibt die Liebe für sie weiterhin eines der größten Mysterien! Um weiter zu diesem Thema zu forschen, verlässt sie gerne ihr gemütliches Zuhause in Texas und reist...
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