Süße Überraschung für den Earl

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Lawrence Eddington, der berüchtigte Earl of Marsden – besser bekannt als Mars –, hat ein kleines Problem. Eines mit dunklen Haaren und braunen Augen, nur wenige Pfund schwer: seine neugeborene Tochter, zurückgelassen von seiner ehemaligen Mätresse. Da Mars nur das Beste für sein Kind will, bittet er die pflichtbewusste Miss Clarissa Taylor, den Säugling zu betreuen, bis er ein Kindermädchen gefunden hat. Mit diesem Schritt glaubt der Earl seine Schuldigkeit getan zu haben. Doch die beiden weiblichen Wesen, die plötzlich unter seinem Dach leben, wirbeln seinen Junggesellenhaushalt gewaltig durcheinander und sorgen auch in seinem Herzen für einen wahren Wirbelsturm …


  • Erscheinungstag 09.12.2023
  • Bandnummer 398
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516297
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Maxwell

Cathy Maxwell beschäftigt sich am liebsten mit der Frage, wie und warum Menschen sich verlieben. Obwohl sie bereits über 35 Romane veröffentlicht hat, bleibt die Liebe für sie weiterhin eines der größten Mysterien! Um weiter zu diesem Thema zu forschen, verlässt sie gerne ihr gemütliches Zuhause in Texas und reist durch die Welt, um sich mit ihren Fans auszutauschen und für ihren nächsten Roman zu recherchieren.

1. KAPITEL

Eine Mätresse, die sich in einen verliebt hat,

ist ein gar leidiges Geschöpf.

Buch des Mars

London, Juli 1815

Das Geschrei weckte ihn.

Lawrence Grant Talmadge Eddington, der Sehr Ehrenwerte Earl of Marsden, der sich stets nur Mars nannte, hob den Kopf vom Kissen. Es kostete ihn Überwindung.

Er hatte es wieder getan. Dem Alkohol zu sehr zugesprochen.

Dabei hatte er sich in letzter Zeit wirklich um Zurückhaltung bemüht. Er hatte seinen beiden engen Freunden Balfour und Thurlowe zustimmen müssen, als sie sich verpflichtet gefühlt hatten, ihrer Sorge Ausdruck zu verleihen. Er hatte zu viel getrunken. Und wenn er in London weilte, nun, so lockte ihn das Traumland der Opiumpfeife. Dieses Problem löste er, indem er der Stadt fernblieb, und sie fehlte ihm nicht.

Das Trinken hingegen …?

Seine Freunde hatten sich mitsamt Gattinnen geschäftlich nach London verfügt, sodass er allein war. In einem Anfall von Wehleidigkeit – er war ehrlich genug, das Kind beim Namen zu nennen – hatte er einen Rotwein entkorkt, gefolgt von einem Portwein, und das Ganze mit Whisky abgerundet.

Seine Stirn schmerzte, als wäre sie als Amboss benutzt worden.

Er zog sich das Kopfkissen über die Ohren, um dem Getöse zu entkommen. Außerdem stand die Sonne noch nicht allzu hoch am Himmel. Wahrscheinlich war es nicht einmal Mittag und somit viel zu früh für ihn, um aufzuwachen …

Ein weiterer beunruhigender Gedanke kam ihm, und er schob das Kissen fort und schaute sich blinzelnd in seinem Schlafzimmer um. Wieso hatte sein Kammerdiener Nelson gestern Abend nicht die Vorhänge geschlossen?

Dann erinnerte er sich. Er hatte sie geöffnet. Whisky und Wut hatten quälende Erinnerungen an seines Vaters Tod und seine eigenen armseligen Racheversuche in ihm aufstieben lassen.

Inzwischen war weit mehr als ein Jahrzehnt verstrichen, ohne dass der Mörder Lord Dervil zur Rechenschaft gezogen worden war. Es sei ein Duell gewesen, hieß es. Ein Ehrenhandel. Leute starben eben. Es wurde behauptet, sein Vater habe gewusst, worauf er sich einließ. Schließlich sei er derjenige gewesen, der Dervil gefordert habe.

Aber Mars war bei der Schießerei dabei gewesen und wusste, dass es auf jenem Feld alles andere als ehrenvoll zugegangen war.

Und wenn er sich, so wie gestern Abend, in den Fängen des Alkohols befand, suchten jene Bilder ihn heim, und er sah im Geiste vor sich, wie sein Vater zu Boden ging und röchelnd seinen letzten Atemzug tat. Er erinnerte sich an den Geruch des Blutes, der sich mit dem des Schwarzpulvers vermengt hatte. Daran, wie hilflos er sich gefühlt hatte, während er hatte zusehen müssen, wie das Licht in den Augen seines Vaters erloschen war. Diese Erinnerungen ließen stets Rage in ihm hochkochen.

Vergangene Nacht hatte er sich besonders ergiebig in Selbstmitleid gesuhlt. Er stöhnte, als er daran zurückdachte, wie er das Fenster aufgestoßen und wie von Sinnen den Mond angeheult hatte. Er hatte sich sogar auf den Fenstersims gestellt, fiel ihm ein, splitterfasernackt, wie der Schöpfer ihn geschaffen hatte. Er hatte sich gegen den Rahmen gestemmt, weit oberhalb der Steinplatten vor dem Haus, und in einer Lautstärke losgeheult, die jeden einsamen Wolf mit Stolz erfüllt hätte. Er hätte schwören können, dass ihm mit einem Heulen geantwortet worden war.

Vermutlich war es die Jagdhundemeute gewesen. Die war leicht aufzuschrecken, erst recht mitten in der Nacht. Er hatte es mehr als einmal getan.

Natürlich war die Geste müßig, ja närrisch gewesen. Dervil ging es nach wie vor prächtig, und Mars war machtlos, abgesehen davon, dass er seinen Erzfeind davon abhielt, Maidenshop aufzukaufen, und ihm gelegentlich eine lukrative Investition in London vereitelte. Für seine Untat hatte er Dervil noch nicht büßen lassen.

Doch eines Tages …

Derweil war er voll und ganz davon überzeugt, dass seine Freunde recht hatten und er sich bessern sollte. Er hatte ganz vergessen, wie schlimm der Katzenjammer am Tag nach einem Gelage war.

Mars ließ sich ins Bett zurücksinken. Gott. Auf jeden Fall hatte er den Dienstboten Stoff zum Tratschen gegeben, auch wenn sie loyal waren. Sie wahrten seine Geheimnisse. Hoffte er.

Und nein, das Geheul war keiner seiner klügeren Einfälle gewesen. Er hätte aus dem Fenster stürzen können, vor allem in seinem Zustand.

Nun jedoch war er wach und verspürte einen anderen Drang, nämlich den, sich zu erleichtern. All der Whisky drückte ihm auf die Blase, und seine Zähne fühlten sich pelzig an. Mars hasste diesen säuerlichen Geschmack im Mund.

Stöhnend wälzte er sich aus dem Bett. Die Bewegung ließ alles an ihm schmerzen. Offenbar hatte er sich einen Muskel gezerrt, als er in den Fenstern herumgeklettert war.

Fenstern?

Ja, Fenstern. Aus den nebulösen Tiefen seines Gedächtnisses ereilte ihn die Erinnerung daran, dass er sein Geheul aus mehr als einem Fenster gesandt hatte.

Das passierte, wenn er sich selbst überlassen wurde. Wären seine Freunde zugegen gewesen, hätte er bei einem von ihnen gesessen, um sich nach außen hin gelangweilt ob ihres Ehelebens zu geben, während er sie insgeheim um ihre Zufriedenheit beneidete. Wer hätte gedacht, dass eine Ehefrau einen Mann so glücklich machen konnte …?

Stöhnend bückte er sich nach seinen Breeches, die auf dem Boden lagen. Er streifte sie sich über die langen Beine, wobei er den Kopf möglichst ruhig hielt. Mit den Knöpfen hielt er sich nicht auf, sondern stakste steifbeinig zum Wandschirm hinüber. Einst hatte es eine Zeit gegeben, da er selbst nach einer Zecherei voller Elan und Tatendrang aus den Federn gesprungen war. Das schien Jahrzehnte her zu sein. Mit siebenundzwanzig hätte er sich nicht derart desolat fühlen sollen. Sogar der Rücken tat ihm weh, und er war sich nur allzu sehr der Tatsache bewusst, dass seine Klagen die eines gebrechlichen Tattergreises waren, dessen einzige Freude in der seligen Wohltat bestand, seine Blase zu entleeren und ein Nickerchen zu halten.

Ja, ein Nickerchen. Schon der Gedanke daran ließ ihn beinahe schwindeln. Später würde er sich ein Nickerchen gönnen – das hieß, sofern der Tumult im Haus abflaute. Noch immer wurde gezetert. Es erstaunte ihn stets aufs Neue, dass das riesige Belvoir so hellhörig wie eine kleine Kate war.

Er machte sich daran, sich die Zähne zu putzen. Das Zahnpulver klebte ihm als zäher Brei im Mund, bis er es ausspülte. Er steckte sich eine der Minzpastillen in den Mund, die Gemma, Thurlowes patente Frau, hergestellt hatte. Allmählich war Mars nach ihren Pastillen ebenso süchtig, wie er es nach Opium sein konnte … und Letzteres war der wahre Grund dafür, dass er abgelehnt hatte, die glücklichen Paare auf ihr Drängen hin zu begleiten. Umgeben von einem solchen Maß an Eheglück, wäre er schwach geworden und hätte zur Pfeife gegriffen.

Er betrachtete sich in dem Spiegel über seinem Waschtisch. Bartstoppeln überzogen sein Gesicht, das er sich nicht von Nelson rasieren lassen würde, weil sein Kopf zu sehr schmerzte. Sein weizenblondes Haar war vom Schlafen zerzaust, seine Augen waren rot gerändert. Bei seinem Anblick wurde ihm klar, dass er sich würde ändern müssen.

Mars verstand nur nicht, wie es so weit hatte kommen können. Das Leben lief ihm davon. Und die Männer, die er am meisten schätzte und bewunderte, seine engsten Vertrauten, waren nunmehr mit ihrer jeweiligen Gattin beschäftigt.

Sie behaupteten, sich verliebt zu haben.

Verliebt.

Mars war Pragmatiker. Die Liebe verwandelte jeden Mann in einen Narren. Wäre sein Vater nicht so „verliebt“ in seine Gattin Eleanor gewesen, hätte er Dervil nicht gefordert – der ebenfalls darauf beharrt hatte, sie zu lieben.

Mars seinerseits ertrug nicht einmal den Anblick seiner Mutter. Seit dem Duell weigerte er sich, mit ihr zu reden. Ihretwegen hielt er nichts vom zarten Geschlecht. Er schlief mit Frauen, ja frönte diesen Freuden gar ausgiebig, aber er vertraute ihnen nicht. Keiner einzigen.

Doch als er nun hinter dem Wandschirm stand – in seinem komfortabel eingerichteten Schlafzimmer auf einem Anwesen, das als eines der erlesensten des Landes galt –, kam ihm eine bittere Erkenntnis. Er war einsam.

Und das gefiel ihm nicht. Er verabscheute dieses Gefühl.

Der grauenvolle Lärm, der ihn geweckt hatte, bewegte sich die Treppe herauf. Das kümmerte Mars nicht. Er hatte Bedienstete, die sich an seiner statt um derlei Dinge kümmerten. Sein Butler Gibson würde sich der Sache annehmen.

Er indes musste aufhören, sich in rührseligen Grübeleien zu ergehen. Gott, er ödete sich selbst an.

Mars beugte sich über die Waschschüssel und goss sich das restliche Wasser aus dem Krug über den Kopf. Der kalte Guss half. Er richtete sich auf und warf sein Haar zurück, sodass Wassertropfen gegen den Wandschirm hinter ihm prasselten. Er musste den Morgen umgehend mit Tee und Port beginnen, einer Arznei, die Nelson bereithielt, wann immer Mars ein wenig angeschlagen war. Das würde ihn wiederherstellen.

Genau genommen überraschte es ihn, dass sein Kammerdiener nicht längst erschienen war. Gemeinhin kam Nelson ins Zimmer, kaum dass Mars sich rührte. Und Mars hatte mehr getan, als sich zu rühren. Er hatte mit Wasser gespritzt, sich die Zähne geputzt …

„Bleiben Sie mir vom Leib. Wagen Sie es ja nicht, mich anzurühren!“, befahl eine weibliche Stimme aus Richtung Korridor. Anscheinend war der Aufruhr in sein Stockwerk vorgedrungen.

Gibson antwortete: „Sie dürfen den Earl nicht behelligen.“

Über diese Aussage lachte die Frau nur, ein kurzer, bitterer Laut. „Ich kann und ich werde.“

Ihre Bitterkeit kam ihm vertraut vor.

Neugierig trocknete Mars sich Gesicht und Hände mit einem frischen Leinenhandtuch ab und knöpfte sich die Hose zu, während er hinter dem Wandschirm hervortrat – just als irgendetwas, eine Faust oder ein Körper, gegen seine Schlafzimmertür polterte. Der Türgriff wurde gedreht. Die Frau schrie: „Rühren Sie mich nicht an!“

Ja, er kannte diese Stimme.

Ehe er das Rätsel lösen konnte, flog die Tür auf, und Deb Millner, seine letzte Mätresse, stolperte ins Zimmer, um sich nach wenigen Schritten zu fangen. Deb besaß einen ausgeprägten Gleichgewichtssinn, selbst mit einem Bündel in den Armen, das wie ein Haufen Decken aussah. Sie schob sich den modischen Hut nach hinten, einen mit Federn besetzten Dreispitz, der Mars vermutlich ein kleines Vermögen gekostet hatte, und herrschte die Diener mit der Wildheit einer Amazone an, gefälligst „zurückzubleiben“.

Das hätte sie sich sparen können. Beim Anblick ihres Herrn, der mit nichts als seinen Breeches am Leib dastand, erstarrten die Lakaien zu einem fast komisch anmutenden Tableau. Mars erkannte seinen Kammerdiener unter ihnen. Kein Wunder, dass Nelson nicht mit Tee und Port aufgetaucht war.

„Mylord, wir werden sie entfernen“, verkündete Gibson. Er klang, als wäre es ihm peinlich, dass ein Eindringling sozusagen ins Allerheiligste eingefallen war. Er schickte sich an, die Diener auf sie zu hetzen, doch Mars hielt ihn davon ab.

„Nicht nötig. Schon in Ordnung.“

„Sind Sie sicher, Mylord?“, hakte der Butler nach.

„Bin ich.“ Das war er tatsächlich. Er war nicht begeistert darüber, Deb zu sehen, aber sie war auf jeden Fall ein Mittel gegen Langeweile.

Gibsons Miene besagte, dass er dies für keine gute Idee hielt, doch seine Wohlerzogenheit verbat ihm jeden Einwand. Nachdem er einen Blick mit Nelson gewechselt hatte, traten die beiden und sämtliche Lakaien den Rückzug auf den Korridor an.

„Und schließen Sie die Tür!“, befahl Deb.

Entrüstet hob Gibson die Brauen. „Mylord, ist das nicht riskant …?“

„Schließen Sie sie“, bekräftigte Mars. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen.

Deb stieß einen Triumphschrei aus, bevor sie den Blick ihrer braunen Augen auf Mars richtete. Höhnisch verzog sie die Lippen. Das fand er bemerkenswert, denn die Trennung war auf ihrer Seite von Sentimentalität und Schluchzern geprägt gewesen. Ich liebe dich. Ich werde dich nicht gehen lassen … und dergleichen Theatralik.

Nun führte sie sich auf, als würde ihr von seinem Anblick übel.

Deb war eine hochgewachsene Brünette mit ellenlangen Beinen, genau die Sorte Frau, die Mars bevorzugte. Lange Beine waren die Grundbedingung, die er an jede seiner Mätressen stellte. Sie hatte ihre prachtvolle Figur in Reisekleider gewandet. Ihr Geschmack war erlesen, und Mars hatte stets bewundert, wie sie sich kleidete. Auch heute enttäuschte sie ihn nicht. Sie trug ein pflaumenblaues gestreiftes Kleid mit dunkelblauer Bordüre und tiefem Ausschnitt und darüber ein militärisch geschnittenes Jäckchen. Deb hatte immer gern ihre Vorzüge zur Schau gestellt. Nun ließ sie ihr Bündel sinken, damit er diese Vorzüge besser betrachten konnte, denn sie wusste, dass er sie betrachtete. Sie wäre enttäuscht gewesen, hätte er es nicht getan.

Mit der Überheblichkeit eines Piraten schritt sie auf ihn zu. „Herrgott, Mars, du hast ja kaum etwas an.“

Er war nicht gekränkt. Frauen waren gehässige Wesen. „Erstens sind dies meine privaten Räumlichkeiten. Zweitens hast du schon mehr von mir gesehen.“

„Leider.“

„Sei nicht so unleidlich, Deb. Sag, was du zu sagen hast. Auf mich wartet ein uninteressanter Tag.“

Das Feuer in ihr erlosch. Sie bedachte ihn mit einem so eindringlichen wie aufrichtig wirkenden Blick. „Wie sehr ich dich geliebt habe.“

„Nein“, korrigierte er sie, „du hast mein Geld geliebt. Du hattest immer schon Schwierigkeiten, zwischen beidem zu unterscheiden.“ Als sie sich getrennt hatten – vor einem Jahr und einigen Monaten –, hatte er ihr ein Stadthaus, eine Kutsche mitsamt Zweiergespann sowie ein Vermögen in Höhe von zweitausend Pfund geschenkt. Er war ein großzügiger Mann.

Ihre Miene wandelte sich, als sähe sie ihn zum ersten Mal und wäre enttäuscht. „Du warst mir gegenüber stets ehrlich, Mars. Das muss ich dir lassen. Wie sagst du immer? Du seist unfähig zu lügen?“

Mars nickte. Das stimmte.

Sie reckte das Kinn. „Ich habe einen neuen Gönner.“

„Gut.“

„Er findet mich betörend.“

„Ich bin sicher, er hat recht.“

„Du beherrschst mein Leben nicht länger, Mars.“

„Ich habe nie behauptet, das zu tun, Deb.“

„Aber du hast mir das Herz gebrochen.“

Da war sie, die Manipulation. Frauen führten sie wie eine lange, dünne Klinge, mit der sie kappten, was immer ihnen missfiel.

In der Zeit unmittelbar nach der Trennung hatte sie ihn regelrecht belagert. Sie hatte versucht, in seinen Klub einzudringen, hatte ihn unter Tränen quer durch die Stadt verfolgt und sein Leben mit Liebeserklärungen und schließlich Drohungen geflutet. Einmal war sie in sein Londoner Domizil eingebrochen, und er hatte sie in seinem Bett vorgefunden. Er hatte sie aus seinem Zimmer tragen müssen, während sie versucht hatte, ihn zu küssen und zu umarmen. Gibson sorgte sich nicht grundlos.

Heute wirkte sie nicht, als wollte sie ihm eine Szene machen. Im Gegenteil, sie gab sich souverän. Er würde es ertragen können, ihr das letzte Wort zuzugestehen, sofern sie ihn danach in Ruhe ließe.

„Mein neuer Gentleman vergöttert mich“, beschied sie ihm.

Er nickte.

„Du bist mich endgültig los, Mars.“ Sie ging zum Bett. Mars wich davon zurück. „Ich kann selbst auf mich aufpassen. Was dies hier angeht, es gehört dir und unterliegt deiner Verantwortung. Du wirst dich besser darum kümmern können als ich.“ Sie legte das Deckenbündel mitten aufs Bett.

Ein Laut drang aus dem Bündel. Oder bildete er sich das bloß ein?

„Was ist das?“, fragte er.

„Etwas, das du mir hinterlassen hast“, erwiderte sie, bereits auf dem Weg zur Tür. „Ich gebe es dir zurück. Schließlich sollte eine Mätresse nichts schuldig bleiben. Sie heißt Menadora.“

„Sie? Menadora?“ Das Bündel regte sich.

„Ja, es bedeutet ‚Geschenk des Mondes‘. Menadora ist der Name einer Heiligen, die gemeinsam mit ihren Schwestern Metrodora und Nymphodora den Märtyrertod starb. Mir gefällt der lyrische Klang des Namens.“

„Wovon zum Teufel redest du?“ Er verdaute noch immer das Wort sie.

„Vermutlich hat sie Hunger, obwohl ich sie gestillt habe, bevor ich sie hergebracht habe. Ich warne dich, sie ist ein Nimmersatt. Schlimmer noch, sie pinkelt ebenso oft wie du. Ihr zwei solltet euch hervorragend verstehen.“ Sie öffnete die Tür und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Lass dir außerdem gesagt sein, dass du mit deiner Unfähigkeit zu lügen nicht prahlen solltest, Mars. Ich glaube nämlich, das tust du nur, um zu verhehlen, dass du schlicht nicht imstande bist zu lieben.“

„Welch garstiger Seitenhieb.“ Er konnte lieben. Er hatte es bloß noch nicht getan – bislang.

Ihrer Miene entnahm er, dass sie der Meinung war, er würde sich selbst etwas vormachen. „Adieu, Mylord.“

In dem Moment drang ein kläglicher Laut aus dem Bündel. Die Decken bewegten sich, und ein unverkennbar weibliches Köpfchen erschien. Ein Baby. Das Mädchen lag auf dem Bauch. Es reckte sich und schaute sich mit riesigen, neugierigen Augen um – bis sein Blick auf ihn fiel.

Mars hatte keine Ahnung von Kindern. Er hielt sich von ihnen fern. Selbst zu Balfours Säugling wahrte er Distanz, und das, obwohl er bei der Geburt der Kleinen dabei gewesen war.

Dieses Kind hatte Haar, so dunkel wie das von Deb. Nur dass seines nicht so lockig wie das seiner Mutter war, sondern in alle Richtungen abstand wie die Stacheln eines Igels.

Das kleine Mädchen drehte den Kopf und sah zur Tür, von der aus Gibson, Nelson und die Lakaien hereinspähten. In ihren Gesichtern spiegelte sich etwas, das sich nur als fasziniertes Grauen beschreiben ließ – eine Regung, die vermutlich auch Mars im Gesicht geschrieben stand.

Anscheinend begriff die Kleine, dass sie verlassen worden war. Im Stich gelassen. Bei ihm.

Sie verzog den Mund und begann so laut und herzzerreißend zu brüllen, dass sie sämtliche Soldaten im Umkreis von Meilen hätte herbeirufen können, und sie hörte nicht auf. Nicht einmal, um Luft zu holen.

Das Gebrüll riss Mars aus seiner Erstarrung. Er stürmte aus dem Zimmer, barfuß und halb nackt, und drängte sich an Gibson und den anderen vorbei. Als er zum oberen Treppenabsatz kam, sah er, dass Deb beinahe die letzte Stufe erreicht hatte. „Du kannst nicht gehen!“, rief er gebieterisch. „Du kannst nicht einfach davonspazieren.“

Sie schaute zu ihm empor und entgegnete kühl: „Doch, kann ich.“

„Aber dies ist ein Kind. Dein Kind.“

„Nein, Ihr Kind, Mylord …“

„Ausgeschlossen. Ich treffe Vorsichtsmaßnahmen. Ich passe immer auf.“ Er hatte es nie darauf angelegt, die Provinz mit Bastarden zu übersäen.

„Nein, nicht immer. Und um absolut ehrlich zu sein – denn auch ich bin unfähig zu lügen –, habe ich es satt, jede Nacht von ihr wach gehalten zu werden. Ich habe es satt, dass sie an meinen Brüsten saugt, als wären es Euter, um mir anschließend auf die Kleider zu spucken. Ich hasse den Gestank. Ich bin keine gute Mutter. Ich will auch keine sein. Daher bist jetzt du an der Reihe. Ehrlich gesagt wird es für dich leichter sein – du hast genügend Geld, also stell irgendwen ein, der sich um Menadora kümmert. Oder …“, sie machte eine selbstgerechte Pause, „… verstoße sie, so wie du mich verstoßen hast. Ich jedenfalls bin fertig mit ihr.“

Damit rauschte sie zur offenen Haustür hinaus, einer wartenden Kutsche entgegen, einer Kutsche, die er bezahlt hatte. Derweil schrie das Kind mit dem albernen Namen zunehmend lauter. Das Gejammer hallte durchs ganze Haus.

Und Deb war es sichtlich egal. Ihre Schritte gerieten nicht einmal ins Stocken.

Mars tat das einzig Vernünftige für einen Mann in seiner Lage – er rannte die Treppe hinab und zur Tür hinaus, um seine einstige Mätresse aufzuhalten. Sie konnte das Kind unmöglich bei ihm lassen.

Leider kam er zu spät.

Beeindruckend flink stieg Deb in ihre Kutsche, der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und die Pferde jagten die Auffahrt entlang.

Lange stand Mars da und sah ihr nach, als könnte er sie mittels Willenskraft zurückbeordern. Die Kutsche verschwand hinter einer Biegung. „Möge sie zur Hölle fahren“, murmelte er und fügte hinzu: „Das Kind ist nicht von mir.“ Auf keinen Fall. Er wie auch seine Eltern waren blond. Außerdem traf er Vorsichtsmaßnahmen.

Aber war er darin konsequent gewesen?

Er konnte sich an das ein oder andere Mal entsinnen, da er nicht so diszipliniert gewesen war, wie ein kluger Mann es sein sollte. An das ein oder andere Mal, da er von seinen Trieben übermannt worden war.

Du lieber Gott.

Mars wandte sich zur Haustür um und stellte fest, dass sich all seine Dienstboten, vom dünkelhaften Gibson bis hin zum Küchenjungen, auf der Schwelle versammelt hatten und ihn mit großen Augen besorgt musterten.

Nelson schob sich mit Mars’ Morgenrock durch die Schar. „Mylord!“, rief er in beschwörendem Tonfall und hielt das Kleidungsstück hoch, als trachtete er die Würde seines Herrn zu schützen – doch Mars hatte ganz andere Sorgen.

Sogar hier draußen konnte er den Säugling laut und deutlich schreien hören.

„Wer passt auf das Kind auf?“, verlangte er zu wissen.

Seine Angestellten, allesamt männlich und schon lange im Dienst seiner Familie, schauten einander an, als hätten sie erwartet, dass der Mann zu ihrer Linken oder Rechten bei Menadora wäre. Selbst der gemeinhin so tüchtige Gibson.

Debs Warnungen fielen Mars ein. „Kennt irgendwer sich mit Säuglingen aus?“

Evans, einer der Lakaien, antwortete: „Meine Schwester hat einen.“

Die Übrigen schwiegen.

Hätte der Tag sich schlimmer entwickeln können? Mars sehnte sich nach Tee und Port.

In sich hineinfluchend, lief er aufs Haus zu. Seine nackten Füße flogen förmlich über die Steinplatten. Das Personal teilte sich, als wäre es das Rote Meer und er Moses. Auf der Vordertreppe nahm er je zwei Stufen auf einmal.

Dabei schossen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Deb wäre nicht die erste Mätresse, die log. Mätressen durfte man nicht trauen, und sie war eindeutig schlimmer als andere. Sie ging gern Risiken ein – was, wenn sie darauf spekulierte, ihn mit der Behauptung ködern zu können, sie hätte ein Kind von ihm?

Was, wenn sie am Ende der Auffahrt darauf wartete, dass er sie zurückholte? Es hätte funktioniert. Er mochte ein Wüstling und in gewisser Weise ein Tunichtgut sein, aber er war nicht gänzlich verantwortungslos, und das wusste Deb.

Er betrat sein Schlafzimmer. Der schreiende Säugling lag noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Allerdings hatte die Kleine sich herumgewälzt und die Decken fortgestrampelt. Offenbar war sie äußerst aufgebracht darüber, allein gelassen worden zu sein. Höchst beleidigt gar. Oh ja, dies war Debs Kind.

Aber war es auch seines? Das würde sich feststellen lassen. Eddingtons konnten ihre Kinder stets erkennen, und das mochte sich als Schwachstelle in Debs Plan erweisen.

Nelson und Gibson waren ihm die Treppe heraufgefolgt. Er sah seine beiden zuverlässigsten Bediensteten an. „Was muss ich tun, damit sie still ist?“

„Sie hochheben, Mylord?“, schlug Gibson vor, hörbar unsicher.

Ja, das war ein guter Rat. Mars näherte sich dem Bett, griff nach der Kleinen und hob sie hoch, die Hände unter ihren Achseln. Ihr Gewicht erstaunte ihn. Sie war schwerer als erwartet. Sie schaute ihn an, und in ihrer Miene spiegelten sich Empörung und womöglich gar Kränkung. Nie hatte Mars einen ungnädigeren Zug um einen Mund gesehen – aber zum Glück hörte sie auf zu heulen.

Sie maßen einander mit Blicken.

Ihr langes Kleid war hellgrün und hatte Spitzenärmel. Ihre Füße steckten in winzigen Lederschuhen und baumelten in der Luft. Ihre Haut fühlte sich heiß und leicht verschwitzt an, bedingt durch den anstrengenden Wutausbruch. Das dunkle Igelhaar klebte ihr nunmehr am Kopf. Sie erinnerte ihn an nichts weiter als einen zwergenhaften Cäsar in einem Kleid.

Sie wirkte auch nicht gerade beeindruckt von ihm. Ihr kritisches Stirnrunzeln hätte auch einem aufgeblasenen Dandy oder einer anspruchsvollen Mutter bei Almack’s gut angestanden.

„Menadora“, sagte er, um zu hören, wie es klang.

Mit tränennassen braunen Augen sah sie ihn ernst an, und ihm war, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er nickte. „Du findest den Namen ebenfalls lächerlich. Kopf hoch. Sie hätte dich auch Nymphodora nennen können.“

Ihr Wimmern ließ ihn wissen, dass diese Situation für sie genauso prekär war wie für ihn, und dafür hatte er Verständnis. Rabenmütter waren die schlimmsten. Zumindest das hatten sie gemein.

Er ging in sein Ankleidezimmer, wo in einer Ecke ein hoher Spiegel stand. Menadora wandte den Kopf, als sie die Reflexion im Glas erfasste. Sie war ein aufgewecktes kleines Ding. Er hielt sie an seiner Brust und positionierte sich so, dass er sie beide im Spiegel betrachten konnte.

Bestürzt erstarrte er.

Im Korridor des Erdgeschosses hing ein Gemälde, das ihn in ungefähr demselben Alter zeigte, und trotz des dunklen Haars und der braunen Augen hätte sie eine exakte Kopie von ihm sein können. Nur dass sie aufgeweckter und aufmerksamer wirkte, als er vermutlich je gewesen war. Sie schien ihrer beider Spiegelbild zu mustern und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, die, so argwöhnte er, wenig schmeichelhaft ausfielen.

Entsetzen mischte sich mit einem unerklärlichen Anflug von Erregung. Dies war nicht das, was er wollte. Oh nein. Nicht er. Und dennoch musste er sich Gewissheit verschaffen.

Mars zog ihr einen Schuh aus und streifte ihr den Strumpf ab. Er fand fünf perfekt geformte Zehen vor. Er verfuhr mit dem zweiten Fuß wie mit dem ersten, und ihm stockte der Atem.

Der linke Fuß war nicht perfekt geformt. Auch er wies fünf Zehen auf, aber diese waren nicht ebenmäßig. Der vorletzte Zeh war ein wenig schief, sodass er aussah, als entwüchse er seinem Nachbarn – so wie es bei Mars’ Vater, seinem Großvater und überhaupt allen Eddingtons vor ihm der Fall gewesen war.

So wie es auch bei ihm selbst der Fall war.

Es war das Merkmal eines echten Eddingtons.

Dies war sein Kind.

Seine Tochter.

Zu seiner Überraschung erfasste ihn Ehrfurcht.

Er hatte sie erschaffen. Sie war eine neue Seele in dieser Welt, in seinem Leben. Dieses kleine Wesen mit dem albernen Namen. Er hatte eine Familie.

Tief in ihm wandelte sich etwas und öffnete ihn auf eine Weise, die er nie für möglich gehalten hätte. Gemeinsam würden sie einer Welt trotzen, die gnadenlos gegenüber den Schwachen war. Sie brauchte ihn. Er war ihr Beschützer, ihr Vater, ihr Vormund.

Und er hatte keine Ahnung, was er mit ihr anfangen sollte.

Eines indes war gewiss, er würde sie keinesfalls Menadora nennen. „Dora“, sagte er, um zu hören, wie dieser Name klang. Er gefiel ihm.

Unzweifelhaft war auch, dass das Tuch, das ihr winziges Hinterteil umgab, gewechselt werden musste. Das konnte Mars riechen. Zudem fühlte sie sich feucht an seiner Brust an. Sie hatte sich eingenässt.

Er schaute zur Tür hinüber, von der aus Gibson und Nelson ihn so verstört wie besorgt beobachteten. „Hat Deb eine Tasche dagelassen? Oder irgendwelche Sachen?“

„Nein, Mylord“, antwortete Gibson. „Sie hat nichts dagelassen.“

Mars hielt Dora ein Stück weit von sich. Üble Gerüche waren ihm zuwider. Und er verstand nicht das Geringste von kindlichen Bedürfnissen.

Als könnte sie seine Gedanken lesen und wüsste, dass sie in Schwierigkeiten steckte, brüllte Dora aus Leibeskräften los – und dieses Mal hörte sie nicht auf, ganz gleich, was er anstellte.

2. KAPITEL

Männer sind Tiere. Ich weiß das.

Ich bin einer von ihnen.

Buch des Mars

Gerade als Clarissa Taylor fürchtete, keinen weiteren Schritt mehr tun zu können, erreichte sie Maidenshop.

Ihre Reise war beschwerlich gewesen. Seit drei Tagen hatte sie ihre Kleider nicht gewechselt, während sie verzweifelt versucht hatte, von London nach Hause zu gelangen, zunächst per Postkutsche, dann auf einem Bauernwagen und schließlich auf ihren eigenen schmerzenden Füßen.

Sie ließ ihre Reisetasche fallen, überwältigt vom vertrauten Anblick der steinernen Mauern von St. Martyr’s und der adretten Häuschen des Dorfes. Sie trug einen grauen, überaus praktischen Batistrock, gute robuste Schuhe und eine olivfarbene Pelisse aus Sarsenett, die eine der Dörflerinnen ausrangiert und ihr geschenkt hatte. Ihr Strohhut war ebenfalls ein Geschenk gewesen. Die Dorfmatronen hatten ihn ihr gemeinsam mit ihren guten Wünschen überreicht, bevor sie aufgebrochen war, um ihre neue Position als Gesellschafterin einer vornehmen Dame anzutreten. Diese Position hätte ihr Leben verändern sollen.

Zu dieser Uhrzeit waren bereits einige Leute emsig unterwegs, doch sie hatten Clarissa nicht bemerkt. Noch nicht.

Und obwohl sie all diese Leute erkannte – immerhin war sie hier aufgewachsen –, fühlte sie sich wie eine Fremde. Sie betrachtete die Menschen, als befände sich eine trennende Glasscheibe zwischen ihr und ihnen.

In vielerlei Hinsicht traf dies zu, nur dass das trennende Element das Leben war. Sie hatte Maidenshop mitten im Frühling verlassen, als alles in der Welt hoffnungsfroh und vollkommen gewesen war.

Nun waren die Gartenblumen fast verblüht, und bald würden der Herbst und schließlich der Winter sie ereilen – so wie London sie ereilt hatte.

Hätte sie auch nur einen Funken Stolz besessen, wäre sie nicht hergekommen. Aber das Dorf war ihr lieb und teuer, auch wenn sie in Schande zurückkehrte. Sie besaß nichts, nicht einen roten Heller. Sie hatte ihre gesamten Ersparnisse geopfert, um nach Hause zu gelangen.

Die Seitentür der Kirche wurde geöffnet. Mrs. Summerall, die Pfarrersfrau, trat aus dem Gebäude. Sie schaute in Clarissas Richtung, hielt inne, einen Fuß in der Luft, und starrte, als traute sie ihren Augen nicht.

Sie machte einen Schritt vorwärts, gefolgt von weiteren, und bahnte sich einen Weg durch die Grabsteine rings um die Kirche. „Miss Taylor?“

Clarissa wurde die Kehle eng. Sie konnte nicht sprechen. Und daher tat sie das Einzige, was sie tun konnte. Sie brach in Tränen aus.

Mrs. Summerall hastete zu ihr und schloss sie in ihre dürren, langen Arme. „Liebes, Liebes, Liebes“, wiederholte sie. „Bitte, alles wird gut. Was immer geschehen ist, alles wird gut.“ Schließlich verkündete sie: „Gehen wir zu Mrs. Warbler.“

Clarissa nickte.

Die Witwe Elizabeth Warbler lebte im Zentrum des Dorfes. Als eine der führenden Matronen von Maidenshop war sie Clarissa in den Jahren seit dem Tod ihrer Adoptiveltern, Pastor Taylor und dessen Frau, eine gute Freundin gewesen. Sie war stets in der Lage gewesen, Clarissa das Unbegreifliche begreiflich zu machen. Und zur Not gab es Sherry. Mrs. Warblers Sherryflasche war eine Institution.

„Heda, Landon!“, rief Mrs. Summerall einem Burschen zu, der just aus seinem Häuschen getreten war. „Nimm doch bitte Miss Taylors Reisetasche.“

„Miss Taylor?“, erwiderte der Bursche und sah Clarissa an, als wäre sie eine Kuriosität. „Schön, Sie zu sehen, Miss Taylor. Wie war es in London?“

Clarissas Antwort bestand aus einem hicksenden Schluchzen.

„Die Tasche, Landon“, mahnte Mrs. Summerall und klang eine Spur hilflos. Sie hakte sich bei Clarissa unter und führte sie die Straße entlang zu Mrs. Warblers zweistöckigem Steinhaus. Dieses stand gegenüber vom Garland, einem Teegarten mit angeschlossenem Laden. Beides gehörte der Frau, die Clarissa die ihr zugedachte Zukunft gestohlen hatte.

Nein, das stimmte nicht. Gemma hatte es nicht darauf angelegt, Ned Thurlowes Herz zu erobern. Es war keine Absicht gewesen.

Und Ned hätte sie geheiratet, sofern sie darauf bestanden hätte. Er war ein Ehrenmann. Er hatte ihr ein Versprechen gegeben, und er hätte es gehalten. Sie war diejenige gewesen, die einen Rückzieher gemacht hatte.

Im Grunde hatte Clarissa es kaum erwarten können, in die Welt hinauszuziehen, sobald ihr klar geworden war, dass sie sich nur an Ned geklammert hatte, weil sie in ihm ihre einzige Hoffnung gesehen hatte. Unterstützt von Mrs. Warbler, hatte sie eine Anstellung als Gesellschafterin der reichen Mrs. Emsdale angenommen.

Aber all das war im Frühjahr gewesen.

Am Fuße von Mrs. Warblers Eingangstreppe verharrte Clarissa, um sich mit ihren schmutzigen Handschuhen über die Augen zu wischen. „Sie wird enttäuscht von mir sein.“

„Unsinn. Elizabeth wird sich ebenso sehr wie ich darüber freuen, Sie zu sehen. Nicht wahr, Landon?“

„Jeder wird sich freuen, Sie zu sehen, Miss Taylor“, entgegnete der Bursche gehorsam, wobei seine Seitenblicke davon zeugten, dass er es eilig hatte, seine Pflicht als erledigt zu betrachten.

Obgleich Clarissa argwöhnte, dass Mrs. Summerall lediglich höflich war, sorgten die warmherzigen Worte dafür, dass sie aufatmen konnte, nachdem sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte.

Wie sich herausstellte, hatte Mrs. Summerall recht.

Mrs. Warbler zog Clarissa schwungvoll ins Haus. Sie war silberhaarig, energisch und hatte früher Lila im Angedenken an ihren Gatten, den Oberst, getragen. Auch das hatte sich im Laufe des Sommers geändert. Heute trug sie ein Kleid in einem hinreißenden Rosa. Zierbänder derselben Farbe schmückten ihre Spitzenhaube, und ihre Hände steckten in fingerlosen elfenbeinfarbenen Spitzenhandschuhen.

„Clarissa“, sagte sie, als ob sie entzückt wäre. „Wie schön, Sie zu sehen. Brauchen Sie einen Moment allein? Jane“, rief sie nach ihrem Dienstmädchen, „bereite eine Schüssel mit warmem Wasser für unseren Gast vor!“ An Clarissa gerichtet, verfügte sie: „So, machen Sie sich frisch und nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie möchten. Jane! Wir werden auch Käse und etwas von dem Brot benötigen, das du heute Morgen gebacken hast. Clarissa sieht aus, als hätte sie seit Tagen nichts gegessen.“

„Habe ich auch nicht“, gestand Clarissa.

„Ist noch Hühnchen von gestern Abend übrig?“, fragte Mrs. Warbler, an Jane gewandt.

„Ja, Ma’am.“

„Hervorragend. Wir werden Ihnen ein spätes Frühstück herrichten, Clarissa. Jetzt laufen Sie nach oben und machen Sie sich frisch. Sie wissen ja, wo Sie alles finden. Deirdre, bitte leiste uns Gesellschaft“, sagte Mrs. Warbler zu Mrs. Summerall. „Ich werde die Sherryflasche holen.“

Und genau das tat sie.

Nachdem Clarissa Gebrauch von dem warmen Wasser und der wundervoll duftenden Seife gemacht hatte, fühlte sie sich viel besser. Als sie wieder hinunterging, fand sie den Tisch gedeckt vor, und ihre Freundinnen erwarteten sie. Mrs. Warbler schenkte ihr ein allzu großzügiges Glas Sherry ein. Das Brot war noch warm.

„Essen Sie, essen Sie. Wir legen hier keinen Wert auf Förmlichkeiten, wie Sie wissen“, meinte Mrs. Warbler.

Das Essen schmeckte köstlich, selbst das kalte Hühnchen. Doch sobald ihr Hunger sie nicht mehr vereinnahmte, konnte sie die Wahrheit nicht länger für sich behalten.

„Ich wurde entlassen“, platzte sie heraus, um den beiden Frauen begreiflich zu machen, dass Wiedersehensfreude unangebracht war. Clarissa hatte sie beschämt.

Mrs. Warbler drückte ihr das Sherryglas in die Hand und schloss Clarissas Finger darum. „Emerald Emsdale ist berüchtigt dafür, ihren Angestellten aus heiterem Himmel den Laufpass zu geben. Sie sind nicht die Erste, und Sie werden nicht die Letzte sein. Trinken Sie.“

„Wieso haben Sie mir das nicht gesagt?“, fragte Clarissa.

„Um Sie zu entmutigen? Nein, auf keinen Fall. Außerdem hatten Sie keine Referenzen. Irgendwo mussten Sie anfangen. Und nun kein weiteres Wort mehr, bevor Sie Ihren Sherry ausgetrunken haben.“

Clarissa wäre eine Tasse Tee lieber gewesen. Dennoch tat sie wie geheißen und nippte zögerlich am Sherry. Er schmeckte gut. Ehe sie sichs versah, hatte sie das Glas geleert.

Mrs. Warbler füllte es erneut.

Clarissa leerte auch das zweite Glas.

„Elizabeth“, mahnte Mrs. Summerall, „vielleicht wäre eine schöne Tasse Tee angebracht.“

„Aber Sherry wirkt belebend“, wandte Mrs. Warbler ein und nahm einen Schluck von ihrem dritten Glas. Sie hielt ihren Sherry in Ehren.

„Vielleicht“, erwiderte Mrs. Summerall. „Aber du möchtest doch ihre Geschichte hören, oder?“

„Jane, koch Tee.“ Mrs. Warbler drehte sich auf ihrem Stuhl, sodass sie Clarissa ansehen konnte. „Also, was ist geschehen? Denn ich kenne Sie, meine Liebe. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass Sie nicht Ihr Bestes gegeben haben.“

„Das habe ich, und doch war es niemals gut genug.“

„Ich habe Sie davor gewarnt, dass sie ein Sauertopf ist. Emerald hat immer gern herumgemäkelt und sich beschwert. Schon in der Schule. Ich glaube, sie ist nicht glücklich, wenn sie nicht unglücklich ist.“

„Gewarnt haben Sie mich, aber ich war überzeugt davon, sie zufriedenstellen zu können.“ Clarissas Überzeugung hatte ihre Berechtigung. Normalerweise konnte sie selbst mit den heikelsten Menschen umgehen. Es lag ihr einfach.

Vor vierundzwanzig Jahren war Clarissa als Neugeborenes auf den Stufen vor der Kirche St. Martyr’s ausgesetzt worden. Der alte Pfarrer Taylor und dessen Frau hatten sie adoptiert und waren herzensgut zu ihr gewesen. Allerdings hatten sie ihr stets vor Augen gehalten, dass sie sich glücklich schätzen könne, weil sie auch in einem Waisenhaus hätte landen können. Stattdessen hatte sie den Großteil ihres Lebens als Pfarrerstochter in den Dienst der Gemeinde gestellt. Dafür hatte sie liebenswürdig und umsichtig sein müssen. Sie hatte immerzu die Bedürfnisse anderer vorausahnen und sich stets und überall anpassen müssen. Nachdem die Taylors gestorben waren, hatten die Matronen sie bei Squire Nelson und dessen Familie untergebracht. Auch für einen Ehemann hatten sie gesorgt. Clarissa war keine Närrin. Sie wusste, dass Mr. Thurlowe dazu gedrängt worden war, um ihre Hand anzuhalten. Leider waren all die Bemühungen der Matronen vergebens gewesen.

Doch welch bessere Vorbereitung auf eine Anstellung als Gesellschafterin hätte es geben können?

„War sie je zufrieden mit Ihnen?“, erkundigte sich Mrs. Summerall.

„Oh ja.“ Dankbar lächelte Clarissa zu Jane auf, die ihr eine Tasse starken Tee vorsetzte. Der Sherry war zwar belebend gewesen, doch war ihr davon leicht schwindelig. Jane war auch so vorausschauend gewesen, einen weiteren Teller mit Brot zu bringen. „Mrs. Emsdale hat behauptet, nie eine aufmerksamere Gesellschafterin gehabt zu haben.“

Dieses Kompliment hatte Clarissa mit Stolz erfüllt, auch wenn die Arbeit bei der alten Dame bedeutet hatte, neben den grob unhöflichen Kommentaren eine geradezu tödliche Langeweile ertragen zu müssen. Einer streitsüchtigeren, schwierigeren Person würde sie hoffentlich niemals begegnen. Mrs. Emsdale war manchmal die halbe Nacht lang wach gewesen und hatte von Clarissa erwartet, ihr vorzulesen oder mit ihr Karten zu spielen. Tagsüber hatte sie stundenlang Spitzen geklöppelt und dabei aberwitzige Befehle auf Clarissa abgefeuert. Schieb die Vase da nach links, Clarissa. Nein, das ist zu weit. Schieb sie zurück. Nicht ganz zurück. Nach links, und so weiter und so fort, bis Clarissa in aller Höflichkeit hätte schreien mögen.

Aber das teilte sie Mrs. Warbler und Mrs. Summerall nicht mit, damit diese nicht schlecht von ihr dachten. Stattdessen wartete sie auf die Frage, die unweigerlich folgen würde … und Mrs. Warbler enttäuschte sie nicht.

„Also, weshalb hat sie Sie entlassen?“

Clarissa nahm einen Schluck Tee, ehe sie erklärte: „Mrs. Emsdale hat einen Enkel, dem sie sehr zugetan ist …“

„Warner“, warf Mrs. Warbler ein, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Warner?“, echote Mrs. Summerall.

„Eine rechte kleine Kröte. Vergangenes Jahr hat sie ihn zur Duchess geschickt in der Hoffnung, Ihre Gnaden würde Winderton dazu zu bringen, ihn für einen Regierungsposten zu empfehlen.“ Sie meinte Lucy, die Dowager Duchess of Winderton, eine weitere Matrone von Maidenshop. Der Winderton, von dem sie sprachen, war der gegenwärtige Duke. „Ihre Gnaden hat berichtet, der Bursche sei beschränkt.“

„Oh, das ist er“, versicherte Clarissa ihnen. „Und gemein. Aber Mrs. Emsdale ist ganz vernarrt in ihn.“

„Was hat er getan?“, fragte Mrs. Warbler, als wüsste sie es bereits.

Clarissa spürte ihre Wangen heiß werden. „Ich habe ihn nie ermutigt.“

Mrs. Warbler legte ihr begütigend eine Hand auf den Arm. „Das denkt auch niemand von uns.“

„Er hat seine Absichten sehr aufdringlich verfolgt“, erzählte Clarissa. „Allerdings nie, wenn seine Großmutter zugegen war. Ich meine, die anderen Angestellten haben es gesehen, jedoch nichts gesagt, nicht einmal, wenn er mich in eine äußerst unbehagliche Lage gebracht hat.“

„Natürlich war er rüde“, kommentierte Mrs. Warbler. „Was kann man von jemandem erwarten, der Warner heißt?“

Clarissa entspannte sich ein wenig. Dass ihre Freundinnen ihr offenbar glaubten, machte ihr Mut. Die übrige Geschichte sprudelte nur so aus ihr heraus. „Ich habe mich gegen seine Avancen verwehrt. Wiederholt. Eines Nachts wollte ich zu Bett gehen, und er lag darin. Ohne Kleidung.“ Sie wünschte, sie hätte dieses Bild aus ihrem Kopf löschen können.

„Unerhört“, bemerkte Mrs. Summerall voller Inbrunst.

„Schamlos“, bekräftigte Mrs. Warbler, die Lippen angewidert verzogen. „Eine höchst unschöne Eigenschaft an einem Mann.“

„Das alles war unschön“, sagte Clarissa.

Mrs. Summerall beugte sich vor. „Wie ging es weiter?“ Sogar Jane drückte sich in der Nähe des Tisches herum, um die restliche Geschichte zu hören.

„Ich habe ihm befohlen zu gehen“, antwortete Clarissa. „Stattdessen ist er aus dem Bett gesprungen und über mich hergefallen.“

Alarmiert packte Mrs. Summerall sie am Arm. Jane keuchte. Mrs. Warbler zog die Brauen zusammen und fragte: „Wie haben Sie reagiert?“

„Ich habe die Flucht ergriffen. Ich habe die Tür aufgerissen und bin hinaus auf den Korridor gerannt. Er ist mir gefolgt. Daraufhin habe ich ihn fortgestoßen und bin zur Tür am Ende des Korridors gestürzt, welche die Dienstbotenquartiere von den Räumlichkeiten der Familie trennt. Beim Öffnen habe ich gesehen, dass er mir nacheilen wollte. Die Tür geht nach innen auf. Ich habe sie zugeschlagen, so fest ich konnte …“ Sie verstummte, als die Erinnerung über sie hereinbrach. „Er hat die Tür umklammert, um mich aufzuhalten.“ Sie schaute die beiden Frauen an, um Verständnis flehend.

„Und?“ Die Frage kam von Jane.

„Ich habe ihm die Finger in der Tür eingeklemmt. Ich bin recht stark. Oder er ist sehr schwach. Jedenfalls könnte ich ihm einige Finger gebrochen haben. Ich habe all meine Kraft eingesetzt.“

Eine Sekunde des Schweigens verstrich, derweil die Frauen das Gesagte verarbeiteten, und schließlich brach Jubel los.

„Sie haben die Hand dieses Halunken in der Tür eingeklemmt? Und er war splitterfasernackt?“, hakte Mrs. Warbler nach. „Zu schade, dass es nicht sein bestes Stück war.“ Sie brach in Gelächter aus, in das Jane und Mrs. Summerall einfielen.

„Sie verstehen nicht“, meinte Clarissa besorgt. „Er wurde verletzt. Nie zuvor habe ich einen Mann so laut brüllen gehört. Er hat die übrigen Dienstboten geweckt. Und Mrs. Emsdale, der ich gerade erst entkommen war, nachdem sie in ihrem Bett eingenickt war. Er ist herumgehüpft und hat sich die Finger gehalten. Es war ein grausiges Bild.“

„Zweifellos“, pflichtete Mrs. Warbler ihr bei, kaum fähig, ihre Heiterkeit zu bezähmen.

„Herrje.“ Mrs. Summerall hatte sich eine Hand vor den Mund geschlagen, und ihre Augen waren vor Lachen zu Schlitzen verengt. „Wie mein Mann sagt, die Wege des Herrn sind unergründlich.“

„Ich denke, er hat bekommen, was er verdient hat“, befand Jane.

„Und daraufhin wurde ich entlassen“, endete Clarissa, die das Ganze keineswegs amüsant fand.

„Wieso hat sie Sie entlassen, wenn es doch ihr Enkel war, der sich schändlich gebärdet hat?“, fragte Mrs. Summerall forsch. „Sie haben ihn nicht absichtlich verletzt.“

„Das hätte sie aber tun sollen“, murmelte Mrs. Warbler.

„Ich habe nur versucht zu fliehen“, erklärte Clarissa. „Aber Mrs. Emsdale hat mir nicht geglaubt, als ich ihr sagte, dass er mich angegriffen hat.“ Mrs. Emsdale hatte ihr so manche Beleidigung an den Kopf geworfen mit der Botschaft, dass sich ihr Enkel niemals dazu herablassen würde, Clarissa auch nur zu beachten. „Sie war der Ansicht, was immer auch geschehen sein mag, ich hätte es selbst provoziert. Dabei habe ich ihn nie ermuntert. Nie.“

„Und wir glauben Ihnen“, erklärte Mrs. Warbler.

Es war eine schlichte Feststellung, und doch wärmte sie Clarissa das Herz. Sie glaubten ihr. „Mrs. Emsdale tut dies nicht. Ihr Enkel hat behauptet, ich hätte ihn verführt und er wäre seiner männlichen Schwäche erlegen.“

„Seiner Schwäche?“, wiederholte Mrs. Warbler. „Oh, bitte erzählen Sie uns noch einmal, wie er völlig hüllenlos im Korridor herumgetanzt ist.“

„Er trug nicht einmal Strümpfe“, berichtete Clarissa, und abermals prusteten die Frauen los.

Clarissa indes fand nichts Komisches daran. „Sie sind die Einzigen, die mir zugehört haben. Mrs. Emsdale hat mich aussehen lassen wie eine Art Delila, und alle Dienstboten haben beipflichtend genickt.“

„Weil sie ihre Löhne zahlt“, bemerkte Jane.

„Sie hat mich ohne Empfehlung vor die Tür gesetzt, mitten in der Nacht.“ Nie zuvor hatte Clarissa sich so sehr gefürchtet wie neulich, als sie durchs finstere London geirrt war. „Und apropos Löhne, sie hat mich nicht bezahlt. Sie hat behauptet, ich hätte sie zu tief enttäuscht. Wenigstens das Quartalsgehalt, das sie mir in Aussicht gestellt hat, hätte ich bekommen sollen …“

„Knauseriges Weib“, knurrte Mrs. Warbler.

„Aber was mich am meisten besorgt, ist die Meinung der Leute hier im Dorf“, schloss Clarissa. „Ich habe versagt. Ich habe beweisen wollen, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann, so wie Kate und Gemma.“ Kate war Kate Balfour, die vor ihrer Heirat mit Mr. Balfour eine berühmte Schauspielerin gewesen war. Neds Ehefrau Gemma war eine gefragte Heilerin gewesen und hatte das Garland florieren lassen. Beide Frauen hatten mit ihrem jeweiligen Unterfangen Erfolg gehabt, bevor sie sich vermählt hatten. Bei ihnen hatte es leicht angemutet.

„Ich kann nicht auf eigenen Füßen stehen“, stellte Clarissa fest. „Dabei wollte ich erst nach Maidenshop zurückkehren, wenn ich bewiesen hätte, dass ich dazu in der Lage bin. Aber ich hatte keine Wahl. Ich konnte nirgendwo sonst hin.“

Mrs. Summerall legte mitfühlend eine Hand auf Clarissas. „Ich bin froh, dass Sie zu uns zurückgekommen sind. Und ich finde, es war sehr mutig von Ihnen, Ihren Angreifer abzuwehren.“

„Ich hatte keine große Angst vor Warner“, gab Clarissa zu. „Er sah so albern aus, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm wehgetan hatte.“

Ich nicht“, hielt Mrs. Warner dagegen. „Glauben Sie mir, Kind, er hatte die feste Absicht, sich Ihnen aufzuzwingen.“

„So wie er es vermutlich bei einem Dienstmädchen getan hat, das entlassen worden war, kurz bevor ich ins Haus kam. Es wurde gemunkelt, sie habe eine lose Moral gehabt und sei ‚in anderen Umständen‘ gewesen. Ich fühle mich furchtbar, weil ich geglaubt habe, was man mir über sie erzählt hat. Nun weiß ich es besser. Ich sollte Gerüchten keinen Glauben schenken.“

„Jedenfalls nicht allen Gerüchten, aber seien Sie unbesorgt“, sagte Mrs. Warbler. „Wir werden etwas für Sie finden. Wir Matronen werden die Köpfe zusammenstecken und uns etwas einfallen lassen. Einstweilen werden Sie bei Jane und mir wohnen.“

„Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen“, wandte Clarissa ein. „Ich werde tun, was immer Sie wollen. Gewiss kann ich mich nützlich machen.“

„Keine Sorge“, beteuerte Mrs. Warbler. „Alles wird gut werden. Jetzt trinken Sie Ihren Sherry aus …“

Das Frauengespräch fand ein abruptes Ende, als die Vordertür zugeschlagen wurde. „Hallo!“, rief eine barsche Männerstimme eine Sekunde, bevor schwere Schritte von den Dielen widerhallten und der Earl of Marsden in der Tür erschien, ohne Hut.

Fast war es, als wäre er vom Himmel gefallen. Gerade noch waren sie allein im Zimmer gewesen, ehe jäh der Ruf ertönt war und dieser riesenhafte, unverschämte Mann auch schon in ihre traute Runde platzte.

Weder mochte noch schätzte Clarissa den Earl. Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.

Sie kannte ihn schon ihr ganzes Leben lang, und nie war ihr ein selbstsüchtigerer, faulerer, rüpelhafterer Kerl begegnet. Nun – zumindest nicht, bis sie Mr. Warner Emsdale kennengelernt hatte … doch der Earl hätte jahrelang Zeit gehabt, ihren Eindruck von ihm zu revidieren, und hatte die Chance ungenutzt verstreichen lassen.

Er war hochgewachsen und breitschultrig und hatte lange, lange Beine. Er war einer jener Männer, die einen Raum gänzlich zu vereinnahmen schienen. Sie musste ihm zugestehen, dass er attraktiv war, wenngleich sein markanter Kiefer für ihren Geschmack zu forsch wirkte. Jetzt gerade sah er aus, als hätte er eine harte Nacht hinter sich. Er war unrasiert, und sein ungebärdiges Haar war vom Wind zerzaust. Sie erinnerte sich, dass er in jüngeren Jahren das weißblonde Haar eines Wikingers gehabt hatte. Nun hatte es die Farbe von Wintergetreide.

Zum ersten Mal hatte sie sich im Alter von sechs Jahren über den Earl geärgert. Sie war aus Versehen in eine Pfütze gefallen, und der weiße Baumwollstoff ihres Lieblingskleides hatte sich rasch mit schlammigem Wasser vollgesogen, sodass es unrettbar ruiniert gewesen war. In heller Panik hatte sie sich gefragt, wie sie dies Mrs. Taylor erklären sollte – und da hatte sie ihn lachen gehört. Noch heute sah sie im Geiste deutlich seine amüsierte Miene vor sich.

Doch damit nicht genug. Im Laufe der Jahre hatte er sie immer wieder aus dem Hinterhalt mit Bosheiten gepeinigt. Ganz gleich, was sie getan hatte, stets war er zur Stelle gewesen.

Sogar in der schlimmsten Nacht ihres Lebens, als sie erkannt hatte, dass der Mann, mit dem sie jahrelang verlobt gewesen war, eine andere liebte und ihre einzige Chance auf eine gesicherte Zukunft somit dahin war, hatte Marsden äußerst gefühllos reagiert. Er hatte sie sich gar zur Brust genommen, als wäre er Rektor der Schule des Lebens, und ihr einen Vortrag gehalten, als spräche er zu einem Schafskopf. Dabei hatte er den Umstand ignoriert, dass er selbst bereits zu tief ins Glas geschaut hatte. Was nicht verwunderlich war. Trinken war das einzige Talent dieses Mannes.

Abgesehen von diesen Unzulänglichkeiten gab es noch etwas Vages, das sie nicht zu benennen vermochte. Keine Furcht im eigentlichen Sinne … eher eine Art Gespür. Marsden war gleichsam ein dunkler Schatten in ihrem Leben, der ihr in schwachen Momenten auflauerte.

Daher überraschte es sie nicht, dass er ausgerechnet jetzt aufgekreuzt war.

Sie wappnete sich, denn ihr war klar, dass er sich eine beißende Bemerkung nicht würde verkneifen können, sobald er erführe, was in London vorgefallen war.

Allerdings beachtete er sie gar nicht. Stattdessen stand er verlegen vor dem Tisch und hielt ein Deckenbündel in den Armen, als wüsste er nichts Rechtes mit sich anzufangen. „Ich habe geklopft. Als mir niemand geöffnet hat, bin ich einfach hereingekommen.“ Er trug Reitkleidung, und selbst ohne Hut wirkte er wie der Inbegriff eines Reiters vom Lande. Hellbraune Leder-Breeches umschmiegten kräftige Oberschenkel, und seine Stiefel waren staubig vom Ritt. Er trug einen Rock aus feinstem flaschengrünem Kammgarn, um dessen Qualität Clarissa ihn hätte beneiden können.

Mrs. Warbler erhob sich. Wie alle Matronen hatte auch sie eine heimliche Schwäche für den Earl. Sie verzieh ihm all seine Eskapaden, seiner offenkundigen Verachtung für die Matronen zum Trotz. Sie kannten ihn nicht so gut, wie Clarissa es tat.

„Schon in Ordnung, Mylord“, sagte Mrs. Warbler. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

„Das hoffe ich.“ Er hatte Clarissa keines Blickes gewürdigt. „Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll.“

„Ihr?“, echote Mrs. Warbler.

In dem Augenblick erschien ein winziger Fuß in einem winzigen Schuh aus dem oberen Ende des Deckenbündels.

„Oh Gott“, stieß Marsden hörbar erschrocken aus. Er drehte das Bündel in seinen Armen um, und nun lugte ein Koboldköpfchen, umgeben von glattem schwarzem Haar, hervor. Empörung spiegelte sich in der Miene.

Ein Säugling?

Clarissa wusste, sie war nicht die Einzige, die erschüttert war.

Das Kind kniff die Augen zusammen, leicht verwirrt dreinblickend.

Clarissa stand auf. „Oh Herr.“ Es war nicht als respektvolle Anrede, sondern als aufrichtige, entsetzte Anrufung einer höheren Wesenheit gemeint. „Haben Sie das Kind etwa verkehrt herum gehalten?“

„Ich fürchte, ja“, gestand er und sah beinahe ebenso schockiert über das Kind in seinen Armen aus wie die Frauen. „Ich meine, nur kurz … offenbar.“

Das Kind verzog das Gesicht. „Oh nein, jetzt geht es wieder los. Sie hört einfach nicht auf“, murmelte er, kurz bevor das Baby entrüstet losbrüllte. Clarissa hatte Verständnis dafür. Das Kind begehrte gegen den lieblosen Umgang auf – oh ja, das konnte sie absolut nachvollziehen.

Clarissa streckte die Hände nach dem Kind aus. Sie war die Einzige, die sich rührte. Die anderen Frauen waren zu verblüfft.

Zu ihrem Erstaunen hielt er es fest. „Sie gehört mir“, sagte er.

„Wissen Sie, was Sie da tun?“, fragte Clarissa.

„Nein.“

„Nun, dann geben Sie sie mir.“

Das tat er, ja er drückte sie ihr regelrecht in die Arme.

3. KAPITEL

Frauen haben durchaus einen Platz

in der Gesellschaft …

wenngleich ich nicht zu sagen vermag, welchen.

Buch des Mars

In dem Moment, da Mars seine kleine Tochter an Miss Taylor weitergab, wurden ihm vor Erleichterung die Knie weich.

Dora war in Sicherheit. Sie war unter Frauen. Die würden wissen, was zu tun war. Er konnte sich entspannen.

Autor

Cathy Maxwell
Cathy Maxwell beschäftigt sich am liebsten mit der Frage, wie und warum Menschen sich verlieben. Obwohl sie bereits über 35 Romane veröffentlicht hat, bleibt die Liebe für sie weiterhin eines der größten Mysterien! Um weiter zu diesem Thema zu forschen, verlässt sie gerne ihr gemütliches Zuhause in Texas und reist...
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