Die Nacht, in der er zurückkehrte

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Was war das? Atemlos lauscht Easton. Ein Geräusch in dem großen, stillen Haus hat sie aus einem wundervollen Traum gerissen. Natürlich ging es darin mal wieder um Cisco, in den sie sich als Teenager verliebte, mit dem sie eine zärtliche Nacht verbrachte, der sie verließ ... Da ist das Geräusch schon wieder! Vorsichtig schleicht sie die Treppe hinunter - und steht unvermittelt dem Mann aus ihrem Traum gegenüber. Cisco ist zurück! Und er hat ein entzückendes Baby auf dem Arm, das Easton schmerzlich klar macht, was hätte sein können. Ist es wirklich zu spät?


  • Erscheinungstag 15.10.2013
  • Bandnummer 1906
  • ISBN / Artikelnummer 9783733730567
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Erschrocken fuhr Easton Springhill aus dem Tiefschlaf hoch. Was war das für ein komisches Geräusch gewesen?

Schläfrig blinzelte sie auf ihren Wecker, der die unchristliche Zeit von morgens halb fünf anzeigte. Wie immer hatte sie die Vorhänge offen gelassen, damit sie beim Aufwachen auf die schneebedeckten Berggipfel blicken konnte. Doch jetzt sah sie nur die Sterne am dunklen Nachthimmel glitzern.

Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich auf das Kopfkissen zurückfallen. So schnell würde sie nicht wieder einschlafen, zumal der Wecker ohnehin in einer Stunde klingeln würde.

Wie ärgerlich. Sie hasste es, kurz vor dem Weckerklingeln aufzuwachen. Noch dazu, wenn sie aus einem schönen Traum gerissen wurde. Zu gern hätte sie weitergeträumt, denn wie so oft in ihren Träumen war es um ihn gegangen.

Aber vielleicht war es besser, dass sie aufgewacht war. Immer, wenn sie von ihm träumte, war sie am nächsten Tag in einer seltsam erregten Stimmung – so, als hätte sie ihn wiedergewonnen, wenn auch nur in ihrem Unterbewusstsein. Gleichzeitig war sie deprimiert, dass die Realität anders aussah und sie die harte Arbeit auf der Ranch in Idaho allein bewältigen musste.

Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Wie konnte sie so etwas denken? Sie hatte doch ein wundervolles Leben, ihre Freunde, ihre Verwandten mit der kleinen Nichte und dem Neffen. Und sie liebte die Winder Ranch.

Ihr fehlte nur das eine, oder besser der eine.

Sie setzte sich im Bett auf und überlegte, wovon sie wohl aufgewacht war. Jack und Suzy, ihre beiden Collies, bellten draußen auf dem Hof. Doch die bellten immer, egal, ob eine Kuh entlaufen war oder eine Maus über den Hof lief.

Wie auch immer, da sie sowieso nicht mehr einschlafen würde, konnte sie ebenso gut aufstehen und die freie Stunde genießen, bevor sie sich an die Arbeit machte.

Als sie eben nach ihrem Morgenmantel greifen wollte, hörte sie wieder das komische Geräusch. Es kam von unten und hallte durch das große, leere Haus.

Sie erstarrte mitten in der Bewegung und spitzte die Ohren. Es klang wie eine Mischung aus Schreien und Jaulen. Gleich darauf klackerte etwas auf den Boden, als ob eine Plastikschüssel aus dem Küchenschrank auf die Steinfliesen gefallen wäre.

Ihr Herz fing an zu rasen, und sie bekam ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie wünschte, sie hätte einen der Hunde mit ins Haus genommen.

Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln, zog den Morgenmantel über das uralte Garfield-T-Shirt, das einer der Jungen vor Jahren zurückgelassen hatte, und griff nach der Schrotflinte ihres Onkels. Brant hatte darauf bestanden, das sie die unter ihrem Bett aufbewahrte.

Immerhin lebte sie allein auf einer abgelegenen Ranch. Die nächsten Nachbarn wohnten meilenweit entfernt, und keine einigermaßen vernünftige Frau würde darauf verzichten, sich im Notfall selbst verteidigen zu können. Und das konnte sie; immerhin war sie mit drei Ziehbrüdern aufgewachsen, die ihr alles Nötige beigebracht hatten.

Mit zitternden Fingern suchte sie in ihrer Nachttischschublade nach den Schrotpatronen und lud die beiden Läufe.

Vorsichtshalber steckte sie noch ihr Handy in die Tasche ihres Morgenmantels für den Fall, dass sie die Polizei zu Hilfe rufen musste. Sie scheute sich, gleich anzurufen, vielleicht hatte sich ja bloß ein Waschbär in ihre Küche verirrt.

Beherzt stieß sie die Schlafzimmertür auf und ärgerte sich einmal mehr darüber, dass sie nach Jos Tod nicht ins Erdgeschoss gezogen war, wo es ebenfalls zwei Schlafzimmer gab. Aber irgendwie hing sie an ihrem Mädchenzimmer im ersten Stock, das sie bewohnte, seit sie nach dem Tod ihrer Eltern ins Farmhaus gezogen war.

Leise ging sie die Treppe hinunter. Kurz vor der knarrenden Stufe, der die Jungs früher immer ausgewichen waren, wenn sie spät nach Hause kamen, hörte sie von Neuem den seltsamen Laut. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und sie umfasste die Schrotflinte fester.

Das hörte sich so gar nicht nach einem Waschbär an, eher nach einem Berglöwen.

Ihr fiel ein, dass sie am Tag zuvor am Rand der Nordweide Spuren bemerkt hatte. Aber würde eine Wildkatze ins Haus kommen, selbst wenn ein Fenster offen stünde? Noch nie hatte sie davon gehört, dass ein Puma in ein bewohntes Haus eingedrungen wäre. Die Tiere waren Einzelgänger und mieden nach Möglichkeit den Kontakt mit Menschen.

Genau wie Cisco.

Da sah man wieder mal, wohin es führte, wenn sie von ihm träumte. Am nächsten Tag fiel er ihr dann bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit ein.

Als sie unten an der Treppe ankam, setzte ihr Herz für einen kurzen Moment aus. Sie hätte schwören können, dass sie am Abend zuvor das Küchenlicht ausgemacht hatte. Es gehörte zu ihrem Ritual vor dem Zubettgehen, dass sie durch das Haus ging und nachsah, ob alle Lampen gelöscht und die Türen und Fenster geschlossen waren.

Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Berglöwe, selbst wenn er die Klauen noch so weit ausstrecken konnte, das Licht anmachen würde.

Aus der Küche kam ein Geräusch von splitterndem Glas, und gleich darauf folgte ein unterdrückter Fluch.

Definitiv kein Puma, sondern ein menschliches Wesen.

Die Schrotflinte fest umklammernd, drückte sie sich an der Wand entlang. Sollte sie sich in ihr Büro schleichen und den Notruf wählen oder den Eindringling selbst stellen?

Was aber, wenn es mehrere Einbrecher waren? Besser erst die Polizei rufen.

Vorsichtig bewegte sie sich auf ihre Bürotür zu, als sie plötzlich ein Quieken hörte, fast ein Kichern, und dann eine tiefe Stimme als Antwort.

Sie kannte zwei süße Babys, die auch solche quiekenden Geräusche von sich gaben, aber die würden sie wohl nicht mitten in der Nacht besuchen. Joey Southerland, der zehn Monate alte Sohn von Quinn und Tess, schlief bestimmt friedlich in seinem Bett in Seattle, und die kleine Abby Western bei ihren Eltern Mimi und Brant in Los Angeles.

Wenn sie es nicht waren, wer konnte es dann sein?

Um das herauszufinden, würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als in die Küche zu gehen. Danach könnte sie, falls nötig, immer noch die Polizei anrufen.

Sie schlich zur Küchentür und riss sie auf. „Keine Bewegung, oder ich schieße!“, rief sie und bemühte sich vergebens, ihrer Stimme den nötigen Nachdruck zu verleihen.

Es dauerte einen Moment, bis sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatte und etwas erkennen konnte.

Als sie sah, wer da in ihrer Küche stand, schoss ihr spontan der Gedanke durch den Kopf, dass ihr ein Berglöwe lieber gewesen wäre. Dann hätte sie wenigstens gewusst, was sie tun müsste. Doch mit diesem gefährlichen Mann ihr gegenüber, der etwas im Arm hielt – ein Baby …?

„Verdammt, East, du hast mich zu Tode erschreckt!“

Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Das konnte doch nicht wahr sein. Vielleicht träumte sie ihren komischen Traum weiter. Warum sollte Cisco del Norte in ihrer Küche stehen, mit einem schwarz gelockten Baby im rosa Samtanzug im Arm?

Nein. Die Schrotflinte in ihrer Hand war real, ebenso wie der Mann in ihrer Küche, der sie aus müden Augen anblickte und aussah, als hätte er sich tagelang nicht rasiert. Seine Kleidung hatte auch schon bessere Zeiten gesehen.

Und er hielt definitiv ein Baby im Arm.

Sie legte die Schrotflinte beiseite und trat näher. „Du hast Glück, dass ich nicht gleich geschossen habe. Was machst du hier, Cisco? Warum hast du nicht angerufen? Und was ist das für ein Baby?“

Die Kleine auf seinem Arm fing wieder an, fröhlich zu glucksen, und Easton sah, dass sie gebräunte Haut und schwarze Locken wie Cisco hatte. Ihre Augen waren groß und blau, und sie hatte süße Grübchen in den Wangen.

Das Kind mochte ebenso alt wie Joey und Abby sein, aber darin war Easton kein Experte. Das Alter eines Kalbs konnte sie nach einem bloßen Foto bestimmen, aber bei Menschen fiel ihr das nicht so leicht.

„Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Cisco.

„Am besten fängst du ganz von vorne an und erzählst mir, warum ich ewig nichts von dir gehört habe. Und wie es kommt, dass du um fünf Uhr morgens mit einem Baby im Arm in meiner Küche stehst und aussiehst, als wärst du in einen Tornado geraten.“

Er seufzte, und sie bemerkte die feinen Linien um seinen Mund, den Anflug von Härte, der den jugendlichen Charme von früher überdeckte. Noch nie hatte sie ihn so erschöpft gesehen.

„Tut mir leid. Vielleicht hätten wir lieber in ein Hotel gehen sollen. Aber wir sind gestern von Bogotá nach Salt Lake City geflogen, und als wir spät abends ankamen, war Isabella in ihrem Babysitz eingeschlafen. In dem Mietauto schlief sie dann weiter, ohne auch nur einmal aufzuwachen, obwohl ich zwischendurch tanken musste.“

„Das erklärt nichts, außer dass das Baby Isabella heißt.“ Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: „Und dass du aus Kolumbien kommst.“

Cisco hatte schon immer ein Talent zum Geschichtenerzählen, zum Erfinden von Gründen und Ausreden gehabt. Als er noch in die Schule gegangen war, hatte sich das für ihn als sehr praktisch erwiesen, weil er damit die Lehrer hatte austricksen können. Aber diejenigen, die ihn kannten und liebten, fielen meist nicht darauf herein.

„Entschuldigung, was hattest du gerade gefragt?“

Sie sah, dass er sich vor Erschöpfung mit einer Hand am Küchentisch abstützte, und nahm ihm das Baby ab.

Als die Kleine sich weich in ihren Arm schmiegte, spürte Easton einen schmerzhaften Stich. „Seit wann hast du denn nicht geschlafen?“, fragte sie.

Er blinzelte sie müde an. „Was ist denn heute für ein Tag?“

Diesmal war sie sicher, dass das nicht scherzhaft gemeint war. „Mittwoch. Und wenn ich dich so ansehe, würde ich sagen, dass du zuletzt am Sonntag oder Montag ein Bett gesehen hast.“

„Könnte hinkommen.“

Isabella patschte mit den Händen auf Eastons Wangen und gluckste vor Vergnügen. Easton lächelte sie an, bevor sie sich mit ernstem Gesicht Cisco zuwandte. „Was hast du dir dabei gedacht, in diesem Zustand Auto zu fahren? Mit einem Baby auf dem Rücksitz!“

„Du kennst mich doch“, erwiderte er mit schiefem Lächeln. „Ich habe immer noch einen Schub Energie in Reserve.“

Nein, sie kannte ihn nicht. Nicht mehr. Früher waren er und seine Ziehbrüder Brant und Quinn ihre besten Freunde gewesen. Sie hatten alle Geheimnisse geteilt und ihren gemeinsamen Träumen nachgehangen.

Und dann hatte sich alles verändert.

Das Baby griff in ihre Haare und zog an einer Strähne. Easton spürte, wie ihr die Tränen kamen, denn der Schmerz erinnerte sie an einen tieferen, nicht körperlichen Schmerz. Als sie ein anderes dunkelhaariges Baby im Arm gehalten hatte, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

„Wirklich, East, es tut mir schrecklich leid, dass ich dich so überfallen habe. Ich hätte dich anrufen sollen, aber wir sind erst nach Mitternacht in Salt Lake City angekommen.“

Keine Erklärung, was er hier mit einem fremden Baby machte. Typisch für ihn, Fragen nicht direkt zu beantworten.

„Ich wusste nicht, wo ich sonst hätte hingehen sollen. Meinst du, ich könnte für ein paar Tage hierbleiben?“

Ihr erster Impuls war, ihm symbolisch die Tür vor der Nase zuzuschlagen, damit sie nicht von Neuem verletzt wurde.

Sie atmete tief durch. Nein, inzwischen war sie stärker geworden. Wenn sie ganz allein eine Ranch bewirtschaften konnte, dann würde sie wohl ein paar Tage mit Cisco del Norte und seinem mysteriösen Kind aushalten. „Du weißt, dass genug Platz hier ist. Ich wohne allein in diesem Riesenhaus. Außerdem hast du genau wie Brant und Quinn einen Anteil an der Ranch. Ich kann dich gar nicht rauswerfen.“

„Obwohl du es gern tätest?“

Sie zuckte die Achseln und lächelte das Baby an, das sie anstrahlte und dabei zwei winzige Zähne sehen ließ.

„Ist das deins?“

Überrascht stellte sie fest, dass ihre Frage ein wenig Farbe in sein vor Müdigkeit graues Gesicht brachte. „Nein, um Himmels willen!“, rief er. „Glaubt ihr, ich hätte euch verschwiegen, wenn ich irgendwo ein Kind hätte?“

Die bittere Ironie in dieser Bemerkung verstand nur sie selbst. „Was wissen wir schon von dir?“

„Sie ist nicht mein Kind.“

„Woher kommt sie dann, und was hast du mit ihr vor?“

Er presste die Lippen zusammen. „Das ist eine sehr lange und komplizierte Geschichte.“

Easton erwiderte nichts, sondern wartete ab. Diesen Trick hatte sie vor langer Zeit von Tante Jo gelernt, die eine unglaubliche Fähigkeit darin hatte, ihre Pflegekinder dazu zu bringen, sich um Kopf und Kragen zu reden.

Offensichtlich fiel Cisco immer noch auf diese Taktik herein. Nach einer Weile seufzte er tief und fing an zu erzählen: „Ich war mit ihren Eltern befreundet. Ihr Vater wurde schon vor ihrer Geburt ermordet, und ihre Mutter starb letzte Woche. Kurz vor ihrem letzten Atemzug hat sie mich gebeten, Isabella zu Johns Familie in die Staaten zu bringen. Die Tante lebt in Boise. Das Problem ist nur, dass ich die Frau nicht erreichen kann.“

Easton hätte noch viele Fragen gehabt, aber sie spürte, dass er physisch am Ende war. Mehr würde sie jetzt nicht aus ihm herausbekommen.

Seine Gegenwart verunsicherte sie. Die meiste Zeit sah sie sich selbst als starke Frau, die sich und ihre kleine Welt vollkommen unter Kontrolle hatte. Aber es genügte, dass Cisco durch die Tür spazierte, um alle verdrängten Gefühle wieder an die Oberfläche zu bringen.

„Wir reden später darüber. Leg dich erst mal schlafen. Ich gehe nur schnell nach oben und beziehe das Bett. Tess und Quinn haben Brants altes Zimmer als Kinderzimmer für den kleinen Joey eingerichtet, wenn sie zu Besuch kommen. Auch die kleine Abby schläft dort, wenn Brant und Mimi hier sind. Du kannst Isabella in das Kinderbett legen.“

„Du brauchst das Bett nicht zu beziehen, das kann ich selbst machen.“

„Dazu bist du glaube ich zu müde. Bei mir geht das ganz schnell.“

„Danke, East.“

Er lächelte sie befangen an, und sie spürte wieder die Spannung, die zwischen ihnen zu summen schien wie in einem elektrischen Weidezaun.

Vor fünf Jahren, vor dem Tod ihres Onkels und den Ereignissen, die damit in Zusammenhang standen, war das anders gewesen. Da waren sie noch unbefangener miteinander umgegangen.

Bevor Easton die Betten bezog, putzte sie sich schnell die Zähne, zog Jeans und T-Shirt über und band sich die Haare im Nacken zusammen.

Sie dachte an früher. Tante Jo und Onkel Guff hatten leider nicht das Dutzend Kinder bekommen, das sie sich gewünscht hatten, um all die Zimmer im Farmhaus zu bewohnen. Als sie merkten, dass sie selbst nie Kinder haben würden, begannen sie, Jungen in schwierigen Lebenssituationen aufzunehmen. Außer Cisco, Quinn und Brant hatte es noch andere gegeben, aber die Drei hatten am längsten hier gewohnt, und sie waren so unzertrennlich wie leibliche Brüder gewesen.

Selten betrat sie Ciscos altes Zimmer. Einmal im Monat kam eine junge Frau aus der Stadt und putzte das ganze Haus, sodass Easton das Betreten des Zimmers erspart blieb.

Es sah noch genauso aus wie früher. Dunkelgrün und blau gemusterte Vorhänge, eine Kommode, Stuhl und Schreibtisch, das große Bett, das ihr Vater und ihr Onkel gezimmert hatten.

Nichts Luxuriöses, aber gemütlich. Wie musste es Cisco beeindruckt haben, als er als verwaister Sohn südamerikanischer Saisonarbeiter auf die Ranch gekommen war. Zum ersten Mal im Leben hatte er ein eigenes Zimmer gehabt und nicht mehr mit seinen Eltern umherziehen müssen.

Lebhaft erinnerte sie sich an den Tag seiner Ankunft. Sie war vielleicht neun Jahre gewesen. Damals lebten ihre Eltern noch, und sie wohnten im Vorarbeiterhaus an der Einfahrt zur Ranch. Sie hatte auf dem Lattenzaun der Pferdekoppel gesessen und zugesehen, wie Brant und Quinn unter Tante Jos Aufsicht ein junges Fohlen dressierten.

Als Guff mit seinem alten Pick-up die Einfahrt hochkam, sich kurz darauf die Beifahrertür öffnete und ein Latinojunge ausstieg, hatte ihr Herz wie wild geschlagen.

Jo hatte ihnen schon von dem Jungen erzählt, den man vor einer Woche in einem Zelt in den Bergen gefunden hatte, wo er sich vor den Behörden versteckte.

Während Quinn und Brant nicht allzu begeistert auf ihren neuen Mitbewohner reagierten, freute Easton sich darauf, einen weiteren Ersatzbruder zu bekommen.

Sie erinnerte sich, dass sie von dem Lattenzaun heruntersprang und mit Jo zu Onkel Guffs Pick-up lief, gefolgt von Brant und Quinn.

Guff hatte den Arm schützend um Ciscos schmale Schultern gelegt, und ihr Herz hatte sich zusammengezogen, als sie den traurigen und verlorenen Augenausdruck des Jungen sah.

Doch plötzlich ging ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht, und in diesem Moment verliebte sie sich in ihn.

Noch immer war ihr unklar, ob es wegen der Verletzlichkeit in seinen Augen war oder wegen seines tapferen Versuchs, diese zu verstecken. Jedenfalls hatte sich seitdem an ihren Gefühlen nichts geändert.

Jahrelang hatte sie sich eingeredet, dass ihre Gefühle nichts mit wirklicher Liebe zu tun hatten. Sie hatte versucht, sich in andere Männer zu verlieben, doch vergebens.

Es war eine wirkliche Liebesgeschichte geworden.

Seufzend zog sie das Spannbetttuch über die Matratze, während ihr die schmerzhaften Ereignisse von vor fünf Jahren in den Sinn kamen.

Zwar hatte sie ihr Leben einigermaßen im Griff, doch bisher war es ihr nicht gelungen, den Schmerz von damals zu überwinden.

Obwohl sie alles versuchte. Sie ging aus, lernte Männer kennen und hatte seit ein paar Wochen sogar einen Freund, Trace Bowman, den Polizeichef von Pine Gulch. Trace war ein Mann, der alle Eigenschaften besaß, die sie sich wünschte. Er sah gut aus, hatte Humor, war ein Familienmensch und wie sie selbst auf einer Ranch aufgewachsen.

Sie hatte die Absicht, sich mit diesem Mann einzulassen, denn sie sehnte sich nach einer Familie. Jedes Mal, wenn sie Quinn und Tess mit ihrem süßen kleinen Jungen oder Brant und Mimi mit ihrer kleinen Tochter sah, wurde ihr dieser Wunsch schmerzhaft bewusst.

Wie gern würde sie das große Farmhaus mit Mann und Kindern beleben.

Sie war bereit dazu und versuchte, Cisco del Norte zu vergessen. Doch sobald er auftauchte, brachte er mit seinem verwegenen Grinsen und seinem rätselhaften Blick ihren neuen Lebensentwurf zum Einsturz.

Diesmal würde ihr das nicht passieren. Sie breitete die Patchworkdecke, die ihre Mutter zusammen mit Tante Jo im Sommer nach Ciscos Ankunft genäht hatte, über das Bett. Sie selbst hatte auch mitgeholfen, und man konnte die Stellen deutlich an den krummen Stichen erkennen.

Sie strich über die Decke und dachte wehmütig an die Zeit mit diesen beiden wunderbaren Frauen. Sie würde gern so stark wie ihre Mutter und Tante Jo sein, dann könnte sie Cisco vergessen.

Manchmal dachte sie, es würde ihr leichter gelingen, wenn er sich irgendwo niederließe, statt ruhelos in Südamerika umherzuziehen. Dann würde sie sich nicht permanent Sorgen um ihn machen.

Immer wenn er eine Ruhepause brauchte, kam er für ein paar Tage auf die Ranch, brachte ihre Gefühlswelt durcheinander und verschwand wieder. Sie würde ihn gern bitten, um ihres Seelenfriedens willen wegzubleiben. Aber sie konnte ihm das einzige Zuhause, das er hatte, nicht auch noch wegnehmen.

Diesmal allerdings würde sie sich innerlich gegen ihn wappnen, dazu war sie fest entschlossen.

2. KAPITEL

Ich hätte nicht herkommen sollen.

Cisco saß am Küchentisch und kämpfte gegen das Gefühl von Schuld und Bedauern an, das in ihm wühlte. Gleichzeitig spürte er einen tiefen Frieden, der ihn jedes Mal überkam, sobald er das Tor zur Ranch passierte.

Vor allem aber war er unendlich müde. Außerdem brannte die Stichwunde unter seinen Rippen wie Feuer.

Am liebsten würde er sich auf dem kühlen Küchenboden ausstrecken und zwei Wochen schlafen.

Die kleine Belle schlug mit ihrer Plastiktasse auf die Ablage des Hochstuhls, in dem sie saß. Easton hatte ihn aus der Abstellkammer geholt und mit der Bemerkung hingestellt: „Da sitzen Joey und Abby immer drin.“

Es war idiotisch gewesen, so blauäugig loszufliegen. Aber er war sicher gewesen, dass alles klappen würde. Sein Plan war gewesen, einen Direktflug nach Boise zu bekommen, Belle ihren Verwandten zu übergeben und sofort zurückzufliegen, ohne dass jemand erfuhr, dass er im Lande war.

Doch er hatte die Schwester seines Freundes erst kurz vor dem Abflug von Bogotá erreicht. Nur, um zu erfahren, dass sie zur Beerdigung ihres Vaters nach Montana unterwegs sei und erst in ein paar Tagen zurückkäme. Sharon Weaver war völlig schockiert über die Mitteilung vom Tod ihrer Schwägerin Soqui gewesen und hatte verstört reagiert, als Cisco ihr sagte, er sei mit ihrer Nichte unterwegs zu ihr.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass Sharon nicht in Boise sein könnte. Die Nachricht brachte seine ganzen Pläne durcheinander. Und bei der Vorstellung, mit einem neun Monate alten Baby tagelang in einem Hotel zu wohnen, geriet er in Panik.

Die Wartezeit bis zu Sharons Rückkehr auf der Ranch zu verbringen und sich gleichzeitig von seiner Schussverletzung zu erholen, erschien ihm als rettende Lösung.

Easton würde schon wissen, was zu tun war.

Daran klammerte er sich. Schon als kleines Mädchen hatte sie alle Schwierigkeiten gemeistert, ob in der Schule, auf der Ranch oder mit ihren Freunden.

Und wenn er die Winder Ranch als sein Zuhause betrachtete, dann lag es vor allem an ihr.

Sie war sein Zuhause.

Er berührte das Windrosen-Tattoo an seinem linken Unterarm mit dem verschnörkelten E direkt über der Arterie.

Belle in ihrem Hochstuhl klopfte unverdrossen mit ihrer Plastiktasse auf das Holzbrett vor ihr und krähte vor Vergnügen.

„Das findest du wohl lustig, was?“ Seine Stimme klang rau vor Erschöpfung.

„Ba-ba-ba-ba“, brabbelte das Baby vor sich hin und strahlte ihn an. Er dankte dem Himmel, dass sie ein so unkompliziertes Kind war.

Auf jeden Fall war es richtig gewesen, sie in die Staaten zu bringen, auch wenn die ganze Situation für ihn sehr schwierig war.

Außerdem war er Soqui diesen Liebesdienst schuldig. Sie hatte ihr Leben riskiert, um die Arbeit ihres Mannes fortzusetzen und seinen Tod zu rächen. Nun war sie der Drogenmafia, die ihren Mann auf dem Gewissen hatte, selbst zum Opfer gefallen.

Dass Cisco es nicht geschafft hatte, sie zu schützen, war für ihn ein Grund mehr, sein Versprechen zu halten.

Selbst wenn es bedeutete, ein paar Tage auf der Winder Ranch verbringen und mit seinen Dämonen kämpfen zu müssen.

Oder mit Easton, was auf dasselbe hinauslief.

Wie gerufen betrat sie plötzlich die Küche und brachte den Duft von Wildblumen mit sich, der immer an ihr haftete.

Sie wirkte noch immer so süß und unschuldig wie die ersten zartrosa Akeleien auf einer Bergwiese im Frühling.

Ach, East. Für einen Moment überschwemmte sein Bedauern alles andere, selbst die Sorge um Belles Zukunft. Manchmal vermisste er Easton so sehr, dass es ihm die Luft abschnürte. Selbst wenn er hier war, vermisste er sie – die wirkliche Easton, nicht die höfliche, zurückhaltende Frau, zu der er sie mit seinem zügellosen Verhalten gemacht hatte.

„Das Bett ist fertig. Du kannst dich hinlegen.“

„Danke.“

„Ich passe inzwischen auf das Baby auf. Dabei kann ich meine Büroarbeit erledigen. Zumindest, bis Burt und die anderen Arbeiter kommen.“

Burt McMasters war langjähriger Vorarbeiter auf der Ranch. Er hatte den Job ihres Vaters übernommen, nachdem dieser zusammen mit ihrer Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Damals war Easton sechzehn gewesen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Cisco sich bereits bei der Marine gemeldet und war an wechselnden Standorten eingesetzt worden. Zur Beerdigung ihrer Eltern war er nach Hause geflogen. Als er das Farmhaus betrat, war Easton auf ihn zugestürzt, hatte sich in seine Arme geworfen und verzweifelt geweint.

„In ein, zwei Stunden bin ich wieder fit“, versprach er. „Dann kann ich Belle übernehmen.“

Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu, und er konnte es ihr nicht verdenken. Vermutlich sah er wie ein völliges Wrack aus, und so fühlte er sich auch.

„Lass dir Zeit. Ich muss zwar ein paar Sachen mit Burt durchsprechen, aber das kann warten.“

„Ich habe Belle nicht hergebracht, weil ich einen Babysitter brauche.“

„Das glaube ich dir sogar.“

Aus ihrer Bemerkung hörte er die unausgesprochene Frage heraus, warum er das Baby mitgebracht habe, aber er war nicht mehr in der Lage, diese Frage zu beantworten. Wenn er sich nicht schleunigst hinlegte, würde er vom Stuhl fallen. „Danke jedenfalls. Und mir tut das alles schrecklich leid.“

Inzwischen hatte Easton sich der kleinen Belle zugewandt. Er bemerkte noch den Anflug von Trauer in ihren blauen Augen, doch gleich darauf fragte sie lächelnd: „Du hast die Windel voll, Kleines, stimmt’s?“, woraufhin Belle fröhlich in die Hände klatschte. „Geh schlafen, Cisco. Ich komme schon zurecht.“

Daran zweifelte er keinen Moment. Seine Easton kam mit allem zurecht.

Nur mit großer Mühe schaffte er es die Treppe hoch, und als er oben ankam, war er schweißgebadet. Eigentlich müsste er duschen, bevor er sich in die sauberen Laken legte, doch dazu hatte er keine Kraft mehr. Er würde sich einfach in seinen Klamotten aufs Bett legen.

In einem Zimmer, das nach Easton duftete. Er kam sich vor wie im Himmel.

„Ich komme, sobald ich kann, Burt. Tut mir leid, aber ich konnte diese kleine Komplikation nicht voraussehen.“

Easton unterdrückte einen Seufzer, weil ihr Vorarbeiter wie erwartet ungehalten reagierte. Burt McMasters war verlässlich und immer einsatzbereit. Sie mochte ihn sehr, seine schnoddrige Sprache und seinen Humor. Ohne seine tatkräftige Unterstützung hätte sie die Ranch verkaufen müssen. Doch wenn nicht alles nach Plan lief, konnte er sehr ungeduldig werden.

Autor

Rae Anne Thayne
<p>RaeAnne Thayne hat als Redakteurin bei einer Tageszeitung gearbeitet, bevor sie anfing, sich ganz dem Schreiben ihrer berührenden Geschichten zu widmen. Inspiration findet sie in der Schönheit der Berge im Norden Utahs, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern lebt.</p>
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