Ein gefährlich verführerischer Viscount

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Ihre erste Saison in London! Doch die schöne Louisa hegt nicht die geringste Absicht, einen Mann zu finden. Statt den gefährlichen Torheiten der Liebe anheimzufallen, will sie sich lieber um Menschen in Not kümmern. Zum Glück braucht ihr einsamer neuer Nachbar Viscount Wakefield offensichtlich dringend ihre Hilfe, um Ordnung in sein herrschaftliches Zuhause zu bringen. Dass ihr Herz in seiner Nähe so wunderlich erbebt, liegt sicher nur daran, dass er mit seinen schwarzen Haaren und den glühenden Augen wie ein Pirat aussieht. Aber warum wünscht Louisa sich dann insgeheim, er möge sie an sich ziehen, um ihr einen Kuss zu stehlen?


  • Erscheinungstag 25.08.2017
  • Bandnummer 97
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768188
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London, Hanover Square

November 1810

Was gibt es, Haley?“, fragte Lord Charleton und warf einen kurzen Blick zur Tür des Morgenzimmers, wo sein Sekretär wie ein aufgeregt flatternder Spatz stand. „Geht es um Rowland, hat er sich wieder in die Nesseln gesetzt?“

„Nicht, dass ich wüsste, Mylord.“

Seine Lordschaft runzelte die Stirn. „Doch nicht etwa Wakefield?“

„Ganz sicher nicht, Mylord.“

Nun schaute der Baron doch auf. „Schade. Schleicht ja nur noch in seinem Haus herum und bläst Trübsal, tagein, tagaus. Elende Verschwendung.“

„Gewiss“, entgegnete sein Sekretär, und wenn Charleton nicht alles täuschte, meinte er einen Hauch Ironie zu vernehmen, die er zwar geflissentlich überhörte, den Burschen nun aber doch scharf ins Visier nahm.

Haleys Kiefer schob sich vor und zurück, als wären ihm die Worte im Hals stecken geblieben.

„Ich höre“, drängte Lord Charleton. „Raus mit der Sprache, bevor meine Bücklinge kalt werden.“ In weiser Voraussicht schob der Baron den Teller von sich und legte die Zeitung beiseite. Er kannte seine Pappenheimer.

Haley räusperte sich und zückte einen Brief. „Ich bin hier auf eine kleine Schuldigkeit gestoßen, die Ihre Gemahlin …“

Hatte er es doch geahnt. Diese eisige Ruhe, die ihn jedes Mal befiel, wenn jemand sich erdreistete, Isobel zu erwähnen, kam über ihn. Wie sehr Lord Charleton doch wünschte, er könne ihren Verlust vergessen, damit endlich dieser elende Schmerz verginge. Doch selbst jetzt, ein Jahr nach ihrem Tod, war es wie ein Stich ins Herz, wenn er des Morgens erwachte, und die Trauer verfolgte ihn bis tief in die Nacht, wenn er sich zu Bett begab.

Es war ein Kreuz, ein elendes Kreuz, und nun stand sein Sekretär hier und brachte sie auch noch zur Sprache, obwohl Lord Charleton sich das ausdrücklich verboten hatte.

„Eine Schuldigkeit?“, sagte der Baron und räusperte sich. „Dann begleichen Sie sie“, wies er den Sekretär in einem Ton an, der wenig Zweifel darüber ließ, dass er nicht weiter mit derlei Erinnerungen belästigt zu werden wünschte.

„Aber Mylord … es ist nur so …“, druckste Haley herum.

Lord Charleton nahm seine Brille ab und putzte erst das eine Glas, dann das andere. Als er sie wieder auf der Nase hatte, bedachte er den Sekretär mit kühlem Blick. Im Grunde war Haley ein guter Mann, und der Baron wusste, was er an ihm hatte. Ein ganz hervorragender Sekretär, weshalb er sich auch nicht erklären konnte, welcher Teufel den Kerl geritten hatte, Lady Charleton zu erwähnen. Ganz langsam und deutlich, damit es auch wirklich ein für alle Mal klar war, sagte er: „Haley, Sie wissen, was zu tun ist. Kümmern Sie sich darum und lassen Sie mich damit zufrieden.“

„Wenn Sie darauf bestehen, Mylord …“ Haley ließ den Satz in der Luft hängen. Genau genommen war es keine Erwiderung, sondern eine neuerliche Frage.

Herrje, konnte er nicht endlich Ruhe geben? Eine solche Impertinenz sah Haley nicht ähnlich, vielleicht der ehrlichste und fähigste Bursche, den der Baron je eingestellt hatte. Wobei eigentlich ja Lady Charleton ihn aufgetan und auf seine Anstellung als Sekretär gedrängt hatte, aber das tat jetzt nichts zur Sache. Kurzum: Haley war ein guter Mann, in letzter Zeit aber derart aufmüpfig, dass Lord Charleton ihn am liebsten auf der Stelle gefeuert hätte.

Womit Isobel indes nicht einverstanden gewesen wäre, weshalb Seine Lordschaft von so drastischen Maßnahmen auch absah, nur den Kopf senkte und seinen Zorn zu zügeln versuchte, ehe er die abschließende Order gab: „Erledigen Sie die Sache so, wie es im Sinne Ihrer Ladyschaft gewesen wäre.“ Er schnappte sich seine Zeitung und würdigte Haley keines Blickes mehr, auch wenn dieser noch einen Moment an der Tür stehen blieb.

Und hätte der Baron aufgeschaut, wäre ihm vermutlich nicht das feine, listige Lächeln entgangen, welches Lady Charleton einst dazu bewegt hatte, Mr. Haley überhaupt erst einzustellen.

1. KAPITEL

London, sechs Monate später

Grrrrriauuuu!

Grimmiges Fauchen hallte in der Kutsche wider.

„Miss Tempest, Sie hätten dieses garstige Geschöpf besser in Kempton gelassen“, beklagte Mrs. Bagley-Butterton sich zum gewiss einhundertsten Male.

Was ziemlich genau jenen einhundert Malen entsprach, da Hannibal sein ohrenbetäubendes Geschrei aus den Tiefen des Reisekäfigs hatte erklingen lassen.

„Er ist es nicht gewohnt, eingesperrt zu sein“, verteidigte Miss Louisa Tempest ihren alten, vom Leben arg gezausten Kater. „Hätte ich ihn vielleicht allein zu Hause lassen sollen?“

Neben ihr erklang ein resignierter Seufzer. Miss Lavinia Tempest, Louisas Zwillingsschwester, sah betont gleichgültig zum Fenster hinaus. Sie würde ganz gewiss nicht für Hannibal Stellung beziehen.

Hatte sie noch nie getan.

Louisa hegte gar den Verdacht, dass ihre Schwester ganz mit Mrs. Bagley-Butterton d’accord ging, und den armen Hannibal, wenn schon nicht zum Teufel, so doch zumindest zurück nach Kempton wünschte.

„Ich kann nur hoffen, dass Ihre Patentante nachsichtiger Natur ist“, fuhr die Matrone fort, setzte sich auf ihrem Platz zurecht und beäugte den großen Korb auf Louisas Schoß mit einer Mischung aus Abscheu und Argwohn. Sie hatte sich dem Ansinnen, das getigerte Vieh mit nach London zu nehmen, vehement widersetzt, war letztlich jedoch machtlos gewesen, da die für die Fahrt bereitgestellte Kutsche Sir Ambrose Tempest gehörte, dem Vater der beiden jungen Damen. „Ich zumindest würde dieses Tier nicht in meinem Haus dulden“, konnte sie sich dennoch nicht verkneifen anzumerken und schüttelte sich geziert.

„Dann trifft es sich ja gut, dass wir bei Lady Charleton wohnen“, erwiderte Louisa. „Es ist so gütig von ihr, uns während der Saison aufzunehmen.“ Sie schickte ihren Worten ein Lächeln hinterher, während Lavinia noch immer angestrengt aus dem Fenster schaute, auch wenn das Zucken ihrer Schultern vermuten ließ, dass sie das Lachen nur mühsam unterdrücken konnte.

„Allerdings. Überaus freundlich von ihr, Sie beide in die Gesellschaft einzuführen, obwohl Sie … nun ja.“ Mrs. Bagley-Butterton schüttelte den Kopf und schien nicht recht zu wissen, wie sie das Unsagbare in Worte fassen sollte.

Was denkt diese Lady Charleton sich eigentlich dabei, zwei junge Dinger ohne nennenswerten Namen und von zweifelhafter Herkunft unter ihre Fittiche zu nehmen?

Louisa hatte nämlich sehr wohl gehört, was Mrs. Bagley-Butterton vor ihrer Abfahrt zur Haushälterin gesagt hatte. Auch wenn sie es vermutlich nicht hätte hören sollen.

„Weiß Lady Charleton etwa Bescheid?“

„Sie wird es früh genug erfahren, Madam“, hatte Mrs. Thompson entgegnet. „Und mit ihr ganz London. Alle werden sich das Maul über sie zerreißen. Die armen Hascherln! Früher oder später kommt die Wahrheit eben immer ans Licht, nicht wahr?“

Oh ja, die Wahrheit. Die ganze, grässliche Wahrheit.

Louisa presste die Lippen zusammen und sah nun ihrerseits zum Fenster hinaus, während draußen die dicht bebauten Straßen Londons vorbeizogen. Vielleicht, nur vielleicht, kam die Wahrheit ja nicht ans Licht, und Lavinia bekäme die Saison, die sie sich immer gewünscht hatte.

Das zumindest hoffte Louisa und versuchte, sich von der steinernen Wüste nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. So viele Häuser überall, grau und weiß und furchtbar imposant. Nein, Kempton war das hier nicht, ihr geliebtes Kempton mit seinen grünen Hügeln und den alten, im Wind rauschenden Bäumen.

Oh, wie gern sie jetzt dort gewesen wäre! Dass sie es nicht war, hatte allein zwei Gründe: die jüngst erfolgten Eheschließungen dreier junger Damen aus dem einst von einem Fluch belegten Weiler sowie die Einladung ihrer Patentante, die verbleibende Saison in London zu verbringen.

Ja, war die Welt denn verrückt geworden? Junge Damen aus Kempton heirateten schlichtweg nicht (es sei denn, sie wollten Gefahr laufen, wahnsinnig zu werden oder, schlimmer noch, ihrem Angetrauten ein tragisches und grausames Ende zu bereiten), und Patentanten erinnerten sich nicht urplötzlich an alte Versprechen.

Doch Wunder über Wunder, beides war geschehen, und drum trafen sie und Lavinia jetzt in London ein, um ihr reichlich spätes Debüt zu machen, und wenn Lavinia Glück hatte (oder Pech, ganz wie man es sah), fand sie während der Saison jemanden, der gewillt war, Leib und Leben zu riskieren und sie zu heiraten.

Wenn Louisa ihrer Schwester nur begreiflich machen könnte, dass sie selbst nicht die geringste Absicht hegte zu heiraten. Aber dazu müsste sie Lavinia das Geheimnis anvertrauen, welches sie, Louisa, auch nur ganz zufällig herausgefunden hatte. Selbst Papa hatte ihren Bedenken kein Gehör geschenkt und ihre Einwände abgetan mit einem lapidaren „Das ist doch Schnee von gestern, das interessiert in London niemanden“.

Also hatte Louisa geschwiegen und den Dingen ihren Lauf gelassen. Sie legte die Arme fester um Hannibals Korb und war nur froh, wenigstens den kleinen Stubentiger dabei zu haben. Ihr räudiger Kater, dem ein Auge und ein halbes Ohr fehlten, schien in letzter Zeit der Einzige zu sein, der ihr noch zuhörte.

Wie auf ein Stichwort fing Hannibal wieder ganz erbärmlich an zu maunzen.

Nun ja, die Kunst, seine Meinung zur rechten Zeit kundzutun, beherrschte er noch nicht so ganz.

„Es ist wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen, uns nach London zu begleiten, nachdem Papa doch leider verhindert ist“, warf Lavinia schnell ein, vielleicht in der Hoffnung, so einer weiteren Beschwerde von Mrs. Bagley-Butterton zuvorzukommen.

„Das Glück scheint mir hold zu sein“, bemerkte Mrs. Bagley-Butterton mit einem säuerlichen Blick auf Hannibals Korb. „Der Unfall Ihres Vaters war für mich ein Segen, kann ich doch jetzt bei der Ankunft meines ersten Enkelkindes zugegen sein. Ein Segen fürwahr. Die Londoner Hebammen sind doch alle Quacksalberinnen. Jede Wette, dass sie längst nicht so frische Eier haben wie die hier“, sie deutete auf den Korb mit mitgebrachten Vorräten, der den Platz neben ihr einnahm, „um meiner Schwiegertochter im Wochenbett einen stärkenden Punsch zu bereiten. Und die Gute wird es brauchen, sie ist Städterin.“ Sie rümpfte die Nase. „Doch, doch, ich muss schon sagen, dass Ihr Vater sich das Bein brach, kam gerade zur rechten Zeit. Des einen Glück, des anderen Leid. Wäre er nicht so unglücklich über den Zauntritt gestürzt, hätte ich es wohl nicht mehr beizeiten nach London geschafft.“

Louisa konnte sich der Ahnung nicht erwehren, dass Mrs. Bagley-Buttertons Sohn und Schwiegertochter dieses Gefühl nicht unbedingt teilten, doch behielt sie diese Vermutung wohlweislich für sich. Denn auch wenn sie es nicht gern zugab, so waren ihre eigenen Gedanken, als die Diener ihren Vater an jenem Tag nach Hause gebracht hatten, gleichfalls nicht ganz uneigennützig gewesen.

Endlich! hatte sie frohlockt. Endlich etwas, das ihre Abreise nach London verhindern würde.

Allerdings hatte sie nicht mit Lavinias Beharrlichkeit gerechnet.

Doch nicht nach London fahren? Ihre Schwester war außer sich gewesen. Ohnehin waren sie beide nicht mehr die Jüngsten – und nun noch ein weiteres Jahr ins Land ziehen lassen? Und wer wusste schon, ob Lady Charleton dann überhaupt noch gewillt wäre, zwei wenig Erfolg versprechende alte Jungfern in die Gesellschaft einzuführen! Oh nein, Lavinia hatte alles darangesetzt, ihre Saison zu bekommen.

Louisa hatte versucht dagegenzuhalten – ihr Vater brauche sie doch jetzt –, aber jedes Argument war auf taube Ohren gestoßen. Die Gesellschaft zur Besserung und Bekehrung Kemptons würde sich schon um Sir Ambrose kümmern, wenn er des Beistands bedurfte, hatte Lavinia ihr versichert.

Natürlich würden sie das, daran konnte kein Zweifel bestehen. Jede einzelne der Damen ab einem bestimmten Alter hatte nur zu bereitwillig ihre Hilfe angeboten. Dem armen verwitweten Sir Ambrose ein wenig unter die Arme greifen, während seine Töchter sich in London ein schönes Leben machten? Aber gewiss doch! Die Damen hatten es kaum abwarten können, sich mit selbstgemachten Leckereien bewehrt auf den Weg zu dem gehandicapten, aber durchaus heiratsfähigen Privatgelehrten zu machen.

Es schien, als wäre Louisa die einzige Jungfer Kemptons, die nun nicht heiraten wollte.

Doch würde sie ihrer Schwester die Wahrheit sagen, ihr das schreckliche Geheimnis anvertrauen, das nicht einmal sie hätte erfahren dürfen, würde sie Lavinia das Herz brechen. Weshalb Louisa sich auf eine andere Taktik verlegt hatte.

„Lavinia, wie wollen wir denn debütieren“, hatte sie am Morgen vor ihrer Abreise einen letzten Versuch gewagt, „wenn keine von uns tanzen kann? Wir würden uns ganz furchtbar blamieren.“

„Dann lernen wir es eben“, hatte Lavinia mit der ihr eigenen Entschlossenheit erwidert. „Sei unbesorgt, es werden sich schon zwei Herren in London finden, denen es nichts ausmacht, dass wir nicht … nicht vollkommen sind.“

Danach war ihre Schwester jäh verstummt, und einen Moment war Louisa fast versucht gewesen, sie zu fragen, ob Lavinia die Wahrheit kannte. Aber würde sie es damit nicht noch schlimmer machen, würde das Geheimnis nur wieder ins Bewusstsein rufen?

Ihren ganz eigenen Fluch.

Wenngleich Mrs. Bagley-Buttertons Bemerkungen zur Haushälterin den Schluss nahelegten, dass ihr Geheimnis zumindest in Kempton kein solches war. Alle schienen Bescheid zu wissen, ganz so, wie man es von einem so kleinen Dorf erwartete.

„In London kennt uns niemand, und wir werden ganz sicher nicht die einzigen Damen sein, die keine Quadrille beherrschen“, hatte Lavinia dann auch hinzugefügt. „Wenn selbst Tabitha Timmons sich einen Duke angeln konnte – einen Duke, Louisa! –, Daphne Dale einen Seldon geheiratet hat und Harriet Hathaway eine Countess geworden ist – unsere Harriet wohlgemerkt, verheiratet mit einem Earl –, werden sich für uns wohl noch zwei verständige Herren auftreiben lassen. Ein Duke wäre vielleicht eine Nummer zu groß, aber ein Viscount oder meinetwegen auch ein Baron sollten im Rahmen unserer Möglichkeiten sein.“

Ein Viscount, dass sie nicht lachte! Kein Viscount könnte Louisa dazu bewegen, auch nur einen Fuß aufs gesellschaftliche Parkett zu setzen, wenn es im Gegenzug bedeutete …

Doch ach, nun war es zu spät, denn kaum waren sie um die nächste Ecke gebogen, fuhr die Kutsche langsamer und hielt schließlich vor einem herrschaftlichen Haus.

„Das muss Hanover Square sein“, vermeldete Lavinia und wäre in ihrem Eifer, sich endlich in ihr – wie sie es nannte – „großes Abenteuer“ zu stürzen, schier aus der Kutsche gefallen. Lavinia hätte alles auf sich genommen, hätte von der Cholera heimgesuchte Schlachtfelder durchquert (drei Tage in Mrs. Bagley-Buttertons Gesellschaft waren kein Vergleich, kamen dem aber bedrohlich nah), um zu Lady Charletons Haus zu gelangen und ihr Londoner Debüt zu machen.

Hannibal stieß, als er den Schlag sich öffnen hörte und fürchtete, allein in der Kutsche zurückgelassen zu werden, einen neuerlichen Klagelaut aus. Louisa warf einen Blick in das Behältnis und ahnte Schlimmes. Wenn Hannibal endlich seinem Gefängnis entkommen sein würde, würde er gewiss auf Rache sinnen, er konnte in dieser Hinsicht sehr eigen sein. Sie schaute an der eleganten Fassade hinauf und hoffte, dass Lady Charleton irgendeinen alten Sessel hatte oder ein Sofa, um das es nicht schade wäre, wenn der Zorn des Katers sich an dem Möbel entlud.

Oder einen Teppich, der längst hätte ersetzt werden müssen.

„Doch, eine ordentliche Adresse, möchte ich meinen“, befand Mrs. Bagley-Butterton mit Blick auf die ansehnliche Residenz, die das gesamte Eckgrundstück einnahm. „Platz genug dürfte jedenfalls sein, für Sie beide – und für dieses Katzenvieh wohl auch, so Lady Charleton es nicht gleich mit der Kutsche zurück nach Kempton schickt, was ihr beileibe niemand verdenken könnte.“ Ihre Miene ließ keinen Zweifel, dass sie sich noch ganz anderes für den armen Hannibal vorstellen konnte.

Streuner sollte man am besten gleich in der Themse versenken.

„Und wie geht es jetzt weiter?“, wandte Lavinia sich fragend an Louisa, als der Kutscher und Bursche ihr Gepäck abluden und die Koffer auf das Trottoir vor dem Haus stellten. Schnell war der ganze Weg blockiert, und Passanten, die sich an ihnen vorbeischlängeln mussten, bedachten sie mit unfreundlichen Blicken.

„Ich würde sagen, wir klopfen einfach“, meinte Louisa, marschierte die Stufen zum Haus hinauf und betätigte kräftig den Klingelzug. Sie war entschlossen, einen guten Eindruck zu machen und ihr Anliegen so souverän wie möglich vorzubringen, auch wenn sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht, sich Hannibal geschnappt, Lavinia wieder in die Kutsche gezerrt und John Coachman Order gegeben hätte, sie auf schnellstem Wege zurück nach Kempton zu fahren.

Doch ihr Vorhaben wurde abermals von Hannibals lautem Gefauche durchkreuzt. Du liebe Güte, man könnte fast meinen, ihm würde bei lebendigem Leib das Fell abgezogen! So laut war sein Gezeter, dass ein Fuhrpferd sich aufbäumte und fast durchgegangen wäre. Eine Kinderfrau zog ihre Schützlinge fest an sich und wechselte die Straßenseite.

„Ruhe!“, beschied Mrs. Bagley-Butterton und versetzte dem Korb einen beherzten Tritt.

„Nein!“, schrie Louisa und sah mit Entsetzen, wie Hannibals Gefängnis sich überschlug und seine furiose Fracht preisgab.

Hannibal, darf ich vorstellen – London. London – Hannibal, sehr erfreut.

Wenig überraschend war Hannibal von der unvertrauten Umgebung wenig angetan und machte seinem Missfallen mit einem ohrenbetäubenden Gekreische Luft.

Die Straße hinauf und hinab taten sich Türen auf und Vorhänge wurden geteilt, auch wenn Louisa kaum Zeit blieb, dies zu bemerken, galt es doch, ihres widerspenstigen Katers habhaft zu werden, ehe er sich in seinem Zorn von dannen machte.

In Windeseile sprang sie die Treppe hinunter, aber zu spät: Hannibal hatte seine Chance erkannt und würde sich der Freiheit nicht berauben lassen. Zumindest nicht ohne Widerstand. Und nicht so bald.

Er flitzte hinaus auf die Straße, zwischen den Beinen eines Kutschpferds hindurch. Der Fahrer fluchte und hätte wohl gar noch wenig gentlemanlike gestikuliert, hätte er nicht alle Hände voll damit zu tun gehabt, sein aufgescheuchtes Pferd im Zaum zu halten.

Louisa blieb es erspart, sich ebenfalls in den Verkehr zu stürzen, denn schon machte Hannibal kehrt und wetzte zum Haus zurück, geradewegs an ihr vorbei und die Treppe hinauf.

Nur leider war es das falsche Haus.

Und just in diesem Augenblick wurde oben die Tür geöffnet, und Hannibal schnürte am Butler vorbei.

„Oh nein!“, entfuhr es Louisa, und schon setzte sie ihrem Kater nach.

„Louisa Tempest!“, rief Lavinia ihr hinterher. „Lass ihn nicht alles ruinieren!“

Besser Hannibal kehrte in Schande nach Kempton zurück, als dass alle Welt die schreckliche, entwürdigende Wahrheit erfuhr …

Am Kopf der Treppe stieß sie mit dem Butler, einem gestreng wirkenden älteren Herrn, zusammen und hielt sich nur mit einem hastigen „Entschuldigen Sie bitte“ auf, ehe sie an ihm vorbeieilte. Wobei sie sich keineswegs für ihr ungebetenes Eindringen entschuldigte, als vielmehr für alles, was noch folgen würde.

In der Eingangshalle blieb sie stehen, um zu verschnaufen und die Lage zu sondieren. Sie brauchte nicht lange zu warten. Fast augenblicklich war von oben ein lautes Krachen zu hören, gefolgt von einem triumphalen Angriffsschrei.

Hannibal, seinem Namen alle Ehre machend, war bereit zur Schlacht.

Krawumm!

Pierson Stratton, Viscount Wakefield, tat schaudernd ein Auge auf. Ging man dem Tumult nach, musste Napoleon den Kanal überquert und Mayfair unter Beschuss genommen haben.

Oder sein französischer Koch zog einer Katze das Fell ab, um sie Seiner Lordschaft dann innen roh und außen verbrannt zum Frühstück zu servieren, denn ein gesundes Mittelmaß schienen die Kochkünste dieses Kerls nicht zu kennen.

Wieder hallte ohrenbetäubender Lärm durch die Flure und machte auch vor seinem abgedunkelten Zimmer nicht Halt. Krawumm! Jaul!

Pierson setzte sich halb auf und zuckte zusammen. Sein Brummschädel beschwerte sich mit zornigem Pochen über das frühe Aufwachen. Das war er nicht gewohnt. Draußen kam der Krach derweil näher: Stiefelschritte trampelten die Treppe hinauf, wieder dieses martialische Geheul, dann eine fremde, aber umso lauter erhobene Stimme.

„Hannibal! Komm sofort zurück, du böser Kater!“

Du liebe Güte! Wer trieb sich denn da in seinem Haus herum? Da seine Sippschaft sich längst nicht mehr hertraute und Tiploft strikte Anweisung hatte, niemanden hereinzulassen, konnten es nur Einbrecher oder die Franzosen sein.

Denen würde gleich Hören und Sehen vergehen.

Pierson mühte sich aus dem Bett, versuchte den wummernden Schädel zu vergessen, zuckte abermals zusammen, als sein Bein sich mit wohlvertrautem Schmerz meldete, warf sich seinen Morgenmantel über und hörte es schon wieder infernalisch durch die Gänge jaulen.

Genau deshalb hielt er seinen Haushalt so klein: Damit er seine Ruhe hatte.

Er griff nach seinem Gehstock, nahm die Pistole aus dem Nachttisch, durchmaß das Zimmer, so schnell es ihm in Anbetracht aller Umstände möglich war, und öffnete die Tür mit einem Ruck, das Schießeisen im Anschlag.

In seinem benebelten Zustand sah er nur eine verschwommene Gestalt näher kommen. „Halt, stehen geblieben!“, rief er. „Einen Schritt weiter und ich schieße.“

Langsam klärte sich sein Blick. Gerade noch zur rechten Zeit.

Denn vor ihm stand ein rehäugiges junges Mädchen, den Hut schief auf dem Kopf, mit langen dunklen Locken, die gleichfalls etwas in Unordnung geraten waren. Ein schimmerndes Dunkelbraun wie frische Kastanien. Oder Mahagoni. Doch, bei näherer Betrachtung würde er sich für Mahagoni entscheiden.

Und genau das tat Pierson mit leicht umwölktem Blick: sie näher betrachten.

Ja, Mahagoni, hatte er es doch gesagt.

Und eindeutig eine junge Frau, wie er sich mit einem Blick auf ihre Rundungen vergewisserte, die unverkennbar weiblich waren.

Aber was hatte sie in seinem Haus verloren?

Der Viscount riss den Blick von ihr los. „Tiploft? Was hat das zu bedeuten?“

Sein Butler, der hinter der jungen Dame herbeigehastet kam, starrte entsetzt auf des Viscounts Füße, woraufhin auch Pierson an sich hinabsah.

Spätestens jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch ziemlich betrunken sein musste, denn zum Teufel, was war das?

Zu seinen Füßen befand sich ein räudiges Fellknäuel, das ein so kehliges Maunzen ausstieß, dass es eher wie ein Knurren klang. Als hätte das Tier sich an zu vielen Zigarren und billigem Brandy gütlich getan.

Und damit kannte Pierson sich aus. Nicht mit dem billig, aber mit dem Brandy. Ein Glück, dass er sich einen guten Tropfen leisten konnte.

Grrrrriau, machte das Tier abermals und beäugte den Viscount nicht minder abschätzig. Auge in Auge mit der Bestie.

Pierson kamen leise Zweifel, ob es sich bei dem Tier überhaupt um eine Katze handelte, fehlten ihm doch ein Auge, ein Gutteil des Schwanzes und auch ein halbes Ohr. Ein wenig erinnerte ihn das an seinen einstigen Burschen Russell – seinerzeit eine Legende im Boxring und bekannt für sein hitziges Temperament und sein vernichtendes Urteil. Er und Pierson hatte sich prächtig verstanden.

Bis Russell, wie so viele andere auch, beim Rückzug nach La Coruña gefallen war.

Schade um den armen Kerl. Wie ein Held war er zu Boden gegangen und dann elendig von einer Infektion dahingerafft worden. Pierson schloss die Augen, als könnte er so die Erinnerungen ausblenden, und sehnte sich nach Brandy. Nichts half besser gegen solche Anwandlungen als eine gute Flasche Brandy.

Aber das musste warten, solange halb London sich in seinem Haus tummelte.

Ganz richtig: halb London, in seinem Haus.

Grund genug, die Augen sofort wieder aufzureißen. „Was zum Teufel“, murmelte er mit Blick auf das undefinierbare Geschöpf, das sich schnurrend um seine Beine schlängelte und sein räudiges Fell an ihn schmiegte.

Doch damit nicht genug: Plötzlich warf die Kreatur sich auf den Rücken und rollte vor ihm auf dem Boden, als forderte es von Seiner Lordschaft Streicheleinheiten ein.

„Schnell, kraulen Sie ihm den Bauch“, riet die junge Dame ihm dann auch und zeigte auf das am Boden fläzende Fellbündel.

Pierson wähnte sich in einem schlechten Traum. Das Tier schien ihm fähig und willens, seine Hand um ein paar Finger kürzer zu machen. „Kommt gar nicht infrage“, teilte er dem schnurrenden, knurrenden Etwas mit.

Sichtlich unbeeindruckt sprang es auf, schlängelte sich unter Piersons Morgenrock, drückte sich an seine nackten Waden, tauchte schließlich wieder auf und fing ganz gotterbärmlich an zu husten.

„Oh nein!“, entfuhr es der jungen Dame.

Pierson sah erst sie an, und dann sah er, warum.

Der Kater hatte seinen Mageninhalt zu Füßen des Viscounts entleert.

„Ich hatte Sie gewarnt“, sagte die junge Dame und klang, als täte ihr die Schweinerei kein bisschen leid, ja, als wäre alles gar seine Schuld.

Das war ja wohl der Gipfel der Impertinenz. Zudem war ihm schon beim Aufstehen etwas blümerant gewesen, und der Anblick eines speienden Katzentiers trug nicht gerade zur Besserung seines Befindens bei. Du lieber Himmel, wer hätte gedacht, dass diese Biester so große Mägen hatten?

„Das Schlimmste dürfte jetzt vorbei sein“, versicherte sie ihm mit einer Resignation, als wäre sie es längst gewohnt, in fremde Häuser einzudringen und ihrem Kater zu gestatten …

Oh nein, noch einmal würde – konnte – Pierson sich die Bescherung nicht ansehen. Das würde sein Magen nicht vertragen.

Die junge Dame bückte sich und versuchte, ihr Tierchen einzufangen, doch gerissen wie es war, entschlüpfte es ihr und verschwand abermals unter Piersons Morgenrock. Was für sie jedoch kein Hindernis darzustellen schien. Beherzt griff sie unter seinen Rock, schnappte sich das widerspenstige Geschöpf und erging sich alldieweil in langwierigen Erklärungen und Entschuldigungen. „Er war die ganze Fahrt von Kempton in diesem schrecklichen Korb eingesperrt und ist völlig überreizt. Wenn Sie mir einfach einen …“

Hier hielt sie kurz inne, direkt vor ihm und seinem hastig geschnürten Morgenrock. Er hörte sie scharf einatmen. Dann richtete sie sich schnell auf, den maunzenden Kater in den Armen und einen rosigen Schimmer auf den Wangen.

Vielleicht hätte er beim Ankleiden ja etwas mehr Sorgfalt walten lassen sollen. Andererseits war es sein Haus, nicht wahr?

Doch wenn er geglaubt hatte, sein Anblick würde sie peinlich berührt in die Flucht schlagen, so hatte er sich getäuscht. Diese Jungfer mit den rosigen Wangen und dem schimmernden Mahagonihaar war noch längst nicht fertig mit ihm.

„Wie ich schon sagte, es tut mir leid wegen Hannibal. Fremden gegenüber kann er unberechenbar sein.“

Eine Erklärung war das nicht, fand Pierson. Im Grunde auch keine Entschuldigung. Vielmehr klang es so, als machte sie ihm einen Vorwurf.

„Dem Hausrat gegenüber auch“, murmelte Tiploft und schaute auf die Bescherung zu Füßen seiner Lordschaft, dann hinter sich auf die Scherben einer Vase.

„Verzeihen Sie vielmals dafür“, wandte sie sich an Tiploft, als handelte es sich um des Butlers Vase. „Und für dieses andere Ding …“

„Die italienische Skulptur, Miss“, gab Tiploft Auskunft.

„Nein, wirklich, die war italienisch? Hoffentlich nicht allzu wertvoll. Aber das mit der Skulptur war weniger Hannibals Schuld als meine eigene.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich hatte versucht, ihn zu fangen und dabei …“ Sie schaute von Tiploft zu Pierson und dann rasch zurück zum Butler. „Wobei ich fürchte, dass die Details nun nichts mehr zur Sache tun.“ Sie presste die Lippen zusammen und warf einen Blick zurück auf die Schneise der Verwüstung, die sie in sein Haus geschlagen hatte.

Pierson konnte nicht aufhören sie anzustarren. „Wo zum Teufel kommen Sie eigentlich her?“

Sie wandte sich wieder um und blinzelte kurz, als hätte sie seine Anwesenheit fast vergessen. „Aus Kempton.“ Sie sagte es mit einer solchen Selbstgewissheit, als wäre die Frage vollkommen überflüssig.

„Sollte ich das kennen?“, fragte er seinen Butler. Denn vielleicht bildete er sich das alles ja nur ein. Vielleicht war er noch immer sturzbetrunken und sie nur eine Ausgeburt seiner in Madeira getränkten Fantasie.

Sein Butler räusperte sich dezent. „Es scheint mir nicht weiter von Belang zu sein, Mylord.“

„Wenn man von dort kommt, ist es durchaus von Belang“, erklärte sie spitz und hievte den struppigen Kater von einem Arm auf den anderen. Sicher im Griff seines Frauchens wirkte das Tier nicht gar so furchteinflößend.

Nein, wenn Pierson ganz ehrlich war, so schien sich das Biest sogar an seiner bevorzugten Lage zu weiden, so dicht an ihre Brust geschmiegt.

Denn ja, halbtrunken mochte er noch sein, aber doch nicht so hinüber, als dass er eine würdige weibliche Gestalt nicht erkannt hätte – auch wenn besagte junge Frau ihr Bestes gab, ihre Formen unter einem schlichten Kleid zu verbergen. Man könnte fast meinen, es handelte sich bei ihr um eine wohlanständige junge Dame, auch wenn ihr Auftritt mit allerlei zerschlagenem Porzellan einhergegangen war.

Was wiederum auf eine leidenschaftliche und impulsive Natur schließen ließ. Bei einer so aparten jungen Frau eine durchaus gefährliche Mischung, die geradezu danach verlangte, sich auf ganz andere Weise Bahn zu brechen.

In seinem Bett beispielsweise.

Rrrrrrrhhhh, zischte warnend der Kater, als könnte er des Viscounts Gedanken lesen.

Ein kleiner Rat im Vertrauen, von Mann zu Mann.

„Hannibal meint das nicht böse“, ließ sie ihn wissen und strich dem Tier über den Kopf. Dabei warf sie einen verstohlenen Blick auf Pierson, und ihr Blick huschte noch einmal hinab zu seinem liederlich geschnürten Morgenrock. Mit glühenden Wangen sah sie beiseite und vermied er hernach, ihn anzuschauen.

Ein durchaus unbehaglicher Moment, und wäre Pierson ein anständiger Kerl gewesen, würde er wohl seinen Rock gerichtet haben.

Aber war er das?

Und letztlich war sie doch in sein Haus eingedrungen. Wenn ihr nicht passte, was sie hier zu sehen bekam …

Tiploft räusperte sich und warf einen vielsagenden Blick auf die Vase.

Sichtlich betreten besah nun auch die junge Dame sich den Schaden. „Oh ja … du liebe Güte. Das tut mir wirklich leid. Aber ich könnte mich darum kümmern, dass das gute Stück wieder heilgemacht wird … Mylord.“

Letzteres betonte sie so, als zöge sie seinen Platz im Debrett’s ernsthaft in Zweifel.

Aber da wäre sie in bester Gesellschaft. Halb London schaute ihn schließlich schief an. Bei ihr jedoch, so ungebeten und unverschämt sie hier eingedrungen war, störte es ihn. Ja, es störte ihn ganz gewaltig, von ihr als unwürdig und zweifelhaft erachtet zu werden.

Dass er es war, tat nichts zur Sache.

Aber wer glaubte sie eigentlich, dass sie war?

Pierson riss seinen Blick von ihren dunkel schimmernden Locken los, ihren glühenden Wangen (auch wenn es ihn mit Stolz erfüllte, sie derart erröten haben zu lassen) und richtete sein Augenmerk auf das Scherbenmeer, das einst die Lieblingsvase seiner Mutter gewesen war.

Und die Kleine glaubte ernstlich, das ließe sich wieder reparieren? Vergebliche Hoffnung. Das Ding war ein für alle Mal hin.

So wie er. Geschlagen nicht von Hannibal und seinen legendären Elefanten, sondern von einer Kugel der Franzosen, die ihm das Bein zerfetzt hatte. Von den Menschenleben, die vor seinen Augen verloren gegangen waren – ausgelöscht im Hinterhalt auf dem langen Weg nach La Coruña. Aus. Vorbei.

„Wenn Sie vielleicht etwas Leim hätten …“, hörte er sie sagen.

Pierson hatte genug. Nichts konnte diese verdammte Vase wieder heil machen, nichts und niemand. Genauso wenig wie sich sein verdammtes Leben wieder einrenken ließ. „Raus“, befahl er und vergaß völlig, dass er noch immer die Pistole in der Hand hielt, als er zur Treppe deutete.

„Nun seien Sie doch nicht so!“, empörte sie sich und rührte sich nicht vom Fleck. „Es war doch nur ein freundliches Angebot, wie es sich für gute Nachbarn gehört. Wenn Sie gerade keinen Leim zur Hand haben, kann ich später noch mal wiederkommen und die Sache in Ordnung bringen …“

Pierson musste sich verhört haben. Sie wollte wiederkommen? Gott allein wusste, was sie dann anstellen, welche Büchse der Pandora öffnen würde. Und wenn nicht sie, dann eben ihr vierbeiniger Freund.

Er wäre gut beraten gewesen, sich auf der Stelle zurückzuziehen und alles Weitere, die ganze Bescherung, in Tiplofts fähige Hände zu geben. Doch etwas war an ihr, das ihn innehalten ließ, das ihn ein wenig aus dem Tritt brachte.

Dieses Mädchen mit seinen zerzausten Locken und den verstohlenen Blicken blanken Entsetzens gemahnte ihn daran, dass er den Rest seiner Tage vermutlich genauso verbringen würde, wie er es seit seiner Rückkehr aus Spanien getan hatte.

Allein. Verbittert. Bei einer Flasche Trost und Vergessen suchend. So kaputt und hinüber wie die Vase dort auf dem Boden. So elend und abscheulich wie das, was ihr Kater ihm vor die Füße gespien hatte.

So etwas ließ sich nicht eben „heil machen“, wie sie es so flapsig ausgedrückt hatte. Dazu brauchte es mehr als ein bisschen Leim und ein sonniges Gemüt. Denn Letzteres hatte sie eindeutig, und das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Diese junge Dame kam einfach hier hereingeprescht und hielt ihm einen Spiegel vor, in dem er sich nicht sehen wollte. Denn was sich darin zeigte, hätte ihm noch mehr Entsetzen bereitet, als die Albträume, die seinen Schlaf heimsuchten.

„RAUS AUS MEINEM HAUS!“, brüllte er und ließ sich von seinem Zorn mitreißen. „Raus, auf der Stelle“, fügte er hinzu und deutete abermals mit der Pistole zur Treppe.

Ihre tiefblauen Augen wurden so groß wie Untertassen, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und suchte das Weite. Doch am Kopf der Treppe blieb sie noch einmal stehen und tat einen letzten Blick zurück, zu ihm.

Es wäre besser gewesen, sie hätte es unterlassen.

Denn in ihren großen, feuchten Augen sah er keine Furcht, sondern Mitleid.

Eine Kugel wäre Piersons Ansicht nach gnädiger gewesen.

2. KAPITEL

Als Louisa aus dem Haus des Verrückten stürmte, war sie den Tränen nah. „Weshalb weine ich bloß?“, fragte sie Hannibal.

Der Kater blinzelte träge, als könnte er sich beim besten Willen nicht erklären, wozu die unziemliche Eile.

„Wie kann jemand nur so garstig sein?“, flüsterte sie in Hannibals unversehrtes Ohr.

Dabei hatte sie doch nur helfen wollen, wie jede junge Dame aus Kempton es unter den gegebenen Umständen getan hätte, und was tat dieser schreckliche Mensch? Er drohte ihr!

Raus!

Noch nie hatte jemand sie so angeschrien. Nicht einmal Papa, als sie einmal aus Versehen sein liebstes Hemd in die Spendenkiste gegeben hatte.

Halb blind vor Tränen eilte sie die Treppe hinunter und strebte ihrem eigentlichen Ziel entgegen – nur um prompt mit zwei Gentlemen zusammenzustoßen, die zügig übers Trottoir schritten.

„Herrje, so passen Sie doch auf!“, raunzte der eine sie an.

„Entschuldigen Sie vielmals“, rief sie und drückte Hannibal fester an sich. Es war wirklich zum Verzweifeln: Kaum war sie in London, ging auch schon alles schief. Und dabei hätte sie schwören können, dass Lavinia es gewesen wäre, die sich einen Fehltritt nach dem anderen leisten und ihr Debüt ruinieren würde. In Kempton galt Louisa im Vergleich zu ihrer Schwester noch als jene mit der größeren Anmut, dem feineren Gespür. Sie seufzte. Alles war relativ. Und nicht umsonst waren sie Zwillinge.

Kaum auszudenken, in welche Fettnäpfchen sie erst tappen, welche Katastrophen sie auf dem gesellschaftlichen Parkett erwarten würden! Zwei zerbrochene Vasen und eine entzweite Skulptur (italienisch!) kaum eine halbe Stunde binnen ihrer Ankunft verhießen nichts Gutes. Doch Louisa war zu praktisch veranlagt, um ihrer Verzweiflung nachzugeben. Sie hielt inne und dachte nach.

Zu ihrer Verteidigung sollte erwähnt werden, dass sie nie zuvor einem Mann begegnet war, der nur einen Morgenrock trug und nichts darunter.

Ganz richtig, nichts darunter. Da konnte man schon mal ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten.

Zugegeben, die antiken Stücke hatte sie schon vor der fraglichen Begegnung zu Fall gebracht, aber trotzdem. So, wie sie diesen Verrückten kennengelernt hatte, konnten sie und Hannibal vermutlich froh sein, dass sie mit dem Leben davongekommen waren.

Und unbeschadet. Weitestgehend.

Sehr zu ihrem Kummer ließ die Erinnerung an ihn, wie er dort gestanden hatte, mit seiner Pistole gefuchtelt und gebrüllt hatte wie ein wildes Tier, sie leise erschaudern. Und nein, es war nicht Angst, die sie erschaudern ließ – zumindest keine Angst, die sie kannte. Sie fühlte sich von dieser Begegnung ganz wunderlich, seltsam … aufgewühlt.

Wie konnte ein Mann so barbarisch, so unbekleidet und zugleich so faszinierend sein?

Vielleicht war es die Art, wie er sie angesehen hatte. Von oben bis unten hatte er sie taxiert und sie vermutlich für ungenügend befunden, aber einen Moment hatte es gegeben, da meinte sie in seinem Blick etwas wie Hunger erkannt zu haben … so, als würde er sie mit Haut und Haaren verschlingen wollen.

Ach du liebe Güte, was dachte sie sich bloß? Albern war das, nicht auszudenken, denn kaum dachte sie daran, sah sie gleich wieder seine nackten Beine vor sich.

Nackte Beine, jawohl! Ein Paar kräftiger, muskulöser Waden, überzogen von dichten, dunklen Härchen. Warum nur ließ dergleichen ihr das Herz so wunderlich erbeben? Zumal seine Manieren ja ganz den gegenteiligen Effekt gehabt hatten.

Und doch kam sie nicht umhin noch einmal einen Blick auf das Haus zu werfen und sich zu fragen, was wohl sei, wenn er nicht so garstig wäre …

Zum Kuckuck aber auch! Was stimmte denn nicht mit ihr? Die letzten Minuten dürften gründlich bewiesen haben, dass sie für London nicht taugte.

Aber was sollte sie jetzt tun? Nun, da sie schon mal hier war, vor Lady Charletons Haus, gab es doch eigentlich kein Zurück mehr. Zumal John Coachman sie bereits verlassen und die Heimfahrt angetreten hatte.

Und so erklomm sie die Stufen zum Haus hinauf und trat in die Eingangshalle, wo ihr Gepäck sich stapelte. Sie entdeckte Hannibals Korb und verstaute den Kater darin, ehe dieser noch wusste, wie ihm geschah. „Damit du nicht noch mehr Unfug anstellst“, tadelte sie ihn und schnallte den Deckel zu. „Wir wollen doch zumindest versuchen, einen guten Eindruck machen.“

Solange er eben währt, fügte sie im Stillen hinzu. Und wie vergeblich die Hoffnung war, bestätigte ihr eine erzürnte Stimme, die aus einem Zimmer am Ende der Halle drang.

„Einem Mädchen, dem ich mein Lebtag nicht begegnet bin, eine Saison spendieren? Nur über meine Leiche!“

Louisa ging zu dem fraglichen Zimmer und spähte hinein. Gleich an der Tür sah sie Lavinia stehen und sprang ihr zur Seite. „Was ist denn hier los?“, fragte sie leise.

„Schsch“, warnte Lavinia sie und legte den Finger an die Lippen. Dann sah sie ihre Schwester genauer an und richtete ihr rasch den Hut und die Haare. Nach einem letzten prüfenden Blick richtete sie ihr Augenmerk wieder auf die Szene, die sich vor ihnen abspielte.

Louisa nahm an, dass der Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch wohl Lord Charleton sein müsse – zumindest führte er sich so herrisch und anmaßend auf, wie es einem Adeligen gebührte, und wurde mit seiner grauen Mähne der Rolle auch äußerlich gerecht. Der jüngere Mann, der zu seiner Rechten stand, war zudem zu schlicht gekleidet und wies sich schon allein durch seine stille Ergebenheit als Sekretär aus.

Vermutlich handelte es sich um Mr. Haley, der Papa schriftlich von Lady Charletons Wunsch in Kenntnis gesetzt hatte. Louisas Blick kehrte zurück zur cholerischen Miene ihres Gastgebers. Warum nur war Lord Charleton so außer sich über ihre Ankunft? Er musste doch davon gewusst haben.

„Arglistig nenne ich so was, Haley. Arglistig! Ich sollte Sie auf der Stelle rausschmeißen“, tobte Lord Charleton und deutete zur Tür. Doch sein Sekretär machte keine Anstalten, der Order Folge zu leisten.

„Wie ich eben zu erklären versucht habe, Mylord, waren die Anweisungen Ihrer Ladyschaft unmissverständlich …“

Auf einmal wurde der Baron Louisas Anwesenheit gewahr. Erst schien er seinen Augen nicht zu trauen, dann wandelte sich seine Miene von wütend zu explosiv. „Was zum Teufel? Jetzt sind es ja schon zwei! Vermehren die sich hier wie die Karnickel vor meinen Augen? Kommt gar nicht infrage, Haley. Nicht mit mir, haben Sie mich verstanden?“

„Du liebe Güte“, murmelte Louisa, während Lord Charleton weiter auf den armen Mr. Haley eindrosch. „Sind denn alle Männer in London so übellaunige Zeitgenossen?“

„Alle?“, flüsterte Lavinia zurück. „Wie meinst du das?“

Louisa schüttelte nur den Kopf und erwiderte: „Erkläre ich dir später.“ Nicht dass ihr der Sinn danach gestanden hätte, hieße es doch, dass sie ihrer Schwester von der Begegnung mit Lord Charletons Nachbarn erzählen musste.

Und von dem zerschlagenen Porzellan. Der Vase. Oder waren es zwei? Und der Skulptur, der italienischen. Ganz zu schweigen von dem kleinen Präsent, das Hannibal sich abgerungen hatte. Und davon, wie garstig er war. Seine Lordschaft, nicht Hannibal.

Als er sie so angebrüllt und mit der Pistole herumgefuchtelt hatte, hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte es Hannibal gleichgetan.

Vielleicht wäre der arme Mann ja nicht so elender Laune, wenn er einfach mal ein wenig mehr auf sich achtgab. Wie sollte ein Mann denn gut gestimmt sein, wenn er mitten am Nachmittag noch im Morgenrock durchs Haus schlurfte, als wäre er eben erst aufgestanden? Das musste doch jedem aufs Gemüt schlagen!

Unfassbar. Und wieder kehrten ihre Gedanken zu seinen nackten Waden zurück und … oh, Grundgütiger … allem, was sich unter dem blauen Seidenrock noch in all seiner Blöße gezeigt hatte.

Sie holte tief Luft. Gewiss, sie war vertraut mit der männlichen Gestalt, hatte Lady Essex doch in ihrem Privatsalon eine Skulptur des Mars stehen, die von Mrs. Bagley-Butterton gern als anstößig bezeichnet wurde. Aber eine römische Gottheit in Marmor war etwas völlig anderes, als besagte Ausformungen in Fleisch und Blut zu sehen. Und dann noch aus solcher Nähe!

Louisa spürte, wie ihr abermals das Blut in die Wangen schoss. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte …

Nein, nicht daran denken. Sie senkte den Blick und konzentrierte sich auf das Muster des Teppichs. Eine Dame dachte nicht an das, was es unter dem Morgenrock eines Mannes zu sehen gab. Sie tat es einfach nicht. Auch dann nicht, wenn sie den einen oder anderen verstohlenen Blick auf besagten Mars geworfen hatte, sobald Mrs. Bagley-Butterton gerade nicht aufpasste.

Und doch kam sie nicht umhin, sich zu fragen, ob Lord Charletons Nachbar wohl eine ebenso skandalöse Figur abgab.

Weiter oben, wollte sie damit sagen.

Wenngleich es unwahrscheinlich sein dürfte, dass je eine Dame dieses Geheimnis ergründen würde. Bei seiner Laune und diesem verwahrlosten Haus. Was stimmte nur nicht mit diesem Mann, dass er so lebte? Dass er am Stock ging, dürfte es wohl kaum erklären.

Vielleicht bekommt er nicht mal regelmäßige Mahlzeiten, sinnierte sie weiter. Er hatte wirklich etwas ausgezehrt gewirkt. Dann war es ja kein Wunder. Einen Mann hielt man am besten damit im Zaum, dass man ihn gut durchfütterte und umsorgte, pflegte Lady Essex immer zu sagen.

Ging man nach dem Zustand seines Haushalts, den abgedeckten Möbeln, dem Schmutz und dem Staub, von seiner eigenen vernachlässigten Erscheinung ganz zu schweigen, sorgte sich niemand um ihn.

Armer Kerl. Vielleicht brauchte er ja einfach bloß …

Und schon sah Louisa ihn vor sich, frisch rasiert und anständig herausgeputzt, mit sauberem Hemd, feinem Zwirn und polierten Stiefeln … und doch, nicht einmal dann würde er anständig aussehen.

Vielleicht war es das Dunkle, Düstere an ihm, die schwarzen Haare, die glühenden Augen. Wie ein Pirat sah er aus. Oder ein spanischer Edelmann … Und schon eilte ihre Fantasie weiter, malte ihn sich aus, wie er in weißem Hemd und Breeches auf eine Lichtung trat, einen Strauß Wildblumen in der Hand, ein Lächeln auf den Lippen und der Glanz seiner Augen, als er sie dort auf ihn warten sah …

Und ihr, nur ihr, galt die Glut in seinem Blick.

Ach … Louisa schloss die Augen und schalt sich. Eigentlich war sie doch allein deshalb nach London gekommen, um Lavinia eine passende Partie zu finden und dann so schnell wie möglich nach Kempton zurückzukehren.

Denn dort gehörte sie hin.

Und wie es aussah, würden sie schneller dorthin zurückkehren als gedacht.

„Das ist Erpressung!“, schäumte Lord Charleton und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Schlichtweg Erpressung.“

„Nichts dergleichen ist es“, kam es entschieden von der Tür her. Eine elegant gekleidete Frau trat ein, die eine ruhige, stille Schönheit ausstrahlte. Nachdem sie die beiden Schwestern mit neugierigem Blick gestreift hatte, blieb sie vor Lord Charleton und Mr. Haley stehen.

Seine Lordschaft schien über ihr Kommen alles andere als erfreut zu sein, erhob sich aber, wie es sich gehörte. Seine Worte indes ließen keinen Zweifel an seiner Verstimmung: „Was willst du denn hier?“

„Man hat mich herbestellt“, erwiderte die Dame und nickte Mr. Haley zu.

„Dich und halb England“, brummte der Baron.

Louisa beugte sich zu ihrer Schwester. „Ist das Lady Charleton?“

Tränen stiegen Lavinia in die Augen, und erst jetzt fiel Louisa auf, dass ihre Schwester geweint hatte.

„Nein“, sagte Lavinia. „Oh Louisa, Lady Charleton ist tot!“

„Tot?“, entfuhr es ihr. „Aber … wie kann das sein? Das verstehe ich nicht.“ Sie sah sich unauffällig um, konnte aber keine Anzeichen der Trauer entdecken. Kein Trauerflor, kein Schwarz, nirgends.

Mr. Haley sollte ihr Auskunft auf ihre Fragen geben, wenn auch wohl mehr in Erwiderung auf Lord Charleton. „Mylord, als Ihre Ladyschaft erkrankte, war es ihr ausdrücklicher Wunsch, alle ausstehenden Verbindlichkeiten erfüllt zu sehen.“

Drei Augenpaare richteten sich auf Louisa und ihre Schwester, die beide am liebsten im Erdboden versunken wären. Es war wirklich nicht schön, Gegenstand so viel galliger Zwietracht zu sein. Doch dann entsann sich Louisa jener Ermahnung, die sie am häufigsten von Lady Essex zu hören bekamen.

Gerade stehen, Mädchen!

Und das tat sie. Sie nahm Haltung an und gab ihr Bestes, sich der Musterung mit nobler Miene und kühler Nonchalance zu stellen. Sie wollte eine Dame sein, von Kopf bis Fuß, und niemandes lästige Verpflichtung. Immerhin waren sie und Lavinia keine bettelarmen Bittsteller, sondern die Töchter von Sir Ambrose Tempest. Von Seiten der fremden Dame brachte ihr das ein anerkennendes Lächeln ein.

Doch wie viel das letztlich wert war, blieb abzuwarten.

„Lady Charleton nahm ihr Versprechen an Lady Tempest ausgesprochen ernst, deren Töchter in die Gesellschaft einzuführen“, fuhr Mr. Haley fort.

„Derlei Verpflichtungen sind hinfällig, wenn keine der beiden Parteien mehr zur Erfüllung des Versprechens in der Lage ist“, beschied Lord Charleton seinem Sekretär.

Mr. Haley schien keineswegs so ergeben zu sein, wie es auf den ersten Blick gewirkt hatte. „Das sah Lady Charleston anders, Mylord.“

„Ich im Übrigen auch“, meldete sich die elegante Dame zu Wort, die nicht nur mit der Situation vertraut zu sein schien, denn sie ließ sich in einem Sessel vor dem Schreibtisch nieder, obwohl niemand ihr einen Platz angeboten hatte. Sie warf einen Blick über die Schulter und bedeutete den beiden Schwestern, es ihr gleichzutun.

Schließlich setzte auch Lord Charleton sich wieder, die Stirn noch immer in grimmige Falten gelegt, aber sichtlich erleichtert, wieder auf seinem angestammten Platz zu thronen.

Mr. Haley tat einen Seufzer der Erleichterung, dass die Atmosphäre sich zumindest ein wenig entspannt hatte. „Lady Charleton“, setzte er seinen Bericht fort, „bat mich in all der Güte ihres Wesens, nach den jungen Damen zu schicken, wenn sie das entsprechende Alter erreicht hätten …“

„Die beiden gehören doch längst zum alten Eisen“, fuhr Lord Charleton dazwischen und fixierte die Schwestern mit grimmigem Blick. „Wie alt seid ihr, Mädchen?“

Louisa zögerte einen Moment. Es stimmte wohl, sie waren etwas alt für ein Debüt, aber ihre Schuld war nun das wahrlich nicht. Der Fluch, der über ihrem Dorf gelegen hatte, war ja gerade erst gebannt worden, aber sie würde sich hüten, jetzt mit dieser alten Geschichte anzufangen; es dürfte wenig dazu angetan sein, Seiner Lordschaft Laune zu verbessern.

Stattdessen hielt sie sich einmal mehr an Lady Essex’ Rat und ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. „Vierundzwanzig, Mylord.“

Neben ihr zuckte Lavinia kurz zusammen.

Vielleicht hätte sie doch nicht ganz so ehrlich sein sollen.

„Da haben Sie’s, Haley – das Ziel um vier Jahre verfehlt“, trumpfte Lord Charleton auf. „Zeit- und Geldverschwendung, die beiden noch aufs Parkett zu bringen.“

Lavinia bedachte sie mit einem Blick, der allzu deutlich sagte: Jetzt schau nur, was du angerichtet hast.

Doch gemach.

„Zu alt? Mit vierundzwanzig?“ Die Dame drehte sich in ihrem Sessel um und nahm die Mädchen mit einem aufmunternden Lächeln in Augenschein. In ihren Augen funkelte es, und als sie sich wieder Lord Charleton zuwandte, wirkte sie leicht belustigt. „Jetzt sei doch nicht so ein Scheusal, Charleton. Du weißt genau, dass ich bei meiner Heirat mit Aveley ganze zwei Jahre älter war als diese beiden Schätzchen.“

Charleton schnaubte. „Und wenn schon. Du hattest auch kein Debüt nötig, als du nach London kamst. Die halbe Stadt lag dir zu Füßen, kaum dass du einen Fuß aus der Kutsche gesetzt hattest.“

Louisa sah, wie das Lächeln der Dame langsam erlosch und leise Wehmut sich in ihre Miene schlich.

„Nun, wie dem auch sei“, meinte sie schließlich, nachdem sie sich vom Anflug der Nostalgie erholt und ihre Fassung zurückgewonnen hatte, „ich bin mir noch etwas im Unklaren über meine Rolle bei dem Ganzen. Mr. Haley, weshalb hatten Sie mich einbestellt?“

„Oh ja, das. Entschuldigen Sie, Mylady“, sagte der Mann, als wäre er aus einer Trance erwacht. „Ihre Ladyschaft hat Ihnen allen einen Brief hinterlassen.“ Er klopfte seine Jackentaschen ab, und zog ein kleines Briefbündel hervor, löste das Band, das die vier Schreiben zusammenhielt und reichte sie jeweils weiter.

Lord Charleton legte den seinen unmissverständlich vor sich auf den Schreibtisch und schob ihn, um seiner Ablehnung mehr Nachdruck zu verleihen, noch ein Stück beiseite.

Die Dame hingegen, vermutlich Lady Aveley, denn sie schien von Stand zu sein, öffnete den ihren ohne viel Federlesens. Mit einem kurzen Blick zu Louisa und Lavinia forderte sie sie mit einer Handbewegung auf, es ihr gleichzutun und sich von Seiner Lordschaft nicht aufhalten zu lassen.

Nun, sei’s drum, dachte Louisa. Wie es aussah, konnten sie Lord Charleton ohnehin nicht noch mehr verdrießen als sie es bereits getan hatten, und so erbrach sie beherzt das Siegel und faltete den Bogen auseinander.

Meine liebe Louisa,

es betrübt mich zutiefst, dass nicht ich es sein werde, die Dich in die Gesellschaft einführt. Welch großen Pläne ich für Dich und Deine Schwester hatte, doch, ach, meine Pläne wurden durchkreuzt. Mittlerweile müsstet Du bereits Lady Aveley vorgestellt worden sein, die mir so lieb und teuer ist wie Deine Mutter es einst war, und die meinen Platz ganz wunderbar ausfüllen wird; ihrer eigenen Tochter hat sie einen tadellosen Marquess gefunden.

Ich vermute, dass Du nur auf Lavinias Drängen nach London kamst und aufgrund dieses dummen alten Fluchs, der noch immer auf Kempton lastet, gewisse Vorbehalte gegen eine Heirat hegst. Aber ein Fluch hat nur dann Macht über Dich, wenn Du an ihn glaubst. Vertrau mir, Du wirst nicht den Verstand verlieren, wenn Du heiratest – wenngleich es Tage geben mag, an denen jeder Mann, auch der beste, eine Dame in Versuchung führen kann, nach dem Schürhaken zu greifen.

Halte Ausschau nach einem Mann, der Dich ebenso sehr liebt, wie mein Charleton mich geliebt hat, und wie Dein Vater Deine Mutter geliebt hat, all ihren Fehlern zum Trotz.

Ich weiß, dass mein liebster George vermutlich nicht gerade erfreut sein wird über Deine Ankunft, aber vertrau mir auch in dieser Hinsicht: Hinter der rauen Schale verbirgt sich ein weicher Kern. Im Grunde ist er ein herzensguter Mensch. Wenn Du einen solchen Gentleman findest, wirst du nicht einen einzigen Tag deines Ehelebens bereuen.

Mit den besten Wünschen,

Isobel Rowland, Lady Charleton

P.S.: Spielst Du Schach? Ich meine mich an einen Brief Deines Vaters zu erinnern, in dem er erwähnte, Du spieltest recht gut. Wenn Charleton sich weiterhin aufführt wie ein grantiger alter Bär, stell einfach das Schachbrett in der Bibliothek auf. Alles Weitere wird sich von ganz allein ergeben.

Louisa schaute auf und sah, dass Lady Aveley noch immer in ihren Brief vertieft war. Ein nachdenklicher Zug hatte sich auf ihre Stirn gelegt.

Lavinia schien vom Inhalt ihres Briefes derart erschrocken zu sein, dass sie ihn nach dem Lesen sogleich in ihrem Retikül verschwinden ließ.

Du liebe Güte, was konnte Lady Charleton ihr bloß geschrieben haben?

„Mylord“, sagte Haley, „wenn Sie wohl die Güte hätten, Ihren Brief zu lesen …“

„Ich denke gar nicht daran“, giftete Lord Charleton und erhob sich von seinem Platz, den Brief noch immer ungeöffnet vor sich. Er wandte sich an Lady Aveley. „Welchen Unfug hat sie dir aufgetragen?“

Lady Aveley, die nicht den Eindruck erweckte, in ihrem Leben schon allzu viel Unfug angestellt zu haben, faltete ihren Brief sorgsam zusammen, ehe sie aufblickte. „Sie hat mich lediglich darum gebeten, ihren Platz einzunehmen und den beiden Mädchen eine Saison zu ermöglichen.“

Der Baron nickte knapp. „Gut. Dann tu, was du nicht lassen kannst. Du und Haley, ich will nichts damit zu tun haben.“ Er deutete vage auf Louisa und Lavinia. „Nimm sie am besten gleich mit.“

„Sie mitnehmen wohin, Charleton?“, fragte Lady Aveley.

„Na zu dir nach Hause. Hier können sie nicht bleiben.“

Die Dame stand auf und sah den Baron unverwandt an. „Ich habe kein Haus, in das ich sie aufnehmen könnte.“

„Was soll das denn heißen? Du hast das Haus am Berkeley Square. Da ist Platz genug.“

„Nichts dergleichen habe ich. Das Haus gehört meinem Sohn, dem jetzigen Lord Aveley.“

„Dein Sohn, sage ich doch. Müsste ein undankbarer Bursche sein, wenn er nicht ein paar Zimmer für seine Mutter und die beiden Mädels erübrigen kann. Ihr braucht doch nicht viel Platz. Aber klärt das unter euch und lasst mich damit in Frieden.“ Charleton wandte sich zum Gehen, als wäre damit alles gesagt.

„Das kann und werde ich nicht tun“, erklärte Lady Aveley ihm resolut.

Ihr entschiedener Ton ließ den Baron innehalten. Langsam drehte er sich um.

„Mein Sohn ist frisch verheiratet“, fuhr sie fort. „Ich habe ihm versprochen, mich ihm und seiner Braut nicht aufzudrängen. Und das werde ich nicht. Zudem würde ich dich gern darauf hinweisen, dass all dies Isobels Wunsch war, nicht der meine.“

Während die beiden sich noch anfunkelten und nur darauf zu warten schienen, dass der andere zuerst klein beigab, ging Mr. Haley mit einem diskreten Räuspern dazwischen: „Wenn Sie gestatten, Mylord: Ich habe bereits den gesamten Westflügel für die jungen Damen herrichten lassen.“

Alle starrten nun ungläubig den armen Sekretär an. Dass Lady Aveley den Baron wie einen Zirkusbären reizte war das eine, aber Haley, dessen Lebensunterhalt vom Wohlwollen seines Dienstherrn abhing?

„Ohne meine Erlaubnis?“, fragte Lord Charleton dann auch und ließ die grauen Brauen hochschnellen.

Mr. Haley straffte die Schultern. „Mit, Mylord.“

„Mit?“, ereiferte sich der Baron. „Wann zum Teufel sollte ich denn solch einer aberwitzigen Verpflichtung zugestimmt haben?“

„Letzten November“, sagte Mr. Haley. „Ich erwähnte Ihnen gegenüber eine noch ausstehende Verbindlichkeit Lady Charletons …“

Louisa sah, wie die Augen des Barons sich verengten, während er sich an jenes fatale Gespräch zu erinnern versuchte. Schließlich verdüsterte sich seine Miene, woraus sie schloss, dass ihm alles wieder einfiel, wenn auch nicht zu seiner Freude.

„Sie hätten ruhig etwas näher ins Detail …“

„Das hatte ich versucht“, verteidigte Haley sich. „Aber Sie wollten nichts davon hören und gaben mir recht eindeutige Anweisungen. Sie meinten, ich solle mich darum kümmern. Nach bestem Ermessen und so, wie Ihre Ladyschaft es gewünscht hätte. Und genau das habe ich getan.“

Schachmatt.

Aber so leicht gab Lord Charleton sich nicht geschlagen. „Dann machen Sie weiter so, Haley. Kümmern Sie sich darum, aber lassen Sie mich in Frieden.“ Schnaubend verließ er das Zimmer, und wenig später hörte man die Haustür zuschlagen.

Mr. Haley wandte sich mit sorgenvollem Blick an Lady Aveley. Nun, da Lord Charleton sich der Sache ein für alle Mal entledigt hatte, schien der Sekretär doch ein wenig verunsichert zu sein. „Ihre Ladyschaft, ich hoffe …“

„Seien Sie unbesorgt, Mr. Haley. Lady Charletons Brief ließ keine Fragen offen. Ich kann Isobel ihren letzten Wunsch ebenso wenig abschlagen, wie ich ihr zu Lebzeiten etwas hätte versagen können.“

„Womit sollten wir Ihres Erachtens beginnen, Mylady?“, fragte Haley sichtlich erleichtert.

Die beiden drehten sich nach Louisa und Lavinia um und maßen sie mit prüfenden Blicken.

„Neue Kleider“, verkündete Lady Aveley. „Gleich morgen gehen wir einkaufen.“

„Hervorragend“, rief Mr. Haley. „Das war denn auch der zweite Punkt auf der Liste Ihrer Ladyschaft.“

Und während man sie die Treppen hinauf zu ihren Zimmern komplimentierte, fragte Louisa sich, was noch so alles auf der Liste ihrer patenten Patentante stehen mochte.

Pierson begab sich wieder zu Bett, fand jedoch nicht zurück in jene traumlose Leere, die seine Zuflucht geworden war.

Dennoch war das Dunkel dem infernalischen Sonnenschein vorzuziehen, der auch jetzt zwischen den Vorhängen hindurchblitzte, als wollte er ihn ärgern, ihn beharrlich an die Welt dort draußen erinnern.

Eine Welt, der er nach besten Kräften keine Beachtung zu schenken versuchte.

Heute jedoch schien ihm kein Entrinnen vergönnt zu sein, und nachdem er sich eine Stunde unruhig hin- und hergewälzt hatte, stand er wieder auf und klingelte nach Tiploft.

„Mylord?“, fragte Tiploft leise, als er zaghaft zur Tür hereinspähte. „Fühlen Sie sich unwohl?“

„Gute Frage“, erwiderte Pierson. „Ich habe ganz schrecklich geträumt.“

„Was Sie nicht sagen“, meinte Tiploft, huschte herein und begann alles zurechtzulegen. Er verzog dabei keine Miene und sprach dabei nicht viel. Mit anderen Worten: Tiploft war der perfekte Butler.

„Ganz genau, was ich nicht sage. Stellen Sie sich vor, mir träumte, dass eine Katze und eine junge Frau hier im Haus waren.“ Pierson hielt inne und sah auf. „Zumindest glaube ich, dass es eine Katze war.“ Dass das andere Geschöpf eine junge Frau gewesen war, daran immerhin konnte kein Zweifel bestehen. Ihre rotbraunen Locken hatten ihm keine Ruhe gelassen. Darum war er nun auch schon auf. Alles war besser, als von ihrem offen über die Schultern fallenden Haar zu fantasieren …

Tiploft, der eben ein Hemd vom Boden hatte aufheben wollen, verharrte einen Moment. „Sie erinnern sich, Mylord? Ich hätte nicht gedacht …“

Natürlich, das sah seinem Butler ähnlich. „Sie hatten gedacht, mein Gedächtnis würde mich mal wieder im Stich lassen.“

„Man wird noch hoffen dürfen, Mylord.“

Pierson warf einen Blick über die Schulter. Hatte Tiploft etwa gerade einen Scherz gemacht? „Nun denn. Eine recht einnehmende Person, nicht wahr? Oder hatte ich es doch bloß geträumt?“

„Sehr einnehmend“, bestätigte sein Butler – etwas zu beflissen.

„Kommen Sie bloß nicht auf dumme Gedanken, Tiploft“, warnte Pierson. „Wenn Sie mit dem Gedanken spielen, mir hübsche junge Damen ins Haus zu schmuggeln, um mich wieder zur Vernunft zu bringen – wie auch meine Mutter und meine Schwester mich ohne Unterlass ermahnen –, vergessen Sie es gleich wieder, verstanden?“

„Gewiss doch, Mylord. Es handelte sich keineswegs um die von ihnen befürchtete Verschwörung. Ihren Kater hatte etwas erschreckt, und er ist von ganz allein ins Haus gelaufen. Miss Tempest ist ihm lediglich gefolgt.“

„Ah, verstehe. Der Kater. Wie konnte ich dieses Biest nur vergessen? Grässliches Geschöpf. Sind Sie sicher, dass es eine Katze war?“

„Ehrlich gesagt, nein, Mylord.“

Pierson nickte nachdenklich. „Wo kam sie überhaupt her?“

„Die Katze, Mylord?“

Wieder warf Pierson einen kurzen Blick über die Schulter. Sollte Tiploft am Ende noch den Verstand verlieren? Zwei Scherze an einem Tag! Das kam davon, wenn man zu früh aufstand – man musste feststellen, dass der eigene Butler vor vier Uhr am Nachmittag nicht ganz er selbst war.

„Das Mädchen, Tiploft“, stellte er klar. „Die einnehmende Person. Miss …“

„Tempest, Mylord. Miss Tempest.“

Na, der Name passte. Wie ein Wirbelwind war sie in sein Haus gestürmt. Sie und ihre vermaledeite Katze, oder was immer es gewesen war. La tormenta, wie die Spanier sagten.

„Ja, ja, Miss Tempest. Wo zum Teufel kam sie her?“ Er versuchte möglichst gleichgültig zu klingen, denn es interessierte ihn kein bisschen, woher sie stammte, solange sie bloß nicht zurückkam.

„Von ihrer Mutter, möchte ich meinen.“

Pierson stutzte. Ein dritter Scherz? Unmöglich. Er würde den Vorrat an Spirituosen überprüfen müssen. Wer wusste schon, was sein Butler den lieben langen Tag so trieb. Und er hatte schon diesen schnöseligen Franzosen, den seine Schwester ihm als Koch aufgeschwatzt hatte, in Verdacht gehabt, seine Brandybestände zu dezimieren!

„Sehr amüsant, Tiploft. Und davon abgesehen, woher kann sie noch kommen?“

„Ich vermute von nebenan, Mylord. Zumindest sah ich sie im Haus Ihres Onkels verschwinden.“

„Charleton?“, fragte Pierson ungläubig. Nun war es aber genug. Jetzt gleich würde er die Vorräte überprüfen! Den Brandy und den Whiskey. „Ich glaube, da täuschen Sie sich“, sagte er, trat ans Fenster und zog den Vorhang auf. Sein Blick fiel auf den gepflegten Garten seines Onkels, streifte die Fassade hinauf und dann – was musste er sehen? An einem der oberen Fenster entdeckte er besagte junge Dame und, als hätte sie seinen Blick bemerkt, sah sie genau im selben Moment zu ihm hinüber.

„Wenn Sie das sagen, Mylord“, entgegnete Tiploft. „Wäre das alles?“

Pierson ließ den Vorhang fallen und drehte sich zu seinem Butler um. Nun verstand er gar nichts mehr. Was hatte sein Onkel mit dieser jungen Frau zu schaffen?

Tiploft erwiderte seinen Blick mit ausdrucksloser Miene, aber dem Viscount konnte er nichts vormachen. Der Mann verlor sich vorsätzlich in Ausflüchten, und Pierson wusste auch, warum. Sein verschlagener alter Diener spekulierte darauf, dass er schnurstracks zu Lord Charleton marschieren würde – und sei es nur, um herauszufinden, was hier gespielt wurde.

Vielleicht ja auch, um zufällig der einnehmenden kleinen Person über den Weg zu laufen. Mit ihren großen blauen Augen und den zerzausten Mahagonilocken.

Tod und Verdammnis, er hätte niemals das Wort „einnehmend“ benutzen sollen! Schon gar nicht vor Tiploft. Aber jetzt war es geschehen. Er hatte bei der treuen alten Seele vergebliche Hoffnungen geweckt.

„Mylord?“, machte sein Butler sich dezent bemerkbar. „Wäre sonst noch etwas?“

„Frühstück, wenn es nicht zu viel verlangt ist. Und bitten Sie diesen Knaben …“

„Monsieur Begnoche“, warf Tiploft ein und rümpfte bei der Erwähnung des Kochs die Nase. Seit ihnen der Mann praktisch von Lady Gamston, des Viscounts Schwester, aufgedrängt worden war, hatte er sich nicht mit ihm anfreunden können.

In eine anständige Küche gehört ein französischer Koch, hatte Margaret beharrt und ihm den Burschen quasi vor der Tür abgeladen, nachdem die alte Mrs. Withers mit fliegenden Fahnen seinen Haushalt verlassen hatte. Und konnte man es der Guten verdenken?

„Ja, ja, Begnoche“, winkte Pierson ab. „Wäre es vielleicht möglich, dass er die Eier ausnahmsweise nicht anbrennen lässt? In Frankreich mag das üblich sein, aber ich bevorzuge die englische Art der Zubereitung.“

„Ich werde es ausrichten, Mylord.“ Tiploft wandte sich zum Gehen, zögerte jedoch an der Tür, und Pierson ahnte schon, dass er noch etwas sagen wollte.

Da er jedoch keine Lust hatte, es sich anzuhören, fügte er rasch nach: „Und noch etwas, Tiploft …“

„Ja, Mylord?“

„Keine jungen Damen mehr, verstanden? Und definitiv keine Katzen. Oder was immer dieser Satansbraten war.“

Tiploft nickte. „Wie Sie wünschen, Mylord.“

Genau wie befürchtet war es nicht das, was Tiploft gern gehört hätte.

Und so nahm es wenig Wunder, dass die Frühstückseier Seiner Lordschaft sowohl verbrannt als auch zerlaufen waren.

„Einkaufen! Und das in London!“, schwärmte Lavinia und ließ sich auf das schmale Bett fallen. „Ich werde heute Nacht kein Auge zutun können. Neue Handschuhe, neue Kleider, neue Hüte, neue …“

Louisa hörte nicht länger zu, denn als sie am Fenster stehen blieb, fiel ihr auf, dass sie von ihrem Zimmer aus einen perfekten Blick auf das Nachbarhaus hatten. Sie wandte sich wieder um, stellte Hannibals Korb auf dem Boden ab und öffnete ihn. Der Kater kam so voller Verachtung herausstolziert, als hätte er mit dem Aufruhr vorhin nicht einen Deut zu tun. Auch die abermals fremde Umgebung schien ihm nichts anhaben zu können.

Er sprang auf die Fensterbank, schaute hinüber zum Haus und dem Garten jenseits der Mauer und warf dann einen Blick auf Louisa, als wollte er sagen: Da drüben wohnt er doch, oder?

„Ja, leider“, murmelte sie ohne nachzudenken.

„Leider?“, wiederholte Lavinia, die irgendwo zwischen neuen Unterkleidern und neuen Strümpfen angelangt war. „Louisa, was ist denn nur in dich gefahren? Hast du Lady Aveley nicht gehört? Wir gehen einkaufen.“

Das hätte jede junge Dame umgehend aufmuntern müssen, aber Louisas Blick schweifte nur wieder zum Fenster. Gewiss, die Aussicht auf neue Kleider hätte sie durchaus erfreut, wäre sie nicht längst davon überzeugt gewesen, dass alle Londoner Männer ohnehin schrecklich seien und eine neue Garderobe somit müßig.

Ihr grässlicher Nachbar war ja das beste Beispiel.

Und Lady Charletons aufmunternd gemeinte Worte hatten sie kaum zuversichtlicher gestimmt … Ein Fluch hat nur dann Macht über Dich, wenn Du an ihn glaubst.

Genau das war die Krux: Louisa glaubte daran, leider.

Doch nicht das allein beunruhigte sie; vielmehr war es eine quälende Unruhe, die sie vermutlich ihrer Mutter verdankte – mehr noch als deren braune Locken und blaue Augen. Aber was tat das schon zur Sache, wenn man in Kempton lebte und wenig Hoffnung oder Gefahr bestand, je seine Befürchtungen an der Realität überprüfen zu müssen?

In der Abgeschiedenheit ihres Dorfes käme nie ein Mann ihres Weges, der sie mit seinem Aussehen oder seinem Charme derart in Versuchung führen könnte, dass sie nicht länger die Augen davor verschließen konnte, die sinnlichen, fatalen Neigungen ihrer Mutter geerbt zu haben.

Und bislang hatte auch nichts darauf hingewiesen. Bis sie ihm begegnet war.

Diesem Freibeuter im Seidenrock. Wie ein orientalischer Pascha hatte er dagestanden und sie mit glühendem Blick taxiert, unschlüssig, ob er sie seinem Harem einverleiben oder den Wölfen zum Fraß vorwerfen sollte.

Wie konnte es sein, dass ein Mann sie so voller Zorn und Verachtung anschauen konnte und sie sich doch so … so … Ach verflixt, sie wusste selbst nicht, wie sie sich fühlte!

Aber nein, das stimmte nicht. Sie wusste es sehr wohl. Und genau das beunruhigte sie. Louisa schlang die Arme um sich, als könnte sie so dem inneren Aufruhr Einhalt gebieten.

Autor

Elizabeth Boyle
Bereits für ihren ersten historischen Roman erhielt Elizabeth Boyle den RITA Award für das beste Debüt. Auszeichnungen und Bestseller-Nominierungen für weitere siebzehn Romane folgten. Inzwischen hat Elizabeth Boyle ihren Job als Rechtsanwaltsfachangestellte aufgegeben, um hauptberuflich zu schreiben. Die New-York-Times-Bestsellerautorin, die in ihrer Freizeit gern gärtnert, strickt, liest, reist und Rezepte...
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