Entflammt vor Begierde nach dem Duke

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"Eine junge Dame mit Vermögen ist ungeheuerlichen Annäherungen der Männerwelt ausgesetzt!" Ein solches Schicksal braucht Tabitha Timmons nicht zu fürchten. Die junge Waise ist bettelarm und als Tochter eines Pfarrers nicht interessiert an Unsittlichkeiten jedweder Art. Doch dann soll sie ein Vermögen erben - wenn sie innerhalb von vier Wochen verheiratet ist! Für Tabitha kommt nur ein ruhiger, leidenschaftsloser Mann in Frage. Bis sie dem verwegenen Duke of Preston begegnet. Plötzlich ist sie hin- und hergerissen zwischen der Sicherheit einer Vernunftsehe - und den "ungeheuerlichen Annäherungen" des unwiderstehlichen Dukes …


  • Erscheinungstag 29.01.2016
  • Bandnummer 83
  • ISBN / Artikelnummer 9783733761073
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Kempton, Sussex, 1810

Wie so oft im Wonnemonat Mai, zog der Tag im Dorfe Kempton mit strahlendem Sonnenschein herauf, der den Tau auf den Wiesen funkeln ließ und die Vögel in den Gärten zu einem vergnügten Morgenkonzert verleitete.

Doch nichts deutete darauf hin, dass Miss Tabitha Timmons sich an diesem Tag nicht nur verloben, sondern auch bis über beide Ohren verlieben sollte.

Nur leider handelte es sich nicht um denselben Mann.

Als Tabitha am frühen Nachmittag aus dem Pfarrhaus trat und die Tür leise hinter sich schloss, um sich auf den Weg zu dem jeden Dienstag stattfindenden Treffen der Gesellschaft zur Besserung und Bekehrung Kemptons zu machen, hatte sie nur einen einzigen Gedanken im Sinn – nämlich den, dass sie für die folgenden drei herrlichen Stunden den Forderungen ihrer Tante und den Beschwerden ihres Onkels entkam.

„Holla“, rief Miss Daphne Dale, die vor der Gartenpforte auf Tabitha wartete, fröhlich. „Ich hatte schon Sorge, sie würde dich nicht aus dem Haus lassen“, raunte sie, während sie Tabithas ständigen Begleiter, einen großen Irish Terrier namens Mr Muggins, hinter den Ohren kraulte. Das Tier schaute verzückt zu Daphne auf, seine warmen braunen Augen strahlten vor inniger Bewunderung.

„Dann hätte Tante Allegra an meiner Stelle kommen müssen – und der Herr stehe uns bei, würde sie mit irgendeiner Aufgabe betraut“, sagte Tabitha mit einem Blick über die Schulter, aber die Vorhänge waren zugezogen, was hieß, dass ihre Tante ihr zumindest nicht hinterherspionierte, um sie unter irgendeinem Vorwand zurückzurufen.

„Nicht auszudenken“, befand Daphne, hakte sich bei Tabitha unter und zog ihre Freundin fort vom Pfarrhaus, das Tabitha einst ein so glückliches Zuhause gewesen war.

Eigentlich hätte es das noch immer sein sollen, denn friedlich und unverrückbar wie eh und je stand das Haus da, duckte sich in den Schatten von St. Edward’s, einem Relikt aus normannischer Zeit mit hoch aufragenden grauen Mauern, einem langen Kirchenschiff und einem quadratischen Glockenturm, der allenfalls noch von Foxgrove übertrumpft wurde, dem nicht weit entfernten Anwesen des Earl of Roxley.

Doch seit Tabithas Vater vor zwei Jahren einem Herzleiden erlegen war und ihr Onkel seinen Platz als Vikar eingenommen hatte, war aus Tabithas geliebtem Elternhaus ein trostloser Ort geworden.

Immerhin, so sagte sich Tabitha, gestand man ihr noch zu, an den Treffen der Gesellschaft zur Besserung und Bekehrung Kemptons teilzunehmen – und sei es nur, weil Tante Allegra es eine Zumutung fand, selbst von Tür zu Tür zu gehen und die zahlreichen unverheirateten alten Damen des Dorfes mit milden Gaben zu beglücken.

Während sie die Meadow Lane hinabschlenderten, einen schmalen Feldweg, der vom Pfarrhaus zur High Street führte, plauderte Daphne unablässig und brachte Tabitha in Sachen Dorfklatsch auf den neuesten Stand.

„… Lady Essex wird Louisa und Lavinia das niemals durchgehen lassen. Die Wimpel für den Mittsommerball waren schon immer lavendelblau, Punkt. Apfelgrün, also ich bitte dich!“

Tabitha lächelte still und ließ sich von dem scheinbar belanglosen Geplauder umfangen, das Balsam für ihre Seele war. Wenn sie mit Daphne zusammen war oder an den wöchentlichen Treffen der Gesellschaft teilnahm, vergaß sie beinah, dass nicht mehr alles so war wie früher und dass ihr einst so beschauliches Leben sich von Grund auf verändert hatte.

„… gestern habe ich den Zwillingen sogar noch einen Besuch abgestattet und sie zu überzeugen versucht, dass sie Lady Essex nur noch mehr gegen sich aufbringen werden, wenn sie darauf beharren.“ Daphne seufzte resigniert. „Aber nein, Louisa und Lavinia waren schon immer auf Ärger aus, oder?“

Tabitha sah ihre Freundin an. „Dachtest du wirklich, du könntest die beiden umstimmen?“

„Ich hatte es gehofft“, gab Daphne zu. „Und sollte der Versuch scheitern, so ging ich davon aus, dass mein neuer Hut sie auf andere Gedanken bringen würde.“ Sie wandte den Kopf von einer Seite zur anderen, um die grüne Seidenhaube mit dem grauen Bandbesatz in ihrer ganzen Pracht zu präsentieren.

Tabitha, der Daphnes Eitelkeit nicht neu war, lachte nur. „Du konntest deinen Vater also überreden, dir dein Taschengeld etwas früher auszuzahlen?“

Ihre Freundin grinste unverschämt und ihre blauen Augen strahlten, als sie mit behandschuhter Hand über die weit geschwungene Krempe strich. „Allerdings. Und er ist jeden Shilling wert“, verkündete sie. „Meine größte Sorge war, Papa würde nicht beizeiten nachgeben, sodass Miss Fielding mir zuvorkäme, und du weißt ja, wie elend sie in Grün aussieht!“

Tabitha lachte. Die Rivalität zwischen Daphne und Miss Fielding vertiefte sich von Jahr zu Jahr.

„Dir hingegen würde er ganz vortrefflich stehen“, meinte Daphne betont beiläufig. „Wenn wir bei Lady Essex eintreffen, kannst du ihn gern mal aufprobieren.“ Sie warf Tabitha einen kurzen Blick zu, der voller Güte und Mitgefühl war, und wartete gespannt auf ihre Reaktion.

Da sie genau wusste, worauf ihre Freundin hinauswollte, schüttelte Tabitha sofort den Kopf. „Du weißt, dass ich dergleichen nicht einmal erwägen kann. Erinnerst du dich daran, wie meine Tante reagiert hat, als du mir letzten Winter die Handschuhe gabst?“

„Es war nicht als milde Gabe gemeint“, stellte Daphne klar und runzelte leicht gereizt die Stirn. „Und das wäre es auch diesmal nicht. Nimm es als Geschenk, denn seien wir ehrlich, du hattest keinen neuen Hut mehr seit …“

„Zwei Jahren“, erwiderte Tabitha. Und auch kein neues Kleid. Oder neue Schuhe. Nicht einmal neue Strümpfe! „Wirklich, es macht mir nichts aus.“

„Aber mir!“, empörte sich Daphne. „Deine Tante und dein Onkel sollten sich schämen, dass sie dir nicht einmal das Notwendigste gönnen.“

Was sollte Tabitha dazu sagen? Es stimmte ja, dass ihre Tante und ihr Onkel mit Freuden zugegriffen hatten, als ihnen nach dem Tod ihres Vaters dessen Pfründe zufielen, aber wie hielten sie es mit der Vormundschaft für dessen mittellose Tochter? Tatsache war, dass sie – selbst kinderlos – auf diese Beigabe gut und gern hätten verzichten können. Tante Allegra, der jedwedes Muttergefühl abging, beklagte sogar, ihre Nichte würde in der kleinen Dachkammer, die sie ihr zugestanden hatten, über Gebühr viel Platz für sich beanspruchen.

Im Grunde störte sich Tabitha nicht an ihrer armseligen Zuflucht unter den Dachsparren, denn dort oben waren auch die Kisten und Koffer ihrer Mutter verstaut. Manchmal meinte Tabitha gar, einen Hauch ihres Veilchenparfüms wahrzunehmen – kurze, sehnsüchtige Momente, die ebenso flüchtig waren wie die wenigen Erinnerungen an ihre Mutter, eine anmutige Schönheit, die am Fieber gestorben war, als Tabitha noch sehr jung gewesen war.

„Jedes Mal, wenn dein Onkel von barmherziger Nächstenliebe predigt, würde ich am liebsten aufspringen und ihn maßloser Scheinheiligkeit bezichtigen“, sagte Daphne.

„Du bist unverbesserlich“, tadelte Tabitha, wenn auch halbherzig, denn wenn es einen Menschen gab, dem ihr Wohlergehen am Herzen lag, dann war es Daphne.

„Wer ist unverbesserlich?“, wollte Miss Harriet Hathaway wissen, die sich am Übergang von der Meadow Lane zur High Street zu ihnen gesellte. Wie man es von Harriet gewohnt war, saß ihre Haube schief, ihr Kleid war zerknittert, der Saum schlammbespritzt und auch eine ihrer rosigen Wangen zierte ein Spritzer oder Klecks unbestimmbarer Herkunft. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder völlig die Zeit vergessen und war aus den Stallungen von The Pottage herbeigeeilt, ohne auch nur einen Blick in den Spiegel zu werfen.

Lady Essex dürfte vom nachlässigen Äußeren ihres Schützlings wenig angetan sein, denn Ihre Ladyschaft hegte große Hoffnungen, Harriet bei nächster Gelegenheit mit nach London zu nehmen und dort eine mehr als vorteilhafte Partie für sie zu finden – Ambitionen, über die man in Kempton nur den Kopf schüttelte.

Vergebliche Liebesmüh, sagte man sich, denn schließlich war hier von „Harry“ Hathaway die Rede.

„Na, wer ist hier wohl ‚unverbesserlich‘? Ich natürlich“, klärte Daphne sie auf und wechselte rasch das Thema. „Schau, ich habe einen neuen Hut.“

Harriet schenkte dem Objekt der Begierde nur einen flüchtigen Blick. „Wie schön für dich. Ist das der, den du mir letzte Woche in Mrs Wellings Auslage gezeigt hast?“

Daphne nickte. „Genau der. Schön, oder?“

Nachdem sie noch einmal genauer hingesehen hatte, meinte Harriet: „Ja, schon, aber hatte der nicht noch Federschmuck?“

„Die Federn habe ich entfernt“, sagte Daphne mit einem vielsagenden Blick auf Mr Muggins.

Tabitha lächelte entschuldigend. Sosehr sie ihren Hund auch liebte, konnte sein Faible für alles Gefiederte bisweilen etwas strapaziös sein. Er begriff einfach nicht, dass Federn, die sich am Besatz einer Pelisse oder der Krempe eines Huts befanden, keinen tatsächlich zu erbeutenden Vogel verhießen.

Nachdem er kurz nach Tante Allegras Ankunft bereits drei ihrer Hüte zerfetzt hatte, drohte sie damit, das – wie sie sagte – „tollwütige Biest“ auf seine alten Tage noch aus dem Haus zu jagen; doch zu Tabithas großer Erleichterung hatte sich in ganz Kempton und der näheren Umgebung niemand bereitgefunden, den „roten Höllenhund“ bei sich aufzunehmen.

Letzten Endes hatte die Tante sich grimmig in ihr Schicksal gefügt und getan, was auch Daphne als einzige Möglichkeit des friedvollen Zusammenlebens mit Mr Muggins erkannt hatte: Sie hatte alle noch verbliebenen Federn von Hüten und Kleidern entfernt. Selbst die sonst so unerbittliche Lady Essex zeigte sich einsichtig und hatte die Federn von ihrem Lieblingsturban abgenommen, bevor sie ihn zu einem der Dienstagstreffen der Gesellschaft getragen hatte.

Sehr zu Tabithas Kummer war Mr Muggins unbelehrbar. In seiner Nähe war keine Feder sicher. Warum konnte er seinen Jagdinstinkt nicht auf Eichhörnchen und Ratten richten, so wie andere Terrier auch?

Aus Angst, Onkel Bernard könne ihn in ihrer Abwesenheit weggeben, Mr Muggins womöglich dem erstbesten Fremden aufschwatzen, der arglos des Weges kam, mochte sie ihren treuen Begleiter dennoch nicht allein zu Hause lassen.

„Du siehst müde aus, Tabitha“, bemerkte Harriet. „Und dünner bist du auch geworden. Du arbeitest zu hart.“

Tabitha wich ihrem Blick aus. „Ich bin früh aufgestanden, weil ich die Böden gescheuert haben wollte, ehe ich aus dem Haus ging.“

Daphne sah sie scharf von der Seite an. „Und nebenbei hast du wahrscheinlich noch das Silber poliert und den Abwasch gemacht, den Tisch für das Abendessen gedeckt und das Gemüse geputzt, damit die arme Mrs Oaks nicht mehr so viel zu tun hat.“

Das stimmte. Fast. Denn sie hatte auch noch die Bügelwäsche erledigt. Aber Mitleid wollte sie dennoch nicht. „Jetzt schaut mich nicht so an. Das bisschen Arbeit …“

Harriet ließ sich nicht unterkriegen. „Jemand sollte deine Tante daran erinnern, dass du eine Dame bist und keine Hausmagd.“

„Lieber nicht“, sagte Tabitha. Wenigstens hatte sie noch ein Dach über dem Kopf. Ein Umstand, auf den ihre Tante und ihr Onkel sie täglich hinwiesen.

„Du kannst jederzeit bei mir …“, setzte Harriet an, aber Tabitha schnitt ihr mit einem entschiedenen Kopfschütteln das Wort ab.

Du kannst jederzeit bei mir einziehen und in The Pottage wohnen.

Ebenso wie Lady Essex ihr bereits vorgeschlagen hatte, auf Foxgrove zu leben, oder Daphne ihr ein Zimmer in Dale House anbot. Aber ihr Onkel und ihre Tante erlaubten es Tabitha nicht, bei ihnen auszuziehen – angeblich aus Angst, ihr Mündel könne der Liederlichkeit anheimfallen, wenn es nicht mehr unter ihrer Obhut stand.

Vor allem aber würden sie dann ihr Mädchen für alles verlieren, das wohlgemerkt noch völlig umsonst schuftete.

Und Tabitha wollte auch gar nicht ausziehen, denn sie liebte das Pfarrhaus. Es war immer ihr Zuhause gewesen, auch wenn ihr nun nur eine kleine Dachkammer geblieben war und sie ihre Mahlzeiten in der Küche einnehmen musste. Aber sie konnte noch immer die Blumen ihrer Mutter im Garten hegen oder sich an der Handschrift ihres Vaters erfreuen, wenn sie Einträge in das Gemeinderegister machte.

Näher würde sie einem Zuhause vermutlich nie mehr kommen, und wenn sie auszöge, würde ihr selbst das noch genommen.

„Wenn wir wenigstens nicht hier in Kempton wären“, seufzte Daphne. „Dann könntest du heiraten und stündest nicht mehr unter der Fuchtel deiner Tante.“

„Lasst uns lieber an etwas Erfreulicheres denken“, schlug Harriet vor, als wäre ihr der Schatten nicht entgangen, der sich über Tabithas Miene gelegt hatte. „Beispielsweise daran, wie purpurn sich die Wangen von Lady Essex färben werden, wenn die Tempest-Zwillinge ihr albernes Anliegen erneut vortragen. Als ob man die gute Tradition der Wimpelfarben einfach so ändern könnte!“

Darüber mussten sie alle drei lachen, und sie spazierten in stillem Einvernehmen weiter, wofür Tabitha dankbar war. Manches zumindest würde sich niemals ändern.

Sie näherten sich der Schmiede und hörten den hellen, klaren Schlag von Mr Thurys Hammer, der stetig auf den Amboss traf. Obwohl es ein in Kempton vertrauter Klang war, blieb Daphne jäh stehen.

„Oh, seht nur!“, rief sie, worauf auch Harriet so unvermittelt stehen blieb, dass die Absätze ihrer Stiefel sich in den Kies gruben. Sie stolperte und ließ sie sich zu einem Fluch hinreißen, den sie vermutlich von einem ihrer fünf Brüder aufgeschnappt hatte, und setzte ein ebenso wenig damenhaftes „Verdammt feiner Wagen!“ nach.

Tabitha, die ein paar Schritte vorausgegangen war, blieb ebenfalls stehen und drehte sich nach den beiden um. Sie hob ihre Hand an die Stirn und blinzelte gegen die Sonne, bis auch sie erkennen konnte, was ihre Freundinnen derart faszinierte.

Und in der Tat, vor Mr Thurys Schmiede stand eine ziemlich flotte Kutsche – ein Phaeton, wenn sie nicht alles täuschte –, aber derlei Feinheiten wollte sie lieber Harriet überlassen, die sich in solchen Fragen besser auskannte. Im Augenblick jedoch war das teure Gefährt alles andere als flott. Zur Seite gekippt stand es da, und ihm fehlte ein Rad, welches vermutlich gerade vom Dorfschmied repariert wurde.

So etwas sah man in Kempton auch nicht alle Tage.

Denn so reich das Dorf an alten Jungfern und unverheirateten jungen Damen war, so sehr fehlte es ihm an Gentlemen – und allen damit einhergehenden männlichen Insignien.

Schnittigen Phaetons beispielsweise.

„Oh, schaut nur – habt ihr jemals solch anbetungswürdige Perfektion gesehen?“, flüsterte Daphne.

Tabitha warf ihrer Freundin einen besorgten Blick zu. „Ich fürchte, einen solchen Wagen wirst nicht einmal du deinem Vater abschmeicheln können.“

„Ich meinte auch gar nicht den Wagen“, gestand Daphne. „Sondern den Gentleman dort in der schmucken Jacke.“ Tabitha folgte ihrem Blick und sah einen hochgewachsenen, ausgesprochen elegant gekleideten Mann unter dem Vordach der Schmiede stehen. Sein in der Tat sehr schmucker Rock stand offen und ließ eine bunt karierte Weste sehen, über der sich ein blütenweißes Krawattentuch mit allerlei Spitze bauschte – eine Aufmachung, die für Tabithas Empfinden etwas zu viel des Guten war. Besagter Gentleman lehnte mit einem großen Glas Bier in der Hand lässig an der Wand, doch viel schlimmer war, dass er dabei in ihre Richtung grinste. „Wer um alles in der Welt ist das?“, fragte Tabitha. „Und wie kommt er hierher, nach Kempton?“

„Ach, das ist Roxley“, sagte Harriet, als wäre nichts weiter dabei, und winkte dann – sehr zu Tabithas Entsetzen – dem adeligen Gentleman zu, wie man sonst vielleicht dem Krämer oder einem fahrenden Händler zuwinken mochte. „Ho, Mylord! Sind Sie hier, um Ihre Tante zu besuchen?“

Ohne einen Gedanken an Anstand oder gute Manieren zu verschwenden, preschte Harriet los und reichte Lord Roxley zur Begrüßung die Hand – dem Lord Roxley, dem berüchtigten und ruinösen Roxley, der sich so selten in diesem Winkel der Welt blicken ließ, dass es kein Wunder war, wenn ihn hier niemand erkannte.

Das ist der Earl?“, flüsterte Daphne, die – ebenso wie Tabitha – kaum den Blick von Lady Essex’ Neffen nehmen konnte. Foxgrove, das von Ihrer Ladyschaft bewohnte Anwesen, war nur eines der zahlreichen Güter Roxleys. Der Earl, der in London aufgewachsen war, pflegte nur einmal im Jahr einen kurzen Abstecher nach Kempton zu machen – in der Regel ohne vorherige Ankündigung, damit seine umtriebige Tante ihn nicht mit einem Ball oder einer anderen Geselligkeit belästigte, um ihn „mit den Schönheiten des Dorfes“ bekannt zu machen.

„Ich wusste nicht, dass du nach Kempton kommen würdest, Roxley“, sagte Harriet so schockierend vertraut, dass Tabitha der Mund offen stehen blieb. Andererseits hatte sie ihre Freundin schon immer darum beneidet, wie selbstverständlich sie mit dem starken Geschlecht umzugehen wusste. Vermutlich lag es daran, dass Harriet, die mit fünf Brüdern aufgewachsen war, in Männern keine geheimnisvollen Wesen sah, die Gefahr und Verderben über einen brachten, sondern einfach nur nette Kerle, die gute Gesellschaft versprachen.

Für Tabitha wäre ein solcher Umgang unvorstellbar.

„Chaunce hat mir erst diese Woche geschrieben, aber mit keinem Wort erwähnt, dass du aufs Land kämst“, fuhr Harriet fort ihn zu schelten.

„Pssst, Harry – nicht alles verraten! Ich bin doch in absolut geheimer Mission unterwegs.“ Der fesche Bursche zwinkerte ihr zu.

Harriet schüttelte den Kopf. „Aber Roxley, du sollst mich doch nicht mehr so nennen! Deine Tante wäre entsetzt, würde sie es hören. Für Sie, Mylord, bin ich jetzt und fortan Miss Hathaway.“ Sie nahm eine Haltung an, die sogar Lady Essex würdig gewesen wäre.

Roxley schien unbeeindruckt. Er beugte sich zu ihr vor und raunte wie ein Verschwörer: „Ha, Miss Hathaway, dass ich nicht lache! Nicht für mich, Harry. Niemals.“ Dann streckte er sogar noch die Hand nach ihr aus und – Tabitha traute ihren Augen kaum – kniff sie in die Wange!

Lachend schlug Harriet seine Hand fort. „Du bist noch immer ganz der Alte, Roxley!“

„Das will ich auch hoffen. Es würde meine Eltern sicher schockieren, käme ich eines Tages so bieder und gesetzt daher wie dein Bruder Quinton.“ Wieder lachte er und musterte dabei Tabitha und Daphne, ehe er sich mit vielsagendem Blick wieder Harriet zuwandte.

Sich mit einem Mal ihrer guten Manieren erinnernd, stellte Harriet sie rasch einander vor: „Mylord, Miss Timmons und Miss Dale.“

„Sehr erfreut, die Damen“, erwiderte er galant.

Immerhin, gute Umgangsformen hat er, dachte Tabitha, die sich von seiner Großtante Lady Essex zahllose Klagen über seine charakterlichen Mängel hatte anhören müssen. Doch nun machte er eine sehr respektable und elegante Verbeugung, während sie und Daphne in tiefe Knickse sanken.

„Und wen haben wir da?“, fragte er und streckte die Hand nach Mr Muggins aus, um ihm einen freundschaftlichen Klaps zu geben.

Der Hund ließ ein tiefes, kehliges Knurren hören.

„Ein prächtiges Tier“, befand Roxley, während er seine Finger schnell wieder in Sicherheit brachte.

„Verzeihen Sie vielmals, Mylord“, beeilte Tabitha sich zu sagen. „Fremden gegenüber ist er sehr vorsichtig.“

„Es ist wegen der Feder an deinem Hut“, klärte Harriet den Earl auf.

„Wegen der was?“, fragte er und ließ den großen Hund nicht aus den Augen, der ihn wiederum musterte wie ein Wolf ein verlorenes Lämmchen.

„Die Feder an deinem Hut“, wiederholte Harriet geduldig und zog sie ihm aus der Krempe.

„Hey, das war mein Souvenir …“

Doch was immer sie ihm bedeuten mochte, nun war sie fort, denn schon hatte Harriet sie Mr Muggins vor die Pfoten segeln lassen. Der schnappte sie sich geschickt und schaute sein Frauchen mit stolz strahlendem Hundeblick an, ob sie auch ja gesehen hatte, wie er seine Beute gefangen hatte.

„Du kannst dich später bei mir bedanken“, ließ Harriet Roxley wissen, als sei damit alles erklärt.

„Was ist denn mit Ihrer Kutsche geschehen, Mylord?“, versuchte Tabitha das Gespräch wieder in schickliche Bahnen zu lenken.

„Es ist leider nicht meine, Miss Timmons. Dieser fabelhafte Wagen gehört Preston.“ Er deutete hinter sich in die Schmiede. „Ich habe ihn gleich gewarnt, dass er die Kurve bei der großen Eiche nicht mit diesem Tempo nehmen sollte, aber der Junge hört ja nicht auf mich. Genauso stur und schlecht erzogen wie Ihr Hund.“ Er zuckte mit den Achseln und grinste, als würde ihnen ihr törichtes und gefährliches Missgeschick noch zur Ehre gereichen.

Harriet lachte. „Mein Bruder George ist letztes Frühjahr genau dasselbe passiert. Ein verdammter Teufelskerl, meinte Vater nur.“

„Harriet!“, keuchte Daphne. „Denk bitte daran, was Lady Essex uns bezüglich unserer Wortwahl gesagt hat! Sie würde uns nachsitzen lassen, wenn sie dich so etwas sagen hörte.“

„Das ist jetzt nicht wahr, Harry, oder?“, rief Roxley und schaute von Daphne zu Harriet. „Du lässt dich von meiner Tante verderben?“

„Nicht verderben, Mylord“, erwiderte Harriet. „Sie soll mir nur den letzten Schliff verpassen. Meine Mutter hat es aufgegeben. Aber Lady Essex ist zu allem entschlossen. Sie beabsichtigt sogar, mich kommenden Monat mit nach London zu nehmen.“

„Sagtest du London?“, vergewisserte sich Roxley.

„Aber ja, hat sie dir das nicht geschrieben?“

„Geschrieben? Mir? Sie hat mir noch nie auch nur eine Zeile geschrieben“, erwiderte er. „Steht immer nur plötzlich vor der Tür und macht mir dann wochenlang das Leben zur Hölle.“ Er grinste sie an. „Jetzt bin ich gewarnt. Dafür stehe ich in Ihrer Schuld, Miss Hathaway.“

„Sehr schön, dann sehen wir uns im Almack’s auf einen Tanz.“

„Almack’s? Nie im Leben!“ Er schüttelte sich. „Vermutlich werde ich kommenden Monat überhaupt nicht in der Stadt sein. Genau, ich fahre aufs Land, zur Jagd.“

„Welch eine dumme Ausrede; die Jagdsaison hat doch noch gar nicht begonnen“, stellte Harriet klar und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Irgendwo bestimmt“, neckte er sie.

„Wenn du so erpicht darauf bist, Lady Essex aus dem Weg zu gehen, was treibst du dann hier in Kempton?“, fragte Harriet.

„Reiner Zufall, um nicht zu sagen – ein Wettrennen. Wir wollten vor Kipps, dem eitlen Gecken, zurück in London sein, und ich meinte noch zu Preston, er solle die Straße nach Kempton nehmen, das wäre eine Abkürzung. Ha, ha, von wegen. Wirklich dumm gelaufen, denn ich habe mit Dillamore um ein Vermögen gewettet, dass wir als Erste in der Stadt sind.“ Er fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar und betrachtete den demolierten Wagen. „Dabei hatte ich Preston noch wegen dieser Kurve gewarnt“, meinte er mit einem bedauernden Kopfschütteln. „Tja, fünfhundert Pfund an den Baum gesetzt.“

„Du liebe Güte“, hauchte Tabitha. „Fünfhundert Pfund!“

Auch Daphne machte bei dieser Summe große Augen. „Hoffentlich weiß Mr Thury, wie wichtig es ist, dass Sie das Rad schnellstmöglich repariert bekommen.“

„Oh ja, das weiß er“, sagte Roxley lässig. „Preston ist sogar selbst eingesprungen, um die Sache zügig voranzubringen. Fabelhafter Kerl, das muss man ihm ja lassen. Könnte allerdings auch daran liegen, dass er die doppelte Summe verwettet hat und mächtig Ärger mit seinem miesepetrigen Onkel bekommen dürfte, wenn wir das Geld in den Sand setzen.“ Lord Roxley rief über die Schulter: „Oder, Preston? Noch können wir Kipps doch schlagen.“

Aus der glutheißen Schmiede war ein mürrisches Grummeln zu vernehmen, das vermutlich nicht von Mr Thury, sondern von besagtem Preston kam.

Der Earl lächelte entschuldigend. „Er ist schlechter Laune, wer kann es ihm verdenken? Jetzt hab dich nicht so, Preston! Komm mal her und mach Bekanntschaft mit ein paar reizenden jungen Damen aus dem Dorf. Gentlemen sind hier rar gesät, was uns einen gewissen Seltenheitswert verschafft.“

Da hatte Roxley allerdings recht.

Die Herren der Schöpfung verließen diesen verschlafenen, abgeschiedenen Weiler, sowie sie alt genug waren, um aufs Internat zu gehen – und die wenigstens kehrten später zurück. Das Militär, die Marine, ja selbst ein geistliches Leben schienen ihnen verlockender und aufregender als die friedlichen Wiesen und Weiher und die sanften grünen Hügel, in deren Schoß Kempton gebettet lag. Hatten nicht auch Harriets Brüder – bis auf George, den Erben – flugs das Weite gesucht und sich in alle Winde zerstreut, statt wieder am Ort ihrer Kindheit sesshaft zu werden?

Sie taten es, weil sie es konnten.

Und dann vertaten sie ihre Freiheit mit derartigen Kindereien!

Tabitha konnte sich nur wundern über diesen Freund von Lord Roxley, diesen Mr Preston – und das, obwohl sie dank Lady Essex bestens über den ausschweifenden Charakter des Earls und dessen nichtsnutzige Freunde informiert war. Welcher Mann würde denn bitte schön so viel auf ein Kutschenrennen wetten?

Es war einfach nur skandalös, aber zugleich empfand Tabitha einen Anflug von Neid, mit welcher Leichtigkeit, welcher gedankenlosen Freiheit diese Männer Unsummen verwetteten und quer durchs ganze Land fuhren, während sie hier … festsaß.

Nur wenige Minuten zuvor hätte sie sich, wenn schon nicht als glücklich, so doch als zufrieden bezeichnet – etwas erschöpft, da überarbeitet, übernächtigt und unterernährt, das wohl, aber durchaus zufrieden. Doch nun ging ihr plötzlich auf, wie ungerecht das alles war!

Sie war hier gefangen – es ließ sich nicht beschönigen. Gefangen von den Umständen und dem Mangel an Möglichkeiten. Niemals zuvor war London ihr verlockend erschienen, aber nun, wenn sie sich diese schnelle Kutsche anschaute und sich überlegte, welche Freiheit sie einem verschaffte, regte sich Aufruhr in Tabithas Herzen, was wahrlich nicht oft vorkam.

Doch dann dachte sie weiter und fand sich rasch ernüchtert. Denn London mochte nur zwei Tagesreisen entfernt sein, doch was sollte sie mit sich anfangen, wenn sie dort war? Ihre Verwandten in Mayfair würden sie sofort wieder zurück nach Kempton schicken.

Jetzt erkannte Tabitha die wahre Gefahr, die von Männern ausging: Sie setzten einer Frau die unmöglichsten Flausen in den Kopf. Plötzlich war sie ganz froh, dass in Kempton ein solcher Mangel an ihnen herrschte.

„Preston, jetzt komm schon – nur ganz kurz“, beharrte Roxley, der noch immer versuchte, seinen Freund von der Arbeit loszueisen.

„Machen Sie sich unseretwegen keine Umstände, Mylord“, wandte Tabitha so höflich wie möglich ein. „Wir können uns leider nicht länger aufhalten, denn gleich findet eine Versammlung unserer Reformgesellschaft statt.“ Und wer konnte schon wissen, welche beunruhigenden Flausen ihr dieser ominöse Mr Preston noch in den Kopf setzen würde! „Wir möchten Sie und Mr Preston nicht länger von Ihren … Ihren …“

Ach, verflixt, wie sollte man das denn nennen, womit sie sich die Zeit vertrieben? Eine Wette, die so töricht und dumm war, nichts weiter als eine heillose Verschwendung von Zeit, Geld und Mühe.

„Ach was, das macht doch keine Umstände“, gab Roxley sich generös. „Preston kann es nicht schaden, zur Abwechslung mal ein paar respektable Damen kennenzulernen. Seine Tante liegt ihm ständig damit in den Ohren.“ Die Arme vor der Brust verschränkt, mit ungeduldig wippender Stiefelspitze, wandte der Earl sich erneut zu seinem Freund um. „Los jetzt, Preston! Zeig dich und mach brav deinen Diener, sonst heißt es nachher noch, ich würde in schlechter Gesellschaft verkehren. Nicht auszudenken – Lady Essex würde sich in all ihren Urteilen bestätigt fühlen.“ Wobei er wieder Harriet anschaute und vielsagend mit den Brauen wackelte.

Tabitha vermutete, dass Lady Essex alles andere als erfreut wäre, wenn sie ihre Schützlinge in Gesellschaft dieses Preston wüsste. Da konnte Lord Roxley ihn noch so sehr einen „fabelhaften Kerl“ finden, was wohl kaum eine Empfehlung war. Eher im Gegenteil.

Fabelhaft, dass sie nicht lachte. Vermutlich war er einer von der allerschlimmsten Sorte, die man sich nur …

Und dann erhaschte sie einen Blick auf ihn, auf diesen ominösen Mr Preston, sah, wie er sich neben dem rot glühenden Ofen aufrichtete, den Blasebalg, mit dem er das Feuer angefacht hatte, noch in der Hand, und fabelhaft war keineswegs das erste Wort, das ihr in den Sinn kam.

Alle Mutmaßungen, die sie über ihn angestellt hatte – dass er kein passender Umgang wäre, ein skandalöser, gefährlicher Schuft –, fanden sich bestätigt, doch zugleich stoben ihre Bedenken auseinander wie sprühende Funken, eben noch gleißend hell und im nächsten Moment schon erloschen, verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

Denn Mr Preston mochte ein Spieler sein, ein Schuft und ein Tunichtgut, aber zu Tabithas ehrlichem Entsetzen war er ausgesprochen schön anzusehen.

Geradezu sündhaft schön.

Weshalb „fabelhaft“ nun wirklich nicht das erste Wort war, das ihr in den Sinn kam. Sie würde es eher schlichter fassen, klarer.

Ruinös.

Er richtete sich auf, kein hässlicher Hephaistos, sondern ganz der Adonis. Dessen war sie sich sicher, denn Lady Essex hatte in ihrem Morgenzimmer eine Statue des jungen Gottes stehen, die ihr Vater vor vielen Jahren von einer Reise auf den Kontinent mitgebracht hatte.

Die leibhaftige Version besaß zumindest den Anstand, Breeches, Stiefel und Hemd zu tragen, wenn auch nur notdürftig. Das sehr modische, ehemals weiße Leinenhemd stand bis zur Taille offen und klebte ihm am Leib, seine glatte, muskulöse Brust schimmerte vom Schweiß seiner Mühen.

Ein Gentleman würde sich niemals so in der Öffentlichkeit zeigen – ohne Krawatte, ohne Handschuhe, überhaupt ohne alles, was Stand und Schicklichkeit ausmachte. Dieser Mr Preston hingegen war beinah … Wagte sie es zu denken? Doch anders ließ es sich kaum umschreiben.

Er war beinah … entkleidet. Entblößt. Nackt.

Nicht, dass es etwas bedurft hätte, seine Gestalt zu schmücken, denn er war … perfekt!

Tabitha presste schockiert die Lippen aufeinander. Gütiger Himmel, was dachte sie bloß? War es nicht schlimm genug, dass ihr sämtliche Glieder brannten, als wären sie in die Flammen des Schmiedeofens geraten? Das Herz pochte und flatterte ihr ganz seltsam in der Brust, und natürlich wusste sie, dass sie den Blick abwenden sollte, statt ihn anzustarren, so hingerissen und verzückt … doch sie konnte es nicht. Nein, sie wollte es nicht.

Er schüttelte den Kopf, dass ihm das dunkelblonde Haar um die Schultern fiel wie eine ungebärdige Mähne. Aus dunklen Augen warf er ihr einen kurzen Blick zu, und Tabitha war es, als würde dieser Blick sie durchbohren, sie bannen – wie eine der beklagenswerten Kreaturen, die ihr Vater für seine Sammlung aufgespießt und präpariert hatte. Sollte ein einziger Blick sie erobern können? Doch ihre Sorge war unnötig, denn schon schwand sein Interesse, und er wendete den Blick von ihr ab, als sei sie seiner Aufmerksamkeit nicht würdig.

Das jedoch brüskierte sie zutiefst. Wie konnte er es wagen! Natürlich scherte es sie keinen Deut, was er von ihr dachte. Doch was bildete der Schuft sich ein, so zu tun, als sei seine Aufmerksamkeit eine besondere Gunst?

Und sie war keineswegs die Einzige, die seine vorschnelle Zurückweisung bemerkt hatte.

„Jetzt gib hier nicht den Griesgram, Preston“, beschwerte sich Roxley und wippte auf den Absätzen seiner Stiefel, die Hände auf dem Rücken verschränkt. „Das ist schlechter Stil. Zudem sei unbesorgt, bei den jungen Damen von Kempton bist du vor Avancen sicher. Nicht eine von ihnen hat auch nur die geringste Hoffnung, einen Mann in die Brautfalle zu locken.“ Der Earl zwinkerte den drei anwesenden Damen zu. „Sie sind verflucht, allesamt.“

Verflucht. Damit war ihm die Aufmerksamkeit seines Freundes sicher; er schaute auf, und es zeigte sich gar wieder ein Anflug von Interesse in seinen dunklen Augen.

Tabitha, die eigentlich ziemlich stolz auf den Fluch von Kempton war, der natürlich kein Fluch, sondern eher eine … nun ja, eine gute, alte Tradition war, schämte sich auf einmal dafür. Denn Lord Roxley ließ es klingen, als wären sie dumme Landeier. Von wegen! Nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können.

„Verflucht?“, fragte Preston und legte den albernen Blasebalg beiseite. Eine seiner dunklen Brauen schoss amüsiert in die Höhe, und sein durchdringender Blick richtete sich abermals auf Tabitha. „Wirklich?“ Er griff nach einem Lappen und wischte sich die Hände ab.

„Wirklich“, bestätigte Roxley und zwinkerte Harriet zu. „Schon seit Jahrhunderten. Sie können einfach keinen Mann finden, der sie heiratet. Zumindest keinen, der lange überlebt. Noch immer erzählt man sich die Geschichte des armen John Stakes – dabei ist der Mann schon seit bald zweihundert Jahren tot. Immerhin, die Dorfschenke haben sie nach ihm benannt, nachdem seine Braut ihn …“

Nun war es Tabitha aber genug. „Mylord! Niemand nimmt solche Legenden für bare Münze.“

Daphne trat vor und fügte hinzu: „Genau. Miss Woolnoth beispielsweise hat vor vier Jahren Mr Amison geheiratet, und die beiden waren doch wie füreinander geschaffen.“

Harriet sah sie mit großen Augen an, und die Wahrheit schien ihr auf der Zunge zu liegen.

Die lautete, dass Mr Amison gesoffen hatte wie ein Loch und Miss Woolnoth nur geheiratet hatte, um billig an den Leitwidder ihres Vaters zu kommen. Die Schafe hatte er auch bekommen – allerdings um den Preis einer ständig nörgelnden Ehefrau.

Viel schlimmer war jedoch, dass die kurzlebige Ehe der Amisons der Legende vom Fluch reichlich Nahrung gegeben hatte: Wer eine Frau aus Kempton heiratete, endete tragisch. So auch Mr Amison, den man nach feucht-fröhlicher Zeche in der Dorfschenke und einer nicht ganz so freudigen Heimkehr des Morgens im Mühlteich treibend fand.

Womit keineswegs gesagt sein sollte, dass Mrs Amison dabei die Finger im Spiel gehabt hatte. Aber in Kempton musste man eben auf so etwas gefasst sein.

„Allerdings, Mylord. Von einem Fluch kann keine Rede sein“, bekräftigte Tabitha und reckte störrisch das Kinn. „Wir ziehen es nur vor, nicht zu heiraten.“

Ein Entschluss, der sehr dadurch erleichtert wurde, dass es in Kempton an geeigneten Kandidaten mangelte und sie ohnehin weder eine Mitgift hatte, um einen Mann anzulocken, noch Gelegenheit, männliche Avancen zu wecken.

Von den beiden Gentlemen wurde dies mit Schweigen aufgenommen, dann brach Lord Roxley in lautes Gelächter aus, das ihr, gelinde gesagt, auf die Nerven ging. Doch was Tabitha wirklich fuchste, war Mr Prestons Reaktion.

Der Mann erdreistete sich, laut und verächtlich zu schnauben, als hätte er sein Lebtag noch nicht solchen Unsinn gehört.

„Damen, die es vorziehen, nicht zu heiraten!“ Lord Roxley schüttelte sich vor Lachen. „Ach, wenn doch bloß die Londoner Frauen genauso dächten, was, Preston? Dann könntest du endlich wieder einen Ball oder eine Soiree besuchen, ohne einen Tumult auszulösen!“

Dass von Mr Preston bloß wieder ein Schnauben kam, reizte Tabitha noch mehr. Und da sie nun bestätigt fand, was sie ohnehin schon vermutet hatte – dass Mr Preston in London eifrig für Skandale sorgte –, wusste sie wenigstens, woran sie bei ihm war. Welch ein verkommenes Geschöpf! Einer dieser Männer, die der Ehe abschworen und sich die Zeit lieber damit vertrieben, junge, unschuldige Damen um ihre Tugend und ihren Ruf zu bringen und ihnen jede Aussicht auf künftiges Glück zu nehmen. Schlimmer konnten sie gar nicht sein, die Männer. Gentlemen, dass sie nicht lachte!

„Mr Preston …“

Roxley stieß ein bellendes Lachen aus. „Miss Timmons, Sie sollten wissen …“

„Nicht doch, Roxley, lass das Mädchen doch erst mal ausreden“, wies Preston ihn zurecht. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, Miss Timmons?“

Tabitha atmete tief durch. „Sir, nur um das ein für alle Mal klarzustellen: Ich beabsichtige nicht, mir jetzt oder künftig einen Ehemann zu suchen, und befinde mich sehr wohl mit dieser Entscheidung.“ So, das wäre geschafft; es war schon eine Weile her, dass sie zuletzt so offen ihre Meinung gesagt hatte, aber von ihrem kleinen Erfolg bestärkt, wagte sie sich noch etwas weiter vor: „Die Ehe bietet einer Dame keinerlei Vorteil, vielmehr macht sie uns den wechselnden Launen und eigennützigen Forderungen eines Mannes untertan.“

Ihren Onkel hätte ob einer solch kühnen Behauptung der Schlag getroffen.

Doch der impertinente Preston schien von ihren Worten eher amüsiert als an seinen Platz verwiesen! Er grinste sie an und pirschte sich heran wie ein Löwe – der König des Waldes mit seiner lohfarbenen Mähne –, der mit einem Tatzenstreich eine leichte Beute zu erlegen trachtet. „Ach ja?“ Sein Blick glitt prüfend über sie, dann hob er spöttisch eine Braue und wartete ab.

Sie wich nicht einen Schritt von der Stelle und schluckte. „Ja.“

Er nickte bedächtig. „Sie und Ihre Freundinnen haben also nicht die Absicht, zu heiraten?“

„Für Miss Dale oder Miss Hathaway kann ich nicht sprechen, aber ich für meinen Teil befinde mich recht wohl, wenn ich das so offen sagen darf.“

Eine Frau müsste schön töricht sein, jemanden wie diesen Mr Preston zu heiraten. Männer wie er verließen einen und brachen einem das Herz.

Und doch fragte sie sich insgeheim – und das auch nur für einen Moment –, wie eine Frau sich ihm versagen konnte, wenn sogar ihr eiserner Entschluss, ihn gründlich heruntergeputzt seines liederlichen Weges ziehen zu lassen, mit jedem Schritt, den er sich ihr näherte, weiter ins Wanken geriet. Und weil sie nicht gewillt war, auch nur eine Handbreit zurückzuweichen, stand er plötzlich vor ihr, so dicht, dass sein entblößter Oberkörper nur noch besagte Handbreit von ihr entfernt war.

So dicht, dass sie den feuchten Schimmer seiner Haut sah, die kräftigen Muskeln, zwischen denen kleine Schweißtropfen herabrannen; so dicht, dass sie beinah den Schlag seines Herzens spüren konnte. Sie roch das Kohlenfeuer des Ofens an ihm und noch etwas anderes, etwas so Männliches, dass es ihre guten Vorsätze arg in Bedrängnis brachte und sie sich ihres gesunden Menschenverstands beraubt fühlte.

Am liebsten hätte sie seinen Geruch in sich aufgesogen, hätte die Hand nach ihm ausgestreckt und seinen nackten Oberkörper berührt – und sei es bloß, um sich irgendwo festzuhalten, denn plötzlich war ihr, als schwanke der Boden unter ihren Füßen.

Und wie groß ihr Entsetzen, als er sich unversehens vorbeugte und ihr ins Ohr flüsterte! „Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Miss Timmons, doch was genau wissen Sie von den Launen eines Mannes? Und was von dem Verlangen, das eine Frau empfinden kann?“

Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Tabitha taumelte zurück, fort von ihm, und ihre Wangen glühten. „Oh!“, rief sie. „Wie können Sie es wagen!“

Doch da lachte er nur, der elende Schuft, wandte ihr den Rücken zu und kehrte zurück an seine Arbeit. Wie er sie einfach so abtat, genau wie zuvor! Auf halbem Wege blieb er noch einmal stehen und schaute sich kurz um. „Miss Timmons, wenn Sie sich jemals getraut hätten, würden Sie nicht so dumme Behauptungen aufstellen.“

Da fehlten ihr doch wirklich die Worte! Sie holte tief Luft und legte sich die Hand auf den Bauch, in dem es plötzlich flatterte wie eine ganze Schar Schmetterlinge. Mit dem letzten Rest an Contenance, der ihr geblieben war, raffte sie sich zu einer hitzigen Erwiderung auf.

„Was soll falsch daran sein, wenn eine Frau weiß, was sie will, und nicht einsieht, warum sie sich von Dünkel und Anmaßung eines Mannes beherrschen lassen sollte?“

„Miss Timmons, Sie nehmen wirklich kein Blatt vor den Mund, was?“ Mr Preston würdigte sie schon keines Blickes mehr, als er ihr diese Frage über die Schulter zuwarf. Doch dann blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. „Und was ist mit den anderen jungen Damen dieses Dorfes? Teilen die Ihre Einstellung?“

Zu beiden Seiten von ihr standen Daphne und Harriet und nickten in schwesterlicher Einigkeit die Köpfe.

Lord Roxley wollte schon wieder anfangen zu lachen, aber als er sich drei empörten jungen Damen gegenübersah – und wohl auch in dem Wissen, dass das furiose Trio diese Begebenheit mit großer Wahrscheinlichkeit seiner Großtante berichten würde –, zog er sich mit einem diskreten Hüsteln zurück und überließ es seinem Freund, sich ihrem gerechten Zorn allein zu stellen.

Preston indes tat nichts dergleichen; den Blasebalg schon wieder in der Hand, warf er ihnen einen letzten, flüchtigen Blick zu und meinte: „Dann würde ich behaupten, dass nicht die Damen dieses Dorfes verflucht sind, sondern jeder Mann im Umkreis von fünfzig Meilen.“

2. KAPITEL

Statt von ihrem Treffen der Reformgesellschaft wie üblich mit einem Gefühl erbaulicher Zufriedenheit zurückzukehren, das sie sonst immer eine weitere Woche im Pfarrhaus ertragen ließ, kam Tabitha mit einer Laune ins Haus gestürmt, die sämtlichen Maßgaben ihres Onkels hinsichtlich Anstand und Disziplin trotzte.

Sie ging sogar so weit, die Tür recht vernehmlich hinter sich zu schließen.

Ihre schlechte Laune rührte keineswegs von dem Aufstand, den die Tempest-Zwillinge wegen dieser albernen Wimpel für den Mittsommerball veranstaltet hatten, denn ob nun Lavendelblau oder Apfelgrün war ihr jetzt genauso gleich wie Stunden zuvor.

Zuvor … bevor …

„Dieser … Oh, dieser grässliche, garstige Mann!“, ließ sie Mr Muggins wissen, als der Hund an ihr vorbeistob und mit einem munteren Schwanzwedeln einige Nippesfiguren ins Schwanken brachte. „Was soll denn falsch daran sein, seine Meinung zu sagen?“

Wobei sie schon reichlich Gelegenheit hatte, sich eben jene Klage anzuhören – von ihrem Onkel nämlich, und das täglich: Ach, welche Bürde es doch sei, eine unverheiratete Nichte mit spitzer Zunge im Hause zu haben! Aber an das Genörgel ihres Onkels hatte sie sich gewöhnt.

Dergleichen nun von diesem Mr Preston zu hören? Nicht auszuhalten!

Und das in jeder Hinsicht. Nicht nur, dass sie seinen spöttischen Blick und seinen süffisanten Ton höchst beunruhigend fand, sie hatte zudem den schlimmen Verdacht, dass er sie durchschaute. Ihr direkt ins Herz schauen konnte und wusste, dass sie log.

„Natürlich ist nichts daran auszusetzen, unverheiratet zu bleiben“, sagte sie zu Mr Muggins.

Zumal wenn einem dadurch erspart blieb, einem solchen Mann wie ihm anheimzufallen – elender Schuft, der er war.

Mr Preston nämlich war genau die Sorte Mann, die eine Dame ohne Reue ruinierten – er, dieser Unhold mit seinem löwengleichen Machtgebaren, seiner herrischen Art und dem scharfen, durchdringenden Blick. Bestimmt konnte er auf diese Art arglosen Mädchen weismachen, dass er ein Gentleman sei … ein Baronet gar.

Ein Baronet – dass sie nicht lachte!

Überhaupt nicht witzig war indes, dass seine geflüsterten Worte sie auf eine Weise hatten erschauern lassen, die sich ehrlicherweise nur als „Verlangen“ beschreiben ließ.

Verlangen. Sie betrachtete sich im Spiegel. Aber wonach? Etwa nach Mr Preston?

Tabitha schüttelte den Kopf. Sollte sie in sich den Wunsch verspüren, diesen elenden Flegel wiederzusehen, dann nur aus einem einzigen Grund.

„Um ihm ganz gehörig die Meinung zu sagen“, teilte sie Mr Muggins mit. „Ihm die Leviten zu lesen, dass ihm die Ohren klingeln.“

Genau das würde sie auch getan haben – gleich dort, auf der Stelle –, hätte seine unverschämte Bemerkung ihr nicht die Sprache verschlagen. „Hätte ich Brüder, so wie Harriet“, ließ sie ihren Hund wissen, „dann wäre ich dazu in der Lage gewesen.“

Mr Muggins sah sie fragend an.

„Schon gut, du hast ja recht. Ich werde es nie erfahren, denn so bald dürfte ich Seinesgleichen nicht wieder begegnen“, schloss sie seufzend. Und dafür sollte sie dankbar sein.

Eigentlich sollte dieser Gedanke sie beruhigen – die Vorstellung, ihn nie wiedersehen zu müssen, ihm nie wieder so nah zu sein, dass sie nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren, seine Haut zu spüren, seine starken Muskeln …

Tabitha schlang die Arme um sich und erschauerte. Oh, was sie sich da zusammenspann! So gut hatte er ja nun auch wieder nicht ausgesehen. Das tat kein Mann. Sie war einfach bloß überwältigt gewesen von seiner … seiner … bodenlosen Unverschämtheit.

„Ja, genau, das war es“, erklärte sie Mr Muggins. „Er hatte unglaublich schlechte Manieren.“

Ihr blieb keine Zeit, weiter darüber nachzusinnen, denn schon nahten die schweren Schritte der Haushälterin.

„Oh, da sind Sie ja“, verkündete Mrs Oaks, als sie ohne zu klopfen hereinrauschte. Diese stattliche Person mit dem stechenden Blick hatte mit Tabithas Tante und Onkel Einzug gehalten und war wie ihre Herrschaft der Ansicht, dass Kempton ohne Reiz sei und das Pfarrhaus eine harte Probe darstellte. „Mir war doch, als hätte ich die Tür gehört.“ Tadelnd hob sie die Brauen, damit auch deutlich wurde, was sie von einem solchen Betragen hielt. „Nur gut, dass ich Sie habe kommen hören, denn der Herr Vikar ist schon ganz außer sich, da es heute mir oblag, die Post zu holen“, sagte sie mit einem leisen Stirnrunzeln, denn die Post zu holen war eigentlich eine von Tabithas zahlreichen Pflichten.

Gnade ihrer Tante oder ihrem Onkel, hätten sie selbst den kurzen Weg zum Postamt machen müssen!

Mrs Oaks warf einen vielsagenden Blick auf Tabithas unmodischen Hut und ihre abgelegten Handschuhe. „Reverend Timmons bat mich, Sie gleich nach Ihrer Rückkehr in den Salon zu schicken. Unverzüglich, wie ich betonen möchte.“

Wider besseres Wissen fragte Tabitha: „Wozu?“

„Woher soll ich das wissen?“, schnaubte die Haushälterin, manövrierte ihre füllige Gestalt zwischen den Möbeln hindurch und stellte die zu Fall gegangenen Nippesfiguren wieder auf. „Weder lausche ich noch tratsche ich, doch kann es kein freudiger Anlass sein. Diese Londoner Halsabschneider bringen doch nie gute Nachrichten.“ Wieder schnellten die Brauen hoch.

„Halsabschneider?“

Mrs Oaks tat einen tiefen Seufzer, ehe sie sich zu einer wortkargen Erklärung herabließ. „Anwälte. Aus London.“

Anwälte? Tabitha stutzte, dann fiel ihr ein, dass ihr Onkel in den letzten Monaten gelegentlich Post von einem Londoner Anwalt bekommen hatte. Allerdings hatte sie sich weiter keine Gedanken darüber gemacht, denn mit ihr dürfte das kaum etwas zu tun haben. Oder?

Anscheinend doch.

„Ja, worauf warten Sie denn noch?“, drängte die Haushälterin und scheuchte sie hinaus und die Treppe hinunter.

„Schon gut.“ Tabitha strich ihre Röcke glatt und holte tief Luft. „Dann will ich doch gleich mal schauen, worum es geht.“ Sie eilte davon und blieb einen Augenblick vor der geschlossenen Tür des Salons stehen, um ihre Gedanken zu sammeln und die letzten Erinnerungen an Mr Preston und seinen zweifelhaften Charme abzuschütteln, ehe sie beherzt klopfte. „Onkel, ich bin eben von dem Treffen der Gesellschaft zurückgekommen.“

„Komm herein, mein liebes Mädchen, komm herein“, erklang es von drinnen.

Liebes Mädchen? Solche Töne machten Tabitha sofort argwöhnisch. Oh je, das konnte wirklich nichts Gutes verheißen!

Und ihre Befürchtungen fanden sich kein bisschen gemindert, als sie die Tür öffnete und – sehr zu ihrem Verdruss – nicht nur ihren Onkel antraf, sondern auch ihre Tante. Beide saßen sie auf dem Sofa, vor sich ein Teetablett und in den Gesichtern ein breites, ungewohnt freundliches Lächeln.

Nun ja, Tante Allegra hatte die Lippen auf eine Weise verzogen, die man mit viel Wohlwollen als Lächeln durchgehen lassen konnte. Doch selbst das war für Tabitha ein ungewohnter Anblick.

Plötzlich fühlte sie sich wie ein Kanarienvogel mit verletztem Flügel, der mit zwei hungrigen Katzen in einen Raum gesperrt war.

Onkel Bernard winkte Tabitha herein und bedeutete ihr, sich auf eins der Sesselchen zu setzen. „Da bist du ja, liebste Nichte. Wir haben deine Rückkehr schon sehnsüchtig erwartet.“

„Bernard, hatte ich dir nicht gesagt, wir sollten die Kutsche nach ihr schicken?“, warf Tante Allegra ein. „Das arme Kind sieht ja völlig ausgedörrt aus.“ Sie goss Tee in eine Tasse und reichte sie Tabitha.

„Ist etwas passiert?“, fragte Tabitha bang und hielt das gute Porzellan, das sie bislang nur hatte spülen dürfen, mit zitternden Händen.

Onkel und Tante sahen einander an, dann stellte Onkel Bernard seine Tasse ab und blätterte in einigen Papieren, die neben dem Teetablett lagen. Nachdem er gefunden hatte, wonach er suchte, verkündete er knapp: „Leider habe ich schlechte Nachrichten für dich“, er hielt einen Brief hoch und griff dann nach einem weiteren, „aber auch eine gute, wenngleich etwas … nun ja, sagen wir schockierende Neuigkeit. Welche möchtest du zuerst hören?“

Nach dem heutigen Nachmittag hätte Tabitha auf beides gern verzichtet. Aber „weder noch“ schien nicht die Antwort, die ihr Onkel erwartete. „Vielleicht sollte ich erst noch frischen Tee machen“, schlug sie vor, um Zeit zu schinden, und stand auf.

„Gütiger Himmel, Bernard, so mach dem armen Kind doch keine Angst!“, schalt ihre Tante, bedachte Tabitha mit ihrem fast gelungenen Lächeln und bedeutete ihr, sich wieder zu setzen.

Ihr Onkel nickte ergeben, war seine Gattin doch der einzige Mensch auf Erden, dem er sich beugte. In der Familie hielt sich das hartnäckige Gerücht, er habe die einstige Lady Allegra Ackland nur geheiratet, weil sie über ein stattliches Vermögen verfügte, eine Gelegenheit, die der dritte Sohn eines Baronets mit geringen Aussichten sich schon aus praktischer Notwendigkeit nicht entgehen lassen konnte. „Mir obliegt die traurige Pflicht, dir mitzuteilen, dass der Bruder deiner Mutter, dein Onkel Winston Ludlow, verstorben ist.“

Onkel Winston, dessen Name in diesem Haus kaum je erwähnt wurde – und schon gar nicht von den Verwandten ihres Vaters.

Der Bruder ihrer Mutter war sehr entschieden dagegen gewesen, dass seine Schwester den zweiten Sohn eines Baronet heiratete, dessen bescheidene Aussichten nicht weiter gereicht hatten als zur Pfarrei von Kempton. Kaum auszudenken, ein Dorfpfarrer! Nachdem Onkel Winston all seine Hoffnungen und seine Geschäfte darauf gesetzt hatte, dass seine schöne Schwester eine gute Partie machen würde, hatte er sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen und England verlassen, um sich auf den Westindischen Inseln niederzulassen. Seit Miss Clarissa Ludlows Heirat mit Reverend Archibald Timmons hatte Onkel Winston keinen Kontakt mehr zur Familie gehabt.

„Oh je, wie traurig“, meinte Tabitha und suchte in der Tasche ihres Kleides nach einem Taschentuch, das sie eigentlich nicht brauchte. Im Grunde kannte sie ihren Onkel nur von der kleinen Miniatur, die ihrer Mutter gehört hatte. Und dieser gut aussehende, freundlich lächelnde Mann, bei dessen Erwähnung ihr Vater mehr als einmal tadelnd mit der Zunge geschnalzt hatte, war also von ihnen gegangen. Nun würde Tabitha ihn nicht mehr kennenlernen können, um sich selbst ein Bild von ihm zu machen – und das war in der Tat traurig.

Sie schaute zu Onkel Bernard und Tante Allegra auf, die beide noch immer lächelten.

Natürlich, viel Anteilnahme hatte sie nicht von ihnen erwartet, aber wie konnten sie angesichts einer solchen Nachricht weiter lächeln, als sei nichts geschehen?

Tabitha runzelte irritiert die Stirn.

„Nun denn“, meinte Tante Allegra und strich sich über den Rock. „Der unschöne Teil wäre damit erledigt. Erzähl ihr jetzt die gute Nachricht, Bernard.“

Onkel Bernard räusperte sich und las mit näselnder Predigerstimme: „Laut Mr Pennyman von der Kanzlei Kimball, Dunnington und Pennyman hat dein Onkel dir seinen gesamten Besitz vermacht.“ Er ließ die Worte einen Moment nachwirken, dann sah er sie an. „Wie es scheint, bist du nun eine vermögende Erbin.“

Tante Allegra brach in Freudentränen aus. „Unser liebstes Mädchen eine Erbin! Was das für uns alle bedeuten mag!“

„Eine Erbin?“, flüsterte Tabitha. Plötzlich schien der Raum sich um sie zu schließen, und zum zweiten Mal an diesem Tag hatte sie das Gefühl, dass ihr jemand den Boden unter den Füßen wegzog.

„Ja, so sieht es wohl aus. Was eigentlich auch nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass deine liebe Mutter nicht mehr unter uns weilt und du somit die letzte verbliebene Ludlow bist“, räsonierte ihr Onkel. „Der Herr nimmt, und der Herr gibt jenen, die seiner würdig sind als auch jenen, die … nun ja, es nicht sind.“

Tabitha konnte sich schon denken, in welche der beiden Kategorien ihre Tante und ihr Onkel sie einordneten, doch was kümmerte es sie? Plötzlich begann ihr das Herz in seltener Leichtigkeit zu flattern.

Eine Erbin. Sie würde ihrem Onkel und ihrer Tante nicht länger zu Diensten sein müssen – sie war frei! Als Erbin war sie nicht länger auf ihr Wohlwollen, auf ihre widerwillig geleistete Unterstützung angewiesen.

Sie erhob sich und überlegte, was als Nächstes zu tun sei. Plötzlich konnte sie wieder selbst über ihr Leben bestimmen. „Zunächst einmal …“, überlegte sie laut, „… brauche ich ein Trauerkleid, denn ich besitze nichts, was …“

„Nein, nein, das braucht es nicht“, fiel die Tante ihr ins Wort und wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Gatten, ehe sie Tabitha bedeutete, sich doch endlich wieder zu setzen.

„Warum nicht?“, fragte Tabitha. Gewiss, es hatte eine Weile gebraucht, bis die traurige Nachricht nach England gelangt war und dann ihren Weg bis ins ländliche Kempton gefunden hatte, aber … „Er war immerhin mein Onkel, und da wäre es nur anständig …“

„Deine Tante hat recht, liebes Kind. Die Zeit des Trauerns ist vorüber. Zudem gibt es dringlichere Angelegenheiten, die nun geklärt sein wollen.“

Tabitha horchte auf. „Oh. Was denn?“ Harriet hatte vor zwei Jahren von einer unverheirateten Tante eine bescheidene Summe geerbt, und der Anwalt hatte ihr das Geld einfach per Brief geschickt.

Einen größeren Besitz zu übertragen war gewiss komplizierter, aber es konnte wohl kaum …

„Dein Onkel hatte gewisse Vorbehalte dagegen, sein Vermögen einer jungen Dame zu hinterlassen, die keinerlei Lebenserfahrung hat.“

„Und er hat sich dessen sehr vorausschauend angenommen“, ergänzte ihre Tante.

„So ist es“, pflichtete Onkel Bernard ihr bei. „Was, wie ich finde, letzten Endes doch für ihn spricht.“

Tabitha runzelte die Stirn. Keinerlei Lebenserfahrung? Als könnte sie sich nicht selbst um ihre Angelegenheiten kümmern! Ihr Onkel sollte mal einen Blick in die Haushaltsbücher oder das Gemeinderegister tun – es war gewiss nicht seine liederliche Handschrift, die sich in den sorgfältig geführten Listen fand!

„Mr Pennyman von der Kanzlei Kimball, Dunnington und Pennyman“, hob ihr Onkel an, „ist ebenso wie meine Wenigkeit und Sir Mauris, mein geschätzter Bruder und das Oberhaupt unserer Familie, zu dem Schluss gelangt, dass vor der Eröffnung des Testaments bestimmte Vorkehrungen zu treffen seien. In aller Diskretion, versteht sich.“

„Wofür du uns nur dankbar sein solltest“, ließ Tante Allegra sie wissen. „Eine junge Dame mit einem solchen Vermögen sieht sich den unerwünschten Avancen der schlimmsten Schlawiner ausgesetzt.“

Warum nur musste Tabitha sogleich an Preston denken?

Entschieden verscheuchte sie das Bild des schönen Schufts aus ihren Gedanken und versuchte sich auf das Gehörte zu konzentrieren. „Ich glaube kaum, dass die Männer mir auf einmal Avancen machen werden. Zumindest war es bislang nicht der Fall, oder?“

„Oh, nein, nein, deswegen brauchst du dir auch gar keine Sorgen mehr zu machen!“ Onkel Bernard lachte vergnügt auf. „Denn du wirst, mein Kind, noch vor Mittsommer verheiratet sein!“

„Eine Sommerbraut“, frohlockte ihre Tante.

Tabitha schaute die beiden entgeistert an. „Und wie das, wenn ich fragen darf?“

Ihr Onkel, nun wieder ganz ernst, nahm seine Brille ab und musterte seine Nichte mit gewohnt verkniffener Miene. „Weil du nur erbst, wenn du verheiratet bist – deshalb. So hat es dein werter Onkel Winston in seinem Testament verfügt.“ Er betrachtete seine Brille einen Moment und begann die Gläser ausgiebig zu putzen. „Das gesamte Erbe ist hinfällig, wenn du nicht vor deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag …“

Der Rest rauschte an ihr vorbei, denn in ihrem Kopf gab es nur noch zwei Gedanken: verheiratet und fünfundzwanzigster Geburtstag.

„Fünfundzwanzigster Geburtstag? Aber …“ Tabitha erstarrte. „Das ist ja nur noch …“

„Ja, etwas mehr als ein Monat.“

„Und dann ist das Geld verloren?“, rief Tabitha fassungslos. „Wie soll ich denn so schnell einen Ehemann auftreiben? Es bleibt nicht einmal genügend Zeit, das Aufgebot zu bestellen, geschweige denn eine passende Partie zu finden!“

„Sei unbesorgt“, beruhigte Tante Allegra sie mit einem Lächeln. „Es ist bereits alles arrangiert.“

Wenn Tabitha geglaubt hatte, ihr Leben wäre durch die Begegnung mit Mr Preston schon völlig auf den Kopf gestellt worden, so hatte sie sich getäuscht. Denn es sollte noch schlimmer kommen.

„Wie meinst du das, Tante Allegra?“, fragte Tabitha und sah dann fragend zu ihrem Onkel. „Sir?“

„Noch ist nicht alles verloren, meine Liebe“, versicherte Onkel Bernard ihr mit wieder erwachter Freude. „Dein Onkel Winston war so umsichtig, dir auch gleich einen Ehemann zu vermachen.“

„Was zum Teufel höre ich da? In der ganzen Stadt spricht man von nichts anderem.“ Lord Henry Seldon stand vor dem mit leeren und halb leeren Flaschen übersäten Tisch seines Neffen Christopher Seldon, Duke of Preston, und des Herzogs nichtsnutzigem Freund, dem Earl of Roxley, die im Herrenclub White’s Hof hielten.

Ein recht bescheidener Hof, denn die meisten Clubmitglieder zeigten ihnen die kalte Schulter, was den beiden Gentlemen jedoch herzlich egal war.

„Ich habe Kipps geschlagen!“, krakeelte Preston. „Hätte keiner gedacht, dass meine alten Klepper es mit Kipps’ Prachtgäulen aufnehmen könnten, aber schau, jetzt kassiere ich schon den ganzen Abend ab.“ Mit trunkener Hand deutete er auf die Scheine, die sich vor ihm stapelten.

Roxley zog gleich ein ganzes Bündel aus seiner Jackentasche. „Jetzt sind wir reich wie Midas!“

„Wären dabei zwar fast draufgegangen …“, wandte Preston ein.

„… eine Schar Gänse nur knapp verfehlt …“, ergänzte Roxley.

„Gänseküken!“, rief Preston.

„Hätte genauso gut ein ganzer Wurf Welpen sein können“, meinte der Earl an Lord Henry gewandt, „Sie wissen ja, wie sentimental Ihr Neffe bei einem Paar brauner Kulleraugen wird. Bringt ihn jedes Mal wieder in Schwierigkeiten.“

„Roxley, ich weiß nun nicht, ob Gänse braune Augen haben“, ereiferte sich Preston.

Während die beiden den strittigen Punkt zu klären versuchten, verlor Lord Henry die Geduld. „Was ist bloß in euch gefahren, euch auf ein solch tollkühnes Unterfangen einzulassen? Ihr hättet dabei draufgehen können, ganz richtig – ganz zu schweigen davon, dass ihr den halben ton um sein Vermögen gebracht habt. Kipps dürfte wohl ruiniert sein.“

Roxley und Preston sahen sich nur an.

„Warum wir es getan haben? Weil wir die Gelegenheit dazu hatten!“ Preston brach in schallendes Gelächter aus, in das Roxley prompt einstimmte. Die beiden schlugen sich auf die Schenkel und wieherten wie die Esel.

„Euch wird das Lachen schon noch vergehen“, sagte Lord Henry kopfschüttelnd. „Morgen wird es ein böses Erwachen geben. Hen reißt dir den Kopf ab, Preston.“

Preston winkte lässig ab.

„Diesmal wird sie es dir nicht durchgehen lassen“, fuhr Lord Henry fort. „Sie wird darauf bestehen, dass du dir endlich eine passende Braut suchst – und sei es nur, um uns alle vor dem Ruin zu bewahren.“

„Ruin? Nun übertreib mal nicht, Henry.“ Preston nahm die bestiefelten Füße vom Tisch und stand schwankend auf, um mit seinem Onkel auf Augenhöhe zu sein. „Hast du mir nicht zugehört? Ich hab heute ein Vermögen gemacht.“

Lord Henry schüttelte den Kopf. „Du wirst heiraten – ob es dir passt oder nicht.“

„Werde ich nicht“, verkündete Preston, geriet bedenklich in Schieflage und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. „Eine Ehefrau kommt mir nicht ins Haus.“

„Du bist betrunken“, stellte sein Onkel tadelnd fest.

„Stockbetrunken“, stellte Preston klar und fuchtelte ihm mit dem Zeigefinger unter der Nase herum.

„Vielleicht heirate ich ja“, überlegte Roxley laut.

„Du?“ Preston lachte.

Der Earl nickte. „Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich der perfekten Frau schon zigmal begegnet. Ich müsste nur endlich die Augen aufmachen, um sie nicht dauernd zu übersehen.“

„Es könnte schon helfen, mit dem Saufen und Herumhuren aufzuhören“, riet Lord Henry und winkte einen Diener herbei, auf dass er den Tisch abräume.

„Also, wenn ich du wäre, Roxley“, lallte Preston, „würd ich die Augen lieber nicht aufmachen.“

Roxley lachte. „Stimmt. Wahrscheinlich lässt ein solches Sentiment mich als Romantiker erscheinen!“

Lord Henry hob den Blick himmelwärts. „Keine Sorge. Niemand käme je auf den Gedanken, dich einen Romantiker zu nennen.“

„Einen alten Schlawiner“, bemerkte Preston naseweis. „Das schon eher.“

Diesmal schüttelte der Earl den Kopf und raunte theatralisch: „Aber nein, diese Ehre kommt bereits Henry zu. Der schlimmste Schlawiner, den man sich nur denken kann.“

Preston grinste. „Stimmt nicht, der ist ein Schuft. Nur ein Schuft könnte uns unseren Triumph damit verderben, dass er das Unwort in den Mund nimmt.“

„Welches Unwort?“, fragte Roxley und gönnte sich und Preston noch eine Runde. Fragend hielt er ein leeres Glas hoch, doch Lord Henry schüttelte den Kopf.

„Heirat.“

Roxley schauderte. „Uuuh. Jetzt klingst du schon wie meine Tante Essex.“

Lord Henry hob in hilfloser Geste die Hände. „Preston, was ich dir zu sagen versuche, ist dies: Du bist erledigt. Geh jetzt nach Hause, schlaf deinen Rausch aus, und wenn du wieder bei Sinnen bist, wirst du verstehen, was ich meine.“ Damit drehte seine Lordschaft sich um und stürmte davon, um vermutlich einen sterbenslangweiligen Abend in den öden Hallen des Boodles zu verbringen. Prima Steaks, aber der Weinkeller konnte dem White’s nicht das Wasser reichen.

Preston verfolgte seinen Abgang mit einem trockenen Lächeln. „Wieder zu Sinnen kommen, sehr witzig. Dabei ist er älter als ich – soll er doch heiraten!“

„Genau“, pflichtete Roxley ihm bei. „Als Erster den Sprung ins kalte Wasser wagen. Dann kann er uns berichten, wie schlimm es wirklich ist.“

„Aber wie findet man einem so langweiligen Burschen eine Frau?“, sinnierte Preston und packte die Füße wieder auf den Tisch.

Roxley rieb sich das Kinn. „Tja. Da keiner von uns beiden gewillt ist, freiwillig einen Fuß über die Schwelle des Almack’s zu setzen, werden wir es wohl nie erfahren, oder?“

Just in diesem Augenblick passierte ein grauhaariger, distinguierter Herr ihren Tisch. Lord Mouncey. Oder halt, Moment … Murrant. Nein, das war es auch nicht. Preston versuchte den Namen des Gentlemans aus seinem brandygetränkten Gedächtnis zu fischen.

Es wäre nicht weiter schlimm gewesen, wäre der Mann einfach vorbeigeschlendert. Doch dem war nicht so. Und wenngleich der Herr einen mehr als abschätzigen Blick auf Prestons dreckige Stiefel warf, so war es doch keineswegs deren mangelnder Glanz, weswegen der eitle alte Geck wie angewurzelt stehen blieb.

„Sagen Sie mal, Preston, sollte das zufällig die Zeitung von heute sein, die ich dort unter Ihrem Stiefel erspähe?“

Preston beugte sich vor. „Allerdings, Lord Mulancy.“ Genau, das war es – Mulancy! Ganz so betrunken war er also doch nicht.

„Könnte ich mir die wohl borgen? Baldwin erwähnte eine Anzeige für ein paar prächtige Jungstuten, die diese Woche eintreffen sollen. Wollte mich nur kurz der näheren Einzelheiten vergewissern.“

Preston bequemte sich ein weiteres Mal, die Füße vom Tisch zu nehmen, und reichte Seiner Lordschaft die Zeitung. Eben wollte er seine dreckverkrusteten Stiefel wieder hochlegen, als er plötzlich innehielt. Was hatte Mulancy gerade gesagt? … eine Anzeige für ein paar prächtige Jungstuten … „Ich hab’s!“

Roxley, der schon fast eingenickt war, schrak hoch. „Was? Was hast du?“ Er schaute sich blinzelnd um und schien jeden Moment wieder einschlafen zu wollen.

„Aufwachen!“, krähte Preston und rüttelte seinen vortrefflichen Begleiter wach. „So finden wir eine Frau für Henry. Wir geben einfach eine Anzeige auf.“

Und als er den Diener herbeiwinkte, verlangte er nicht nur nach einer weiteren Flasche Brandy, sondern auch nach Feder, Tinte und Papier.

„Preston, das ist absolut inakzeptabel!“, beschied Lady Juniper, vormals Lady Henrietta Seldon, als ihr Neffe wenige Tage später das Rote Zimmer betrat. „Das muss jetzt ein Ende haben, ein für alle Mal. Du kannst dich der Londoner Gesellschaft nicht länger bedienen, als wäre sie dein privater Zirkus.“

Obwohl Hen sich mühte, streng und tadelnd zu klingen, schien Preston kein bisschen von der Schelte seiner Tante beeindruckt. Vielmehr lachte er, als er den Raum betrat, in dem sie ihren Tee zu nehmen pflegte.

Lady Juniper wandte sich an ihren Zwillingsbruder. „Henry, sag du etwas.“

Lord Henry erhob sich, verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann über den Teppich zu marschieren. „Hen hat recht. Es ist an der Zeit, deine impulsiven Ausbrüche skandalösen Verhaltens zu zügeln und etwas mehr Anstand zu zeigen …“

„Anstand?“ Preston schauderte. Er musterte seinen auf- und abmarschierenden Anverwandten, der die vollendete Verkörperung der Wohlanständigkeit war, vom tadellos respektablen Schnitt seines Rocks bis zur sorgfältig, doch dezent gebundenen Krawatte. Kein wasserfallartig sich ergießendes Linnen, kein raffinierter Trone d’ Amour, der jeden Dandy vor Neid erblassen ließe, stattdessen ein schlichter Mailcoach-Knoten, der Henrys schlichter, doch eleganter Garderobe den letzten Schliff gab.

„Jawohl, Anstand“, wiederholte sein Onkel, fing den interessierten Blick seines Neffen auf und parierte ihn mit einem Recken des fein betuchten Halses. „Ab heute ist Dekorum angesagt.“

„Dekorum? Wie interessant“, erwiderte Preston und sah sich um. „Vielleicht sollten wir gleich hier ein wenig umdekorieren, um nicht gar so pompös zu erscheinen.“

Das Rote Zimmer ließ sich, mit Verlaub, nur als Gipfel der Extravaganz bezeichnen: roter Samt, schimmerndes Mahagoni und reichlich Vergoldungen. Dicke Orientteppiche und seidene Bezüge. Ein Teespender – nein, keine einfache Kanne, sondern eine komplizierte Gerätschaft aus reinstem Silber, verziert mit Cherubim und einem auf dem Deckel thronenden Drachen – prunkte an einem Ende der langen Tafel.

Preston wagte einen verstohlenen Blick zu seiner Tante, Lady Juniper – Moment, es war doch Juniper? Oder war es Michaels? Er begann zu rechnen. Nein, Michaels war ihr zweiter Ehemann gewesen, sie war aber schon beim dritten. Es musste also Juniper sein.

Wie schon ihrer Mutter, so war auch Lady Henrietta das Schicksal beschieden, sich stets Ehemänner zu erwählen, die beim geringsten Anlass das Zeitliche segneten.

Und wie ihr Bruder war auch sie nach der neuesten Mode gekleidet, wenngleich nicht ganz so schlicht und bescheiden und noch immer ganz in Schwarz, denn Lord Juniper war erst vor sechs Monaten von ihnen gegangen. Auch der Vorschlag, ihren Lieblingssalon neu auszustatten, verfehlte seine Wirkung. Hen wirkte kein bisschen abgelenkt, ganz im Gegenteil. Sie fixierte ihn noch immer mit strafendem Blick.

„Dekorum!“, wiederholte Henry.

„Großvater würde sich im Grabe umdrehen, hörte er ein solches Wort in diesem Hause“, erwiderte Preston.

„Dann ist es wohl an der Zeit, dass die Seldons andere Saiten aufziehen“, entgegnete Lord Henry mit erhobenem Zeigefinger.

Wenn Henry erst einmal in Fahrt kam, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Nicht einmal ein Duke.

Weshalb Preston sich in seinem Stuhl zurücklehnte, die Arme verschränkte und sich die nächsten Minuten nach Kräften mühte, sowohl wach als auch interessiert zu wirken.

Keine ganz leichte Aufgabe, wenn Henry zu einer seiner Tiraden anhob.

„Die Zeiten haben sich geändert“, legte Lord Henry los. „Wir können uns den Habitus sorgloser, großspuriger Extravaganz nicht mehr leisten, den unsere Familie …“

Hier hörte der Herzog auf zuzuhören, denn er wusste, wie es weiterging. Oh ja, er kannte es in- und auswendig, Wort für Wort. Wir können uns den Habitus sorgloser, großspuriger Extravaganz nicht mehr leisten, den unsere Familie über acht Generationen geprägt und unterhalten hat. Acht Generationen der Ausschweifungen, der Affären und Skandale, was unseren guten Ruf stets bedroht, uns an den Rand der Gesellschaft gebracht und dem Wohlwollen Seiner Majestät des Königs ausgeliefert hat

Allerdings, Preston kannte jedes Wort auswendig. Seit sein Großvater vor fünf Jahren gestorben war, hatte er diese Tirade so oft über sich ergehen lassen müssen, dass er sie im Schlaf hätte aufsagen können.

In letzter Zeit jedoch war daraus ein beinah tägliches Ärgernis geworden. Preston verkniff sich ein Seufzen. Vielleicht war es ja an der Zeit, Lord Henry unter irgendeinem Vorwand zur Überprüfung der herzöglichen Güter nach Irland abzukommandieren …

Der Gedanke munterte ihn sogleich ein wenig auf – allerdings nur, bis ihm einfiel, dass er diesen Trick schon einmal angewandt hatte. Vergangenen Herbst, um genau zu sein. Er warf einen kurzen Blick auf seinen Onkel, der noch immer lamentierte – ein Ende schien nicht in Sicht.

Nein, ein zweites Mal würde ein solches Ablenkmanöver nicht funktionieren.

Zumal, da Henry nun wusste, dass es gar keine herzöglichen Güter in Irland gab.

„… Ehre, Adel, Anstand auch in den Augen einflussreicher Mitglieder der guten Gesellschaft wiederzuerlangen, und dann könnten – ich betone könnten – wir vielleicht zurückgewinnen, was wir verloren haben.“ Hier legte Lord Henry dankenswerterweise eine Pause ein, um Atem zu holen. Preston tat es ihm nach.

Ehre? Anstand?

Manch einer mochte behaupten, dies wären Eigenschaften, die den Seldons schlicht nicht gegeben waren, aber Preston war nicht in der Stimmung, sich mit Henry auf eine diesbezügliche Diskussion einzulassen. Heute nicht.

Und schließlich war auch Hen einem kleinen Skandal nicht abgeneigt. Man erinnere sich nur an den Aufstand, als sie ihren zweiten Gatten geehelicht hatte. In der Hoffnung, sie würde ihm nun zur Seite springen, bedachte Preston sie mit einem verschwörerischen Grinsen.

Doch weit gefehlt. Seine Tante schaute genauso sauertöpfisch drein, wie Henry klang. Wohlanständig und prosaisch. Schlimmer noch, wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich bei dem Zettel, den sie nun zückte, um eine ihrer berüchtigten Listen.

Was nur eines heißen konnte.

Oh Herr, steh mir bei, ich bin in einen Hinterhalt geraten, dachte er – leider kam die Erkenntnis zu spät. Hastig stand Preston auf.

„Setz dich, Christopher“, beschied Tante Hen.

Und Preston setzte sich. Wenn sie diesen Ton anschlug und sich seines Taufnamens bediente – ihn nicht „Preston“ nannte oder „Euer Gnaden“ –, tat man am besten, wie einem von Hen geheißen. Diese Lektion hatte er schon sehr früh im Leben gelernt.

Lady Juniper sah ihren Bruder an. „Du auch, Henry. Von deinem Umhermarschieren bekomme ich Migräne, und Christopher sieht auch schon ganz mitgenommen aus.“

Lord Henry nahm wieder seinen Platz auf dem seidenbespannten Sofa ein und nahm die ihm angebotene Tasse entgegen. „Es ist höchste Zeit, dass …“

Schnell schnitt Preston seinem Onkel das Wort ab. „Darüber rede ich nicht.“

„Es muss ein Ende haben mit den ständigen Skandalen“, fuhr Lord Henry unbeeindruckt fort, als wäre Preston ein Kind, das ständig dazwischenredete. „Diese unglückselige Situation mit dem armen Kipps wird unser aller Ruin sein.“

Kipps? Der ganze Aufstand hier wegen dem Rennen gegen Kipps? „Über die Sache wird bald Gras gewachsen sein“, beteuerte der Duke, doch zugleich war ihm, als spüre er einen kalten Hauch im Nacken, der ihn frösteln ließ.

Nein, wird es nicht.

Doch er gab sein Bestes, diesen Anflug des Zweifels zu ignorieren. Die Stimme der Vernunft hatte keinen, oder wenn, dann allenfalls einen sehr untergeordneten Platz in seinem Leben.

Wozu war er denn der Duke of Preston?

Eben.

„Kipps ist gründlich ruiniert“, stellte Hen fest. „Es ist eine Schande, wirklich.“

„Seine Misere soll nicht meine Sorge sein“, erwiderte Preston und versuchte, so nonchalant wie möglich zu klingen. Doch sein Gewissen ließ sich nicht so leicht ausschalten.

Du wusstest es besser und doch

„Es ist sehr wohl unsere Sorge, wenn die Gesellschaft dir – und damit auch uns – die Schuld an seinem Ruin gibt“, schoss Hen zurück.

Wer brauchte noch ein Gewissen, wenn er eine Hen in seinem Leben hatte?

Sie schwieg einen Moment – leider, denn sofort nutzte Henry seine Gelegenheit. „Himmel noch mal, Preston, du hast nicht nur diesen armen Jungen in den Ruin getrieben, sondern auch seine gesamte Familie. Ihnen ist nichts mehr geblieben, und alle werden uns die Schuld daran geben.“

Preston setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Dann hatte ihn sein Eindruck gestern Abend im White’s wohl doch nicht getäuscht. Seit jeher war er von dem einen oder anderen Clubmitglied geschnitten worden, was in Anbetracht seines Rufs kaum Wunder nahm. Doch gestern schien es irgendwie … schlimmer. Allerdings hatte er es bald wieder vergessen, nachdem der gute Roxley sich zu ihm gesellt und sie einen vergnüglichen Abend bei Brandy und Kartenspiel verbracht hatten.

Autor

Elizabeth Boyle
Bereits für ihren ersten historischen Roman erhielt Elizabeth Boyle den RITA Award für das beste Debüt. Auszeichnungen und Bestseller-Nominierungen für weitere siebzehn Romane folgten. Inzwischen hat Elizabeth Boyle ihren Job als Rechtsanwaltsfachangestellte aufgegeben, um hauptberuflich zu schreiben. Die New-York-Times-Bestsellerautorin, die in ihrer Freizeit gern gärtnert, strickt, liest, reist und Rezepte...
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