Für einen Kuss von Dr. Khalil

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Voller Sehnsucht denkt Emily an Dr. Khalil. Würde er sie doch nur in seine Arme ziehen und leidenschaftlich küssen. Er ist nicht nur ein fantastischer Kinderarzt und ein sehr attraktiver Mann, er hat auch ein Herz aus Gold. Für seine kleinen Patienten tut er alles. Aber warum wirkt der Traummann in Emilys Nähe immer so kühl, obwohl er doch scheinbar genauso empfindet wie sie? Und dann überrascht er sie am Strand von Penhally Bay - und macht ihr ein schockierendes Geständnis …


  • Erscheinungstag 31.05.2016
  • Bandnummer 0009
  • ISBN / Artikelnummer 9783733708047
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Es hat seine Vorteile, wieder in Penhally Bay zu sein“, murmelte Emily vor sich hin. Wie gebannt beobachtete sie das grandiose Farbenspiel am Horizont. Ein herrlicher Sommertag ging zu Ende, und die Sonne über dem Meer färbte die zarten Wolkenfetzen purpurrot und orangegolden.

Und es wird noch besser, dachte sie, als ein gut aussehender Mann in ihr Blickfeld trat und anfing, sich auszuziehen.

„Oh ja!“, hauchte sie, als die warmen goldenen Sonnenstrahlen starke Schultern beleuchteten und eine breite Brust, die von seidig wirkenden dunklen Härchen bedeckt war. Emily bewunderte seinen flachen, muskulösen Bauch und die schmalen Hüften, die glatte, dunkel gebräunte Haut. „Es ist definitiv von Vorteil, wenn man so nahe am Strand wohnt.“

Sie sah zu, wie er mit Stretchingübungen begann, um dann zu einem anstrengenden, sicher schweißtreibenden Training überzugehen. Er konnte nicht wissen, dass er einen Zuschauer hatte. Die kleine Höhlung am Fuß der Granitfelsen lag bereits tief im Schatten. Vor vielen Jahren, als Emily – noch ein Kind – nach Penhally gekommen war, um bei ihrer Großmutter zu leben, hatte sie sie entdeckt. Und schon damals war sie ihr Lieblingsplatz gewesen.

Der Mann hatte seine Fitnessübungen beendet und schickte sich an, ins Wasser zu gehen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er leicht hinkte. Emilys ärztliches Interesse erwachte. Hatte er es mit dem Training übertrieben, oder trainierte er so hart, um die Folgen einer Verletzung zu überwinden?

Wie auch immer, es dämmerte bereits, und ihr war gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass er beim Schwimmen einen Muskelkrampf erleiden könnte. Und auch wenn der Unbekannte sicher die Einsamkeit gesucht hatte, sie würde ihn bestimmt nicht allein lassen. Und ohne Hilfe, falls er in Schwierigkeiten geriet.

Kein Problem, dann würde sie eben noch ein bisschen bleiben. Die Luft war warm, und die leichte Brise, die nach Sonnenuntergang aufgekommen war, konnte ihr im Schutz der Felsen nichts anhaben.

Außerdem könnte sie einen ausgiebigen Blick auf den prachtvollen Männerkörper werfen, sobald der Fremde wieder aus dem Wasser kam.

Nicht mehr abgelenkt vom Anblick kraftvoller Muskeln, glänzender brauner Haut und athletischen Formen, kehrten ihre Gedanken zu dem zurück, was sie ursprünglich hergezogen hatte. Sie brauchte die Geborgenheit an ihrem Lieblingsplatz, um in Ruhe nachzudenken. Und um mit ihren Schuldgefühlen klarzukommen.

Das Medizinstudium hatte sie lange von zu Hause ferngehalten, und erst bei ihrem letzten Besuch entdeckte sie das furchtbare Geheimnis, das ihre Großmutter bewahrt hatte.

„Ich wollte nicht, dass du mir hier beim Sterben zusiehst. Deine Prüfungen waren wichtiger“, hatte sie mit dem ihr eigenen Starrsinn erklärt.

Damals war Emily für ein verlängertes Wochenende nach Penhally Bay gefahren, um der Großmutter ihre guten Neuigkeiten persönlich zu überbringen. Sie hatte sich schon auf Beabeas Gesicht gefreut, wenn sie ihr erzählte, dass sie den begehrten Job am Krankenhaus St. Piran tatsächlich bekommen hatte. Zwar befristet auf sechs Monate, doch Emily hoffte, am Ende der Zeit eine Festanstellung zu erreichen.

Ihre überschwängliche Freude hatte sich augenblicklich in nichts aufgelöst, als sie erfuhr, dass ihr mit dem Menschen, der ihre einzige Familie war, nicht mehr viel Zeit bleiben würde.

Mit der Erlaubnis ihrer Großmutter sprach sie am nächsten Tag mit dem Onkologen im St. Piran. Vielleicht würde eine Operation doch noch helfen, oder eine Chemotherapie. Ihre Hoffnungen wurden grausam zerstört. Der Zustand ihrer geliebten Beabea war ernster als befürchtet.

„Man mag es ihr nicht ansehen“, hatte der freundliche Mann ihr erklärt. „Aber der Krebs ist aggressiv und wächst schnell. Zwei Wochen bevor es zu Ende geht, werden wir sie ins Krankenhaus oder in ein Hospiz bringen müssen. Dort können wir die Schmerztherapie besser überwachen – und sie wird sie brauchen, weil die Schmerzen unerträglich werden.“

„Und wenn sie mit einer PCA versorgt wird, kann ich sie dann nicht zu Hause pflegen?“ Bei einer patientengesteuerten Analgesie konnte sich der Patient über einen intravenösen Zugang und mittels einer Morphinpumpe das Schmerzmittel je nach Bedarf selbst verabreichen.

Emily wusste, wie sehr Beabea ihr gemütliches kleines Cottage liebte. Es war voller Erinnerungen an von Liebe erfüllte, glückliche Tage. Sie würde dort auch sterben wollen.

„Das wäre möglich. Unsere Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass Tumorpatienten im Endstadium oft mehr gestresst sind, wenn sie ihren Lieben ihr langsames Sterben zumuten müssen. Letztendlich werden Sie die Entscheidung gemeinsam treffen – sobald es so weit ist.“

Inzwischen hatte Emily im St. Piran als Assistentin von Dr. Breyley angefangen. Bevor sie morgens zur Arbeit fuhr, versorgte sie ihre Großmutter. Beabea hatte viele Freunde in Penhally Bay, darunter auch einige Ärzte, sodass Emily beruhigt tagsüber im Krankenhaus sein konnte.

Die Schlafphasen ihrer Großmutter häuften sich und wurden mit der Zeit länger. Dann unternahm Emily Spaziergänge an der Uferpromenade und im Hafen, vorbei am Penhally Arms und dem Anchor Hotel. Sie begegnete Urlaubern und Einheimischen, die ihre Freizeit genossen, ohne zu ahnen, dass ganz in ihrer Nähe jemand mit dem Tode rang.

Gelegentlich saß sie im Café und trank einen schaumigen Caffè Latte, während sie den Touristen zusah, die auf der Brücke über dem Lanson standen. Einige Hundert Meter weiter mündete der Fluss ins Meer.

Manchmal stellte sie sich auch ans Geländer und blickte wehmütig auf das wirbelnde Wasser hinunter, das über die Felsen strömte. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie als Kind die Brüstung entlanggerobbt war, immer in Gefahr, kopfüber ins Wasser zu stürzen. Der Fluss und die Felsen hatten sich seitdem nicht verändert, alles andere schon.

Sie war längst erwachsen, Ärztin geworden, was sie schon immer hatte werden wollen. Und ihre Großmutter, die nie älter zu werden schien, war nun eine hagere Frau mit silbergrauem Haar und papierdünner Haut. Ein Windstoß könnte sie umpusten, dachte Emily traurig.

Ehrlich gesagt gab es in diesen düsteren Tagen, abgesehen von der Arbeit mit Dr. Breyley, die genauso befriedigend war, wie sie es sich gewünscht hatte, nur ein Highlight: wenn sie es schaffte, mit dem Joggen am Strand fertig und rechtzeitig auf ihrem Beobachtungsposten zu sein, bevor der mysteriöse Unbekannte auftauchte.

Natürlich plagten sie ab und zu Gewissensbisse, dass er durchaus etwas dagegen haben könnte, dass sie ihn heimlich beobachtete. Aber die waren schnell beschwichtigt, indem sie sich als eine Art inoffizielle Rettungsschwimmerin betrachtete. Schließlich könnte ihm doch mal etwas passieren, und wer würde ihm dann helfen?

Fasziniert beobachtete sie, wie seine beeindruckende Silhouette im letzten Schein der untergegangenen Sonne immer kleiner wurde.

Gerade heute konnte sie die Ablenkung gut gebrauchen. Sie hatte den Nachmittag damit verbracht, ihre Großmutter in der neuen Hospizabteilung des Sanatoriums in Penhally Heights unterzubringen. Der Onkologe hatte recht gehabt. Emily war zwar entschlossen gewesen, Beabea bis zum Ende zu pflegen, selbst wenn sie dafür hätte Urlaub nehmen müssen, doch ihre Großmutter wollte sie damit nicht belasten. Sie war entschlossen, ihr Schlafzimmer endgültig zu verlassen. Das Zimmer, das sie vor mehr als fünfzig Jahren als glückliche Braut zum ersten Mal betreten hatte.

„Und sobald dein mysteriöser Fremder aufhört, sich zu peinigen, wird es Zeit für dich, ins Cottage zurückzugehen und eine Runde zu schlafen“, sagte sie zu sich selbst. Auch wenn ihr die Vorstellung, gerade heute Abend allein zu sein, überhaupt nicht gefiel.

Wenigstens hatte sie morgen früh etwas, worauf sie sich freuen konnte. Die Arbeit machte ihr großen Spaß, und vielleicht schnappte sie ja etwas über den neuen Chirurgen auf, der die jüngst eröffnete, hochmodern eingerichtete Abteilung für pädiatrische Orthopädie leitete.

Seit sie angefangen hatte, für Dr. Breyley zu arbeiten, wurde viel über die neue Station geredet, und Emily hatte sich schon oft vorgenommen, ihr endlich einen Besuch abzustatten. Schließlich hätte pädiatrische Chirurgie sie auch sehr interessiert. Falls Dr. Breyley ihr nach den sechs Monaten keine feste Stelle anbot, konnte sie es sich ja immer noch überlegen, ob sie sich bei seinem Kollegen bewarb.

Der Schmerz war ein hartnäckiger Begleiter.

Aber Zayed kannte es nicht anders. Sehr viel mehr setzte ihm zu, dass er das leichte Humpeln nicht verbergen konnte, als er sich dem Sandstrand am Rande von Penhally Bay näherte. Er war ein stolzer Mann, doch am Ende eines langen Arbeitstages hätte er die Schmerzen nur mit einem hoch dosierten Analgetikum bezwingen können.

Und damit wollte er gar nicht erst anfangen. Für seine kleinen Patienten musste er fit sein. Sich von Schmerzmitteln abhängig zu machen war damit nicht zu vereinbaren.

Er fluchte unterdrückt, als sein Fuß sich an einer der rauen Granitstufen verfing, und zwang sich zu mehr Konzentration. Zum Glück hielten sich an diesem Juliabend kurz vor Sonnenuntergang nur wenige Menschen am Meer auf. Zayed wurde nicht gern Zielscheibe neugieriger Blicke, wenn er wie ein Betrunkener umherstolperte.

Der Gedanke entlockte ihm ein schmales Lächeln. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt Alkohol getrunken hatte. Wahrscheinlich damals, während seines Medizinstudiums, als er in jugendlichem Übermut auch das ausprobiert hatte … bevor seine Welt lebensgefährlich geworden und schließlich alles außer Kontrolle geraten war.

Aber Penhally Bay war gar kein schlechter Platz zum Leben, sagte er sich, während er kurz stehen blieb, um die perfekte Postkartenkulisse des kornischen Fischerstädtchens zu betrachten. Als er das erste Mal hier gewesen war – in einer längst vergangenen, glücklichen Zeit – hatte es ihm der beschauliche Ort sofort angetan. Auf den Terrassen am Hang, der sanft zur Bucht hin auslief, drängten sich dicht an dicht malerische Häuser. Und fast jedes blickte auf das unendlich weite Meer hinaus.

Vielleicht war er einfach fasziniert gewesen, weil hier in Cornwall alles völlig anders aussah als in seiner Heimat.

„Abgesehen vom Sand, natürlich.“

Gut, dass an diesem Ende des Strands sonst niemand war, der hätte hören können, wie er Selbstgespräche führte! Er bückte sich, um das Handtuch auszubreiten, und zuckte im nächsten Moment zusammen. Ein messerscharfer Schmerz nahm ihm den Atem. Zayed hielt ein paar Sekunden inne, bis er abgeklungen war.

„Idiot!“, zischte er, zog Hemd und Hose aus und begann mit den Dehnübungen. Sie standen am Anfang eines jeden Strandbesuchs, und am Ende würde jeder Muskel und jeder Nerv gequält protestieren.

Die Versuchung, die tägliche Tortur aufzugeben, war groß. Doch wenn er erst einmal damit anfing, hatte er verloren. Er musste seine Beweglichkeit, Ausdauer und sein Durchhaltevermögen verbessern, weil seine Patienten ihn brauchten.

Zayed hatte sich damit abgefunden, dass der Schmerz zu seinem Leben gehörte. Er war der Preis dafür, dass er lebte, während Leika, Kashif und viele andere hatten sterben müssen …

Rasch verdrängte er die Gedanken. Seine Albträume erinnerten ihn oft genug an jene entsetzlichen Stunden, da musste er sich nicht noch tagsüber damit peinigen.

Es genügte zu wissen, dass er schuld war am Tod der Menschen, die ihm das Liebste auf Erden bedeutet hatten.

So schnell es seine Schmerzen im Bein erlaubten, ging er ins Wasser. Beim Schwimmen vergaß er seinen Kummer zwar nicht völlig, aber er konnte sich wenigstens eine Zeitlang ablenken.

1. KAPITEL

Emily warf einen Blick in die neue Kinderorthopädie-Abteilung und verliebte sich auf Anhieb.

Okay, nach dem Schock, den sie soeben unten auf ihrer Station erlitten hatte, konnte sie etwas Aufmunterung gebrauchen.

Sie war gerade zur Tür hereingekommen, da hatte Dr. Breyleys Sekretärin sie in ihr Büro gewinkt.

„Es tut mir leid, dass er nicht hier ist, um es Ihnen selbst zu sagen, Dr. Livingston.“ Nach einem resignierten Seitenblick auf die unordentlichen Papierstapel, die sich auf ihrem sonst tadellos aufgeräumten Schreibtisch türmten, beugte sie sich vor. „Dr. Breyley und seine Frau sind heute Morgen nach Neuseeland geflogen. Bei ihrem ersten Enkelkind gibt es Komplikationen. Eine Frühgeburt, und es muss so bald wie möglich am Herzen operiert werden. Die Breyleys wollen bei ihrer Tochter sein, zumindest bis die Operation überstanden ist.“

„Vollkommen verständlich.“ Emily hatte sich ihre wachsende Unruhe nicht anmerken lassen. Würde sie ihren Job verlieren? Ihr Tutor und Mentor war ans andere Ende der Welt entschwunden, und das Krankenhaus würde ihr so kurzfristig sicher keine vergleichbare Stelle bei einem anderen Chefarzt anbieten können.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Ihr Traumjob drohte sich in Luft aufzulösen, obwohl sie ihn dringend brauchte. Nicht nur, weil sich die sechs Monate gut in ihrem Lebenslauf machen würden, sondern weil sich Beabeas Zustand rapide verschlechterte, und Emily wollte in ihrer Nähe bleiben. Andererseits konnte sie es sich nicht leisten, nicht zu arbeiten. Weder finanziell noch beruflich.

„Wie auch immer“, unterbrach die Sekretärin ihre wirren Befürchtungen. „Bevor Dr. Breyley abreiste, hat er sich noch einmal Ihre Bewerbungsunterlagen angesehen. Ihm war eingefallen, dass Sie Ihr Interesse an pädiatrischer Chirurgie erwähnt hatten. Also hat er mit Dr. Khalil geredet und konnte ihn überzeugen, Sie befristet in sein Team aufzunehmen.“

Emily blinzelte verblüfft. Bewundernswert, dass Dr. Breyley es trotz seiner eigenen Sorgen geschafft hatte, sie bei dem Kollegen unterzubringen. Dennoch kam sie sich vor wie ein nutzloses Möbelstück, das niemand haben wollte.

Dr. Breyley war ein anerkannter Experte auf seinem Gebiet und hielt sie für geeignet, in seinem Team mitzuarbeiten. Dass Dr. Khalil trotz ihrer ausgezeichneten Referenzen dazu erst überredet werden musste, empfand sie fast als Beleidigung.

„Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.“ Die gestresste Sekretärin schien nicht zu merken, dass Emily wenig Lust hatte, wie ein wertloses Päckchen herumgereicht zu werden. „Dr. Khalil lässt Ihnen ausrichten, dass Sie ihn entweder in seinem Büro oder in der Kinder-Intensivstation antreffen werden.“

Da war sie nun, auf der Suche nach Dr. Khalil und entschlossen herauszufinden, warum er so viel höhere Ansprüche an seine Mitarbeiter stellte als Dr. Breyley.

Zuerst versuchte sie es in seinem Büro. Im Vorzimmer saß eine orientalische Schönheit, die Englisch mit starkem Akzent sprach.

„Er ist im Moment nicht zu sprechen“, informierte sie Emily kühl, während sie sie aus schwarzen, mit Kajal umrandeten Augen abschätzig musterte. „Und um zehn fängt er an zu operieren.“

Emily unterdrückte ein Lächeln. Ihr schlichtes Sommerkleid schien bei der eleganten Sekretärin keine Gnade zu finden.

Zu dumm aber auch. Doch Emily sah wenig Sinn darin, sich aufzurüschen, wenn sie die Hälfte ihrer Arbeitszeit in unförmiger OP-Kleidung und mit Papierhütchen auf dem Kopf verbrachte. Falls sie Kollegen beeindrucken wollte, dann höchstens mit ihren ärztlichen Fähigkeiten.

„Mein Name ist Dr. Livingston“, sagte sie ruhig. „Ich gehöre zu Dr. Khalils Team und muss wissen, wo ich ihn so schnell wie möglich finden kann.“

„Aber … Sie sind eine Frau!“, rief die andere aus und griff hastig nach dem Aktendeckel, der zuoberst auf dem einzigen Papierstapel lag, der ihren blitzblanken Schreibtisch zierte. „Wir haben einen Dr. Emil Livingston erwartet. Emil ist ein Männername, nein?“

„Emil ist ein Männername, ja.“ Sie ertappte sich dabei, wie sie die Sprache der Frau nachahmte, und konnte sich gerade noch ein Lachen verkneifen. Von makellosen, perfekt gestylten Frauen wie dieser fühlte sie sich immer leicht provoziert. Vielleicht lag es daran, dass sie wochen-, nein, monatelang hungern müsste, um in Größe 36 der Designerklamotten zu passen, die die Sekretärin trug. Auch wenn Emily sich jeden Tag zu einem schweißtreibenden Jogginglauf zwang … „Mein Name ist Emily, mit Y, aber ohne das entsprechende Chromosom.“

„Verzeihung?“

Seufzend verzichtete Emily auf eine Erklärung und sah auf ihre Armbanduhr. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen können, wo ich Dr. Khalil finde.“ Ihr neuer Chef wäre sicher alles andere als begeistert, wenn sie zu spät käme. Da sie den Job dringend brauchte, wollte sie ihn nicht gleich gegen sich aufbringen.

„Er ist oben auf der Intensivstation, bei den Hananis … ihr Kind wird heute Morgen operiert. Ich rufe ihn an und sage ihm, dass Sie unterwegs sind.“

„Bitte nicht, wir sollten ihn bei diesem Gespräch nicht stören“, hatte sie rasch gesagt. „Ich finde ihn schon.“

Was ziemlich optimistisch gewesen war, wie sie feststellen musste.

Sie war ein paar Treppen hinaufgerannt, bis ganz nach oben, wo die ausgebaute Kinder-Intensivstation direkt neben den brandneuen Operationssälen lag. Da sie noch keinen Zugangscode besaß, musste sie an die Tür klopfen.

„Ich bin Dr. Livingston, die neue Mitarbeiterin von Dr. Khalil.“ Hoffentlich klang sie nicht zu abgehetzt, aber sie nahm grundsätzlich lieber die Treppe statt des Fahrstuhls. Eine Möglichkeit mehr, ihr Gewicht unter Kontrolle zu halten.

„Willkommen!“ Mit einem herzlichen Lächeln öffnete eine Krankenschwester ihr die Tür. „Wir hatten keine Ahnung, dass wir eine Frau im Chirurgenteam haben würden. Ich bin Jenna Stanbury.“

Sie wenigstens schien sich zu freuen, Emily zu sehen. Als Jenna sie durch die Abteilung führte, sah jeder von seiner Arbeit auf und lächelte kurz in ihre Richtung.

„Tamsin – Stationsschwester Rush – hätte Sie sicher gern persönlich begrüßt, aber sie hat sich in ihrem Büro verschanzt und strikte Anweisungen gegeben, sie nicht zu stören. Höchstens vielleicht bei Feueralarm oder einer Sturmflut. Sie muss Berge von Unterlagen abarbeiten“, erklärte Jenna.

„Ja, ich habe bisher vergeblich versucht, Dr. Khalil zu finden.“ Emily verzog das Gesicht, als ihr Blick auf eine Uhr fiel. Sie hatte die Form einer Katze, deren Schwanz im Takt der Sekunden hin- und herpendelte. Und der Minutenzeiger war beunruhigend weit vorgerückt. Wahrscheinlich würde man sie wegen Unpünktlichkeit feuern, ehe sie überhaupt angefangen hatte.

„Nur keine Panik. Dr. Khalil spricht noch mit den Hananis, um ihnen die Operation an ihrem kleinen Sohn genau zu erklären. Ich habe gerade eine unserer Pflegeschülerinnen mit Kaffee zu ihnen geschickt. Sie haben also noch Zeit für einen kleinen Rundgang. Aber denken Sie an die Hygiene – da kennt er kein Pardon.“

„Sehr gut.“ Emily betätigte den Desinfektionsmittelspender. „Es ist schlimm genug, wenn Erwachsene sich im Krankenhaus eine Infektion holen, aber ein krankes Kind …“ Absolute Hygiene war auch für sie oberstes Gebot. Schön, dann hatte sie schon etwas mit ihrem neuen Boss gemeinsam.

Sie wanderte durch die Abteilung, um sich mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen. Und sie gefielen ihr sehr. Hier wurden die Patienten nach der Operation an unzähligen Geräten überwacht und von besonders geschulten Intensivschwestern versorgt.

Und da war er.

Oh, natürlich hatte sie keine Ahnung, wen sie vor sich hatte. Aber er war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Volles schwarzes Haar, glänzend wie Rabengefieder, exotische dunkle Augen mit dichten langen Wimpern. Das Allerschönste war jedoch sein Lächeln, als er sich über das Kind im Inkubator beugte.

Emily beobachtete, wie er mit seinen schlanken Fingern über das von weichen Locken bedeckte Köpfchen strich und wieder lächelte, während er leise mit dem kleinen Patienten sprach.

Sein Lächeln ging ihr zu Herzen. Es brachte seine wundervollen Augen zum Leuchten. Hier war ein Mann, der sein Kind liebte und sich nicht schämte, es zu zeigen. Tief in ihr erwachte eine Wehmut, weil der einzige Mensch auf der Welt, der ihr jemals solch eine bedingungslose Liebe geschenkt hatte, ihre Großmutter war.

Sie wusste nicht mehr, ob sie ein Geräusch gemacht oder er ihre Anwesenheit schließlich bemerkt hatte. Jedenfalls richteten sich diese unglaublich dunklen Augen plötzlich auf sie … ohne zu lächeln.

„Wer sind Sie? Kommen Sie nicht näher!“, befahl er zwar leise, um das Kind nicht zu erschrecken, aber doch mit gebieterischem Unterton. „Was tun Sie hier? Wollen Sie mich sprechen?“

„Wenn Sie Dr. Khalil sind, ja.“ Ihre Enttäuschung verlieh ihren Worten ungewollt einen scharfen Tonfall. Wo war der liebende Vater geblieben, an den sie gerade eben ihr Herz verloren hatte? Die Kälte in den Augen des Mannes brachte sie unwillkürlich zum Frösteln – trotz des herrlichen Sommertags.

„Und Sie sind …?“

Anscheinend ist er kein Freund vieler Worte, dachte sie, als er ihr mit einem kurzen Nicken bedeutete, näherzukommen. Er war groß, eine Aura unangefochtener Autorität umgab ihn.

Zum ersten Mal in ihrer ärztlichen Karriere war sie versucht zurückzuweichen. Aber das war nicht ihre Art … war es nie gewesen, seit ein wortkarger Sozialarbeiter sie bei ihrer Großmutter abgeladen hatte – nur wenige Stunden, nachdem man sie, wie durch ein Wunder unverletzt, aus dem zertrümmerten Wagen ihrer Eltern geborgen hatte. Nein, Emily war eine Kämpferin, und sie hatte sich bisher jeder Herausforderung gestellt.

Entschlossen straffte sie die Schultern und blickte ihrem Gegenüber in die fast schwarzen Augen. Der weiche, liebevolle Ausdruck war wie weggewischt, die dunklen Tiefen zeigten nicht die geringste Gefühlsregung.

Ihr Gehirn brauchte weitere Sekunden, um auch die anderen Eindrücke zu verarbeiten, die der hoch gewachsene Mann lieferte. Entsprechend den Infektionsschutzregeln endeten die Ärmel seines Hemds an den Ellbogen. Sie enthüllten kräftige, von dichten dunklen Härchen bedeckte Unterarme. Die hohen Wangenknochen verliehen ihm aristokratische Züge, er war frisch rasiert und strömte einen angenehmen Duft nach Seife und Mann aus. Das weiße Hemd hob sich attraktiv von seiner gebräunten Haut ab.

Da es am Kragen offen stand, erhaschte Emily einen Blick auf die Kuhle an seinem Hals und seidig aussehende schwarze Härchen. Unwillkürlich stellte sie sich vor, was sie entdecken würde, wenn sie die kleinen weißen Knöpfe einen nach dem anderen aufknöpfte.

„Nun?“, fragte er knapp.

Heiß stieg ihr das Blut ins Gesicht. Sie hatte ihn tatsächlich angestarrt und dabei vergessen, seine Frage zu beantworten. So etwas war ihr noch nie passiert! „Ich … Dr. Breyley hat wohl mit Ihnen über mich gesprochen, bevor er nach Neuseeland geflogen ist. Ich bin Emily Livingston, Ihre neue Mitarbeiterin.“

Autor

Josie Metcalfe
Als älteste Tochter einer großen Familie war Josie nie einsam, doch da ihr Vater bei der Armee war und häufig versetzt wurde, hatte sie selten Gelegenheiten, Freundschaften zu schließen. So wurden Bücher ihre Freunde und Fluchtmöglichkeit vor ihren lebhaften Geschwistern zugleich. Nach dem Schulabschluss wurde sie zur Lehrerin ausgebildet, mit...
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