Geliebter Lord in heimlicher Mission

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„Sir, hören Sie mich?“ Bei einem Spaziergang entdeckt Nancy einen schwer verletzten Mann. Ihre liebevolle Fürsorge rettet ihn vor dem sicheren Tod, und in seinem Herrenhaus umsorgt sie ihn, bis er wieder zu Kräften gekommen ist. Wo Gabriel Shaw sie eines Tages zärtlich in seine Arme zieht und ihr voller Leidenschaft einen Kuss raubt! Doch dann erfährt sie entsetzt, dass dieser charmante Verführer ein Agent der Krone ist. Er will beweisen, dass der Earl of Masserton Staatsgeheimnisse weitergibt. Was Gabriel nicht ahnt – der Earl ist Nancys Vater!


  • Erscheinungstag 27.09.2022
  • Bandnummer 624
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511339
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der Schnee setzte mit der Abenddämmerung ein. Zuerst waren es nur ein paar vereinzelte Flocken, doch bald schon war der vereiste Boden von einer weißen Decke überzogen.

In ihrem Reitkleid aus pflaumenblauem Samt mit dem dazu passenden Hut und dem weiten Umhang war Nancy warm genug angezogen. Auch ihre Begleiterin hatte es behaglich in einem schweren wollenen Redingote samt Schal. Zusammen saßen sie unter kuscheligen Schafsfellen, und heiße Ziegelsteine wärmten ihre Füße, Doch Nancy verspürte Mitleid mit den Dienstboten, die oben auf dem Wagen saßen.

Aber als sie am „Crown“ in Tuxford hielten, um die Pferde zu wechseln, und William der Kutscher vorschlug, hier zu übernachten, beharrte sie darauf, weiterzufahren. William, der an die Kutschentür getreten war, sah sie verwundert an und schob seinen Hut zurück. Sein Atem bildete kleine eisige Wolken, als er mit all dem Selbstvertrauen eines alten und vertrauten Bediensteten sprach.

„Es gefällt mir gar nicht, Madam. Es sieht nicht so aus, als würde der Schneefall nachlassen. Wir sollten hier rasten.“

„Es ist aber nur ganz feiner Schnee“, erwiderte sie. „Er wird nicht sehr hoch liegen, und es geht auch kein Wind, um Schneeverwehungen zu bilden, also sollten wir weiterfahren.“ Sie bemerkte, wie er die Stirn runzelte, und kam ihm ein Stück entgegen. „Ihr könntet euch alle etwas Heißes zum Trinken bestellen, wenn ihr wollt, und für Mrs. Yelland und mich Kaffee herausbringen lassen. Und vielleicht könnten Sie die Leute bitten, frische heiße Ziegel für unsere Füße zu bringen.“

„Sie wollen nicht hineingehen, Madam, nicht einmal für ein paar Minuten?“ Die Frau, die neben ihr saß, ergriff zum ersten Mal das Wort. „Wir könnten uns am Feuer wärmen.“

„Nein, Hester, wir fahren weiter.“ Nancy schüttelte den Kopf. Es lag nicht nur an den Erinnerungen, die dieser Ort in ihr weckte, sie wollte auch nicht riskieren, dass man sie erkannte.

Ihre Begleiterin sah an ihrem Gesicht, wie entschlossen sie war, und lehnte sich seufzend in die Ecke zurück. „Also schön, Madam. Sie wissen es am besten.“

Nancy hörte die Enttäuschung in Hester Yellands Stimme, war aber nicht bereit, ihre Meinung zu ändern. Für eine Frau war sie ungewöhnlich groß, und das würde Aufmerksamkeit erregen. Jemand könnte sie erkennen. Schließlich hatte sie den Wirt sofort erkannt, als er in der Tür gestanden hatte, die Hände in die Hüften gestemmt, während er die Reisekutsche beobachtete, die in den Hof einfuhr. Er hatte überlegt, ob sie es wert war, bei der Kälte nach draußen zu gehen, und sie war erleichtert, dass er mit erfahrenem Blick erkannte, dass dies ein ziemlich schäbiges Gefährt war. Stattdessen hatte er einen Diener geschickt, um mit William zu sprechen, und dieser hatte den Burschen zugerufen, sie sollten frische Pferde bringen, und zwar schnell.

Der Wirt hatte sich in den zwölf Jahren, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, kaum verändert, abgesehen davon, dass er etwas rundlicher geworden war. Und auch wenn Nancy sich innerlich vollkommen anders fühlte, wusste sie, dass sie mit ihrer Größe und dem dichten dunklen Haar noch genauso aussah wie vor all den Jahren, als sie mit der Postkutsche geflohen war, bei sich nichts als eine eilig gepackte Reisetasche und das bisschen Geld, das sie hatte sparen können. Rückblickend war es ein Wunder, dass sie die vergangenen zwölf Jahre einigermaßen unbeschadet überstanden hatte. Aber sie hatte sie überstanden, und es gab nur wenig, das sie bedauerte.

Innerhalb weniger Minuten waren sie wieder unterwegs. Der Schneefall hatte nachgelassen, jedenfalls für den Augenblick, und immer wieder erschien zwischen den Wolken die Sichel des abnehmenden Mondes. Doch es war erheblich kälter geworden. Nancy zog ihren Umhang fester und versuchte zu schlafen, aber in der schaukelnden Kutsche war das unmöglich. Bald bemerkte sie, dass sie wieder langsamer fuhren, und sie setzte sich auf. Als der Wagen vollkommen stillstand, öffnete sie ein Fenster.

„Was ist los?“, rief sie. „Was ist passiert?“

Der Kutscher sprang vom Wagen und trat zu dem Gespann. „Eines der Pferde hat ein Hufeisen verloren, Madam“, rief er und klatschte in die Hände, um sie zu wärmen. „Jetzt müssen wir umkehren.“

„Nein.“ Nancy betrachtete die mondbeschienene Landschaft. „Nein, es ist sinnvoller, weiterzufahren. Fahren wir bis zum ‚Black Bull‘.“

„Aber wir sind kaum zwei Meilen von Tuxford …“

„Das ‚Bull‘ ist näher“, sagte Nancy. „Dort gibt es nebenan eine Schmiede.“ Jedenfalls war das früher so gewesen. „Kommen Sie, beeilen wir uns.“

Deutlich langsamer setzten sie ihren Weg fort, und Nancy seufzte erleichtert, als sie endlich die Ansammlung von Häusern erreichten, die das Dorf Little Markham bildeten. Das „Black Bull“ war ein wesentlich kleineres Gasthaus als das „Crown“ in Tuxford, und es wurde vor allem vom dortigen Landadel und den Farmern besucht. In ihrer Jugend war Nancy regelmäßig hier vorbeigekommen, aber sie war noch nie hineingegangen. Trotzdem behielt sie die Kapuze auf, die ihr Gesicht verbarg, während der Wirt sie und ihre Begleitung in einen separaten Salon führte.

„Gott sei Dank brennt hier ein gutes Feuer“, murmelte Hester und trat an den Kamin. „Ich hoffe, dass der Schmied nicht allzu lange braucht.“

„Das hoffe ich auch“, meinte Nancy und zog ihre Handschuhe aus. „Aber es ist nicht so schlecht. Wir werden das Angebot der Wirtin annehmen und etwas essen. Dann können wir die Nacht durchfahren und die Zeit wieder aufholen. Immerhin scheint der Mond.“

Die ältere Frau drehte sich zu Nancy um. „In Tuxford wollten Sie nicht anhalten, und jetzt wollen Sie unbedingt weiterfahren. Warum, Madam? Kennen Sie diese Gegend?“

„Ich kenne sie sehr gut. Hier in der Nähe bin ich aufgewachsen.“

Nancy war dankbar, dass die andere sie nicht drängte, mehr zu erzählen. Aber es überraschte sie nicht, denn sie verstanden einander. Hester Yelland war eine Witwe, die Nancy für ihre Zeit in London als Gesellschafterin angestellt hatte. Sie waren Freundinnen geworden, und als Nancy sie eingeladen hatte, mit ihr zusammen nach Norden zu reisen, hatte Hester die Gelegenheit ergriffen und zugesagt.

„Schließlich“, hatte sie gesagt und sogar gelächelt, was selten geschah, „gibt es hier niemanden, dem es wichtig ist, ob ich gehe oder bleibe.“

Jetzt zuckte sie nur die Achseln, nahm Nancys Zurückhaltung hin und sagte schroff: „Also gut, machen Sie es sich bequem, Madam, ich gehe und sage der Wirtin, sie soll uns das Dinner so schnell wie möglich bringen.“

Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, setzten die beiden Frauen sich an den Kamin. Hester war schnell eingenickt, aber Nancy war viel zu ruhelos. Ungeduldig wartete sie darauf, weiterfahren zu können, aber es war noch nicht lange her, seit der Kutscher von der Schmiede zurückgekommen war, und er würde noch nicht angefangen haben zu essen. Sie wusste, sie könnte darauf bestehen, sofort aufzubrechen – schließlich wurden die Männer für ihre Dienste großzügig bezahlt – aber das würde sie nicht tun. Sie wusste nur zu gut, wie es war, einem fordernden Arbeitgeber ausgeliefert zu sein.

Sie trat zum Fenster und sah hinaus. Es hatte aufgeklart, und die schneebedeckten Felder schimmerten blausilbern im fahlen Mondlicht. Der eisige Frost brachte die schindelbedeckten Dächer der Gebäude zum Glitzern, und ganz plötzlich hatte Nancy das Gefühl, in dem kleinen Raum zu ersticken. Sie warf einen Blick zu Hester, die sanft schnarchte, dann schlich sie leise aus dem Zimmer, nahm ihren Umhang und warf ihn sich im Gehen über.

Die Nacht war so kalt und klar, dass ihr der Atem stockte. Sie blieb einen Moment stehen und überlegte, in welche Richtung sie gehen sollte. Die meisten Cottages standen an der Straße südlich des Gasthauses, aber in Richtung Norden wand sich die Straße durch die Heide, und der offene Blick wurde nur von einem kleinen Wäldchen in der Ferne begrenzt. Nancy setzte die Kapuze auf und marschierte los. Sie schritt rasch aus, froh, sich nach so vielen Stunden in der Kutsche endlich bewegen zu können. Es war sehr still, nichts regte sich – bald hörte sie nicht einmal mehr die Geräusche vom Gasthaus. Ganz kurz wünschte sie, ihre Handschuhe mitgenommen zu haben, aber wenn sie zurückginge, könnte sie Hester aufwecken, und das wollte sie nicht, denn ihre Begleiterin war von der Reise offensichtlich erschöpft. Außerdem würde sie vielleicht versuchen, Nancy diesen nächtlichen Spaziergang auszureden, obwohl es nichts zu fürchten gab: Sie hatte freien Blick über die verschneite Heide, und nirgendwo war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Ihr einziger Begleiter war das Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln, der den steinhart gefrorenen Boden bedeckte.

Sie blickte nach Osten, wo sich am Horizont dunkle Wolken zusammenballten und mehr Schnee ankündigten. Das könnte ihre Rückkehr nach Compton Parva und zu ihren Freunden in Prospect House noch weiter verzögern. Sie war mehrere Monate fort gewesen und fragte sich, wie sie ohne ihre Fürsorge wohl zurechtgekommen sein mochten. Fast sofort schalt sie sich selbst für diesen überheblichen Gedanken. Niemand war unverzichtbar, und die anderen waren ohne sie sicher hervorragend ausgekommen. Sie hoffte jedoch, dass man sie vermisst hatte, bevor sie mit Erschrecken feststellte, dass ihr die anderen während ihrer Zeit in der Stadt überhaupt nicht gefehlt hatten.

Ihre einzige Entschuldigung war, dass sie sehr beschäftigt gewesen war und es sich nicht um eine Vergnügungsreise gehandelt hatte. Nancy hatte sich in London als reiche Witwe eines Kaufmanns ausgegeben, um einer guten Freundin zu helfen, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie sich amüsiert hatte. Sie hatte schöne Kleider getragen, in der Bond Street eingekauft, war ins Theater gegangen und hatte Bälle besucht. Tanzen. Flirten. Natürlich war alles nur gespielt. Eine Scharade, die notwendig gewesen war für die Figur, als die sie sich ausgegeben hatte. Aber sie hatte einen Blick auf das erhascht, was ihr Leben hätte sein können, hätte sie sich nicht von der guten Gesellschaft losgesagt. Vielleicht wäre sie dann jetzt sogar glücklich verheiratet. Vielleicht hätte sie Kinder.

Nancy schüttelte sich. Sie hatte ihre Wahl getroffen, und jetzt war es zu spät, um daran etwas zu ändern. Und ihre Entscheidung, unverheiratet und unabhängig zu bleiben, bedauerte sie ganz und gar nicht. Und doch nagte ein wenig der Zweifel an ihr, ein vages Gefühl von Unzufriedenheit, als ob etwas fehlte in ihrem Leben. Nein, nicht etwas, das wurde ihr jetzt bewusst: Jemand.

„Bah, du wirst sentimental“, schalt sie sich selbst, während ihr Atem in der kalten Luft Wolken bildete. „Nur weil du so nahe an deinem alten Zuhause bist. Das gehört jetzt alles in die Vergangenheit, du hast mit deinen Freunden ein gutes Leben in Prospect House. Und du bist auch nicht ganz ohne Familie.“

Sie hatte noch ihre Schwester, Lady Aspern, aber sie kommunizierten nur heimlich per Briefen miteinander. Marys Ehemann missbilligte ungehorsame Töchter, die ihren Vätern nicht gehorchten und davonliefen. Als sie an Aspern dachte, verzog Nancy das Gesicht. Er gehörte zu der Sorte Gentlemen, die sie zutiefst verachtete. Lieber wollte sie ihre Unabhängigkeit behalten, als mit einem solchen Mann verheiratet zu sein.

Aber das Gefühl der Unzufriedenheit wollte nicht weichen, und sie musste zugeben, dass sie sich nicht so sehr darauf freute, zu ihrem alten Leben zurückzukehren, wie sie geglaubt hatte. Die Zukunft lag vor ihr: Sicher, vorhersehbar – und langweilig.

Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie erschrak, als sie sich an dem kleinen Wäldchen wiederfand, wo die dürren geraden Stämme und die nackten Zweige vor dem Nachthimmel ein Spitzenmuster bildeten. Guter Gott, war sie so weit gelaufen? Gerade wollte sie umkehren, als ihr zwischen den Bäumen etwas auffiel. Der Boden dort war nur von einer dünnen Schicht Schnee bedeckt, und das Mondlicht fiel matt zwischen den Zweigen auf etwas Großes, Weißes, das in dem dunklen Wald beinahe strahlte. Nancys Neugier gewann die Oberhand. Sie trat in das Wäldchen. Blätter raschelten unter ihren Füßen, als sie weiter ging. Als sie das Ding schon beinahe erreicht hatte, erkannte sie, dass es ein Männerhemd aus feinem Leinen war. Und der Besitzer trug es noch am Körper.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und trug nur sein Hemd, eine Hose und hohe Stiefel. Sie kniete neben ihm nieder und legte zwei Finger an seinen Hals. Die Haut fühlte sich kalt an, aber sie spürte einen schwachen Puls. Nancy roch Alkohol und entdeckte neben ihm eine leere Flasche. Sie verzog das Gesicht. Ein Betrunkener also, der nur halb bekleidet herumgelaufen war. Trotzdem hatte er irgendwo eine Mutter. Vielleicht war er auch Ehemann und Vater. Sie brachte es nicht über sich, ihn hier liegen zu lassen, wo er womöglich den Tod finden würde. Also packte sie ihn an der Schulter und schüttelte ihn.

„Kommen Sie, Mann, Sie müssen aufstehen. Wenn Sie hierbleiben, werden Sie bis morgen erfroren sein.“

Sie bekam keine Antwort. Sie packte ihn fester und versuchte, ihn umzudrehen. Nancy war keine kleine Frau, und sie hielt sich nicht für schwächlich, aber dieser Mann war groß und schwer. Es kostete sie einige Anstrengung, ihn auf den Rücken zu drehen. Die nasse Vorderseite seines Hemdes war mit Zweigen und Blättern bedeckt. Sie betrachtete ihn. Erwartet hatte sie das Gesicht eines Trunkenbolds, ausgezehrt, fleckig, verwüstet von Alkohol. Aber selbst im Schatten zwischen den Bäumen konnte sie erkennen, dass dieser Mann gut aussah, trotz der hässlichen Prellung an seiner Wange. Er war rasiert, das dunkle Haar fiel ihm zerzaust in die Stirn. Ohne nachzudenken, streckte sie die Hand aus, um es zurückzustreichen, und fühlte klebriges Blut an ihren Finger. Zuerst glaubte sie, er wäre angegriffen worden, und zog erschrocken ihre Hand zurück. Ängstlich sah sie sich um. Doch da war keine Bewegung, kein Geräusch. Sie atmete ruhiger, versuchte, ihre angespannten Nerven zu beruhigen. Vermutlich hatte sie zu viel Fantasie, wer würde schon in einer Nacht wie dieser unterwegs sein? Vermutlich hatte der Mann sich am Kopf verletzt, als er betrunken gestürzt war.

„Und recht geschieht ihm“, murmelte sie und wischte sich die Hände an einem Taschentuch ab. „Aufwachen!“ Sie schlug ihm ins Gesicht. „Wachen Sie auf, verdammt, oder ich lasse Sie zum Sterben hier liegen.“

Endlich eine Reaktion. Nicht mehr als ein schwaches Stöhnen, aber Nancy atmete erleichtert auf. Wieder schlug sie leicht auf seine Wangen, und dieses Mal verzog er das Gesicht und bewegte den Kopf.

„Verdammt, Frau, hören Sie auf, mich zu schlagen.“

Er hatte eine tiefe Stimme und sprach ohne eine Spur des örtlichen Dialekts. Vermutlich ein Gentleman, und gebildet noch dazu, dachte sie. Jemand, der es besser wissen sollte, als sich zu betrinken. Diese Tatsache mäßigte nicht gerade ihren Unmut.

„Ich versuche, Ihnen das Leben zu retten.“ Sie zerrte an seiner Schulter und half ihm, sich aufzusetzen. „Sie mögen ja schrecklich betrunken sein, aber Sie können nicht länger hier in der Kälte bleiben.“

„Ich bin nicht schrecklich betrunken“, murmelte er. „Ich bin überhaupt nicht betrunken.“

„Nein, natürlich nicht.“ Sie hockte sich hin. „Nur ein nüchterner Mann würde ohne seinen Mantel nach draußen gehen.“ Er zitterte, und sie löste die Bänder ihres Umhangs. „Hier.“ Der Fremde wehrte sich nicht, als sie ihm den dicken Wollstoff umlegte. „Können Sie aufstehen?“

Er holte tief Luft und presste dabei eine Hand auf seine Rippen.

„Madam, ich weiß nicht, woher Sie gekommen sind, aber ich denke, Sie sollten gehen. Jetzt.“

Nancy holte tief Luft. „Von all den undankbaren …“

Er unterbrach sie. „Sich in meiner Nähe aufzuhalten, bedeutet Gefahr für Sie. Heute Nacht hat jemand versucht, mich umzubringen.“

2. KAPITEL

Nancy starrte den Mann an.

„Wenn Sie nicht betrunken sind, dann sind Sie offenbar verrückt.“

„Ich bin weder das eine noch das andere, Sie dummes Ding.“ Er legte eine Hand an seinen Kopf. „Ich wurde angegriffen, als ich eine Taverne in Darlton verließ …“

„Darlton! Aber das liegt fünf Meilen entfernt.“

„Was?“ Er zuckte zusammen und bewegte vorsichtig den Kopf, um sich umzusehen. „Wo sind wir denn hier?“

„Wir befinden uns etwas nördlich von Little Markham.“

„Verdammt.“ Wieder zuckte er zusammen. „Ich habe keine Ahnung, wie viele Männer mich angegriffen haben, aber mein Körper fühlt sich an, als hätte er als Sandsack gedient. Wenn sie meinen Rock und meine Weste mitgenommen haben, dann wollten sie mich wohl hier der Kälte überlassen. Dieser Wald ist zu klein, um Wilddiebe anzulocken, und vermutlich hatten sie nicht damit gerechnet, dass in so einer kalten Nacht jemand hier unterwegs sein könnte.“ Es klang, als redete er mit sich selbst und hätte ihre Anwesenheit vergessen, bis er aufsah und hinzufügte: „Ganz sicher hatten sie keine exzentrische Frau bei einem nächtlichen Spaziergang erwartet.“

Nancy musste sich sehr anstrengen, um sich zu beherrschen.

„Das ist nicht gut“, sagte sie zu ihm. „Wir können darüber streiten, aber nicht hier. Wir sind nicht einmal eine halbe Meile vom ‚Black Bull‘ entfernt. Ich werde Sie dorthin bringen.“

Mühsam stand er auf und stützte sich dabei an einem Baum ab.

„Gute Frau, ich würde nicht einmal die Hälfte dieser Strecke schaffen.“ Er lehnte sich an den Stamm und amtete schwer, während er sie musterte. „Sie mögen groß sein, aber ich glaube kaum, dass Sie mich den ganzen Weg tragen können.“

„Also gut. Ich gehe zurück zum Gasthaus und hole Hilfe.“

„Nein! Das ist zu gefährlich – für uns beide“, fügte er hinzu.

„Was soll ich dann mit Ihnen machen?“, rief sie verzweifelt.

„Gar nichts. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Hilfe, aber für Sie ist es jetzt am besten, wenn Sie gehen.“ Er hielt sich an dem Stamm fest und verzog vor Schmerzen das Gesicht. „Wenn Sie mir gestatten, Ihren Umhang zu behalten, dann werde ich die Kälte wohl überleben und mich bald so weit erholt haben, dass ich nach Darlton zurückkehren kann.“

„Von allen dickköpfigen, eigensinnigen …“ Nancy suchte nach den richtigen Worten, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. „Den Teufel werden Sie tun!“ Bei ihrem undamenhaften Ausruf zuckte er mit keiner Wimper, aber er zog eine Braue hoch, als überraschte es ihn, dass ihm jemand widersprach. „Sie haben schon zugegeben, es nicht bis zum ‚Black Bull‘ zu schaffen“, stieß sie hervor. „Sie würden zusammenbrechen, ehe sie nur die Hälfte der Strecke nach Darlton zurückgelegt haben. Ich werde Sie hinbringen.“

„Nein. Ich habe doch gesagt, das ist zu gefährlich.“

Sie sprach weiter, als hätte er nichts gesagt.

„Meine Kutsche steht beim Gasthaus und ist abfahrbereit. Sie werden hier auf mich warten, und ich hole sie ab und bringe Sie nach Hause.“ Er runzelte die Stirn, als wollte er ablehnen. Dann streifte eine eisige Brise die nackten Zweige, und Nancy erklärte ohne Umschweife: „Bei diesem Wetter werden Sie hier draußen nicht lange überleben, also bleibt Ihnen keine andere Möglichkeit, als meine Hilfe anzunehmen.“

Misstrauisch musterte er sie. „Solange Sie niemandem etwas davon sagen.“

„Wenn Sie das wünschen …“, erwiderte sie mit einem Anflug von Ungeduld. „Sie sind offenbar verrückt, und es ist an mir, Sie zu beruhigen. Wenn wir Sie an Ihrem Haus abgesetzt haben, werden wir weiterfahren. Meine Dienstboten werden dafür bezahlt, mich bis nach Yorkshire zu bringen, also wird niemand hier irgendetwas bemerken.“

„Liebe Güte, Sie sind wirklich eigensinnig.“

„Aber pragmatisch“, gab sie zurück. „Und jetzt lassen Sie mich gehen und meinen Wagen holen, ehe auch ich bis auf die Knochen durchgefroren bin.“

Sie wandte sich ab und wollte gehen, aber er rief nach ihr. Fragend drehte sie sich um.

„Und in wessen Schuld stehe ich für diesen besonderen Service …?“

„Ich glaube nicht, dass Sie das wissen müssen, denn unsere Bekanntschaft wird nur von kurzer Dauer sein.“

„Aber ich würde es gern wissen.“ Im Mondlicht blitzten seine Zähne auf. „Mein Name ist Gabriel Shaw, falls das hilfreich ist.“

Das Lächeln und der scherzhafte Tonfall trafen sie unerwartet.

„Ich bin Nancy.“ Himmel, sie benahm sich wie ein alberner Backfisch. Sie riss sich zusammen und fügte kühl hinzu: „Mrs. Hopwood.“

Nancy eilte zurück zum Gasthaus, getrieben nicht nur von der eisigen Kälte, sondern auch von einer plötzlichen Erregung. Direkt nach ihrer Ankunft befahl sie, dass ihre Kutsche vorgefahren wurde. Dann bugsierte sie Hester hinein und weigerte sich, irgendwelche Fragen zu beantworten, ehe sie unterwegs waren.

„Was haben Sie jetzt wieder ausgeheckt?“, fragte Hester, nachdem sie es sich in einer Ecke bequem gemacht hatte. „Und schließen Sie um Himmels willen das Fenster!“

Nancy beachtete sie gar nicht. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Große, schwere Flocken fielen vom Himmel, und eine oder zwei wehten durch das geöffnete Fenster herein, aber sie ließ es offen und spähte hinaus in die Finsternis. Als sie den kleinen Wald erreichten, beugte sie sich vor und rief William zu, er möge anhalten. Die Kutsche war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, da öffnete sie schon die Tür und sprang hinaus, ohne auf den entsetzen Aufschrei ihrer Begleiterin zu achten.

„Liebe Güte, was haben Sie vor? Miss Nancy. Madam!“

„Ruhig, Hester, ich werde alles gleich erklären.“

Sie sagte etwas zu den Dienern, die hinten auf der Kutsche saßen, und blickte in den Wald. Zuerst sah sie nichts außer schwarzen Baumstümpfen und Schatten, und kurz wurde sie unsicher. Vielleicht hatte sie das alles nur geträumt. Schlimmer noch, vielleicht war der Mann gegangen und irgendwo zusammengebrochen. Doch dann sah sie eine Bewegung zwischen den Bäumen, und eine Gestalt in einem Umhang trat langsam heraus.

„Da sind Sie ja!“ Sie lief zu ihm. „Sie hinken. Ich dachte nicht … Sind Sie schwer verletzt? Warten Sie, lassen Sie mich helfen.“

Sie legte sich seinen Arm über die Schultern. Erst da fiel ihr auf, wie groß er war, denn sie musste sich nicht bücken, um ihn zu stützen.

Schwer lehnte er sich gegen sie.

„Nur Prellungen“, murmelte er. „Nichts gebrochen.“

„Sagen Sie mir, wo wir Sie hinbringen sollen.“ Langsam führte sie ihn zur Kutsche, während sich die Schneeflocken, groß wie Gänsedaunen, auf ihnen niederließen.

„Dell House.“ Wieder verzog er das Gesicht, und sie begriff, dass jeder Schritt eine Qual für ihn war. „Ein paar Meilen diesseits von Darlton.“

„Auf der Lincoln Road. Ich kenne es.“

Sie waren bei der Kutsche angekommen, und Nancy rief Hester, damit sie ihr half, den Mann in die Kutsche zu schaffen. Dann sagte sie rasch dem Kutscher, wohin er fahren sollte. Die Diener platzten beinahe vor Neugier, aber an Nancys Tonfall erkannten sie, dass sie keine Widerrede dulden würde, und beide nahmen die Anweisungen mit einem knappen Nicken entgegen.

Schwieriger war es, Hester zu beruhigen, die in ihrer Ecke so weit wie möglich von dem Fremden abgerückt war und ihn entsetzt anstarrte.

„Nancy, Nancy, was haben Sie vor? Sie haben einen betrunkenen Fremden eingeladen. Er könnte ein gefährlicher Räuber sein.“ Als die Kutsche anfuhr, schrie sie auf. „Der Himmel bewahre uns, haben sie den Verstand verloren?“

„Ganz und gar nicht“, gab Nancy zurück, die neben Gabriel saß und ihn stützte. Noch immer lagen Schneeflocken auf ihrer Jacke und dem Umhang, den er trug. Mit der freien Hand wischte sie sie ab, ehe sie auf dem Stoff schmelzen konnten. „Ich bin nur der gute Samariter. Wir werden diesen armen Mann nach Hause bringen.“ Er zitterte, und sie fügte hinzu: „Bitte, könnten Sie Ihren heißen Ziegelstein unter seine Füße legen, Hester? Und geben Sie mir Ihren Schal. Ich werde den anderen Ziegel darin einwickeln und ihm an den Körper legen.“

Hester tat, was Nancy ihr befohlen hatte, murrte dabei aber die ganze Zeit über. „Ich kann nicht sagen, dass ich das verstehe. Kennen Sie diesen Mann?“

„Überhaupt nicht, aber er versicherte mir, dass er nicht betrunken ist. Er hat gesagt, er wurde überfallen.“ Sie lachte kurz auf. „Himmel, was für ein Abenteuer.“

Hesters verächtliches Schnauben sprach Bände, aber Nancy machte sich größere Sorgen um Gabriel, der das Bewusstsein verloren hatte. Sie schob ihn zurück, bis er quer über dem Sitz lag, nur die langen Beine hingen auf den Boden. Die Wunde an seinem Kopf blutete nicht mehr, und als sie die Finger an seinen Hals legte, schlug der Puls kräftiger, aber vielleicht war das auch nur Wunschdenken.

„Ich habe für ihn getan, was ich konnte“, murmelte sie und sank in der Kutsche auf die Knie. Dabei ließ sie eine Hand leicht auf seinem Hemd liegen und spürte, wie sich sein Brustkorb beruhigend gleichmäßig hob und senkte.

Während sie weiterfuhren, blieb sie an seiner Seite und hielt ihn auf dem Sitz fest. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Es war in der Tat ein Abenteuer, einen fremden Mann mitzunehmen und ihn in Sicherheit zu bringen. Dell House lag nur ein paar Meilen von ihrem alten Zuhause entfernt. Dem Ort, den sie mehr als ein Jahrzehnt gemieden hatte.

Die angenehme Erregung verschwand. Nancy sah aus dem Fenster. Der Schnee fiel gleichmäßig, und dankenswerterweise gab es kaum Wind und daher keine Verwehungen, aber sie wusste, das konnte sich jederzeit ändern. Es war außerordentlich dumm von ihr gewesen, die Hauptstraße zu verlassen, sich für einen Fremden in Gefahr zu bringen. Sie erinnerte sich an ihr kurzes Gespräch, an das plötzliche Lächeln, das ihren Unmut verscheucht hatte. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie es noch nicht bemerkt, aber das Lächeln hatte ihr Herz schneller schlagen lassen. Charme, dachte sie jetzt. Dieser Mann verfügte über jede Menge Charme.

Sie warf einen Blick auf die bewusstlose Gestalt. Er war verletzt, geschlagen und gefährlich unterkühlt. Er würde Pflege und gutes Essen brauchen, um wieder gesund zu werden. Beides konnte sie leisten. Darin lag ihre Stärke, das war etwas, worin sie gut war. Sie kümmerte sich gern um verletzte Geschöpfe.

Nancy fuhr hoch. Was dachte sie da? Dieser Mann war nicht ihr Problem. Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Sympathien mit ihr durchgingen. Himmel, hatte sie denn in den vergangenen zwölf Jahren nichts dazugelernt? Sie erschauerte und setzte sich neben Hester, die ihr das Knie tätschelte.

„Sie haben ein gutes Herz, Miss Nancy, das ist Ihr Problem. Wir hätten dem Wirt sagen sollen, dass er den Burschen ins Gasthaus holt. Dort hätte man sich um ihn kümmern können.“

„Vielleicht, aber es war ihm so wichtig, dass ich niemandem etwas erzähle.“ Nancy seufzte. „Ich gebe zu, ich bin froh, wenn wir ihn bei seinen eigenen Leuten abgeliefert haben und wieder unserer Wege gehen können.“

Doch als sie endlich Dell House erreichten, kamen keine Dienstboten aus dem Haus oder den Wirtschaftsgebäuden, um sie zu begrüßen. Der Himmel hatte aufgeklart, und Nancy konnte das Haus im Schnee gut erkennen. Es war ein bescheidenes, quadratisch gebautes Anwesen, und es lag im Dunkeln, abgesehen von einem schwachen Licht oberhalb der Tür. Ohne auf Robert, ihren Diener, zu warten, stieg Nancy aus und ging zur Tür, um zu klopfen.

Stille.

Robert kam zu ihr, Hut und Schultern weiß vom Schnee. „Es scheint niemand zu Hause zu sein, Madam.“

„Es muss jemand da sein.“ Sie klopfte noch einmal. „Ist es sicher, dass dies das richtige Haus ist?“

„Aye, Madam. Dell House. Es steht an den Torpfosten, ist nicht zu übersehen.“

In diesem Moment hörte sie, wie Riegel zurückgeschoben wurden, und Nancy seufzte erleichtert.

„Endlich.“ Sie setzte eine heitere Miene auf, aber als sie hinter der Tür ein Niesen hörte, trat sie überrascht zurück.

Ein Mann öffnete die Tür, in einer Hand eine Lampe haltend. Er bot einen armseligen Anblick, war auf Strümpfen ohne Schuhe unterwegs, um die Schultern trug er eine Decke. Seine Augen wirkten müde, auf seinen Wangen waren dunkle Bartstoppeln zu sehen, und sein Haar war zerzaust, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen.

„Guten Abend, ich …“

Ein weiteres Niesen unterbrach sie. Der Mann verbarg sein Gesicht hinter einem großen Taschentuch.

„Ich bitte um Verzeihung.“ Hinter dem Stoff klang seine Stimme erstickt, aber ganz offensichtlich war ihm das sehr peinlich. „Eine Erkältung“, stieß er hervor, ehe er ein weiteres Mal explosionsartig nieste.

„Ja, also, wir haben einen verletzten Mann in der Kutsche“, sagte Nancy. „Einen Mr. Gabriel Shaw.“

„Mein Master!“

„Ja, Ihr Master.“ Erleichtert hörte Nancy, dass diese Tatsache bestätigt wurde. „Wir müssen ihn so schnell wie möglich in ein warmes Bett bringen. Können Sie …?“ Sie hielt inne, als der Mann einen Hustenanfall bekam. „Ist noch jemand im Haus, der helfen könnte?“

„Niemand“, stieß der Mann hervor. „Nur ich, und ich bin sehr geschwächt.“

Nancy spitzte die Lippen. „Nun, wir können nicht hier stehen und diskutieren. Wenn Sie nicht helfen können, dann müssen wir uns um Ihren Herrn kümmern. Sie müssen nicht mehr tun, als uns den Weg zu zeigen.“ Sie sah an ihm vorbei in die dunkle Halle. „Robert, gehen Sie mit ihm und zünden Sie da drin um Himmels Willen ein paar Kerzen an.“

Sie machte kehrt und kehrte zur Kutsche zurück, wo Hester an der offenen Tür wartete.

„Was gibt es, Madam? Sind wir am richtigen Ort?“

„Oh ja, aber der einzige Diener ist schwer erkältet. Er kann uns nicht helfen. Wir müssen Mr. Shaw selbst ins Haus bringen.“

Hester nickte. „Ich bin sicher, zusammen schaffen wir das. Je eher er in seinem eigenen Bett liegt, desto besser.“

Sie schlangen den Umhang fester um den Mann, und William und Robert trugen ihn in das Herrenschlafzimmer. Alles war ordentlich, und Nancy bemerkte, dass das Bett gemacht, das Feuer aber ausgegangen war, und im Zimmer war es ausgesprochen kalt.

„So wird das nicht gehen“, erklärte sie, als die Männer ihre Last auf dem Bett abluden. „William, Sie und Robert müssen Reisig und Brennmaterial finden, um ein Feuer zu machen. Und wenn in der Küche ein Feuer brennt, dann erhitzen Sie wieder die Ziegelsteine und bringen sie hierher. Der Mann braucht alle Wärme, die wir ihm geben können.“ Sie winkte dem Dienstboten, der sie ins Haus geführt hatte. „Nehmen Sie ihn mit, er wird Ihnen zeigen, wo alles zu finden ist, und hier kann er uns nichts nützen.“ Als die Männer gegangen waren, wandte sie sich an ihre Begleiterin. „Hester, Sie müssen mir helfen, ihm die nassen Sachen auszuziehen. Kommen Sie.“

„Das ist nichts für Sie, Madam! Das müssen Sie mir überlassen …“, protestierte Hester entsetzt, aber Nancy unterbrach sie.

„Sie werden das nie allein schaffen, er ist schwer wie Blei.“

Sie machten sich daran, das schmutzige Hemd aufzuknöpfen. Gemeinsam zogen sie ihn aus, und Nancy nahm das Handtuch, das neben dem Waschtisch lag, um seine Gliedmaßen warmzureiben. Er ist kein Schwächling, dachte sie, während sie heftig seine Arme rubbelte. Die breite Brust war von feinen dunklen Härchen bedeckt, die in einem schmaler werdenden Streifen nach unten verliefen und unter dem Laken verschwanden, mit dem Hester seinen Unterleib abgedeckt hatte.

Sie versuchte, nicht allzu fest auf die blauen Flecke zu drücken, die sich allmählich zeigten. Kein Wunder, dass es ihm so schwer gefallen war zu gehen. Sie half Hester dabei, ihm ein Nachthemd anzuziehen, und deckte ihn mit mehreren Decken zu, ehe sie begann, sein Gesicht zu säubern.

Hesters Angebot, ihr zu helfen, lehnte sie ab. Der Mann war ihr Patient, und sie fühlte sich für ihn in gewisser Weise verantwortlich.

„Vielleicht können Sie das Lavendelwasser aus meiner Tasche holen“, schlug sie vor. „Wir können ein bisschen davon auf sein Kissen träufeln. Und wenn Sie in die Küche gehen, können Sie vielleicht die heißen Ziegelsteine mitbringen.“

„Sehr wohl, Madam. Und wenn die Ziegelsteine noch nicht warm genug sind, könnte ich auch etwas heißes Wasser in ein paar Weinflaschen füllen“, sagte Hester und ging zur Tür.

„Ja, ja. Alles, was ihn warmhalten könnte.“

Allein gelassen mit dem Mann, machte Nancy sich daran, mit einem feuchten Tuch die Kopfwunde zu säubern. Behutsam strich sie ihm das Haar aus der Stirn und wischte das Blut ab, dann fing sie an, das übrige Gesicht vom Schmutz zu befreien.

Er bewegte sich, als würde er durch ihre Berührung aufwachen, und öffnete die Augen. Sie waren von einem tiefen Blau, wie sie feststellte. Dann begann er, unruhig zu werden.

„Still“, flüsterte sie und hockte sich auf die Bettkante, um ihm eine Hand auf die Brust zu legen „Sie sind in Sicherheit.“

Er murmelte etwas Unverständliches, war aber offensichtlich aufgebracht. Rasch trocknete sie ihm das Gesicht ab und sprach leise auf ihn ein, als wäre er ein unruhiges Kind. Schließlich wurde er still. Sein Blick war auf Nancy gerichtet, aber er sah durch sie hindurch. Ihr Magen zog sich so fest zusammen, dass sie kaum atmen konnte. Er sollte unbedingt wissen, dass sie da war.

Eine Hand hatte er von den Decken befreit, und sie nahm sie und hielt sie fest. „Sicherheit“, wiederholte sie und lächelte ihn an.

Er bewegte sich nicht mehr, sein Blick wurde glasig, aber er hielt weiterhin ihre Hand, und sein Griff war überraschend fest. Dann verlor er wieder das Bewusstsein, und Nancy blieb reglos neben ihm sitzen. Selbst als Hester zurückkam und die in Flanell gewickelten heißen Ziegelsteine unter die Decken legte, blieb sie neben dem Patienten.

„Kommen Sie, Miss Nancy. Es gehört sich nicht, dass Sie auf dem Bett eines Mannes sitzen.“

„Warum nicht? Er weiß nicht, dass ich hier bin.“ Sie sah, dass Hester sich Sorgen machte, und lächelte. „Also gut, bringen Sie einen Stuhl für mich. Aber ich muss in seiner Nähe bleiben. Ich glaube, es tröstet ihn, meine Hand zu halten, und ich habe dann das Gefühl, etwas zu tun.“

„Sie haben jetzt schon viel zu viel für diesen Kerl getan“, murmelte Hester.

Sie sagte nichts mehr, denn die Männer waren zurückgekommen und machten sich daran, ein Feuer zu entzünden, das schon bald munter im Kamin brannte.

„So“, sagte Hester. „Ich denke, wir können Mr. Shaw jetzt bedenkenlos bei seinem Diener lassen, Miss Nancy, und weiterfahren. Kommen Sie.“

Aber Nancy verließ ihren Platz nicht. Sie sah von dem bewusstlosen Mann im Bett zu der jämmerlichen Gestalt des Dieners, der an der Wand lehnte und in sein Taschentuch hustete und nieste.

„Oh, das glaube ich nicht.“ Sie sah Hester an, und in ihren Augen lag ein Lächeln. „Ich denke wirklich nicht, dass wir diese beiden Männer sich selbst überlassen können. Sie etwa?“

Gabriel tauchte aus einem tiefen dunklen Loch auf. Seine Lider bebten, aber er öffnete die Augen nicht ganz, denn das Licht schmerzte ihn, und bei der kleinsten Bewegung pochte es in seinem Kopf. Je weiter er aus der Bewusstlosigkeit auftauchte, desto deutlicher wurde ihm, dass sein ganzer Körper höllisch schmerzte.

Er lag ganz still, kämpfte nicht darum, sich zu erinnern, was passiert war, sondern ließ die Bilder ganz allmählich zurückkehren. Es war ruhig, die Luft war eisig, die Kälte durchdringend. Die leere Straße nach Darlton, schwarze Schatten und der plötzliche Angriff. Er hatte gedacht, es wären Straßenräuber, aber die beiden Angreifer waren nur als Ablenkung gedacht, während ihn jemand von hinten bewusstlos schlug. Dann lag er am Boden, zwischen den Bäumen, und wurde von einer Frau genötigt, aufzustehen.

Behutsam öffnete er die Augen. Er befand sich in Dell House, in seinem eigenen Schlafzimmer. Vermutlich hatte sie ihn hierhergebracht, wie sie es versprochen hatte. Noch eine Erinnerung kehrte zurück. Jemand wischte ihm mit einem feuchten Tuch die Stirn ab, und es roch beruhigend nach Lavendel. Die Stimme einer Frau, sanfter dieses Mal, die ihn bat, ruhig liegen zu bleiben. Jetzt bemühte er sich um die Erinnerungen. Er schloss die Augen wieder und konzentrierte sich. Ja, er hatte sie gesehen. Sie war an sein Bett gekommen, in den Schein der Lampe getreten. Eine üppige, weibliche Figur, dunkle Augen, rote Lippen, schimmerndes schwarzes Haar. Sie hatte sich mit besorgter Miene über ihn gebeugt. Dieselbe Frau, die ihn in dem Wäldchen gefunden hatte. Oder hatte er das alles nur geträumt?

Er hörte das Klicken der Tür, leise Schritte, und Thoresby erschien neben dem Bett. Er trug ein Tablett. Der Mann war so viel mehr als nur ein Diener. Gabriel bezeichnete ihn als treuen Freund, und er war froh, ihn zu sehen.

„John.“

„Guten Morgen, Sir. Ich freue mich, dass Sie endlich wach sind.“

Gabriel runzelte die Stirn. „Du hast im Bett gelegen. Ich fürchtete, es könnte Influenza sein.“

„Zum Glück war es nicht mehr als eine schlimme Erkältung, Sir, und es geht mir schon viel besser.“ John Thoresby stellte das Tablett auf den Tisch, der nahe an das Bett gerückt worden war. Wenn er ein wenig den Kopf bewegte, konnte Gabriel sehen, dass darauf eine Schüssel stand, deren Inhalt verdächtig nach Porridge aussah. Nun, das war nicht seine drängendste Sorge.

„Aber du warst zu krank, um aufzustehen.“

„Das war vor fünf Tagen, Sir.“

„So lange ist das schon her!“ Gabriel versuchte, sich aufzusetzen, und zuckte zusammen, als der Schmerz durch seinen Körper schoss.

Thoresby eilte ihm zu Hilfe, stützte sanft seine Schultern und richtete ihm die Kissen. Gabriel murmelte einen Dank, lehnte sich zurück und schloss die Augen, bis der Schmerz in seinem Körper nicht mehr als ein sanfter Druck war.

„Wenn Sie wünschen – wir haben Laudanum, Sir.“

„Nein. Nur ein wenig Wasser bitte.“

Er bestand darauf, das Glas selbst zu halten, und trank ein paar Schlucke, obwohl seine Hände zitterten. Als er fertig war, war er froh, loslassen zu dürfen, und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.

„John, da war eine Frau.“

„Ah ja. Mrs. Hopwood.“

Der Name erinnerte ihn an etwas. „Sie hat mich hierhergebracht?“

„Ja, das hat sie, Sir. Und ich war sehr froh, Sie zu sehen, obwohl ich mich selbst kaum zur Tür schleppen konnte, als sie klopfte. Ich wusste, ich hätte Sie nicht allein gehen lassen dürfen.“

„Verdammt, John, du warst zu krank, um irgendetwas tun zu können. Und du hattest Fieber. Deswegen habe ich dich schlafen lassen. Aber das ist jetzt egal. Die Frau. Ist sie hiergeblieben?“

„Oh ja, Sir, das ist sie“, sagte Thoresby. „Sie ist immer noch da.“

„Was?“

John hob die Hände. „Es war unmöglich, sie aufzuhalten, Sir. Sie marschierte hier herein und übernahm das Kommando. Ich habe gehustet und geniest und versucht, meine fünf Sinne beisammen zu halten, und im nächsten Augenblick hat sie Sie zusammen mit ihren Dienstboten ins Bett gebracht. Und kaum hatte sie es Ihnen bequem gemacht, hat sie Zimmer für sich und ihre Begleiterin hergerichtet, während ihre Diener und der Kutscher sich ein Quartier suchten.“ Thoresby hielt inne. „Ich muss zugeben, Sir, dass ich Sie ohne sie nicht hätte versorgen können, und das ist die reine Wahrheit. Sie hat mich ins Bett geschickt und gesagt, sie würde sich um alles kümmern. Sie meinte, vermutlich müsste ich mich nur ausruhen und würde nach ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein. Und ehe Sie sagen, ich hätte protestieren sollen – das tat ich, Sir. Ich versichere Ihnen, ich habe es versucht. Und alles, was sie dazu sagte, war, dass ich mich von Ihnen fernhalten sollte, für den Fall, dass ich ansteckend wäre. Ich habe mich wirklich bemüht, aber ehrlich gesagt war ich während der ersten Tage zu schwach, um zu irgendetwas nutze zu sein.“

Gabriel erkannte, dass der Mann die Wahrheit sagte, aber er war nicht besänftigt. Er warf noch einen Blick auf das Tablett.

„Ich nehme an, das ist das, was sie als passendes Frühstück für einen Invaliden ansieht.“

Zum ersten Mal sah Thoresby ihm nicht in die Augen.

„Ja, Sir. Porridge. Es ist das Einzige, was wir Ihnen während der letzten Tage einflößen konnten. Das und etwas Hühnerbrühe, die sie gekocht hat.“

Gabriel bemerkte trocken: „Mrs. Hopwood scheint eine sehr vielseitige Frau zu sein.“

Thoresby gestattete sich ein etwas schiefes Grinsen. „Sie hat uns in einer schwierigen Lage geholfen, das steht mal fest, Sir. Hätte sie Sie nicht in dem Wald gefunden, wären Sie bis zum Morgen tot gewesen. Und die beiden, sie und ihre Begleiterin, haben Sie während der ersten drei Tage gepflegt, als ich nichts tun konnte, außer zu schlafen.“

„Und es hat keine ungebetenen Gäste gegeben, und niemand ist nachts hier herumgeschlichen?“

„Es gab keine Anzeichen, dass Ihnen jemand hierher gefolgt ist, Sir. Durch den Schnee ist es leicht zu erkennen, dass die einzigen Spuren hier von mir oder Mrs. Hopwoods Dienstboten stammen. Während der letzten Tage hatten wir so viel Schnee, dass die Straßen jetzt gesperrt sind, daher kommt niemand durch.“

„Dann müssen wir hoffen, dass meine Angreifer nicht wissen, wo ich mich aufhalte. Aber sie kommen mich vielleicht suchen, wenn sie bemerken, dass ich noch lebe.“ Einen Moment lang lag er still und überlegte, dann sagte er plötzlich: „Für jeden außer uns ist es gefährlich, hier zu sein. Sie dürfen Mrs. Hopwood sagen, dass ihre Hilfe nicht länger benötigt wird.“

„Ich kann es versuchen, Sir, aber ich bezweifle, dass sie gehen wird, solange sie sich nicht mit eigenen Augen davon überzeugt hat, dass Sie sich erholt haben. Wenn Sie vielleicht ein paar Löffel von dem Porridge …“

Gabriel fluchte. „Schaff das Zeug weg und bring mir mein übliches Frühstück. Wie – was ist jetzt noch?“

„Die Damen haben die Küche übernommen, Sir. Seit sie angekommen sind, haben sie jede Mahlzeit zubereitet. Ich bin nicht sicher …“ Gabriels zorniger Blick veranlasste ihn hinzuzufügen: „Ich werde mich sofort darum kümmern, Sir. Ich bin sicher, es wird keine Schwierigkeiten geben.“

„Das will ich stark hoffen.“ Gabriel sah ihn finster an. „Danach könntest du mir beim Aufstehen helfen. Wenn du dem verdammten Weib nicht sagst, dass es gehen soll, dann werde ich es tun!“

3. KAPITEL

Nancy schnitt gerade ein Stück Fleisch zurecht, als Thoresby mit dem Tablett hereinkam. „Sie warf einen Blick auf das unangetastete Essen.“

„Schläft Ihr Herr noch?“

„Nein, Madam, er ist hellwach und besteht auf seinem üblichen Frühstück aus Eiern und Schinken.“

Er verkündete das mit nicht geringer Beklommenheit und sah dabei aus wie jemand, der befürchtet, als Überbringer schlechter Nachrichten geköpft zu werden. Nancy musste sich auf die Lippen beißen, um nicht loszulachen. Sie empfand Mitleid mit Mr. Thoresby, denn sie wusste, dass sie während der letzten Tage etwas tyrannisch aufgetreten war, aber Küche und Kochen waren seit mehr als zehn Jahren ihre Domäne, und sie fühlte sich da zu Hause. Sie hatte die Kontrolle übernommen, hatte die Mahlzeiten organisiert und Essen zubereitet, das für den verletzten Mann gut war, sobald er in der Lage war, ein wenig zu sich zu nehmen. Ihre Freunde bezeichneten sie lachend als Glucke, weil sie sich um jeden kümmern wollte. Ganz plötzlich wurde ihr warm. Dass Gabriel Shaw sie für mütterlich halten könnte, gefiel ihr gar nicht.

„Es freut mich zu hören, dass es ihm so viel besser geht“, sagte sie. „Möchten Sie etwas für ihn zubereiten? Ich würde mich mit Vergnügen darum kümmern, aber Sie werden am besten wissen, wie er sein Frühstück mag.“

Der Diener versicherte ihr rasch, dass er gern das Frühstück für seinen Herrn zubereiten würde, und machte sich auf den Weg, die Eier und den großen Schinken aus der Speisekammer zu holen.

Später, als er seinem Herrn ein neues Tablett gebracht und ihm dann beim Ankleiden geholfen hatte, kehrte er zurück und überbrachte Nancy eine Einladung.

„Mein Master bittet Sie, ihm am Abend beim Dinner Gesellschaft zu leisten, Madam. In seinem Zimmer. Er bedauert es sehr, dass es ihm noch nicht gut genug geht, um die Treppen zu bewältigen.“ Nachdem er seine Pflicht erfüllt hatte, entspannte sich John Thoresby ein wenig und fügte hinzu: „Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, er ist noch völlig entkräftet, und er kann nichts weiter tun, als aufrecht im Sessel vor dem Kamin zu sitzen. Aber er hofft, dass Sie nichts dagegen haben, informell in seinem Zimmer zu speisen.“

Autor

Sarah Mallory
<p>Schon immer hat die in Bristol geborene Sarah Mallory gern Geschichten erzählt. Es begann damit, dass sie ihre Schulkameradinnen in den Pausen mit abenteuerlichen Storys unterhielt. Mit 16 ging sie von der Schule ab und arbeitete bei den unterschiedlichsten Firmen. Sara heiratete mit 19, und nach der Geburt ihrer Tochter...
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