Sinnliche Küsse eines verruchten Gentlemans

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"Darf ich vorstellen: Beau Russington." Eigentlich will Molly ein höfliches Lächeln aufsetzen. Doch als sie in die dunklen Augen des Mannes blickt, trifft es sie wie ein Blitzschlag und ihr Herz beginnt zu rasen. Sie vermeint, durch den Handschuh die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut zu spüren. Erregung flackert in ihr auf wie eine heiße Flamme. Aber sie darf dem Charme dieses Mannes niemals erliegen! Schließlich ist sie eine ehrbare junge Witwe - und er ein berüchtigter Casanova und Herzensbrecher …


  • Erscheinungstag 22.10.2019
  • Bandnummer 598
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736873
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Molly! Molly!“

Leicht außer Atem spähte Molly aus ihrem grün belaubten Hochsitz hinunter auf den Waldweg und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Edwin würde nicht auf die Idee kommen, nach oben zu blicken. Für ihren Bruder war es schlicht unvorstellbar, dass Mädchen auf Bäume kletterten. Er war vier Jahre älter als sie, und seiner Auffassung nach konnten Mädchen gar nichts. Zugegeben, ihre Röcke hatten das Herumkraxeln in den Zweigen ziemlich erschwert, und wenn ihre Mutter den Riss entdeckte, würde sie ihr garantiert eine Standpauke halten. Von ihrem Vater setzte es vielleicht sogar Schläge, und wahrscheinlich ließ er sie wieder eine lange Bibelstelle auswendig lernen, aber das war es ihr wert. Sie würde warten, bis ihr Bruder unter dem Baum vorbeigegangen war, und dann hinter ihm hinunterspringen, damit er ordentlich erschrak.

„Molly, wo bist du?“, rief ihr Bruder.

„Wo zum Teufel hast du dich versteckt?“

Die Stimme hatte sich verändert. Es war nicht mehr die von Edwin, und plötzlich war sie auch nicht mehr sechs und versteckte sich in einer Baumkrone, sondern befand sich an einem finsteren Ort, verletzt und blutend, voller Angst vor dem nächsten Schlag.

„Molly. Molly!

Edwin. Sie hatte nur geträumt. Gott sei Dank, es war nur ein Traum. Dass es die Stimme ihres Bruders war, die sie aus dem Schlaf gerissen hatte, gab ihr Sicherheit. Langsam ließ die grauenvolle Angst in ihr nach. Sie öffnete die Augen und blieb einen Moment reglos liegen, um sich zu sammeln. Ja, sie war in Sicherheit. Sie befand sich im Garten des Pfarrhauses und lag auf einer Decke unter den Schatten spendenden Zweigen der alten Buche.

„Ach, da bist du, du Schlafmütze.“

Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. „Entschuldige, Edwin. Eigentlich wollte ich ein wenig zeichnen, aber ich muss eingeschlafen sein.“

„Nun, wenn du auch schon vor Morgengrauen deinen Dienst im Frauenhaus antrittst.“ Grinsend streckte Edwin sich neben ihr auf der Decke aus und ähnelte viel mehr dem älteren Bruder, mit dem sie aufgewachsen war, als dem nüchternen Reverend Edwin Frayne, dem Gemeindepfarrer. „Eigentlich müsstest du dich nicht mehr als einmal in der Woche dort blicken lassen. Nancy und Fleur haben die Abläufe gut im Griff.“

„Aber ich helfe ihnen gern, wenn ich kann. Und heute ist Markttag, da werden die Überschüsse aus der Molkerei und dem Küchengarten verkauft. Es gibt also viel zu tun, die Sachen müssen auf das Fuhrwerk geladen werden, die Preise für Eier, Butter und …“

Ihr Bruder hob Einhalt gebietend die Hand und lachte. „Schon gut, Molly. Mich brauchst du nicht zu überzeugen. Du bist eine erwachsene Frau und kannst tun und lassen, was du möchtest.“

„Ich weiß, sie kämen auch ohne meine Hilfe klar“, räumte Molly seufzend ein. „Und heute war es das letzte Mal, dass ich so früh zu arbeiten anfange. Nun, da die Tage kürzer werden, gehe ich dienstags hin. Dann bereiten wir alles vor, damit Fleur und die anderen die Sachen am nächsten Morgen nur noch aufladen müssen.“

Edwin lächelte nachsichtig. „Wenn es dir so wichtig ist.“

Molly legte ihre Hand auf seine. „Ich tue es gern, Edwin. Ich möchte helfen. Es gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden.“

„Ich brauche dich, meine Liebe, und zwar sehr. Du machst mein Leben behaglich, indem du mir den Haushalt führst.“

Molly drückte ihrem Bruder die Hand. Sie hätte ihm gern gesagt, wie dankbar sie war, dass er sie aufgenommen hatte, als sie so plötzlich Witwe geworden war, doch die Erinnerung verursachte ihr einen Kloß in der Kehle, und sie wollte weder Edwin noch sich selbst in Verlegenheit bringen, indem sie zu weinen anfing. Also setzte sie ein strahlendes Lächeln auf und fragte ihn, wo er gewesen war.

„Ich habe unseren neuen Nachbarn auf Newlands einen Besuch abgestattet.“

„Oh“, rutschte es Molly heraus.

Edwin spreizte die Finger. „Ich kann nicht so tun, als existierten sie nicht, Molly, das musst du einsehen. Und ich gebe zu, dass ich angenehm überrascht war. Sir Gerald ist ein sehr kultivierter Gentleman. Er war äußerst zuvorkommend.“

„Einem Mann der Kirche gegenüber würde man kein anderes Verhalten erwarten.“ Molly biss sich auf die Unterlippe. „Verzeihung, Edwin, ich sollte nichts auf den Klatsch geben, doch nach allem, was man sich erzählt, gehören Sir Gerald Kilburn und seine Freunde zu der Sorte Männer, die ich am meisten verachte.“

Sie verstummte, und Edwin musterte sie amüsiert.

„Du musst aufpassen, dass du dem Tratsch, den unsere Schwester dir schreibt, nicht allzu viel Wichtigkeit beimisst. Louise hat Vaters Abscheu vor allem Frivolen geerbt, doch Sir Gerald und seine Gäste machen einen angenehmen Eindruck auf mich. Übrigens hat er mir auch seine Schwester vorgestellt. Miss Kilburn übernimmt die Rolle der Hausherrin. Sie wird von einer älteren Dame begleitet, die ihre Gesellschafterin ist. Die Anwesenheit der beiden Frauen, aber auch anderer Damen, lässt vermuten, dass es sich nicht um einen Trupp ausschweifender Lebemänner handelt, die darauf aus sind, die Gegend in Unruhe zu versetzen.“

„Vielleicht nicht alle von ihnen“, erwiderte Molly finster. „Aber Louisa warnte mich besonders vor einem, nämlich Sir Geralds ältestem und engstem Freund Charles Russington, dessen schlechter Ruf selbst dir bekannt sein dürfte, Edwin. Louisa schreibt, dass die Gerüchte um seine Person nicht übertrieben sind. Sie behauptet, er sei der attraktivste Mann, den man sich vorstellen kann, und in London sei keine Frau vor ihm sicher.“

„Wenn der Bursche so gut aussieht, verhält es sich vielleicht umgekehrt, und er ist vor den Damen nicht sicher.“

„Edwin!“

„Entschuldige. Ich wollte nicht oberflächlich sein, aber ich finde, du übertreibst. Ja, selbstverständlich habe ich von Beau Russington gehört, aber ich bin ihm heute gar nicht begegnet.“ Edwin grinste. „Wenn er wirklich so verrufen ist, wie man es ihm nachsagt, will er sich vielleicht auf dem Land erholen. Nein, nein, mach mich nicht gleich herunter, meine Liebe. Sieh es mir nach, wenn ich das sage, aber ich finde, du urteilst zu schnell. Es ist unsere christliche Pflicht, diesen Menschen einen Vertrauensvorschuss einzuräumen. Jedenfalls bis wir sie besser kennen. Und wir werden bald wissen, was unsere Nachbarn über die Neuankömmlinge denken. Sir Gerald teilte mir mit, dass sie planen, sich am Freitag zu der Soiree im ‚King’s Head‘ einzufinden. Er bringt fünf junge Damen mit, dazu die ältere Gesellschafterin, und sechs Gentlemen. Stell dir nur vor, wie sehr das die Veranstaltung beleben wird!“

Molly antwortete nicht. Sie war noch damit beschäftigt, die Neuigkeit zu verdauen, als Edwin hüstelte.

„Ich dachte, diesmal könnten wir hingehen. Nur damit du die neuen Besitzer und ihre Gäste kennenlernen kannst, weißt du. Miss Agnes Kilburn ist eine wohlerzogene, zurückhaltende junge Frau, ungefähr in deinem Alter, und eure Lebenssituation ist ziemlich ähnlich. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr gut miteinander auskommt, Molly.“

Sie erwiderte nichts darauf, doch Edwin musste ihr ihre Zweifel angesehen haben. Er wurde ernst und setzte hinzu: „Ich würde es wirklich begrüßen, wenn du sie kennenlernst, meine Liebe.“

Molly musterte ihn, und plötzlich musste sie lachen. „Edwin! Du wirst ja rot! Hat Miss Kilburn dir etwa den Kopf verdreht?“

„Nein, nein, natürlich nicht, wir sind uns ja erst einmal begegnet.“ Auch seine Ohren hatten sich gerötet, was ihren Verdacht nur bestätigte. „Ich möchte lediglich vermeiden, dass wir unfreundlich erscheinen“, fuhr ihr Bruder eilig fort. „Und ich dachte, du würdest ein Zusammentreffen im ‚King’s Head‘ einer Einladung zu uns nach Hause vorziehen.“

„Das stimmt.“ Molly dachte nach und nickte. „In Ordnung. Wir gehen hin. Ich gebe zu, dass meine Neugier geweckt ist. Jedenfalls, was Miss Kilburn betrifft.“

„Molly.“ Edwin versuchte, eine strenge Miene aufzusetzen, was ihm indes kläglich misslang. „Ich möchte nicht, dass du die junge Dame in Verlegenheit bringst.“

„Aber nein, nicht doch“, beruhigte Molly ihn. Ihre grauen Augen funkelten übermütig. „Ich bin der Inbegriff der Diskretion.“

Molly runzelte die Stirn. Wenn sie die Soiree besuchen wollte, würde sie ein Paar neue Handschuhe brauchen. Bei der letzten Abendgesellschaft hatte sie bemerkt, dass ihre alten wirklich schäbig aussahen. Sie machte sich auf den Weg zu Hebden’s, das bei den Damen von Compton Parva beliebteste Geschäft für diese Art Einkäufe. Ursprünglich ein Kurzwarenladen, in dem es alles gab, was man zum Nähen brauchte, von Bändern über Garne bis hin zu Nadeln, war das Angebot erweitert worden, und man führte nun auch so wichtige Accessoires wie Damenhüte und Schals im Sortiment, außerdem Retiküle, Strümpfe und Handschuhe. Miss Hebden, die das Geschäft von ihren Eltern geerbt hatte, war die Inhaberin, und als sie Mollys ansichtig wurde, eilte sie auf sie zu, um sie zu bedienen.

„Oh, Mrs. Morgan, wie schön, Sie zu sehen“, begrüßte sie Molly mit dem üblichen fröhlichen Lächeln. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich brauche ein Paar weiße Handschuhe, aber ich habe Zeit, wenn Sie erst Ihre anderen Kundinnen bedienen wollen.“

„Nein, nein, die Damen dort drüben gehören zusammen, und Clara kümmert sich bestens um sie. Ich brauche ihr nicht über die Schulter zu sehen.“

„Sie hat sich gut eingewöhnt, nicht wahr?“

„Oh ja, sehr gut sogar. Sie verfügt über eine rasche Auffassungsgabe und stellt Fragen, wenn sie etwas nicht weiß.“ Miss Hebden wandte ihrer Verkäuferin den Rücken zu und senkte die Stimme. „Ich gebe zu, ich war skeptisch, als Sie mich seinerzeit fragten, ob ich sie einstelle, aber sie ist ein gutes Mädchen, sehr höflich, und die Kundinnen mögen sie. Das ist das Wichtigste.“

Molly lächelte. „Wie mich das freut!“

„Mich auch.“ Miss Hebden nickte. „Es macht Spaß, mit ihr zu arbeiten. Ich habe sie wirklich lieb gewonnen.“ Die Ladenbesitzerin zögerte, dann sagte sie eilig: „Ich finde es großartig, was Sie in dem Frauenhaus leisten, Mrs. Morgan. Dass Sie den armen Mädchen ein Heim geben und eine zweite Chance. Was Clara mir über ihren letzten Dienstherrn erzählte, dass er versuchte, sich ihr aufzuzwingen, und sie hinauswarf, als sie sich ihm widersetzte – nun, es bringt mich in Rage, das kann ich Ihnen sagen. Du lieber Himmel, was gibt es doch für böse Menschen auf dieser Welt.“ Ein ungewöhnlich ernster Ausdruck huschte über Miss Hebdens Züge, dann gab sie sich einen Ruck und lächelte. „Aber ich will Sie nicht aufhalten, Madam. Weiße Handschuhe, sagten Sie? Nun denn, lassen Sie mich einmal sehen… da sind sie ja schon. Sie haben Glück, es ist das letzte Paar. Es gab einen regelrechten Ansturm auf weiße Handschuhe diese Woche. Auch auf Bänder und Spitzen. Aber ich sollte mich nicht wundern, die Damen möchten auf der Soiree heute Abend möglichst vorteilhaft aussehen. Wie ich hörte, will der neue Besitzer von Newlands auch kommen und seine Freunde mitbringen. Kein Wunder, dass alle so erpicht darauf sind, Eindruck zu machen.“

Am liebsten hätte Molly geantwortet, dass sie nicht den Wunsch verspürte, irgendjemanden zu beeindrucken. Doch ehe sie dazu kam, traten weitere Kundinnen in den Laden, und sie bezahlte die Handschuhe und ging. Wenn sie daran dachte, dass die Ankunft eines Londoner Gentleman eine solche Aufregung in der Stadt auslöste, konnte sie sich eines gewissen Unmuts nicht erwehren, aber was sie anging, so nahm sie sich vor, würde sie keinen weiteren Gedanken auf die Neuankömmlinge verschwenden.

Leider vergebens. Sie hatte noch keine hundert Yards zurückgelegt, als sie Mrs. Birch und Lady Currick traf, zwei in Compton Parva höchst respektierte Matronen. Da beide eine Tochter im heiratsfähigen Alter hatten, überraschte es Molly wenig, als sie erfuhr, dass die Damen die abendliche Soiree mit ihrer Anwesenheit zu beehren gedachten.

„Die ganze Stadt wird da sein“, bemerkte Mrs. Birch mit einem wissenden Nicken. „Alle wollen natürlich den neuen Besitzer von Newlands sehen. Sind Sie ihm schon begegnet, Mrs. Morgan? Nein? Oh, dann sind wir Ihnen gegenüber im Vorteil.“

„In der Tat“, schaltete Lady Currick sich ein, „Sir William verlor keine Zeit, sich nach Newlands zu begeben und die ganze Gesellschaft zu dem Kartenabend einzuladen, den ich gestern gab. Und man stelle sich vor, mir gegenüber verlor er kein Wort darüber, bis die Gäste eintrafen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich die zusätzlichen elf Personen unterbringen sollte, was meinen Gatten natürlich nicht interessierte. Aber irgendwie quetschten wir einen weiteren Tisch zwischen die anderen und verbrachten einen sehr unterhaltsamen Abend, nicht wahr, Mrs. Birch? Schade, dass Sie nicht dabei sein konnten, Mrs. Morgan, sonst hätten Sie die Gesellschaft bereits kennengelernt.“

„Ich muss gestehen, am Anfang war ich ein wenig eingeschüchtert von den Leuten“, nahm Mrs. Birch den Faden auf. „Was indes völlig unnötig war, sie waren alle unglaublich freundlich und zuvorkommend. Sir Gerald ist ein ausgesprochen liebenswürdiger junger Mann, sehr gesellig und ausgeglichen trotz seines feuerroten Haars! Und erst die Abendkleider der Damen, Mrs. Morgan! Die neueste Londoner Mode, das konnte man auf den ersten Blick sehen.“

Nachsichtig schweigend lauschte Molly den Ausführungen der Damen, die sich nicht beruhigen konnten über die Schnitte der Roben und die Qualität der verschiedenen Stoffe und wie Schulmädchen kicherten, als sie auf die gut aussehenden Gentlemen zu sprechen kamen, von denen es ihnen Beau Russington besonders angetan hatte.

„Er ist aber auch wirklich zu attraktiv!“ Lady Currick seufzte schwärmerisch. „Kein Wunder, dass die Damen sich ihm reihenweise an den Hals werfen. Ein so hochgewachsener Bursche! Und dazu diese unglaublich weltgewandte Ausstrahlung!“

„Und seine Augen erst, Madam.“ Mrs. Birch seufzte ebenfalls. „Dunkel und intensiv, und die Art, wie er einen ansieht! Als wäre man die einzige Frau im Raum. Wahrhaftig, wäre ich nicht glücklich verheiratet, ich weiß nicht, ob ich diesem Schwerenöter widerstehen könnte!“

„Ich gebe Ihnen absolut recht, meine Liebe, ich hatte auch immer eine Schwäche für Lebemänner, selbst so verrufene wie Beau Russington.“ Lady Currick kicherte erneut, doch dann wurde sie ernst. „Aber mit so vielen ansehnlichen jungen Männern in der Stadt, die im Übrigen alle ein wenig locker sind, müssen wir sicherstellen, dass die Mädchen zuverlässig beaufsichtigt werden. Nicht mehr als zwei Tänze, falls einer der Gentlemen sie auffordert.“

Molly starrte die beiden Frauen kopfschüttelnd an. „Sie geben offen zu, dass es sich bei den Gentlemen um Lebemänner handelt, und trotzdem gestatten Sie Ihren Töchtern, mit ihnen zu tanzen?“

„Aber natürlich, meine Liebe. Es ist doch eine große Ehre, von einem Mann von Welt aufgefordert zu werden. Zumal nicht zu befürchten steht, dass die Mädchen die Aufmerksamkeit der Gentlemen auf Dauer erregen, weil unsere Töchter den anspruchsvollen Damen, die auf Newlands zu Gast sind, nicht das Wasser reichen können, da wird Mrs. Birch mir sicherlich zu stimmen. Wovon Sie sich selbst überzeugen können, Mrs. Morgan, wenn Sie sich heute Abend dazugesellen.“

Die Damen verabschiedeten sich und schlenderten weiter, und auch Molly ging ihrer Wege. Nachdenklich fragte sie sich, ob sie den Ballbesuch absagen sollte, kam jedoch zu dem Schluss, dass dadurch nichts gewonnen war. Irgendwann würde sie den Neuankömmlingen auf Newlands ohnehin gegenübertreten müssen, also konnte sie es genauso gut hinter sich bringen.

Mit dem Gefühl, eine lästige Pflicht erfüllen zu müssen, ging Molly am Abend auf ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Sie hatte nicht die Absicht, auf dem Ball zu tanzen, und entschied sich für ihr perlgraues Seidenkleid mit der kurzen Schleppe, doch als sie, eine dazu passende Spitzenhaube auf dem Kopf, den Salon betrat, runzelte Edwin die Stirn.

„Aber Molly!“, protestierte er kopfschüttelnd. „Mit der Haube siehst du aus wie eine Vogelscheuche!“

„Unsinn, eine Witwe meines Alters muss eine Haube tragen.“

„Damit jeder denkt, du wärst vierzig und nicht vierundzwanzig?“ Edwin zog die Brauen hoch. „Unser Vater hätte diese Sorte Kopfbedeckung gutgeheißen, Puritaner, der er war.“

Molly musste lachen. „Zweifellos ein starkes Argument, die Haube nicht aufzusetzen.“

„Was genau meine Absicht war, Schwesterherz! Also, weg mit dem Ding.“

Molly kapitulierte. Ihr Bruder wirkte tatsächlich sehr ungehalten. Eine Viertelstunde später trat sie erneut in den Salon. Ihre widerspenstigen dunklen Locken hatte sie mit einem weißen Stirnband gebändigt.

Eine Freitreppe führte vom Hof des „King’s Head“ zum Eingang des Ballsaals hinauf. Als Molly und Edwin eintrafen, begab sich die auf Newlands weilende Gesellschaft gerade in das Gebäude. Edwin machte Anstalten, seine Schwester zur Eile anzutreiben, um die Gruppe einzuholen, doch Molly ließ sich Zeit.

„Keine unschickliche Hast, Edwin, bitte. Ich würde gern meinen Umhang ablegen und mein Erscheinungsbild in Ordnung bringen. Das wird etwas Zeit in Anspruch nehmen, und im Übrigen komme ich so selten zu diesen Tanzveranstaltungen, dass ich schon jetzt einige unserer Bekannten entdeckt habe, die ungeduldig darauf warten, ein paar Worte mit mir wechseln zu können.“

„Nun gut, dann sprich mit deinen Freunden, meine Liebe. Ich begebe mich derweilen schon einmal in den Ballsaal.“

Erleichtert ließ Molly ihren Bruder gehen und schlenderte in den Garderobenraum, um ihre Stiefeletten gegen Satinslipper zu tauschen. Sie mahnte sich, nicht zu trödeln, musste sich jedoch eingestehen, dass sie keine Lust hatte, Sir Gerald Kilburn und seinen Gästen zu begegnen. Die Anwesenheit der weltläufigen Londoner in Compton Parva würde unweigerlich Wellen schlagen, und während die jungen Damen, die an diesem Abend zugegen waren, den Schutz ihrer Eltern genossen, waren ihre Schützlinge, wie Molly die Bewohnerinnen des Frauenhauses nannte, außerordentlich verwundbar.

Molly hatte das Frauenhaus als Zuflucht für gefallene Mädchen gegründet, die niemanden hatten, an den sie sich wenden konnten. Einige von ihnen stammten aus bescheidenen Verhältnissen, doch bei etlichen handelte es sich um junge Frauen von Stand, die von ihren Familien verstoßen worden waren und keine Möglichkeit hatten, für ihren Unterhalt zu sorgen. Molly bot ihnen Essen und ein Dach über dem Kopf, und als Gegenleistung halfen die Mädchen ihr im Haushalt und in der kleinen Landwirtschaft, die zur Pfarrei gehörte. Molly versuchte passende Arbeitsstellen für sie zu finden, damit sie das Haus verlassen konnten, doch sie wusste, dass es Unmengen bedürftige junge Frauen gab, die ihren Platz einnehmen würden.

Sie hatte viel dafür getan, die anfänglichen Zweifel und Vorurteile der Menschen in der Stadt auszuräumen, aber ihr war klar, dass eine Einrichtung wie ihr Frauenhaus die Aufmerksamkeit von Schurken und Lebemännern auf sich ziehen würde, weil sie die Bewohnerinnen als leichte Beute betrachteten. Einige ihrer jüngeren Schützlinge waren vermutlich noch unschuldig und daher naiv genug, um den Schmeicheleien eines versierten Verführers zu erliegen – mit katastrophalen Folgen, nicht nur für die betreffenden Mädchen, sondern auch für die Einrichtung als solche. In den fünf Jahren seines Bestehens war das Frauenhaus zum Selbstversorger geworden, dennoch hing viel vom guten Willen der Ortsansässigen ab.

Daher war sie den Neuankömmlingen gegenüber zu keinem Wohlwollen bereit, und als sie den Ballsaal betrat und sah, dass ihr Bruder sich auf das Freundlichste mit ein paar nach der neuesten Mode gekleideten Fremden unterhielt, blieb sie auf Abstand. Es lag nahe, dass es sich um Gäste Sir Geralds handelte. Molly suchte sich einen ruhigen Platz an der Seitenwand und nutzte die Gelegenheit, sie zu beobachten.

Sir Gerald hatte sie schnell erkannt. Er war ein stämmiger junger Mann mit offenen Gesichtszügen und einem karottenroten Haarschopf. Molly nahm an, dass es sich bei der jungen Frau neben ihm um seine Schwester handelte. Die beiden sahen einander sehr ähnlich, doch Agnes Kilburns Haar leuchtete eher goldblond als rot, und ihre Züge wirkten ernster. Mit einem schnellen Blick musterte Molly den Rest der Gruppe. Den einheimischen Damen würde mit Sicherheit kein noch so kleines Detail der Abendkleider entgehen, angefangen von den ungewöhnlich kurzen Ärmeln einer Ballkreation aus zartrosa Crepe, bis zu dem reich gekräuselten Volant aus belgischer Spitze, der den Saum von Miss Kilburns hauchdünnem Seidenkleid zierte. Im Gegensatz dazu glichen sich die Erscheinungsbilder der Gentlemen fast wie ein Ei dem anderen – schwarze Frackröcke, weiße Hemden, seidene Westen und helle Kniebundhosen –, aber Molly musste einräumen, dass sie keine Expertin war, wenn es um die Feinheiten männlicher Mode ging.

Eine Gestalt in der Gruppe der Gentlemen stach jedoch heraus. Nicht allein durch seine Körpergröße, sondern auch durch die Extravaganz seines Erscheinungsbildes. Er hatte kurz geschnittenes, unglaublich schwarzes Haar, dem Pomade einen öligen Glanz verlieh und das nach der neuesten Mode frisiert war. Seine Gesichtszüge waren auf eine lebhafte Art attraktiv, mit dichten dunklen Brauen und ebensolchen Wimpern, bei deren Anblick Molly sich fragte, ob sie gefärbt waren. Auch seine Lippen erschienen ihr unnatürlich rot, selbst aus der Entfernung. Der hohe Hemdkragen verbarg den größten Teil seiner Wangen, und seinen Hals zierte ein kaskadenartig geschlungenes Krawattentuch. Als sie sah, wie breit sein Rücken in dem schwarzen Galafrack wirkte, konnte sie sich des Verdachts nicht erwehren, dass die Schultern gepolstert waren. Sicher nicht nur wegen der theatralischen Gestik, mit der er seine Worte begleitete, hingen die Damen ihm förmlich an den Lippen. Molly konnte sich ein verächtliches Lächeln nicht verkneifen.

„Das also ist Beau Russington.“

„Wie bitte?“

Bei der verblüfften Frage, die ein Mann hinter ihr stellte, wirbelte sie herum. Ein hochgewachsener Gentleman in einem schlichten dunkelblauen Frackrock musterte sie neugierig. Sie kannte ihn nicht, erinnerte sich aber, gesehen zu haben, wie er sich mit Mr. Fetherpen, dem Buchhändler, unterhalten hatte, als sie hereingekommen war.

„Pardon, ich wollte das nicht laut sagen.“ Sie lächelte entschuldigend. „Ich meine den Gentleman, der in der Gruppe da drüben an der Spiegelwand Reden schwingt. Man beschrieb ihn mir als …“ Sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig, sonst hätte sie ihn einen berüchtigten Lebemann genannt. Das wäre an sich schon eine unverzeihliche Unhöflichkeit gewesen, aber woher sollte sie wissen, dass der Mann neben ihr nicht ebenfalls zu der Gesellschaft von Newlands gehörte? „… ein Vorbild in Sachen Mode“, schloss sie ein wenig lahm. Die belustigte Miene des Fremden entging ihr nicht, und sie setzte eilig hinzu: „Das ist es doch, was der Beiname Beau bedeutet, oder etwa nicht?“

„Völlig richtig, Madam.“ Der Fremde blickte zur anderen Seite des Ballsaals. „Sie meinen die Erlesenheit der grellgelben Weste, nicht wahr?“

Molly nickte.

„Ein Geck“, sagte der Fremde mit einem verächtlichen Unterton. „Ein angemalter Stutzer.“

„Ja.“ Es freute Molly, dass der Unbekannte ihre Meinung teilte.

„Das ist nicht Beau Russington, Madam. Sondern Sir Joseph Aikers.“

„Ach.“ Erstaunt blickte sie den Unbekannten an.

Er machte eine leichte Verbeugung. „Ich bin Russington.“

„Sie!“ Ihre erste Regung war, sich wortreich zu entschuldigen, aber sie hielt sich zurück. Es war unter ihrer Würde, vor einem Mann zu katzbuckeln. Stattdessen ließ sie ein leises Lachen hören. „Und ich dachte, Sie sind Buchhändler.“ Seine Brauen schossen in die Höhe, und sie fühlte sich zu einer Erklärung bemüßigt. „Ich sah Sie mit Mr. Fetherpen sprechen. Und unsere Abendgesellschaften sind für jeden offen, solange man in akzeptabler Garderobe erscheint.“

War sie zu weit gegangen? Das leichte Zucken seiner Lippen entging ihr nicht. Sie gab sich einen Ruck und sah ihm ins Gesicht. Ein gefährliches Glimmen stand in seinen fast schwarzen Augen, doch das war nichts im Vergleich zu dem Eindruck von Gefährlichkeit, den er auf sie machte, als sie ihn eingehend musterte. Er war groß, das stimmte, aber wohlproportioniert mit breiten Schultern und kraftvollem Körperbau. Sein schwarzes Haar war zu lang, um als ordentlich bezeichnet zu werden, es fiel ihm in dichten Locken bis auf den Kragen. Sein schmales, kantiges Gesicht wirkte ein wenig düster, doch das belustigte Lächeln, das um seinen sinnlichen Mund spielte, und das mutwillige Funkeln seiner Augen unter den schwarzen Brauen trafen sie wie ein Blitzschlag. Die Anziehungskraft, die Beau Russington ausstrahlte, raubte ihr buchstäblich den Atem.

Hastig wandte sie sich von ihm fort. Lady Currick hatte die Attraktion dieses notorischen Frauenhelden in keiner Weise übertrieben. Molly war alarmiert. Wenn sie sich seinem Charme schon nicht entziehen konnte, welche Wirkung würde er dann erst auf ihre Schützlinge haben?

„Buchhändler?“, hörte sie ihn neben sich murmeln, und ihre Hoffnung, dass er davongegangen war, zerstob. „Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass ich mich nicht mit dem Fleischer unterhalten habe.“

Abermals stieg ein Lachen in ihrer Kehle auf, doch Molly unterdrückte es entschlossen und eilte mit einer hastigen Entschuldigung davon.

Verflixt, konnte man wirklich so viel Pech auf einmal haben? Zügig machte Molly ihre Runde durch den Saal, lächelte Bekannten zu, blieb jedoch nicht stehen, als Lady Currick sie zu sich winkte. Zweifellos hatte die Dame ihre Unterhaltung mit Mr. Russington beobachtet, doch Molly verspürte wenig Lust, darüber zu reden. Am liebsten wäre sie nach Hause gegangen, aber das hätte nur die Spekulationen genährt. Stattdessen begab sie sich zu Edwin, der sie seinen neuen Bekannten wahrscheinlich nur allzu gern vorstellen würde.

Sie hatte sich noch immer nicht beruhigt, doch sie schaffte es, einigermaßen gelassen zu erscheinen, als ihr Bruder sie mit Sir Gerald und seinen Freunden bekannt machte. Sie erschienen ihr durchaus herzlich und bereit, die provinzielle Abendgesellschaft, an der sie teilnahmen, unterhaltsam zu finden. Selbst Sir Joseph, der pomadisierte Geck, beugte sich über ihre Hand und zollte ihr ein paar überschwängliche Komplimente.

Molly gab die Höflichkeiten beinahe automatisch zurück, während ihre Gedanken noch immer um die Begegnung mit Mr. Russington kreisten. Doch als Sir Gerald sie mit seiner Schwester bekannt machte, rief sie sich streng zur Ordnung. Agnes Kilburn war eher stattlich als hübsch, und während der kurzen Unterhaltung gewann Molly den Eindruck, dass sie eine kluge, vernünftige junge Frau vor sich hatte. Unter allen anderen Umständen wäre sie erfreut gewesen, die Bekanntschaft der jungen Dame zu machen, aber sie wollte Sir Gerald und seinen Freunden keinen Anlass liefern, mehr Zeit als irgend nötig in Compton Parva zu verbringen.

Plötzlich verspürte sie ein eigentümliches Prickeln im Nacken, und im nächsten Moment hörte sie eine tiefe, amüsierte Stimme hinter sich.

„Oh, Mr. Frayne, wollen Sie mich nicht bekannt machen?“

„Aber gerne doch! Molly, meine Liebe, darf ich dir Mr. Russington vorstellen? Meine Schwester, Sir. Mrs. Morgan.“

Sich innerlich stählend wandte Molly sich um und setzte ein höfliches Lächeln auf. Praktisch noch ehe sie die Hand ausgestreckt hatte, beugte Russington sich bereits darüber. Es war lächerlich, doch sie glaubte die Berührung seiner Lippen durch den Handschuh zu spüren. Zweifellos erlag sie ihrer eigenen Einbildung, aber was sie sich eindeutig nicht einbildete, war der kurze Druck, mit dem er ihre Finger umfasste, ehe er sie losließ.

„Mrs. Morgan und ich, nun, wir sind uns vor ein paar Minuten schon begegnet.“

Entrüstet fragte sie sich, ob er eine Entschuldigung von ihr erwartete, doch als er den Kopf hob und sie ansah, stand nichts als Belustigung in seinen dunklen Augen. Ein leichtes Lächeln ließ seine markanten Züge weicher erscheinen, und sie fühlte sich regelrecht eingehüllt von seinem Charme.

Dann hörte sie Musik, brauchte indes einen Moment, um zu erkennen, dass die leisen Klänge den ersten Tanz ankündigten. Entfernt war sie sich bewusst, dass Edwin Miss Kilburn aufs Parkett führte, doch um nichts in der Welt hätte sie ihren Blick von Beau Russingtons Augen losreißen mögen.

„Würden Sie mir die Ehre erweisen, mit mir zu tanzen, Mrs. Morgan, oder fällt dieses Privileg Ihrem Gatten zu?“

Seine Belustigung brachte sie durcheinander. Es schien ihm nicht entgangen zu sein, wie aufgewühlt sie war.

„Ich bin Witwe, Sir“, erwiderte sie kühl. „Und heute Abend tanze ich nicht.“ Sie trat zu den Stühlen an der Wand. Als er ihr folgte, sagte sie verärgert: „Sie sollten eine der anderen Damen auffordern, Mr. Russington. Es sind genügend ledige anwesend.“

„Aber keine, der ich vorgestellt worden bin. Abgesehen davon hat der Tanz bereits begonnen. Ich werde auf den nächsten warten müssen.“

Molly nahm Platz, und er setzte sich auf den Stuhl neben sie. Wollte der Mann den Wink partout nicht verstehen?

„Fühlen Sie sich bitte nicht verpflichtet, mir Gesellschaft zu leisten.“ Sie sah ihn an. „Es gibt so viele hier, die Sie gerne kennenlernen möchten.“

„Zweifelsohne.“ Er wirkte nicht im Mindesten beleidigt.

Ihre Verärgerung legte sich, und stattdessen verspürte sie den Wunsch, ihn für seine aufreizende Gelassenheit zu schütteln.

„Als ich noch ein Kind war, hatten wir eine Katze, ein unfassbar hochmütiges Geschöpf, das eine unglückselige Vorliebe für ausgerechnet diejenigen Besucher hatte, die es am wenigsten mochten. Sie scheinen mit einem ähnlichen Charakterzug ausgestattet, Mr. Russington.“

„Sie vergleichen mich mit einer Katze?“

Molly verbiss sich ein Lächeln. „Einem Kater“, korrigierte sie genüsslich.

Einem Kater?

Russ warf der Dame neben ihm einen neugierigen Seitenblick zu. Mit dem Fächer wedelnd beobachtete sie die Tanzenden und wirkte völlig entspannt. War sie sich überhaupt darüber im Klaren, was sie gesagt hatte? Hatte sie ihn bewusst beleidigt? Ja, absolut. Vom ersten Moment ihrer Begegnung an hatte er den Eindruck gehabt, dass sie ihn verärgern wollte. Nein, vielleicht nicht vom ersten Moment an. Aber sobald er sich ihr vorgestellt hatte. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn er nichts gesagt hätte, doch als er seinen Namen aus ihrem Munde vernommen und den verächtlichen Blick gesehen hatte, mit dem sie Aikers bedacht hatte, hatte er nicht anders gekonnt.

Sie war zu ihm herumgewirbelt, eine Entschuldigung auf den Lippen und ein Lächeln in den kühlen grauen Augen. Doch kaum dass sie erfahren hatte, wer er war, hatte sich eine boshafte Freude in ihren Zügen gezeigt und kurz danach blanke Abneigung. Er war es gewöhnt, dass die Frauen ihm zu Füßen lagen oder mit ihm kokettierten, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Offene Feindseligkeit vonseiten des schönen Geschlechts kannte er nicht. Und dann der Vergleich mit einem Kater! Im ersten Moment war er schockiert gewesen, doch nun gewann sein Sinn für Humor die Oberhand, und er lachte.

„Eine längere Bekanntschaft mit Ihnen, Madam, wird meinem Selbstbewusstsein nicht guttun, fürchte ich!“

„Da haben Sie recht“, pflichtete sie ihm liebenswürdig bei.

Sie erhob sich, nickte ihm kurz zu und ließ ihn sitzen. Russ sah ihr hinterher, wie sie hocherhobenen Hauptes, mit geradem Rücken und einem weichen, verführerischen Hüftschwung davonschwebte. Vielleicht tat sie nur so abweisend, um sein Interesse zu wecken. Vielleicht sollte er eine Affäre mit ihr anfangen. Sie war hübsch und außerdem Witwe, auch wenn sie so gar nichts gemein hatte mit den sinnlichen, üppigen Schönheiten, die er bevorzugte.

Er entschied sich dagegen. Compton Parva war eine kleine Stadt, und sie war die Schwester des Pfarrers. Seiner Erfahrung nach war es besser, sich mit einer gut aussehenden Matrone einzulassen, bei der er sicher sein konnte, dass sie eine kurze Liaison genießen würde, ohne etwas Dauerhaftes zu erwarten, und von der er sich in aller Freundschaft trennen konnte, ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden.

Nein. Von der jungen Witwe ließ er besser die Finger.

Als der Ball zu Ende war, machten Edwin und Molly sich auf den Heimweg. Für die kurze Entfernung vom „King’s Head“ zum Pfarrhaus brauchten sie keine Kutsche, und die milde Sommernacht und der Vollmond am Himmel sorgten für einen angenehmen Spaziergang. Allein die Erwartung der unvermeidlichen Frage ihres Bruders dämpfte ihr Vergnügen.

„Nun, Schwesterherz, wie findest du Miss Kilburn?“

„Sie scheint eine sehr angenehme junge Dame zu sein“, sagte Molly vorsichtig. „Allerdings ergab sich keine Gelegenheit, ausführlich miteinander zu sprechen.“

„Sie hätte sich ergeben, wenn du nicht die ganze Zeit mit Lady Currick und den anderen älteren Damen verbracht hättest.“

„Edwin!“

„Du kannst nicht abstreiten, Molly, dass du deren Tochter sein könntest.“

„Ebenso wenig kann ich bei den jungen Damen sitzen, die darauf warten, zum Tanz aufgefordert zu werden. Es war schon peinlich genug zu sehen, wie sie die Gentlemen angeschmachtet haben.“

„Du hättest dich den Damen, die zu Sir Geralds Gesellschaft gehören, anschließen können.“ Edwin lächelte milde. „Dann hättest du Gelegenheit gehabt, Miss Kilburn besser kennenzulernen.“

„Vielleicht, aber auf einem Ball ist das nicht so einfach.“

Edwin tätschelte ihre Hand, die in seiner Armbeuge lag. „Mach dir keine Gedanken. Noch ist nichts verloren, meine Liebe, denn wir sind nächsten Dienstag zum Dinner nach Newlands eingeladen. Tagsüber gehe ich mit Sir Gerald angeln, und gegen Abend komme ich dich abholen.“

Molly fühlte sich überrumpelt, doch ehe sie ein Wort sagen konnte, fuhr ihr Bruder fort: „Ich weiß, dienstags bist du normalerweise im Frauenhaus, aber wenn du das Gig nimmst, kannst du früh genug zurück sein, um dich in Ruhe umzuziehen. Und der ermüdende Fußmarsch bleibt dir erspart.“

„Das ist natürlich ein Argument“, versetzte Molly lachend. „Zumal ich ihn nicht als ermüdend empfinde.“

„Na also. Dann haben wir das Problem gelöst, und du kommst mit!“

Sie hörte die Genugtuung in seiner Stimme und erwiderte nichts darauf. Kein Zweifel, Edwin wollte sie dabeihaben, und nach all der Unterstützung, die sie von ihm erhalten hatte, konnte sie nicht ablehnen.

2. KAPITEL

Molly war noch nie auf Newlands gewesen, und als die Kutsche in die Auffahrt einbog, lehnte sie sich vor, um einen Blick auf das Haus werfen zu können. Was sie zu sehen bekam, war ein weitläufiger, in verschiedenen Stilen errichteter Bau aus gelblichem Sandstein, der im Sonnenlicht golden leuchtete. Der vorherige betagte Besitzer hatte das Anwesen lange Zeit nicht bewohnt, und sie konnte die Aufregung verstehen, die in Compton Parva ausgebrochen war, als Sir Gerald das Jagdschloss erworben hatte. Es hatte schon Monate vorher Gerüchte gegeben, als Arbeiter auf dem Anwesen aufgetaucht waren. Bald war bekannt geworden, dass es sich bei Sir Gerald um einen Junggesellen mit beachtlichem Vermögen handelte, der vorhatte, gegen Ende des Sommers eine größere Schar Gäste in das Haus einzuladen. Ihre Schwester Louisa lieferte weitere Informationen, als sie schrieb, dass Sir Gerald bestens bekannt sei in Londoner Kreisen und etliche der notorischen Lebemänner und eleganten Müßiggänger, die die Stadt während der Saison bevölkerten, zu seinen Freunden zähle.

Nun waren diese mondänen Bekannten eingetroffen und wohnten nur eine gute Meile außerhalb der Stadt und viel näher am Frauenhaus, als es für ihren Seelenfrieden gut war. Molly schrak aus ihren Gedanken auf, als Edwin neben ihr leise lachte.

„Du wirkst enttäuscht, Schwesterherz. Hattest du gehofft, Newlands wäre so hässlich und ungemütlich, dass Sir Gerald und seine Freunde das Haus noch vor Ende des Monats wieder verlassen?“

„Etwas in der Art.“

„Ärgere dich nicht, meine Liebe.“ Er tätschelte ihr begütigend die Hand. „Sir Gerald hat angekündigt, dass er und seine Gäste wegen der Jagd gekommen sind. Warum sollte er sonst ein Jagdschloss kaufen?“

„Und wenn die Jagd und die Schießübungen und das Angeln den Erwartungen der Besucher nicht entsprechen, werden Sir Gerald und seine dekadenten Freunde sich dann woanders nach ein wenig Unterhaltung umsehen? Ich nehme an, ein Haus, in dem lauter – wie sie sie wohl nennen würden – gefallene Frauen leben, wird ihre Aufmerksamkeit ganz sicher erregen.“

„Molly, das ist unangemessen“, protestierte Edwin laut. „Wie du zugeben musst, haben die Gentlemen, die auf Newlands zu Gast sind, auf der Soiree letzte Woche untadelige Manieren an den Tag gelegt. Du hast keinen Grund, schlecht über sie zu reden.“

„Ich habe Louisas Briefe“, erwiderte Molly düster.

„Louisa weiß mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen, als anzügliche Gerüchte zu verbreiten, von denen die meisten erfunden oder übertrieben sind. Komm schon, Molly, du bist Sir Gerald und seinen Freunden gegenüber ungerecht. Wenn die Leute die Bewohnerinnen des Frauenhauses verunglimpfen, sagst du ihnen, dass man keine übereilten Urteile fällen soll, aber gerade tust du nichts anderes.“ Edwin drückte ihr die Hand und fuhr fort: „Ich bin sicher, dass unsere neuen Nachbarn keinerlei Interesse an deinem Frauenhaus haben, und wenn doch …“ Er spreizte die Hände. „Du kannst deine Schützlinge nicht einschließen, solange Sir Gerald sich in der Gegend aufhält, meine Liebe.“

Molly nickte. „Das weiß ich.“ Die Kutsche kam vor dem Eingang zum Stehen. „Doch selbst wenn die Gentlemen kein Auge auf die Mädchen geworfen haben, habe ich Angst, dass die eine oder andere von ihnen sich von der Anwesenheit dieser gut aussehenden, eleganten Herren in Compton Parva … vom rechten Weg abbringen lässt.“

„Meine Liebe, wenn deine Schützlinge ihren Weg in der Welt je wieder machen wollen, müssen sie lernen, der Anziehungskraft gut aussehender Gentlemen zu widerstehen.“

„Du hast recht.“ Molly presste die Hände zusammen. „Aber sicher hast du gesehen, wie die Damen auf der Soiree reagiert haben. Die Gentlemen sind ansehnlich, und außerdem umgibt sie der Reiz großstädtischer Lebensart. Wie sollen sie da nicht überaus attraktiv sein für empfängliche junge Damen?“

Edwin lachte. „Glaubst du das wirklich, Molly?“

Molly dachte an Beau Russington mit seinen dunklen Locken und seinem sorglosen Charme, und plötzlich war ihr, als tanzten Schmetterlinge in ihrem Bauch.

„Oh ja“, erwiderte sie ernst. „Das glaube ich ganz bestimmt.“

Sir Gerald und seine Freunde erwarteten sie im Salon. Außer Mrs. Molyneux, der ältlichen Gesellschafterin Miss Kilburns, hatten alle den Ball mit ihrer Anwesenheit beehrt. Man tauschte Begrüßungen aus, und Molly nahm die Gelegenheit wahr, die einzelnen Gäste einer Musterung zu unterziehen. Mrs. Sykes und Lady Claydon waren gesetzte Matronen, wie sie bereits bei der Soiree hatte feststellen können, während Agnes Kilburn und die Schwestern Claydon sich ohne viel Aufhebens unter die ortsansässigen jungen Damen gemischt hatten. Sie waren alle sehr lebhaft, doch keinesfalls verführerische Sirenen, wie Molly es befürchtet hatte. Zu ihrer Erleichterung fand sie ihre Beobachtungen vom Ballabend bei diesem zweiten Treffen bestätigt und wandte ihre Aufmerksamkeit den Gentlemen zu. Sir Gerald, der Gastgeber, schien der freundlichste von allen zu sein, während Sir Joseph und Mr. Flemington das extravaganteste Erscheinungsbild boten. Allerdings waren alle sehr elegant gekleidet – der Schnitt ihrer Kleidung, die Anzahl der Uhrketten, die modischen Westen und die kunstvollen Knoten ihrer Krawattentücher hatten sie von den anderen Ballbesuchern abgehoben.

Alle außer Beau Russington. Sie war zu aufgewühlt gewesen bei ihrer ersten Begegnung, um sich ein Bild davon machen zu können, was ihn in Modefragen als tonangebend qualifizierte, doch nun, in dem eleganten Empfangszimmer auf Newlands, hatte sie Gelegenheit, sich den Mann in Ruhe anzusehen. Sie brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass seine Abendkleidung, obwohl nicht im Mindesten so auffällig wie die seiner Freunde, in jeder Hinsicht erlesen war. Jedenfalls soweit sie es beurteilen konnte. Vornehme Zurückhaltung prägte seinen Stil, doch der hervorragende Schnitt wies die Sachen als erstklassige Schneiderarbeit aus. Der dunkle Abendfrack saß wie eine zweite Haut um die breiten Schultern, und sie fragte sich, wie viele Diener es gebraucht haben mochte, um ihm das Kleidungsstück überzuziehen.

Nur kurz wagte Molly einen Blick auf die eng sitzenden Kniehosen, die sich um seine schmalen Hüften und die kraftvollen Schenkel schmiegten. Dann begutachtete sie den kunstvollen Knoten des schneeweißen Krawattentuchs, dessen kaskadenartige Fältelung von einer Diamantnadel an Ort und Stelle gehalten wurde. Schließlich wandte sie sich seinem Antlitz zu. Er hatte ein schmales, auf eine düstere Art gut aussehendes Gesicht und einen sinnlich geschwungenen Mund. Als wäre er sich ihrer Musterung bewusst, wandte Beau Russington sich genau in dem Moment um und sah sie an, und ihre Bewertung fand ein abruptes Ende.

Er stand auf der anderen Seite des Raums, doch selbst über die Entfernung hin konnte sie spüren, wie durchdringend sein Blick war. Mit seinen dunklen, fast schwarzen Augen nagelte er sie förmlich fest und brachte ihr Herz zum Rasen. Doch nicht nur das, tief in ihr flackerte Erregung auf wie eine Flamme, die hungrig an trockenem Zunder leckte. Hastig sah Molly beiseite, schockiert von der Erkenntnis, dass Beau Russington Empfindungen in ihr zu wecken vermochte, die sie nie wieder hatte spüren wollen.

Sir Gerald sprach sie an, und sie zwang sich, seinen Worten zu lauschen. Nachdem sie ein paar Nettigkeiten mit seiner Schwester ausgetauscht hatte, beteiligte sie sich an einer Unterhaltung mit Mrs. Sykes und Lady Claydon, während die Gentlemen sich über das an diesem Tag zur Strecke gebrachte Wild unterhielten. Dann wurde das Dinner angekündigt.

Molly war zu Sir Geralds Rechter platziert, Sir Joseph Aikers an ihrer anderen Seite. Mr. Russington saß ihrem Bruder am anderen Ende der Tafel gegenüber, wie sie erleichtert feststellte. Sie war sich sicher, dass sie das Dinner nicht halb so sehr hätte genießen können, wenn sie neben Russington gesessen hätte. Sir Joseph mochte ein Geck seien und ein pomadisierter Stutzer, wie einer der Anwesenden ihn kürzlich so grausam beschrieben hatte, doch sie entdeckte rasch, dass er ausgesprochen freundlich war und sehr zuvorkommend. Er stellte sicher, dass ihr nachgeschenkt wurde, wenn ihr Glas leer war, und dass sie von jeder der appetitlichen Speisen wählen konnte.

Das Essen war hervorragend und die Konversation interessant. Es wurden keine peinlichen Themen angeschnitten, und Molly begann sich zu entspannen. Sie hatte es mit kultivierten, gebildeten Menschen zu tun, mit denen man sich als Gast wohlfühlen konnte, und vielleicht waren die Leute doch nicht so gefährlich wie ursprünglich angenommen. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie Edwin lachen hörte. Neugierig richtete sie den Blick ans andere Ende der Tafel. Nach dem Tag im Freien verstand sich ihr Bruder eindeutig gut mit den Gentlemen. Mr. Russingtons Blick begegnete ihrem, und ihr Herz begann abermals zu rasen. Sie fühlte sich erwischt, in die Enge getrieben wie ein Reh von einem Wolf. Es kostete sie Mühe, beiseitezusehen, doch sie erkannte, in welcher Gefahr sie sich befand. Jedenfalls was diesen Mann betraf.

Der Appetit war ihr vergangen, aber zu ihrer Erleichterung bat Miss Kilburn die Damen, ihr in den Salon zu folgen. Molly nahm sich vor, sich zu Lady Claydon und Mrs. Sykes zu gesellen, doch ehe sie sich setzen konnte, bestürmten Miss Kilburn und die beiden Töchter Lady Claydons sie, etwas vorzuspielen.

„Ihr Bruder empfahl uns wärmstens, uns Ihre Künste auf dem Pianoforte vorführen zu lassen, Mrs. Morgan.“ Lächelnd öffnete die ältere Miss Claydon den Deckel des Instruments und machte eine einladende Handbewegung, damit Molly Platz nahm. „Er sagte, Sie seien ausgesprochen talentiert und könnten außerdem singen.“

„Zu viel des Lobes“, murmelte Molly verlegen, während sie sich im Stillen schwor, Edwin die Leviten zu lesen, sobald sie unter sich waren. „Ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein.“

Harriet Claydon lachte trällernd. „Das bezweifle ich, Madam. Judith und ich sind hoffnungslose Fälle, obwohl unsere Mutter uns von den besten Lehrern unterrichten ließ.“

„Das ist bedauerlicherweise wahr“, schaltete Lady Claydon sich kopfschüttelnd ein. „Wir haben ein Vermögen für die musikalische Erziehung der Mädchen ausgegeben, doch mehr als ein paar einfache Stücke bringen sie nicht zuwege. Miss Kilburn dagegen spielt sehr gut.“

Molly wollte ihrer Gastgeberin den Vortritt lassen, doch die junge Dame lehnte hastig ab.

„Wir würden Sie sehr gerne spielen hören, Mrs. Morgan“, sagte sie schüchtern.

Also nahm Molly ihren Platz vor dem Piano ein. Vielleicht war es das Beste, wenn sie anfing, ehe die Gentlemen kamen. Sie spielte ein paar kurze Stücke, und als sie gebeten wurde zu singen, gab sie ein lebhaftes Volkslied zum Besten. Sie beendete ihre Darbietung mit einem italienischen Liebeslied. Ihr Publikum lobte sie überschwänglich, und als sie sich standhaft weigerte, weiterzuspielen, nahm Miss Kilburn ihren Platz ein, während sie sich, erleichtert, nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, zu den älteren Damen setzte.

Ihre Hoffnung, dass dies für den Rest des Abends so bleiben würde, erfüllte sich nicht. Als die Gentlemen sich zu ihnen gesellten, wandte sich die Unterhaltung dem Jagdschloss zu.

„Viele unserer Bekannten rieten mir vom Kauf eines so abgelegenen Anwesens ab“, erzählte Sir Gerald fröhlich. „Auch mein gut aussehender Freund dort drüben. Ich erinnere mich doch richtig, nicht wahr, Russ?“

„In der Tat.“ Mr. Russington trat ein paar Schritte auf die Gruppe zu. „Immerhin gibt es in der Nähe von London genauso gute Jagdreviere.“

„Aye.“ Mr. Flemington gesellte sich zu ihm. „Provinzstädte bieten einfach wenig Zerstreuung. Compton Parva bildet eine Ausnahme, wie ich Ihnen versichern möchte“, setzte er hastig hinzu und verbeugte sich vor Edwin und Molly. „Die Soiree im ‚King’s Head‘ letzte Woche war genauso unterhaltsam wie alle anderen, die ich außerhalb Londons besucht habe.“

„Jedenfalls bedaure ich meine Wahl nicht“, erklärte der Gastgeber lächelnd. „Zugegeben, das Anwesen liegt ziemlich weit im Norden, aber was macht es schon, wenn die Reise ein paar Tage dauert? Vor allem angesichts des Jagdvergnügens, das sich hier bietet? Nein, mein neues Jagdschloss gefällt mir, und ich bin froh, dass ich mich nicht davon habe abbringen lassen, es zu erwerben.“

Edwin lachte herzlich. „Hatten Sie etwa erwartet, hier in Yorkshire nur Wilde anzutreffen, Kilburn? Ich gebe zu, als ich mich auf die Pfarrstelle bewarb, rieten mir meine Freunde und Bekannten davon ab. Aber ich fühle mich in Compton Parva sehr wohl, und ich kann Ihnen versichern, dass Sie in unserer Gegend einige der schönsten Reitstrecken des ganzen Königreichs finden.“

„Unbedingt, wenn man eine Vorliebe für Landstriche mit rauem Charme hegt.“ Sir Joseph Aikers winkte ab. „Immerhin können Sie nicht leugnen, dass das Wetter hier oben lange nicht so mild ist wie im Süden. Und dann all der Matsch.“ Er zog eine komische Grimasse, die die anderen zum Lachen brachte.

„Aber im Großen und Ganzen sind wir positiv beeindruckt“, erklärte Mrs. Sykes, als die Erheiterung sich legte. „Es stimmt, dass die Reise ein wenig ermüdend ist, doch Kilburn hat das Haus sehr behaglich herrichten lassen, und die Leute in Compton Parva sind ausgesprochen gastfreundlich.“

„Und wir freuen uns, dass Newlands endlich wieder bewohnt wird, und nicht nur wegen der Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens“, erwiderte Edwin lächelnd. „Besucher beleben das Geschäft der ortsansässigen Handwerker und Ladeninhaber. Das nützt allen.“

„Nur eins hat mich überrascht“, schaltete Lady Claydon sich ein. Sie zögerte und warf einen kurzen Blick zum Pianoforte, wo ihre Töchter und Miss Kilburn ein Lied anstimmten. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es hier eine Anstalt für Frauen einer ganz bestimmten Sorte gibt.“

„Meine Gattin meint das Haus für gefallene Mädchen“, beeilte Lord Claydon sich zu erklären. „Ich gebe zu, auch ich war überrascht, als ich davon hörte, zumal man solche Einrichtungen eher mit größeren Städten in Verbindung bringt. Aber ich nehme an, kleinere Ortschaften haben dieses leidige Problem ebenfalls, nicht wahr? Immerhin ist es eine Möglichkeit, die betreffenden Frauen von ihrem Gewerbe abzubringen.“

Molly versteifte sich, doch Edwin fing ihren Blick auf und schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Sie sprechen von unserem Frauenhaus“, erklärte er ruhig. „Es ist ein Zufluchtsort für Frauen, die unter Männern zu leiden hatten, aber keine Besserungsanstalt.“

„Gleichwohl finde ich es ein wenig verstörend, wenn ich mir vorstelle, dass es in Compton Parva Bedarf dafür gibt.“ Mrs. Sykes runzelte die Stirn.

„Die traurige Wahrheit ist, dass wir mehr solcher Heime brauchen“, erwiderte Edwin freundlich. „Seit wir das Frauenhaus eröffnet haben, sind ständig alle Plätze belegt. Wir nehmen Bewohnerinnen von überall im Land auf.“

„Gott sei Dank!“ Mr. Flemington verdrehte die Augen. „Dann liegt es nicht daran, dass es in dieser Gegend mehr Schürzenjäger gibt als in London.“ Er lachte und warf einen Blick in die Runde der Gentlemen. „Wenigstens bis jetzt nicht!“

Die Zuhörer protestierten gutmütig, und Mrs. Sykes versetzte ihm einen Klaps mit ihrem Fächer und mahnte ihn, sich zu benehmen.

„Das ist nicht zum Lachen“, sagte sie streng. „Ich möchte Mr. Frayne versichern, dass wir das Frauenhaus sehr unterstützen. Schließlich muss es Menschen geben, die sich um diese armen Geschöpfe kümmern und dafür sorgen, dass sie ihre Fehler einsehen.“

„Ihre Fehler einsehen?“ Molly konnte nicht länger an sich halten. „Keine der Frauen in unserer Einrichtung ist eine Prostituierte, Madam, auch wenn es für einige vielleicht die einzige Möglichkeit gewesen wäre zu überleben, hätten sie keine Zuflucht bei uns gefunden.“ Ruhiger setzte sie hinzu: „Es soll Frauen aller gesellschaftlichen Schichten einen sicheren Rückzugsort bieten.“

„Wollen Sie sagen, dass Sie keinen Versuch unternehmen, die Frauen zu bessern?“ Lady Claydon hob erstaunt die Brauen. „Bedeutet das nicht, das Laster zu begünstigen?“

„Die Frauen in unserer Einrichtung sind Opfer des Lasters, Madam, keine Täter“, belehrte Molly sie nüchtern. „Einige wurden verführt, andere kommen zu uns, um Übergriffen zu entgehen oder weil ihr Ruf von Männern ruiniert wurde, die sie für ihre eigenen Zwecke missbrauchten. Und was die Besserung anbelangt, so bringen wir ihnen nützliche Fähigkeiten bei, die ihnen helfen, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.“

„Sie scheinen ausgesprochen gut informiert über die Einrichtung, Mrs. Morgan“, ließ Mr. Russington sich vernehmen.

„Das bin ich.“ Molly reckte das Kinn ein wenig höher. „Ich habe das Frauenhaus gegründet.“

Autor

Sarah Mallory
<p>Schon immer hat die in Bristol geborene Sarah Mallory gern Geschichten erzählt. Es begann damit, dass sie ihre Schulkameradinnen in den Pausen mit abenteuerlichen Storys unterhielt. Mit 16 ging sie von der Schule ab und arbeitete bei den unterschiedlichsten Firmen. Sara heiratete mit 19, und nach der Geburt ihrer Tochter...
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