Liebe meines Lebens Band 29

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VORSICHT: FRISCH GETRAUT! von CHRISTIE RIDGWAY

Ein zufälliges Wiedersehen in Las Vegas, das Aufflackern alter Gefühle – und ehe sie sich versehen, treten Will und Emily spontan vor den Traualtar. Kurz darauf bereuen es beide, und Emily verlässt fluchtartig die Glitzerstadt. Will sollte erleichtert sein … doch warum fehlt sie ihm dann so?

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  • Erscheinungstag 08.03.2025
  • Bandnummer 29
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532396
  • Seitenanzahl 288
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christie Ridgway

1. KAPITEL

Noch im Halbschlaf drehte Emily Garner den Kopf zur Seite. An ihrer Wange spürte sie das kratzige Material des Kopfkissens. Moment mal! Seit wann waren Kopfkissen denn kratzig?

Sie versuchte die Zehen zu bewegen, doch es ging nicht. Merkwürdig. Als sie tief durchatmete, stellte sie fest, dass sie offenbar noch immer den unbequemen trägerlosen BH trug, den sie sich von Izzy geliehen hatte. Die Bügel drückten so, dass Emily das Gefühl hatte, bald zu ersticken.

Hmm. Sie war also noch komplett angezogen. Und statt unter der Bettdecke lag sie auf der Tagesdecke.

Dann hatte sie also gestern Abend tatsächlich …

Beim Gedanken daran wurde sie schlagartig hellwach. Mit weit geöffneten Augen setzte sie sich ruckartig auf.

Die schweren Hotelvorhänge verdunkelten den Raum, doch an den Rändern zeigten sich helle Streifen, ein sicheres Zeichen dafür, dass draußen die Sonne lachte und es nicht Minuten, sondern schon Stunden her war, seit sie sich aufs Bett gesetzt hatte.

Die Badezimmertür öffnete sich. Emily erschrak, als sie eine dunkle Silhouette im Türrahmen erkannte.

„Will?“, fragte sie, doch ihre Stimme war nur ein heiseres Krächzen. „Bist du das, Will?“

„Ich bin es nur“, antwortete ihre beste Freundin Isabella Caveletti – Izzy –, deren Stimme auch nicht besser klang als Emilys.

Emily atmete erleichtert auf. „Dann war es also nur ein Traum?“, fragte sie voller Hoffnung, um gleich darauf tief enttäuscht zu werden.

„Nein“, erklärte Izzy, während sie sich die Haare frottierte. „Es ist wirklich passiert. Und nachdem wir geheiratet haben, müssen wir ziemlich bald eingeschlafen sein. Ich bin gespannt, wie es unseren Ehemännern ergangen ist.“

„Ehemänner“, flüsterte Emily fassungslos, während Izzy die Vorhänge aufzog. Rasch bedeckte sie ihre vor Helligkeit schmerzenden Augen mit den Handflächen. „Was in aller Welt haben wir uns nur dabei gedacht?“

Zwischen ihren Fingern hindurch beobachtete Emily, wie Izzy sich zielstrebig im Raum bewegte. „Wir haben uns gedacht, dass es eine gute Idee ist.“

Emily hätte am liebsten losgeheult, aber schließlich war sie mit dreißig Jahren kein Kind mehr.

Und genau das war ihr zum Verhängnis geworden. Sie und Izzy hatten beschlossen, ihren dreißigsten Geburtstag groß zu feiern. Dass er am Wochenende nach dem alljährlichen Bibliothekarkongress in Las Vegas stattfand, kam ihnen dabei nur entgegen.

Und dann hatten sie am Freitagabend beim Verlassen des Hotels in der Lobby völlig überraschend Will Dailey und seinen Freund Owen getroffen. Wie es der Zufall wollte, waren die beiden ebenfalls hier abgestiegen.

Emily nahm vorsichtig die Hände von den Augen und blinzelte Izzy an, die gerade stirnrunzelnd auf ihr Handy sah. „Oh, Mann, Izzy. Dabei hatte ich gar nicht den Eindruck, dass wir so viel getrunken haben.“

Izzy zuckte die Achseln. „Offenbar war es genug. Besonders in Verbindung mit dem Schlafmangel nach zwei durchgemachten Nächten und der Gesellschaft der Models von Mai und August aus dem Feuerwehrmännerkalender. Dass wir dabei zurechnungsfähig bleiben, kann doch wohl niemand ernsthaft von uns erwarten.“

Will – das Model für den Monat Mai – war ein Jugendfreund von Emily. Der Junge, in den sie in den Sommerlagern, wohin ihre Eltern sie vom zwölften bis zum siebzehnten Lebensjahr geschickt hatten, verknallt gewesen war.

„Weckt das vielleicht Erinnerungen bei dir?“ Izzy trat neben Emilys Bett und hielt ihr das Handy hin, auf dem Display ein Foto von Emily und Will. Sie umarmten sich und lachten in die Kamera. Emily sah glücklich aus und Will…

…erwachsen. Gut aussehend, mit starken Schultern, breiter Brust und muskulösen Armen, mit denen er Emily so eng an sich gezogen hatte, dass sie sich noch immer an den Duft seiner Haut erinnern konnte.

Sie seufzte und betrachtete ihr eigenes Bild noch einmal genauer. „Den Schleier hatte ich völlig vergessen.“

„Wir haben ihn ausgeliehen, weißt du nicht mehr? Aber die Eheringe haben wir gekauft. Die dürfen wir behalten.“

Emily sah auf ihre Hand. Beim Anblick des schmalen, goldenen Bands fiel ihr alles wieder ein: der Spaß, den sie gehabt haben, und die verrückte Idee, das Versprechen einzulösen, das sie und Will sich als Jugendliche gegeben hatten. Bei ihrem Abschied am Ende ihres letzten gemeinsamen Sommers hatten sie nämlich vereinbart zu heiraten, sofern sie beide an ihrem dreißigsten Geburtstag noch ledig sein sollten. Izzy und Owen, Wills bester Freund, waren sofort begeistert gewesen von der Idee und hatten sich als Trauzeugen angeboten.

Nur Augenblicke später hatten sie spontan beschlossen, ebenfalls zu heiraten. Irgendwie hatten die Paare einander gegenseitig so lange angestachelt, bis sie es schließlich gewagt hatten.

Nach ihrer Rückkehr aus der Hochzeitskapelle wollten sich die Frauen kurz in ihrem gemeinsamen Hotelzimmer frisch machen. Die Ehemänner beschlossen, inzwischen in der Bar auf ihre Frauen zu warten.

„Ich wollte mich doch nur für eine Minute aufs Bett setzen“, seufzte Emily.

Izzy nickte, während sie ihr Handy zur Seite legte. „Ich hatte meinen Lippenstift verloren und dachte, ich könne mich daran erinnern, wo ich ihn hingelegt hatte, wenn ich für einen Moment die Augen schließen würde.“

Augen schließen klang nach einer guten Idee, fand Emily, deren Kopf zu zerspringen drohte. Sie dachte darüber nach, was es bedeutete, verheiratet zu sein.

Und das auch noch mit Will, ihrem Jugendschwarm. Natürlich hatte sie an ihn gedacht, als sie bei der Jobsuche auf eine interessante Arbeitsstelle gestoßen war, die zufällig in Wills Heimatstadt Paxton lag. Doch als sie sich beworben und die Stelle angenommen hatte, war sie nicht davon ausgegangen, ihn tatsächlich einmal wiederzusehen. Zumindest nicht ernsthaft.

Mit dem Daumen drehte Emily den Ehering um ihren Ringfinger. Außer, dass er bei der Feuerwehr arbeitete, wusste sie kaum etwas über Will und sein Leben in den vergangenen dreizehn Jahren. Doch ihr Zusammensein in den letzten beiden Tagen hatten sie genauso genossen wie damals im Sommerlager.

Am Hotelpool hatten sie Menschen beobachtet, waren in der Nacht im Lichtermeer den Las Vegas Strip auf und ab spaziert und hatten zusammen mit Izzy und Owen mehr als nur eine Tanzfläche unsicher gemacht.

Doch was nun? Schließlich war eine Ehe bei Licht betrachtet kein Scherz, und sie mussten die Angelegenheit so bald wie möglich klären! Bestimmt dachten ihre Ehemänner genauso.

Will und Owen arbeiteten beide als Feuerwehrmänner in Paxton. Emily war drauf und dran, für ihren neuen Job ebenfalls nach Paxton zu ziehen. Izzy dagegen beriet Bibliotheken im ganzen Land und reiste viel. Ihre Sachen waren von Los Angeles bis New York im ganzen Land bei Freunden verteilt, und Emily war sich nicht einmal sicher, dass Izzy irgendwo dazwischen ein eigenes Apartment besaß.

Emily fiel es schwer, sich vorzustellen, dass Izzy einmal irgendwo sesshaft werden würde. „Ich bin froh, dass wir wenigstens gemeinsam in diesem Schlamassel gelandet sind. Zum Glück bist du hier, Izzy!“

Sie öffnete vorsichtig die Augen und sah zu ihrer Freundin, die neben dem anderen Bett stand, auf dem ein fertig gepackter und bereits geschlossener Koffer lag. In Izzys hübschem, braun gebrannten Gesicht lag ein schuldbewusster Ausdruck, und sie wich Emilys Blick aus.

Nun schreckte Emily endgültig hoch. „Isabella Caveletti, was hast du vor?“, fragte sie streng.

Izzy, schick wie immer, trug einen eleganten Hosenanzug aus schwarzem Leinen, dazu flache Schuhe, die vorne so spitz zuliefen wie Amors Pfeile. „Ich … ich muss meinen Flug erwischen, das weißt du doch. Morgen früh muss ich in Massachusetts sein. Die Bibliothek in Lawton braucht mich.“

„Oh, nein“, widersprach Emily energisch. „Ich brauche dich. Darf ich dich daran erinnern, dass wir gestern Nacht geheiratet haben? Da kannst du doch heute nicht so einfach weglaufen!“

„Ich habe jetzt keine Zeit, mich darum zu kümmern“, wehrte Izzy leicht errötend ab. „Ich muss arbeiten, und außerdem …“

„Was wird Owen denken? Was soll er tun?“ Und was soll ich tun? hätte Emily am liebsten geschrien, doch sie verkniff es sich, weil sie fürchtete, dann endgültig die Fassung zu verlieren.

„Owen wird schon eine Lösung finden. Du kannst ihm ja meine Handynummer geben. Moment, warte, besser nicht. Sag ihm, ich rufe ihn an, sobald dieser Job erledigt ist. Oder der danach.“

Emily starrte die Freundin entgeistert an. Noch nie hatte sie Izzy aufgebracht oder in Panik gesehen, doch jetzt zitterten ihre Hände. Sie stand auf, ging zu ihr und umarmte die Freundin. „Was ist los?“

Izzy lachte unsicher. „Was los ist? Du meinst außer der Tatsache, dass wir gestern geheiratet haben? Glaubst du … glaubst du, wir können unsere Ehen annullieren lassen?“

Emily seufzte. „Wahrscheinlich schon. Zumindest haben wir nicht mit unseren Ehemännern geschlafen.“

Izzy ließ die Schultern hängen und flüsterte halbherzig: „Nein.“

„Wie bitte?“ Emily riss die Augen auf. „Izzy …“

„Ich muss gehen.“ Hastig schnappte sich Izzy ihren Koffer und ihre Handtasche und lief mit den Worten „Wir telefonieren!“ zur Tür.

„Izzy!“ Doch die Tür schloss sich hinter der Freundin, und Emily blieb allein im Zimmer zurück.

Schon wieder allein.

Genau wie in den vergangenen acht Monaten, seit ihre Mutter, ihre letzte lebende Verwandte, gestorben war.

Doch statt sich selbst zu bemitleiden, versuchte sie, sich auf das aktuelle Problem zu konzentrieren. Was sollte sie tun?

Am liebsten wäre sie Izzys Beispiel gefolgt und hätte die Stadt so schnell wie möglich verlassen. Aber das schien ihr einfach nicht richtig.

Emily nahm ihren ganzen Mut zusammen und griff nach dem Hoteltelefon. Sie hatte zwar keine Handynummer von Will, aber an der Rezeption konnte man sie bestimmt zu seinem Zimmer durchstellen.

Doch er hob nicht ab.

Auch zehn Minuten später, nachdem sie ihre Sachen gepackt hatte, hatte sie kein Glück.

Einmal würde sie es noch versuchen. Und wenn es wieder nicht klappte, würde sie ihm eine Nachricht hinterlassen. Sie übte vorsichtshalber schon einmal laut: „Hallo Will, hier ist Emily. Tut mir leid, aber ich muss abreisen. Wir sprechen uns dann in Paxton und klären diese Sache.“

Zum Glück klang ihre Stimme fröhlich, beinahe ein wenig übermütig. Weder ihre innere Unruhe noch die Erleichterung, dass sie die unvermeidliche Konfrontation mit ihrem Ehemann noch etwas hinauszögern konnte, waren ihr anzumerken.

Sobald sie die Nachricht hinterlassen und den Telefonhörer aufgelegt hatte, ergriff sie die Flucht.

Zum ersten Mal in seinem Leben wäre Will Dailey lieber Polizist als Feuerwehrmann gewesen. Dann hätte er geradewegs durch die Glastür in die Stadtbibliothek marschieren, die Frau am Infoschalter festnehmen und ihr Handschellen anlegen können.

Emily Garner.

Seine Frau.

Bei dem Gedanken daran krampfte sich sein Magen zusammen. Das ging ihm ständig so, seit er festgestellt hatte, dass die Frau, die er geheiratet hatte, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Las Vegas geflohen war. Hinterlassen hatte sie ihm nur eine – entschieden zu fröhliche – Telefonnachricht.

Will war daraufhin selbst abgereist und hatte eine Woche gebraucht, um sie zu finden. Er hatte sich sagen lassen, dass heute Emilys erster Arbeitstag war.

Und sein Gesicht war das Erste, das sie sehen würde. Das hatte er sich fest vorgenommen. Also öffnete er die Tür und betrat das Gebäude, fest entschlossen, diese leidige Situation noch heute zu bereinigen. Kneifen galt nicht.

Tatsächlich, da stand sie vor ihm, die attraktive Brünette, die ihm vor einigen Tagen mit einem sexy Glitzern in den Augen versprochen hatte, ihn zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie schied.

Emily Garner gefiel ihm schon, seit er sie mit zwölf Jahren zum ersten Mal gesehen hatte.

Er war damals neu im Sommerlager gewesen. Seine Eltern hatten gedacht, eine Auszeit von seinen fünf jüngeren Geschwistern, die zwischen zwei und zehn Jahre alt waren, würde ihm guttun. Damit hatten sie vollkommen recht gehabt. Emily war schon im Jahr davor im Lager gewesen und hatte ihm, dem Neuankömmling, alles gezeigt.

Damals hatte sie Zöpfe getragen und einen großen Mückenstich auf einem ihrer braun gebrannten Beine gehabt. Will fand, dass ihre Augen die blauesten der Welt waren, und er hatte vom ersten Tag an gewusst, dass dieser Sommer der schönste seines Lebens werden würde.

Fünf weitere aufregende Sommer waren gefolgt: schwimmen, paddeln, Bogenschießen. Lagerfeuerromantik. Emily hatte über seine Witze gelacht und ihn in allen möglichen Disziplinen herausgefordert. Sie war auch das erste Mädchen gewesen, das er geküsst hatte, als sie beide dreizehn Jahre alt waren.

Später hatte er auf der Highschool viele andere Mädchen geküsst. Flirten hatte er sozusagen als Sport betrachtet.

Doch die Sommer hatten Emily gehört. Er hatte Emily gehört. Will hatte das Freundschaftsband getragen, das sie ihm geknüpft hatte, und sie sein Lieblingssweatshirt.

Am letzten Tag ihres letzten gemeinsamen Sommers hatten sie Schulter an Schulter auf dem Rücken im Gras gelegen. Mit dem Duft der Kiefern in der Nase und dem süßen Aroma der ersten Liebe auf der Zunge hatten sie sich ihre Zukunft ausgemalt.

Sie hielten Händchen und schworen einander, zu heiraten, falls sie beide mit dreißig noch Single waren.

Am nächsten Tag waren sie beide nach Hause gefahren, und an einem regnerischen Septemberabend kurz darauf geschah das Unglück, das sein Leben für immer verändern sollte.

Oh, nein, nicht für immer, korrigierte Will seine Gedanken schnell. Tatsächlich hatte er sein Leben nämlich gerade erst zurückbekommen. Und das würde er sich mit Sicherheit nicht so schnell durch eine impulsive, improvisierte Heirat in Las Vegas wieder wegnehmen lassen. Auf keinen Fall hatte er vor, sich gleich wieder neue familiäre Verpflichtungen aufbürden zu lassen, nachdem er die alten endlich losgeworden war.

Er atmete tief durch, doch er war noch nicht bereit für die Konfrontation, und Emily hatte ihn nicht bemerkt. Verstohlen beobachtete er sie weiter. Vielleicht fand er dabei ja heraus, wie sie es geschafft hatte, ihn dazu zu bringen, ihr vor einem als Elvis verkleideten Standesbeamten das Jawort zu geben.

Sie sah sehr erwachsen aus in ihrem hochgeschlossenen, kakifarbenen Kleid. Ihr haselnussbraunes Haar trug sie mittlerweile kurz. Ihre Nase und ihr Gesicht hatten genau die richtigen Proportionen. Wie ihr weicher Mund. Er erinnerte sich noch, wie …

„Wild Will!“

Beim Klang seines alten Spitznamens fuhr Will herum, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Er starrte in die Augen eines jungen Mannes, der ihm entfernt bekannt vorkam, und überlegte. „Jared? Jon? Hm …“

„Jake.“ Der junge Mann streckte die Hand aus und schüttelte die von Will kräftig. „Ich bin ein Freund von Betsy. Erinnerst du dich an die Poolparty? Ich habe mir bei einem Kopfsprung die Stirn aufgeschlagen, und du hast mich in die Notaufnahme gefahren.“

„Oh, ja, jetzt weiß ich es wieder.“ Obwohl das weder das erste noch das letzte Mal gewesen war, dass er seine Geschwister oder ihre Freunde entweder selbst verarztet oder ins Krankenhaus gefahren hatte.

„Wie geht es Betsy?“

„Sie hat vor Kurzem ihren Collegeabschluss gemacht.“ Will lächelte zufrieden. Endlich war auch seine jüngste Schwester mit ihrer Ausbildung fertig und damit für sich selbst verantwortlich!

Nach dreizehn Jahren voller Arbeit und Sorgen, in denen er sich aufopfernd um seine Geschwister und ihr Wohlergehen gekümmert hatte, war der Zeitpunkt gekommen, wo er keine Rücksicht mehr auf seine Familie nehmen musste.

Er war frei!

„Ist sie ausgezogen?“

„Ja. Genau wie alle anderen.“

Jake musste die Erleichterung in seiner Stimme gehört haben, denn er lachte. „Haha, das hört sich an, als wärst du fest entschlossen, die verlorene Zeit aufzuholen. Endlich ist wieder Wild Will am Zug, was?“

Wild Will. Da war er wieder, sein alter Spitzname aus der Highschool, dem er alle Ehre gemacht hatte. Zumindest während des Schuljahres, denn die Sommer hatten ja Emily gehört. Er warf einen Blick in ihre Richtung und stellte fest, dass sie ihn nach wie vor nicht bemerkt hatte.

Ach, wenn es ihnen nur in Las Vegas genauso ergangen wäre! Doch ihre Blicke hatten sich zufällig getroffen, und sie waren beide wie angewurzelt stehen geblieben, weil sie kaum glauben konnten, dass sie das Schicksal tatsächlich wieder zusammengeführt hatte.

Unfassbar. Von allen Frauen auf der Welt musste er unbedingt sie treffen, nachdem er erst Wochen zuvor endlich seine Freiheit zurückerobert hatte!

Und das nur, um sie postwendend und mehr oder weniger freiwillig wieder aufzugeben. Wie hatte ihm das passieren können?

„Stimmt genau. Ich habe einiges nachzuholen“, verkündete Will. „Viel zu lange war ich der Sklave meiner Geschwister.“

„Ich verstehe dich vollkommen“, antwortete Jake grinsend. „Aber eine Bibliothek wäre für mich persönlich nicht der erste Ort, an den ich gehen würde, um Spaß zu haben.“ Er sah sich prüfend um, bis er die Lage plötzlich erfasste und einen anerkennenden Pfiff ausstieß. „Andererseits habe ich auch noch nie eine so attraktive Bibliothekarin gesehen. Am liebsten würde ich statt eines Buches gleich die ganze Frau mit nach Hause nehmen.“

Ärgerlich sah Will erst Emily, dann Jake an. Er wusste gar nicht, was ihn mehr störte: dass Emily nicht aussah, wie man sich eine Bibliothekarin vorstellte, oder dass Jake so über seine Frau sprach.

Oh, nein. Seine Frau!

„Ich frage mich“, fuhr Jake fort, „ob die noch zu haben ist.“

Bevor Will etwas erwidern konnte, meldete sich sein Pager. Will sah aufs Display und seufzte.

„Was ist los?“

„Eine Nachricht vom Kommandanten. Wir haben jede Menge Krankenstände, weil es anscheinend eine Grippewelle gibt. Einer nach dem anderen muss ins Bett. Eigentlich habe ich heute frei, aber jetzt werde ich wohl doch zur Arbeit müssen.“

„Ach, du Ärmster.“ Jake klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Selbst wenn es heute nicht klappt – ich bin sicher, dass du in nächster Zeit voll auf deine Kosten kommst.“

Will wandte sich zum Gehen und warf noch einmal einen kurzen Blick zu Emily hinüber. Oh, ja, er würde ganz bestimmt auf seine Kosten kommen. Sobald er wieder Junggeselle war.

Erst am Tag nach seiner Extraschicht kehrte Will in die Bibliothek zurück. Er war hellwach, und nach einer Dusche und zwei Tassen Kaffee wurde es höchste Zeit, diese leidige Heiratssache aus der Welt zu schaffen.

Sobald er das Gebäude betreten hatte, entdeckte er Emily. Wieder saß sie am Infoschalter, und wieder sah sie umwerfend aus. Aber jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um über das Wort mit drei Buchstaben nachzudenken, das mit S begann und mit x endete.

Nicht, wenn ihr blaues Oberteil so wundervoll zur Farbe ihrer Augen passte und ihre vollkommene Figur so unbeschreiblich gut zur Geltung brachte.

Und vor allem dann nicht, wenn sie von drei Teenagern belagert wurde, die Arbeitsblätter und Stifte in den Händen hielten und andächtig an ihren Lippen hingen.

„Fünfundneunzig Thesen“, erklärte Emily lachend. „Martin Luther soll fünfundneunzig Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben.“ Dann drohte sie den Jugendlichen spielerisch mit dem Finger. „So, aber das war mein letzter Tipp. Eure Geschichtslehrerin wollte ganz sicher nicht, dass ihr der Bibliothekarin Löcher in den Bauch fragt, sondern dass ihr die Antworten auf die Fragen in unseren Büchern sucht.“

„Nur noch eine Frage“, bettelte einer der Jungen, dessen kräftige Statur und das Footballtrikot einfache Rückschlüsse darauf zuließen, womit er seine Freitagabende verbrachte. „Bitte. Ich muss gleich beim Training sein, und wenn ich die Antworten bis dahin nicht habe, schaffe ich am Abend die Matheaufgaben nicht mehr.“

Emily schüttelte gerade den Kopf, als sie plötzlich Will bemerkte, der sich dem Infoschalter näherte. Sie errötete, und Will sah, wie sie schluckte. „Nun, ich denke …“

„Miss Garner hatte schon immer ein Herz für Footballspieler“, erklärte Will. „Sie hilft euch sicher gern noch ein bisschen.“

Emily warf ihm einen strafenden Blick zu, während der kräftige Junge auf sein Arbeitsblatt starrte und schließlich vorlas: „Wessen Hauptwerk ist Il Principe?“

„Das ist die letzte Frage“, fügte das Mädchen in der Gruppe entschuldigend hinzu.

„Oh, die Antwort auf diese Frage habe ich schon: Marquis de Sade“, trumpfte der zweite Junge auf.

„Nein, ganz bestimmt nicht“, quietschte das Mädchen. „Der Marquis de Sade war der Typ mit den Peitschen und Ketten.“

Der Footballspieler warf ihr einen sehr interessierten Blick zu. „Was weißt du denn schon über Peitschen und Ketten, Amanda? Du hast doch bestimmt noch nicht einmal einen Jungen geküsst!“

„Klar habe ich das!“ Das Mädchen warf die langen, blonden Haare über die Schulter. „Als ob du …“ Sie brach ab und boxte den Jungen in den Oberarm. „Brent Spier, du bist neugierig und frech.“

„Und laut. Ihr seid alle drei zu laut“, mahnte Emily mit gedämpfter Stimme. „Der Autor von Il Principe ist Niccolò Machiavelli, und die Geschichte tut ihm unrecht, wenn ihr mich fragt. Sein Name steht heute für rücksichtslose Machtpolitik unter Ausnutzung aller verfügbaren Mittel, aber er hat nicht die Meinung vertreten, dass das richtig ist, sondern nur die politische Realität der damaligen Zeit beschrieben.“

Emilys kurze Geschichtsstunde stieß bei den Teenagern, die endlich die letzte Lücke auf ihren Arbeitsblättern füllen konnten, allerdings auf taube Ohren. Das Mädchen fragte nur noch rasch, wie man Machiavelli schreibt, danach rannten die Jugendlichen aus der Bibliothek, als stünde sie in Flammen.

Und ließen den Feuerwehrmann und seine Frau allein zurück.

2. KAPITEL

Doch nun, da Will endlich Emilys ungeteilte Aufmerksamkeit genoss, wusste er plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte. Es war keine Feigheit. Etwas anderes ließ ihn zögern, doch es gab kein Zurück. Heute würden sie endlich Nägel mit Köpfen machen.

Mit gespieltem Interesse sah er den drei Teenagern nach. „Waren wir auch einmal so jung?“, fragte er, um Zeit zu gewinnen.

Sie zuckte die Schultern. Ihre Wangen erschienen ihm noch immer stärker gerötet als sonst. „Schwer vorzustellen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass ich mit sechzehn noch nichts über den Marquis de Sade wusste.“

„Dafür umso mehr über das Küssen.“

Nun errötete sie erst recht, und Will hatte deswegen noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Denn auch ihm wurde bei dem Gedanken an ihre Küsse warm. Beim ersten Mal mit dreizehn hatten sich ihre Lippen nur flüchtig berührt. Für alles andere hatte ihm der Mut gefehlt. Doch zwei Jahre danach hatte ihm ein älteres Mädchen im Winter die Technik des Zungenkusses beigebracht, die er im Sommer mit Emily perfektioniert hatte.

Bei ihrem überraschenden Zusammentreffen in Las Vegas hatte er sie erst nur unverbindlich auf die Wange geküsst. Erst am späteren Abend, als sie in einer dunklen Bar eng getanzt hatten, war es zu einem echten Kuss gekommen. Dabei waren ihm zwei wichtige Dinge klar geworden. Erstens, dass zwischen ihnen noch immer alles beim Alten war, so als wäre kein Tag vergangen. Und zweitens, dass sie keine Kinder mehr waren.

Sie waren erwachsen und wollten Dinge miteinander tun, die den Erwachsenen vorbehalten waren. So weit, so gut.

Aber doch nicht gleich heiraten!

Kopfschüttelnd trat Will näher an den Infoschalter. Zeit, die Sache anzugehen. „Was haben wir uns nur dabei gedacht?“

Emily machte eine hilflose Handbewegung. Offenbar wusste sie genau, wovon er sprach. „Ich habe gelesen, dass der Sauerstoff in den Kasinos mit irgendetwas angereichert wird. Vielleicht waren wir …“

„… in einer Art Rausch?“, beendete er ihren Satz. Genauso hatte er sich nämlich die ganze Zeit gefühlt, in der sie zusammen gewesen waren. Aber hatte das an der Kasinoluft oder an Emilys Gegenwart gelegen?

Denn in dem Augenblick, in dem er festgestellt hatte, dass Emily Las Vegas ohne ihn verlassen hatte, war der Rausch vorbei gewesen, und die Realität hatte ihn mit voller Härte erfasst. Wild Will hatte das Dümmste getan, was ein Mann in seiner Situation tun konnte. „Plötzlich warst du weg, Emily. Und Izzy auch. Was in aller Welt habt ihr euch dabei gedacht?“

Emily nagte an ihrer Unterlippe. „Wie geht es Owen? Izzy hatte einige dringende Jobs im ganzen Land, die sich nicht aufschieben ließen. Aber sie hat versprochen, ihn so bald wie möglich anzurufen. Hat Owen etwas von ihr gehört?“

„Sie hat ihm eine Nachricht hinterlassen, die ziemlich ähnlich klang wie deine an mich.“

Emily ignorierte die Kritik, die in dieser Bemerkung mitschwang. „Ich bin froh, dass sie sich gemeldet hat. Sie ist nämlich manchmal ziemlich schwer zu erreichen.“

„Ganz im Gegensatz zu dir“, stellte Will trocken fest.

„Was soll ich sagen?“

„Zum Beispiel, warum du mich einfach so sitzen lassen hast!“

Emily richtete einen Papierstapel auf ihrem Schreitisch gerade, bevor sie dazu überging, alle Kugelschreiber und Bleistifte in einheitlichen Abständen rechts davon aufzureihen.

Langsam begann Will zu verstehen. „Das erinnert mich doch sehr an die Sache mit Danielle Phillips!“, erklärte er. „Das war genau dasselbe!“

Emily starrte ihn überrascht an. „An Danielle Phillips habe ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht.“

„Aber du benimmst dich genau wie damals. Unangenehme Themen hast du einfach vermieden, in der Hoffnung, dass sich das Problem früher oder später von selbst lösen würde. Erinnerst du dich? Du wusstest genau, dass Danielle Phillips Sachen aus deinem Zimmer stiehlt. Du hast sogar deine Lieblingshalskette unter ihrem Kopfkissen gefunden. Trotzdem hast du nichts unternommen.“

Will seufzte kopfschüttelnd. „Hast du wirklich bis heute nicht gelernt, dass man vor Problemen nicht davonlaufen darf, weil sie sonst meistens nur noch schlimmer werden?“

„Es war meine Lieblingshalskette, weil du sie mir geschenkt hattest“, murmelte Emily.

Ganz plötzlich war Wills schlechte Laune wie weggeblasen. Die Halskette hatte er ihr in ihrem letzten gemeinsamen Sommer als verspätetes Geburtstagsgeschenk mitgebracht. Sie war nichts Besonderes gewesen, nur ein silbernes Herz an einem passenden Kettchen, doch über dieses Geschenk hatte er sich Gedanken gemacht wie über kein anderes davor oder danach. Auf der Rückseite hatte er sogar ihre Namen eingravieren lassen: Will und Emily.

Will schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden. Will und Emily, das war das Letzte, was er wollte. Er war in den vergangenen dreizehn Jahren immer Will und gewesen. Will und Geschwister. Will und Verpflichtungen. Will und Verantwortung.

Nun klang Will ohne alles in seinen Ohren am besten. Der freie Will. Wild Will. Was konnte schöner sein!

Bestimmt würde Emily verstehen, dass sie ihre Ehe so schnell wieder auflösen mussten, wie sie sie geschlossen hatten.

„Emily …“

„Will Dailey!“

Beim Klang der bekannten Stimme kniff Will die Augen zusammen und zog den Kopf ein. Vielleicht funktionierte Emilys Strategie, unangenehme Dinge einfach zu ignorieren, ja auch für ihn?

Doch dreizehn Jahre Erfahrung hatten ihm gezeigt, dass sich die meisten Dinge eben nicht von selbst erledigen – seien es Berge von Schmutzwäsche, gebrauchtem Geschirr oder unerledigten Hausaufgaben. Also drehte er sich um, um sich seiner Schwester Jamie zu stellen.

An der linken Hand hielt sie einen kleinen Jungen, während sie auf ihrer rechten Hüfte ein sabberndes, Daumen lutschendes Baby trug.

„Mein Bruder Will in einer Bibliothek!“, rief Jamie mit übertriebener Verblüffung. „Dass ich das noch erleben darf!“

Ohne zu fragen, drückte ihm Jamie das Baby in die Hände. Er übernahm es – hatte er eine Wahl? – und beschwerte sich nicht einmal, als die kleine Polly begann, statt an ihrem Daumen an seinem Hemd zu saugen. Gleichzeitig klammerte sich Wills Neffe an seine Beine, als wollte er an ihm hochklettern.

„Todd“, stöhnte Will. „Sei vorsichtig. Dein Onkel Will ist doch kein Baum!“

Jamie stemmte ihre nun freien Hände in die Hüften. „Ich freue mich so, dich zu treffen, Will. Wir haben dich alle schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, und wir müssen dich etwas fragen.“

„Nein. Ich muss arbeiten.“

Jamie runzelte die Stirn und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. „Wann musst du arbeiten?“, fragte sie misstrauisch.

„Immer, wenn eines meiner Geschwister einen Babysitter, einen Gärtner oder Hilfe beim Umziehen oder Ausmalen braucht.“

„Will …“

Ihr klagender Ton rührte ihn nicht im Geringsten. Hatten es seine Geschwister noch immer nicht verstanden? Hörten sie ihm denn nicht zu? Er hatte jedem Einzelnen von ihnen gegenüber klargestellt, dass er in dem Augenblick, in dem seine jüngste Schwester aus dem Haus war, endlich seine Ruhe haben wollte.

Es war ihm auch gelungen, seinen meisten Geschwistern den Sommer über aus dem Weg zu gehen. Will hatte sich erfolgreich vor zahlreichen Grillfesten und Sonntagsmittagessen und sogar einer Geburtstagsparty – seiner eigenen – gedrückt. Als einziges Geschenk hatte er sich von seinen Geschwistern gewünscht, den Tag allein verbringen zu können.

Wobei „allein“ ein relativer Begriff war. Natürlich war er an seinem Geburtstag, genau wie an vielen anderen Abenden, mit einigen Freunden von der Feuerwache ausgegangen. Dabei hatte er das Gefühl genossen, jederzeit eine der attraktiven Frauen, die er dabei kennengelernt hatte, mit nach Hause nehmen zu können. Auch wenn er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hatte. Noch nicht.

„Ich habe viel zu tun“, erklärte er. Dann küsste er Polly auf die Stirn und gab sie seiner Schwester zurück. Glücklicherweise hatte Todd bereits das Interesse an ihm verloren und saß mit einem Bilderbuch, das er von der Bibliothekarin bekommen hatte, auf dem Boden.

Von der Bibliothekarin. Emily.

„Ich habe wirklich sehr viel zu tun“, wiederholte er, deutete mit einer Kopfbewegung auf Emily und warf Jamie dabei einen beschwörenden Blick zu, damit sie ihn endlich in Ruhe ließ.

Schließlich verstand Jamie. Sie warf einen Blick auf Emily und riss überrascht die Augen auf. „Oh. Oh!“ Sie streckte die Hand aus. „Hi. Ich bin Wills Schwester Jamie. Jamie Scott. Und das sind mein Sohn Todd und meine Tochter Polly.“

Emily schüttelte Jamies Hand. „Wie nett, dich kennenzulernen. Ich bin Emily Garner, Wills …“

Oh, nein! Auf keinen Fall durfte sie das sagen. Seine Familie würde ihn bis an sein Lebensende damit aufziehen, wenn sie erfuhr, was er in Las Vegas angestellt hatte. „Emily ist eine Freundin“, unterbrach Will sie schnell, dieses Mal mit einem vielsagenden Blick zu ihr. „Meine alte Freundin Emily aus dem Sommerlager.“

„Wie schön!“, rief Jamie begeistert. „Ich erinnere mich noch daran, dass Will oft von dir erzählt hat! Du musst unbedingt auch kommen. Ich wollte Will nämlich gerade einladen. Wir treffen uns morgen Abend bei mir. Ich wohne hier ganz in der Nähe.“

Will versuchte seine Schwester abzuwimmeln. „Emily ist erst vor einigen Tagen hergezogen …“

„Dann ist es umso wichtiger, dass sie bald ein paar Leute kennenlernt, findest du nicht auch?“ Sie wandte sich Emily zu. „Was meinst du, Emily? Du musst einfach kommen. Sag schon Ja!“

„Na ja, okay“, antwortete Emily unsicher. „Ich hätte nichts dagegen.“

„Dann wäre das ja geklärt. Morgen Abend um sechs. 632 Orange Street. Am besten holt Will dich ab.“

Emily schüttelte den Kopf. „Das finde ich schon. Und Will hat doch gesagt, dass er arbeiten muss.“

Jamie grinste. „Das werden wir noch sehen.“ Sie hakte sich bei Will ein. „Komm schon, Bruderherz. Ich brauche deine Hilfe.“

Will versuchte sich loszureißen. „Ich bin hier noch nicht fertig.“

Doch Jamie ließ sich nicht abschütteln. „Es geht um Pollys Kindersitz im Auto. Ich glaube, der ist nicht richtig festgemacht.“

Will runzelte die Stirn.

Wie schon so oft verfehlten Jamies bittende rehbraune Augen ihre Wirkung nicht. Auch wenn Will noch so genau wusste, dass ihn seine Geschwister manipulierten, gelang es ihnen doch immer wieder. „Also gut“, knurrte er.

Jamie strahlte ihn dankbar an. „Danke, du bist ein Schatz. Es dauert nur eine Minute!“

Tatsächlich dauerte es fast eine Viertelstunde. Wenige Sekunden für den Kindersitz und vierzehn Minuten, in denen Jamie mit allen Mitteln versuchte, ihn dazu zu bewegen, ihre Einladung für den morgigen Abend anzunehmen.

Schließlich willigte er ein. Es kam ohnehin nicht infrage, seine Frau mit seiner Familie allein zu lassen, auch wenn er ziemlich sicher war, dass Emily seinen Blick verstanden hatte und Stillschweigen über ihre Ehe bewahren würde.

Als Will endlich in die Bibliothek zurückkehrte, war Emily fort. Ihre Kollegin am Infoschalter erklärte ihm freundlich, dass sie an einer Besprechung teilnahm, die bis Mittag dauern würde.

632 Orange Street war für Emily leicht zu finden. Wills Schwester wohnte in einem hübschen, weißen Haus mit einem gepflegten Garten und einer Hollywoodschaukel auf der Veranda. Doch leider gestaltete sich die Parkplatzsuche schwierig.

Emily musste den Kuchen, den sie gebacken hatte, ziemlich weit tragen. Das gab ihr genug Zeit, um nervös zu werden. Neue Leute kennenzulernen war nie einfach. Aber hier ging es um Wills Familie. Das war noch viel schwieriger.

Aber natürlich auch spannend.

Aus Wills Verhalten gestern hatte sie geschlossen, dass er ihre Ehe geheim halten und so schnell wie möglich wieder auflösen wollte. Natürlich, sie hatte auch nichts anderes erwartet.

Das bedeutete, dass heute ihre einzige Chance war, mehr über ihn zu erfahren. Wie hatte er sich in den vergangenen dreizehn Jahren verändert?

Die Haustür wurde geöffnet, noch bevor Emily klingeln konnte. Eine dunkelhaarige junge Frau hieß Emily willkommen. Sie war jünger als Jamie, aber die Verwandtschaft war unverkennbar.

„Du musst Emily sein“, sagte sie lächelnd. „Ich bin Betsy, Wills jüngste Schwester. Jamie hat mich gebeten, mich ein bisschen um dich zu kümmern.“

Als Emily eintrat, bemerkte sie sofort den hohen Geräuschpegel, der sich aus lauten Stimmen, Rockmusik und spritzendem Wasser zusammenzusetzen schien. „Ach, das ist doch nicht nötig“, protestierte Emily, doch in Wahrheit wurden ihr die Knie weich, als sie feststellte, dass offenbar Dutzende Gäste eingeladen waren. Nach dem, was Jamie angekündigt hatte, hatte sie eigentlich nur ein Abendessen im engsten Familienkreis erwartet.

Betsy grinste. „Ich glaube doch. Du siehst jedenfalls schon ganz entsetzt aus, obwohl ich dir noch niemanden aus der Familie vorgestellt habe.“

„Familie?“, wiederholte Emily staunend. „Aber das können unmöglich alles Familienmitglieder sein!“

„Doch, weitgehend“, erklärte Betsy, während sie eine Dose Cola aus dem Kühlschrank holte und Emily in die Hand drückte. „Auf die eine oder andere Art. Du weißt, dass wir sechs Geschwister sind? Die sind alle samt Ehepartnern oder Lebensgefährten und Kindern da.“

„Will hat erwähnt, dass er eine große Familie hat, aber …“

Emily wurde durch eine kurze, aber herzliche Begrüßung von Jamie unterbrochen. „Da bist du ja! Kümmert sich Betsy gut um dich? Möchtest du etwas anderes als Cola trinken? Auf dem Tisch da drüben stehen Chips und Salzstangen. Hast du Todd gesehen?“

Die letzte Frage richtete sich nicht an Emily, sondern an einen Mann, der sich mit einer Grillzange in der Hand an ihr vorbeidrängte. „Todd?“, wiederholte er, als hörte er den Namen zum ersten Mal.

Jamie kniff die Augen zusammen. „Ja, du weißt schon, dein Sohn.“

Der Mann – wahrscheinlich ihr Ehemann – kniff ihr lachend in die Wange. „Mach dir keine Sorgen, er ist bei Charlie.“ Dann lächelte er Emily an. „Hi. Ich bin Ty. Du bist zum ersten Mal hier, richtig? Ich bin hinten im Garten beim Grillen. Komm hinaus, wenn dir die Daileys zu viel werden. Ich komme bloß aus einer fünfköpfigen Familie, darum weiß ich, dass der Dailey-Clan manchmal ganz schön einschüchternd wirken kann.“

Emily war Einzelkind gewesen. Ihre Eltern hatten ebenfalls keine Geschwister. Dass so viele Menschen eng miteinander verwandt sein konnten, überstieg beinahe ihr Vorstellungsvermögen. Wie sollte sie hier nur den Überblick bewahren?

Als Ty und Jamie in verschiedene Richtungen verschwanden, erkundigte sie sich bei Betsy: „Wird … wird Will kommen?“ Plötzlich wünschte sie sich, er wäre hier.

„Ja, aber es wird etwas später werden. Er musste eine halbe Sonderschicht auf der Wache übernehmen, weil einige Kollegen krank sind. Komm mit.“ Sie zeigte hinaus auf die Terrasse hinter dem Haus, auf der sich die meisten Familienmitglieder versammelt hatten. „Es wird nicht lange dauern, bis du alle kennst.“

Betsy war eine Optimistin. Aber Emily hatte ja zumindest schon Jamie, Polly, Todd, Ty und Betsy kennengelernt.

Charlie – Tys Bruder – war der große Mann mit dem kleinen Jungen auf dem Arm. Oder war das Wills jüngster Bruder Tom? Tom hatte seine Freundin Gretchen mitgebracht, die leicht mit Betsys Mitbewohnerin Chelsea zu verwechseln war. Chelsea schien sich für Charlie zu interessieren. Aber vielleicht bildete sich Emily das nur ein, weil ihre Namen dieselben Anfangsbuchstaben hatten.

Dann gab es einen Jack, einen Max, zwei Daves und einen Patrick. Oh, und einen Alex. Einige davon waren Brüder von Will, die anderen Schulfreunde … oder so.

Außer Chelsea musste sie sich noch Ann und Helen merken. Und die Namen von zwei blonden jungen Frauen hatte sie sofort wieder vergessen, von den Kindern, die wild durcheinander wuselten, ganz zu schweigen.

Als Emilys Kopf zu brummen begann, erinnerte sie sich an Tys Angebot und zog sich in den relativ ruhigen hinteren Teil des Gartens zurück, wo Ty sich um das Grillfeuer kümmerte. Er nickte ihr aufmunternd zu. „Eine verrückte Familie, was?“

Emily kühlte sich die Wange mit der Coladose. „Ich bin Bibliothekarin. Deshalb habe ich dauernd das Gefühl, dass ich sie alle zur Ruhe ermahnen müsste …“

Geschickt wendete Ty ein brutzelndes Stück Fleisch. „Tut es dir schon leid, dass du die Einladung angenommen hast?“

Emily schüttelte den Kopf. „Ich habe vor Kurzem jemandem versprochen, die Nase nicht immer in meine Bücher zu stecken, sondern hinauszugehen und Spaß zu haben. Das ist der erste Schritt.“

„War dieser Jemand vielleicht Will?“

„Nein.“ Sie lächelte nachdenklich. „So gut kennen wir uns gar nicht. Will ist eher …“ Emily brach ab, als sie bemerkte, dass Ty sie musterte. Sie hob fragend die Augenbrauen. „Ist irgendetwas?“

„Ich bin nur neugierig, warum Will es sich anders überlegt hat.“

„Was meinst du?“

„Im Juni hat er gedroht, die nächsten fünf Jahre auf keiner einzigen Familienfeier zu erscheinen. Aber da steht er.“ Ty deutet auf die Tür, die aus dem Haus auf die Terrasse führte.

Emily blickte in die angegebene Richtung. Ja, da war Will. Das Herz hämmerte ihr gegen die Rippen. Eigentlich unverständlich, dass ein Mann in ausgewaschenen Jeans, Turnschuhen und einem dunkelblauen T-Shirt so gut aussehen konnte.

Aber es war schon interessant festzustellen, wie er sich in den vergangenen Jahren verändert hatte. Seine Schultern waren breiter geworden, auf seinen muskulösen Unterarmen wuchsen dunkle Haare, und um den Mund zeigten sich kräftige Bartstoppeln.

Sie erinnerte sich nur zu gut an das sanft kitzelnde Gefühl an ihrem Hals und auf ihren Lippen, als sie sich in Las Vegas geküsst hatten. Nun, da Will sich suchend umsah, wandte sie sich schnell ab. Schließlich hatte sie kein Recht, ihn anzustarren.

Sie konzentrierte sich wieder auf Tys letzten Satz, dessen Bedeutung sie nicht ganz verstanden hatte. „Will hat gedroht, auf keiner Familienfeier zu erscheinen?“, wiederholte sie fragend. „Aber warum?“

„Weil …“

Plötzlich stand Will neben ihr: „Ich hoffe, Ty hat dir gegenüber erwähnt, dass er verheiratet ist?“ Will boxte seinen Schwager freundschaftlich in die Schulter. „Du kannst das Flirten einfach nicht lassen.“

„Moment mal“, wehrte sich Ty. „So ist das nicht. Emily brauchte einfach eine Auszeit von deiner lauten Großfamilie. Das solltest du eigentlich verstehen.“

„Stimmt, da hast du auch wieder recht. Aber jetzt bin ich ja da. Emily, soll ich dir …“

„Will!“ Betsy umarmte ihren Bruder stürmisch von hinten. „Du rufst nie an, kommst nie vorbei.“

Er schüttelte den Kopf und rollte die Augen, bevor er aufgab: „Betsy Wetsy, du bist mindestens zwanzig Zentimeter gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.“

„Glaub bloß nicht, dass du mich mit diesem dummen Spitznamen ärgern kannst.“ Sie schnappte sich seine Hand und begann daran zu zerren. „Du musst dir unbedingt mein neues Auto ansehen.“

„Betsy …“

„Du musst. Ich bekomme die Motorhaube nämlich nicht auf. Sollte ich nicht gelegentlich mal den Ölstand prüfen oder so etwas?“

„Immer beim Tanken. Habe ich euch das nicht schon hundertmal gesagt?“, seufzte Will. Aber immerhin wehrte er sich nicht, als Betsy ihn mit sich fortzog. „Fünf Minuten!“, rief er Emily über die Schulter entschuldigend zu. „Gib mir nur fünf Minuten.“

Natürlich wurden es mehr. Und auch als Will endlich zurück war, wurde er zwischen seinen Geschwistern herumgereicht. Auf Betsys Motorhaube folgten das Handy von Max und das Videospiel von Alex.

Als es Zeit war, sich zum Essen an die Tische zu setzen, schnappte sich der jüngste Bruder – Tom, soweit sich Emily erinnerte – den Platz neben Will, um mit ihm die verschiedenen Modelle für Altersrenten durchzudiskutieren, aus denen er bei seinem Arbeitgeber wählen konnte.

Es war offensichtlich, dass Will in der Familie Dailey die Sonne war, um die alle anderen kreisten. Wahrscheinlich war es das Vorrecht des Ältesten. Wären Mr. und Mrs. Dailey hier gewesen, hätte sich bestimmt alles um sie gedreht.

Eigentlich komisch, dass sie fehlten. Aber vielleicht waren sie verreist.

Erst zum Ende des Essens, nachdem sie schon zwei Stapel Teller in die Küche getragen hatte, fand Will einen Augenblick Zeit für sie. „Es tut mir leid, Emily. Ist alles in Ordnung?“

„Sicher.“ In seinem Arm schlief ein Baby. Erst jetzt bemerkte sie, wie süß es aussah und wie gut ihm das Kind stand. Als wäre es seines. Sie bekam weiche Knie. Aber wer konnte ihr das vorwerfen? Der dringende Wunsch nach einem Mann, einer Hochzeit und einem Kind war bei Frauen Anfang dreißig schließlich die natürlichste Sache der Welt!

Doch Will war nicht ihr Mann. Jedenfalls nicht wirklich.

Oder etwa doch?

Als Will ihr in die Augen sah, war sie da plötzlich nicht mehr so sicher.

Er fasste sie an der Hand. „Emily …“ Er strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken, und sie bekam Gänsehaut am Arm und auf der Brust. Sie versuchte, die allzu offensichtliche Reaktion ihrer Brustspitzen mit dem freien Arm zu verdecken. Doch es schien fast, als hätte er sie trotzdem bemerkt. Emily hatte jedenfalls das Gefühl, dass sich sein Gesichtsausdruck verändert hatte. „Emily …“

„Will! Will!“ Beide zuckten zusammen, als Betsy den Kopf zur Terrassentür herausstreckte und nach ihrem Bruder rief: „Komm ins Wohnzimmer! Du hast das Video von meiner Abschlussfeier noch gar nicht gesehen!“

Im Gegensatz zu vorher, als er sich mehrfach bitten hatte lassen, ihr Auto anzusehen, sprang er nun bereitwillig auf und ging ins Haus.

Emily folgte ihm langsamer und setzte sich einige Plätze von ihm entfernt auf einen der vor dem großen Flachbildfernseher bereitgestellten Stühle.

„Hoppla, jetzt habe ich zu weit zurückgespult“, erklärte Betsy. „Das sind noch Aufnahmen von Jamies und Tys Hochzeit.“

Auf dem Bildschirm war Will zu sehen, der seine Schwester den Mittelgang einer Kirche entlang zum Altar führte.

Moment mal! Will führte seine Schwester zum Altar?

Das Bild verschwamm, bis es kurz darauf eine strahlende Betsy in Talar und Doktorhut zeigte, die geradewegs auf Will zulief, der sie umarmte und vor Freude herumwirbelte.

Aber wo waren nur Betsys und Wills Eltern? Emily hatte sie einige Mal im Sommerlager gesehen, als sie Will hingebracht oder abgeholt hatten, und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum sie bei diesen beiden wichtigen Anlässen ihrer Kinder fehlten.

Ihre Verwunderung musste ihr anzusehen gewesen sein, denn Ty stieß sie vorsichtig mit dem Ellbogen an. „Jamie hat mir erzählt, dass du und Will alte Freunde seid …“

„Sozusagen. Aber wir haben uns nur im Sommerlager gesehen, bis wir siebzehn waren.“

„Dann frage ich mich, ob du weißt, was passiert ist, als Will achtzehn war.“

Emily sah ihn an. „Nein, keine Ahnung. Was?“

Ty dämpfte seine Stimme. „Mr. und Mrs. Dailey sind bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Danach hat Will allein die Verantwortung für alle seine Geschwister übernommen und sie allein aufgezogen. Er war ihnen die letzten dreizehn Jahre sozusagen Mutter und Vater zugleich.“

Oh, Will. Emily spürte einen dicken Klumpen in ihrem Hals. „Bis Betsy vor Kurzem ihren Abschluss gemacht hat“, fügte sie tonlos hinzu.

„Genau. Letzte Woche war Will mit einem Freund in Las Vegas. Das war der erste Urlaub seines Lebens. Er hat die ganze Zeit darauf gewartet, endlich ein Junggesellenleben führen zu können. Ich kann verstehen, dass er das jetzt genießen will.“

Erst langsam begann Emily zu begreifen, was das bedeutete.

Nun, schließlich hatte sie mehr über ihn erfahren wollen. Das war ihr ja wohl gelungen.

Emily wollte nur noch fort. Sie brauchte Zeit und Ruhe, um zu verarbeiten, was Ty ihr gerade offenbart hatte. 

Will hatte dreizehn Jahre darauf gewartet, endlich Junggeselle zu werden.

Sie schlich sich vom Fernseher weg, ohne dass die anderen Zuschauer davon Notiz nahmen. In der Küche hörte sie das Klappern von Geschirr. Jamie räumte den Geschirrspüler ein und stellte die Essensreste in den Kühlschrank.

„Vielen Dank für die Einladung“, sagte Emily. „Aber ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“

„Auf keinen Fall“, erklärte Jamie sofort. „Es gibt doch noch Nachtisch. Und danach wird getanzt. Deinen Kuchen haben wir auch noch nicht angeschnitten!“

„Ich hoffe, er schmeckt euch. Aber ich … ich muss morgen früh aufstehen.“

Jamie sah betrübt drein. „Oje, wir haben dich verschreckt.“

„Nein!“ An Wills Familie lag es nicht. „Bestimmt nicht, ihr seid alle sehr nett.“

„Wir sind laut.“

„Schon, aber auf eine nette Art.“ Emily musste lachen. „Wirklich! Aber ich muss morgen früh raus.“

Plötzlich ertönte Kindergeschrei, und Jamie warf stirnrunzelnd einen Blick auf das Babyfon, das auf dem Küchentisch stand. „Hört sich an, als ob Polly noch nicht so recht müde ist.“

„Du siehst nach ihr, und ich gehe nach Hause. Ich finde schon hinaus“, schlug Emily schnell vor. „Noch einmal vielen Dank für die nette Einladung.“

Nach einer Umarmung und einem zweifelnden Blick hastete Jamie schließlich ins Kinderzimmer.

Will war noch immer voll auf den Film von Betsys Abschlussfeier konzentriert, während einige andere schon auf der Terrasse draußen tanzten. Am besten würde sie durch den Garten verschwinden, damit sie nicht noch einmal ins Wohnzimmer musste und riskierte, dass Will ihre Absicht bemerkte.

Langsam wurde es dämmrig, doch die vorsorglich auf der Terrasse aufgehängten Leuchtgirlanden verbreiteten ein angenehm warmes Licht.

Als sie an einer der tanzenden Frauen – Chelsea? Ann? – vorbeiging, streckte deren kleiner Tanzpartner, den sie auf der Hüfte trug, seine kurzen Arme nach Emily aus.

„Jetzt du“, bettelte der kleine Todd.

Sie blieb stehen. „Wie bitte?“

Er wiederholte seine Worte und zappelte in der Hoffnung, dass Emily ihn auf den Arm nehmen würde. „Jetzt du.“

Emily sah seine verschmähte Partnerin fragend an. Die andere Frau grinste. „Er verteilt seine Liebe gleichmäßig. Was soll ich sagen?“

Und was konnte Emily anderes tun, als ihr das Kind abzunehmen? Todds Lächeln, während sie sich mit ihm auf dem Arm im Takt eines Countrysongs wiegte, hätte Eis zum Schmelzen bringen können.

Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf.

„Hast du von deinem Onkel Will gelernt, Frauen mit deinem Charme um den Finger zu wickeln?“

Doch bevor der Kleine etwas antworten konnte, stand sein Onkel Will auch schon neben ihnen, schnappte sich Todd und stellte ihn auf den Boden. „Deine Mutter sucht dich.“

Der Junge schnitt eine Grimasse. „Onkel Will …“

Will hob die Hand, um weitere Diskussionen im Keim zu ersticken. „Ich sage nur: Kuchen.“

Todd drehte sich auf dem Absatz um und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Emily musste lachen. „Du kannst aber gut mit Kindern umgehen!“

„Übung macht den Meister.“

Sie nickte. „Muss wohl sein.“ Das erinnerte sie daran, dass sie eigentlich genau deshalb gar nicht mehr hier sein sollte – weil sich der Junggeselle vor ihr seine Freiheit wirklich verdient hatte. Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück.

„Du wolltest aber nicht zufällig wieder einmal abhauen und mich sitzen lassen?“

„Nein, bestimmt nicht“, log sie, ging dabei aber weiter rückwärts.

„Bist du sicher?“ Er nahm sie in den Arm, als Bonnie Raitts I Can’t Make You Love Me aus den Lautsprechern klang.

Emily schloss die Augen und ließ sich von ihm führen. Plötzlich war es, als wären sie zurück in Las Vegas: der Duft seiner Haut, sein Herzschlag an ihrer Brust und das Bewusstsein, dass es Will war, ihr Will, mit dem sie tanzte.

Will streichelte ihr Haar, und sie schmiegte sich enger an ihn, ihre Wange auf sein Schlüsselbein gelegt. Er fühlte sich so warm und stark und sicher an, als könnte ihn nichts erschüttern.

Wahrscheinlich stimmte das auch. Schließlich hatte er dreizehn Jahre lang die Verantwortung für eine ganze Familie getragen und all diese Zeit nur darauf gewartet, dass ihm diese Last endlich abgenommen wurde.

Und nun hängte sie sich ihm an den Hals und benahm sich, als gehörte er ihr.

Emily hob den Kopf, um Will anzusehen. „Du hast mir nie von deinen Eltern erzählt. Es tut mir so leid!“

Einen Augenblick lang erstarrte er, bevor er sie zur Musik weiter hin und her wiegte. „Ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich glauben konnte, was passiert ist.“

„Und was ist passiert?“

Er zuckte die Achseln. „Ein Autounfall. Ich war gerade achtzehn geworden. Betsy, die Jüngste, war acht, die anderen irgendwo dazwischen.“

„Und du hast ganz allein die Verantwortung für alle übernommen?“

Dasselbe kühle Schulterzucken. „Ja. Davor wollte ich aufs College, aber … ein Freund konnte mir nach der Highschool einen Ausbildungsplatz als Feuerwehrmann mit Jobgarantie besorgen. Also habe ich diese Chance ergriffen. Es war ganz schön viel damals, aber wir alle haben mitgeholfen. Sonst hätten wir nicht zusammenbleiben können.“

„Du hättest dich melden sollen … schreiben oder anrufen.“

Will schüttelte den Kopf. „Was hätte das geändert, Emily? Du warst siebzehn Jahre alt und ein paar Hundert Kilometer entfernt.“

„Aber …“

„Entspann dich, Emily, ich habe es ja auch allein geschafft.“

Am liebsten hätte sie gesagt, sie hätte es einfach wissen wollen, und sei es nur, um ihm gelegentlich ein paar gute Gedankenwolken zu schicken. Aber anscheinend hatte ihn das nicht interessiert.

Autor

Christine Rimmer
<p>Christine Rimmers Romances sind für ihre liebenswerten, manchmal recht unkonventionellen Hauptfiguren und die spannungsgeladene Atmosphäre bekannt, die dafür sorgen, dass man ihre Bücher nicht aus der Hand legen kann. Ihr erster Liebesroman wurde 1987 veröffentlicht, und seitdem sind 35 weitere zeitgenössische Romances erschienen, die regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten landen....
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