Mehr als nur ein verführerisches Spiel?

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Ein romantisches Dorf in Apulien, der Duft von Kräutern und Wildblumen, der strahlend blaue Himmel: für Ava eine trügerische Idylle. Das Testament ihres Vaters sieht vor, dass sie eine alte Schuld begleicht, die er einem Geschäftsfreund angetan hat. Aber dessen Sohn Liam, mittlerweile selbst Millionär, will die Wiedergutmachung nicht akzeptieren. Stattdessen fordert er, dass sie drei Monate lang seine Freundin spielt. Mit jedem Tag wird das Spiel für Ava gefährlicher, denn Liams Küsse fühlen sich verhängnisvoll echt an …


  • Erscheinungstag 04.05.2021
  • Bandnummer 092021
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718725
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ava Casseveti betrachtete sich im Spiegel und versuchte sich an ihrem typischen Lächeln.

Tu so als ob, bis es echt aussieht.

Dieses Mantra hatte ihr immer gute Dienste geleistet. Sie würde sich auch jetzt wieder darauf verlassen, wenn es darum ging, die Schwierigkeiten zu bewältigen, die seit dem Tod ihres Vaters immer mehr geworden waren.

Sie griff nach ihrem knalligsten Lippenstift – er würde wunderbar zu diesem Tag passen. Mit ein bisschen Glück würde das Feuerwehrrot von ihren müden Augen und ihrer blassen Haut ablenken. Sie würde sich zusammenreißen, ihre Fassade präsentieren und alle davon überzeugen, dass sie eine kompetente Geschäftsfrau war, die das Familienunternehmen zusammenhalten konnte.

Familie. Das Wort schwirrte durch ihren Kopf und schien sie zu verhöhnen.

Warum hast du das getan, Dad?

Sie schloss die Augen und sah ihren Vater vor sich. Sein irreführend gutes Aussehen, seine Wangen, die trotz seiner mehr als sechzig Jahre noch jungenhaft glatt gewesen waren; die jugendliche Frische, die nach seinem ersten Herzinfarkt vor vier Jahren nicht verloren gegangen war. Seine Präsenz, seine Aura, ihr Glaube an ihn – all das war zerstört worden, als sie erfahren hatte, was in seinem Testament stand. Ihre Trauer um den Mann, den sie angebetet hatte, wurde überschattet von der Verwirrung und dem Schmerz darüber, dass er sie betrogen hatte, dokumentiert in seinem Letzten Willen.

Statt die von ihm gegründete Süßwaren-Firma „Dolci“ Ava zu hinterlassen, hatte er sie ihr und ihren beiden Halbgeschwistern Luca und Jodi vermacht. Dabei war es ausschließlich Ava gewesen, die in den letzten fünf Jahren ihr Herz und ihre Seele in den Betrieb gesteckt hatte! Schock und Fassungslosigkeit erwischten sie erneut eiskalt, als sie an diesen Verrat dachte.

Luca und Jodi Petrovelli, beides Kinder aus seiner ersten Ehe, waren nie Teil von „Dolci“ gewesen. Sie hatten nicht einmal den Nachnamen Casseveti behalten, sondern den ihrer Mutter angenommen. Ava hatte Luca und Jodi, die inzwischen natürlich auch erwachsen waren, bisher nicht einmal kennengelernt, obwohl sie von deren Existenz gewusst hatte. Sie waren eine schattenhafte Bedrohung gewesen, die Ava als Kind in ihren Albträumen verfolgt hatte. Selbst jetzt noch hörte sie die schrecklichen Warnungen ihrer Mutter.

Wir müssen vorsichtig sein, Ava-Liebling. Immer. Diese Menschen würden alles tun, um Daddy zurückzubekommen. Und das werden wir nicht zulassen, nicht wahr, Schatz?

Die dreijährige Ava hatte heftig den Kopf geschüttelt, ihr Mund trocken vor Angst, als sie sich vorstellte, dass Luca und Jodi ihren Vater entführen könnten.

Deshalb werden wir alles richtig machen, Liebling. Eine perfekte Familie für Daddy sein.

Es war zu Avas Lebensaufgabe geworden, dafür zu sorgen, dass sie eine perfekte Familie waren, damit die hinterhältigen Petrovellis ihr nicht den Vater wegnehmen konnten. Sie und ihre Mutter hatten eine stillschweigende Allianz geschlossen, und beide waren fest entschlossen gewesen, James Casseveti zu halten.

Dennoch waren die Zweifel geblieben, denn schließlich hatte er auch seine frühere Frau und die Kinder verlassen. Die Zweifel wurden schlimmer, als Ava älter wurde und Gespräche mitbekam, die in Tränen und Schuldzuweisungen ihrer Mutter endeten.

„Du hast mich nie geliebt. Du liebst immer noch sie. Hättest du mich überhaupt geheiratet, wenn ich nicht so viel Geld besessen hätte?“

Ich habe sie und Luca geliebt – selbstverständlich, schließlich waren sie meine Familie. Aber jetzt hast du mich, wir haben eine Familie, eine Tochter. Warum kann das nicht genug sein? Das ist unser Leben.

Allmählich war Ava bewusst geworden, dass er seine erste Frau geliebt hatte, sie aber dennoch verlassen und sich für den Reichtum und die Verbindungen entschieden hatte, mit denen die Familie ihrer Mutter auftrumpfen konnte. Sie hatte sich gefragt, ob er seinen Schritt je bereut hatte, ob ihre Mutter Karen und sie nur die zweite Wahl waren, ob all der Reichtum und der Erfolg den Verlust kompensieren konnten.

Also hatte sie ihre Bemühungen verdoppelt. Ava sah immer perfekt aus, verhielt sich perfekt und tanzte nach der Pfeife ihrer Mutter. Tatsächlich gab es keinen Grund, sich zu beschweren. Sie führte ein privilegiertes Leben und wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte.

Und doch hatte es Zeiten gegeben, in denen die Zwänge ihre Individualität unterdrückt hatten. Sie hatte sich fast wie eine Parodie ihrer selbst gefühlt – ein perfekter Mix aus Aristokratin und „Dolci“-Erbin. Dann hatte sie sich ein Leben gewünscht, in dem sie ihre eigenen Träume verfolgen konnte statt derer, die man sich für sie ausgedacht hatte. Ein Leben, das nicht beherrscht wurde von der Presse, der Öffentlichkeit und dem Bedürfnis, fehlerfrei zu sein.

Doch am Ende waren Luca und Jodi eine Bedrohung geblieben, die man fürchten musste. Ava war nicht perfekt genug gewesen, und nun bedrohten ihre Halbgeschwister erneut ihren Seelenfrieden. Zwei schattenhafte Figuren, die sich weigerten, sie kennenzulernen und mit ihr zu reden, außer über ihre Anwälte.

Ava öffnete die Schublade ihrer Frisierkommode und nahm den Brief heraus, den sie in den letzten Monaten so oft gelesen hatte. Den Brief, den ihr Vater ihr hinterlassen hatte und in dem er sich ihr erklärte.

Liebe Ava,

ich weiß, du musst verletzt und wütend sein, und ich hoffe, dass dieser Brief dich besänftigen kann. Bitte glaub mir, dass ich dich liebe. In diesen letzten Jahren warst du das Wertvollste in meinem Leben. Du hast mir gezeigt und bewiesen, dass ich fähig bin, ein guter Vater zu sein. Du hast nicht das Geringste falsch gemacht.

Du nicht, Ava, aber ich. Ich habe eine andere Familie alleingelassen, eine Frau, die ich geliebt habe, einen Sohn, den ich liebe. Luca war fünf, als ich gegangen bin, und meine Frau Therese war schwanger mit einer Tochter – Jodi –, die ich nie kennengelernt habe.

Sosehr ich jetzt auch versuche, meine Entscheidung zu rechtfertigen, so weiß ich doch nun, da es dem Ende zugeht, dass ich falsch gehandelt habe. Ich habe das Leben mit ihnen hinter mir gelassen, um ein Leben in Reichtum und Überfluss zu führen, um das zu erreichen, wonach ich mich gesehnt habe. Aber Luca und Jodi sind meine Familie, meine Kinder. Und als solche verdienen sie es, auch Anteile an dem Familienunternehmen zu bekommen. Diese Möglichkeit hätte man ihnen schon vor langer Zeit einräumen müssen.

Ich hoffe, du kannst das akzeptieren und mir verzeihen.

Ava legte den Brief hin und widerstand dem Bedürfnis, sich über die Augen zu wischen. Denn wenn sie weinte, müsste sie den Lidschatten erneuern – ebenso wie die Wimperntusche, die ihre ohnehin langen Wimpern noch länger erscheinen ließ.

Ihr Blick fiel auf die vertraute Schrift ihres Vaters. Von Akzeptanz und Vergebung zu sprechen war gut und schön, aber so lief das im wirklichen Leben nicht. Es fing damit an, dass Karen Casseveti nicht die Absicht hatte, es ihrem verstorbenen Mann gleichzutun. Stattdessen drehte sich nun ihr ganzes Leben darum, sich wegen seines Verrats zu rächen. Sie wollte das Testament aufheben und die Petrovellis enteignen lassen.

Dass Ava sich weigerte mitzumachen, hatte zu einem Zerwürfnis zwischen ihnen geführt. Karen konnte die trotzige Haltung ihrer Tochter nicht verstehen, und Ava wiederum hatte ein schlechtes Gewissen. Sie verstand, wie ihre Mutter sich fühlte, wusste aber auch, dass sie rechtlich keine Chance hatten. Außerdem wäre es moralisch nicht richtig, das Testament anzufechten.

Doch sie hasste es, ihre Mutter so traurig und verbittert zu sehen, auch wenn sie verstand, warum sie es war. Während ihrer Ehe hatte Karen immer gewusst, dass ihr Mann seine erste Frau noch liebte. Aber sie hatte nie darüber gesprochen und stattdessen eine Illusion erschaffen. Auf dem Sterbebett hatte James diese Illusion zerstört und die hässliche Wahrheit enthüllt.

Und was Luca anging, der seine eigene, unglaublich erfolgreiche Schokoladenfabrik besaß – er schien demonstrieren zu wollen, wie wenig „Dolci“ ihm bedeutete. Er weigerte sich, Stellung zu beziehen, und behauptete, dass seine Schwester noch nicht sicher sei, was sie machen würde. Bis sie sich entschieden habe, werde er nichts unternehmen.

In der Zwischenzeit hing „Dolci“ in der Schwebe. Es gab nichts als negative Publicity und anzüglichen Klatsch, dazu noch das vernichtende Urteil der Geschäftswelt – Ava Casseveti verfüge nicht über die Fähigkeiten, die erforderlich waren. Sie sei ein Ex-Model und habe ihre Rolle in dem Unternehmen der Vetternwirtschaft zu verdanken, nicht ihrem Können. Wäre es anders, hätte ihr Vater nicht zwei Drittel des Unternehmens seinen beiden Kindern aus erster Ehe vermacht.

Ava presste ihre perfekt manikürten und lackierten Nägel in die Handflächen. Sie war fest entschlossen, allen zu beweisen, dass sie sich irrten, doch ihre Selbstzweifel standen dagegen. Schließlich war das ein stichhaltiges Argument. Was auch immer er in seinem Brief behauptete: Ihr Vater hätte nicht zwei Drittel von „Dolci“ seinen anderen beiden Kindern überlassen, wenn er wirklich an Ava geglaubt hätte.

An diesem Morgen ging es jedoch nicht darum, sondern um den zweiten Teil des Briefes.

Ich habe noch ein Unrecht begangen, Ava. Ich hatte nicht den Mut, es richtigzustellen, und deshalb bitte ich dich, es für mich zu tun.

Vor vielen Jahren, als ich noch mit Therese zusammen war, hatte ich einen Freund und Kollegen namens Terry Rourke. Wir hatten zusammen die Idee, „Dolci“ zu gründen. Ein Wunschtraum, über den wir bei ein paar Bier plauderten. Rechtlich war ich nicht verpflichtet, ihn daran zu beteiligen, aber moralisch.

Ich glaube, Terry ist inzwischen schon gestorben, aber er hat einen Sohn – bitte tu etwas für ihn, in meinem Namen.

Danke, Ava. Ich bitte dich, Verständnis für deine Geschwister zu zeigen und deiner Mutter zur Seite zu stehen.

In Liebe

Dad

Manchmal hatte Ava das Gefühl, ihren Vater überhaupt nicht gekannt zu haben. Dass ihre Beziehung zu ihm eine Illusion gewesen war, ein Schwindel, und dass er erst im Tod sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Doch trotz seiner Unzulänglichkeiten vermisste sie ihn auch sechs Monate nach seinem Tod noch sehr schmerzlich und trauerte um ihn. Und diese Trauer bekräftigte sie in dem Entschluss, seinen Wünschen nachzukommen. James Casseveti hatte gewollt, dass Luca und Jodi an „Dolci“ beteiligt sein würden, und Ava musste ihnen diese Chance geben. Und jetzt würde sie losgehen und versuchen, ein Unrecht wiedergutzumachen, das noch vor ihrer Geburt begangen worden war.

Ein letzter Blick in den Spiegel, dann nickte Ava zufrieden. Sie war bereit, sich Liam Rourke zu stellen, Terry Rourkes Sohn.

Liam Rourke saß in seinem eleganten Büro, das bewusst minimalistisch, aber auch bequem eingerichtet war, um das Vertrauen der Klienten zu gewinnen. Er las gerade eine E-Mail.

Überrascht und enttäuscht zugleich, stieß er einen leisen, aber deftigen Fluch aus. Er hatte den Daley-Auftrag verloren! Einen Moment lang war er auch wütend, aber er widerstand dem Bedürfnis, mit der Faust auf den Schreibtisch zu schlagen; schließlich wusste er, dass er nicht immer gewinnen konnte. Dennoch: Diesmal traf es ihn hart, weil er den Auftrag an einen Mann verloren hatte, den er kannte und hasste: Andrew Joseph Mason, bei seinen Freunden aus der Oberschicht als AJ bekannt.

Ebenso wie Liam war auch AJ früher beim Militär gewesen, und ebenso wie Liam war er Gründer eines Sicherheitsunternehmens. Doch da endeten die Parallelen auch schon. Bereits seit Menschengedenken hatte in jeder Generation jemand aus AJ Masons Familie in der britischen Armee gedient – höchstwahrscheinlich bereits seit die Höhlenmenschen sich die erste Schlacht geliefert hatten. Und ebenso sicher hatten sie schon vor vielen Jahrtausenden bessere Leopardenhäute getragen als andere.

Und jetzt mischte AJ auf seinem Gebiet mit, und Liam wusste genau, wie er das angestellt hatte. AJ hatte Einfluss, Macht und Verbindungen. All das war unbestreitbar beeindruckend, besonders verglichen mit Liams Einfluss und seinen Verbindungen, die es praktisch nicht gab. Liam hatte keine Offiziere in der Familie und auch kein großes familiäres Netzwerk.

Liam musste an das Offizierstraining denken und an die Hölle, durch die AJ und ein paar seiner brutalen Freunde ihn gejagt hatten. AJ hatte sofort eine Abneigung gegen Liam gehabt, weil er glaubte, Offizier solle nur ein Mann werden, der aus der Oberschicht kam. Die Abneigung war noch stärker geworden, als Liam sich als erstklassiger Offizier erwiesen, beim Training und den Manöverübungen geglänzt und AJ immer wieder bloßgestellt hatte.

Also hatte AJ Rache geübt. Da er wusste, dass Liam niemals petzen würde, hatten er und seine Freunde dafür gesorgt, dass er geächtet wurde, und ihn immer wieder gezwungen, Demütigungen hinzunehmen.

Doch das würde Liam nicht noch einmal zulassen. Damals hatte er einen Weg gefunden, AJ zu besiegen, und genau das würde er auch jetzt tun.

Vor vielen Jahren hatte er AJ dazu überreden können, sich mit ihm im Boxring zu messen. Er hatte einen hart umkämpften Sieg errungen und AJ offen und ehrlich geschlagen, jeder Boxhieb ein Genuss und Revanche für all die Erniedrigungen, die er erlitten hatte. Seine Rache schmeckte immer noch süß.

Aber diese Niederlage hatte AJ zur Zielscheibe des Spottes gemacht – und schlimmer noch: Die Sache war einem der oberen Militärs zu Ohren gekommen, der gar nicht glücklich gewesen war über AJ, trotz seiner glanzvollen Herkunft. Damals war AJ sehr wütend gewesen, und wie es aussah, schwelte diese Wut immer noch in ihm.

Es klopfte, und Liams Assistentin trat ein.

„Hallo, Rita.“

„Hallo. Tut mir leid wegen Daley.“ Die kleine Rothaarige schüttelte den Kopf. „Das stinkt zum Himmel. Mir ist zu Ohren gekommen, dass AJ den alten Daley zum Dinner zu sich eingeladen hat. Er hat das Familiensilber aufdecken lassen, und seine Frau musste mit berühmten Namen aufwarten. Aber noch schlimmer ist, dass AJ auch den Beaumont-Auftrag an Land ziehen will.“

Liam presste die Kiefer zusammen. „Beaumont Industries“ wechselte alle fünf Jahre die Sicherheitsdienstleister, und man hatte „Rourke Securities“ um ein Angebot gebeten. Sollte er diesen Auftrag bekommen, würde er sein Unternehmen auf die nächste Stufe heben.

Rita zögerte. „Es kommt noch schlimmer.“

„Raus damit.“

„Bei Portwein und Zigarren hat AJ Andeutungen gemacht, wie tragisch es doch gewesen sei, dass Sie Ihre Frau verloren haben. Er hat behauptet, dass Sie durch die Tragödie Ihre Bestform eingebüßt hätten und sich nicht einmal dazu aufraffen könnten, sich wieder mit einer Frau zu verabreden. Das würde zeigen, dass Sie sich noch lange nicht von der Tragödie erholt hätten.“

Dass AJ Jessicas Tod für sich nutzte, ließ Wut in Liam aufsteigen. Und die steigerte sich noch, als ihm klar wurde, wie effektiv diese Taktik war. Klienten wollten einen Mann in Bestform, der sich um ihre Aufträge bezüglich der Sicherheit kümmerte, keinen Mann, der sich immer noch in Trauer und Schuldgefühlen erging.

Das schlechte Gewissen und die Trauer über das, was hätte sein können, quälten ihn auch fünf Jahre nach Jess‘ Tod noch. Das Wissen darum, dass ihre Ehe eine Katastrophe gewesen war, für die er die Verantwortung trug. Er hatte ihre Liebe genommen, ohne etwas zurückzugeben, und auf diese Weise zugelassen, dass Jess ihr tragisch kurzes Leben an ihn verschwendete.

Der Beginn ihrer Beziehung war überschattet gewesen von der Krankheit und dem Tod seines Vaters. Dann war eine übereilte Hochzeit gefolgt, weil Jess geglaubt hatte, schwanger zu sein – dabei hatte Liam zu jenem Zeitpunkt schon vermutet, dass ihre Beziehung dem Untergang geweiht war. In seiner Trauer hatte er Anziehungskraft und Zuneigung mit Liebe verwechselt. Jessicas Liebe hatte ihn blind gemacht und ihn glauben lassen, er würde genauso empfinden. Also hatte er den nagenden Zweifel verdrängt … ebenso wie die Erkenntnis, dass er sie nicht liebte. Und natürlich hätte er nie sein Kind im Stich gelassen. Als dann klar geworden war, dass Jess kein Baby erwartete, hatte er bereits gewusst, dass er ihre Liebe nicht zurückweisen würde. Niemals hätte er ihr so wehtun können wie seine Mutter seinem Vater.

Ein paar Jahre später war Jess krank geworden, und ihre letzten Worte an ihn waren Worte der Liebe gewesen. Sie hatte ihn gebeten, nicht zu lange zu trauern und sich wegen ihrer Ehe nicht schuldig zu fühlen. Vielleicht hatte sie ihn mit ihrer Vergebung freisprechen wollen, aber in gewisser Weise hatte es die Last, die er trug, noch schwerer gemacht. Dieses letzte Gespräch hatte sein Herz in Stücke gerissen und ihn voller Trauer und Frustration zurückgelassen. Er hätte alles getan, um Jess mehr Zeit zu geben, damit sie ihre eigenen Träume verfolgen könnte, statt darauf zu warten, dass er ihre Liebe erwiderte. Aber diesen Schmerz würde er niemandem zeigen.

„Danke für die Info“, sagte er. „Ich werde mich darum kümmern.“

„Das weiß ich“, versicherte Rita. „Ich wollte Ihnen noch sagen, dass Sie Besuch haben.“

„Ein möglicher Klient?“

„Ich nehme es an.“ Rita runzelte die Stirn. „Sie kommt mir bekannt vor, trägt aber eine Sonnenbrille und ein Tuch um den Kopf. Und sie wollte mir nicht ihren vollen Namen nennen.“ All das war nicht unüblich. Manchmal wollten Klienten ihre Identität nicht preisgeben oder erkannt werden. „Sie hat nur gesagt, dass sie Ava heißt.“

Ava. Liam musste an sich halten, um keine Reaktion zu zeigen, auch wenn er sich sagte, dass es albern war. Ava war kein so ungewöhnlicher Name – obwohl er für ihn große Bedeutung hatte. Der Name war immer wieder gefallen, als er noch ein Kind gewesen war. Ava Casseveti – die Tochter des Mannes, der seinen Vater betrogen und Terry Rourke in die Verbitterung und den Alkohol getrieben hatte.

Warum, um Gottes willen, sollte Ava hier auftauchen? Für ihn war jeder Casseveti eine unerwünschte Person.

„Führen Sie sie herein“, sagte er dennoch.

Rita nickte und verließ das Zimmer. Liam erhob sich und ging auf und ab, um die Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln.

Eine Minute später klopfte es, Rita öffnete die Tür und ließ eine Frau herein. Eine Designersonnenbrille verdeckte ihre Augen und ein Schal ihre Haare. Ihre Kleidung verriet deutlich ihre gesellschaftliche Stellung: eindeutig teuer, ohne dabei zu auffallend zu sein. Weiße Bluse mit langen Ärmeln und V-Ausschnitt, ein dunkler karierter Rock, der ihre schmale Taille und die langen Beine betonte. Elegant, professionell.

Liam trat zu ihr, während Rita sich diskret zurückzog.

„Liam Rourke“, stellte er sich vor.

Bevor er seine Hand ausstrecken konnte, nahm die Frau ihre Sonnenbrille ab, steckte sie in die Umhängetasche und zog dann das Tuch herunter. Lange blonde Haare umrahmten in perfekt sitzenden Locken ihr herzförmiges Gesicht. Doch was ihn am meisten fesselte, waren ihre Augen. Sie waren ungewöhnlich, wie leuchtender Bernstein mit dunkleren kupferfarbenen Flecken. Zu seinem Leidwesen blieb ihm der Mund offen stehen.

Es war nicht nötig, dass sie sich vorstellte. Das war ganz sicher Ava Casseveti, und sie war atemberaubend. Kein Wunder, dass sie vor ein paar Jahren die Welt der Models im Sturm erobert hatte. Er blinzelte und zwang seine Gehirnzellen, wieder richtig zu arbeiten.

„Ava Casseveti“, sagte sie und streckte die Hand aus – lange Finger und elegante Silberringe am Zeigefinger der rechten und am Mittelfinger der linken Hand, perfekte Nägel in hellem Braun lackiert.

Liam schüttelte ihre Hand und spürte, wie weich ihre Haut war. Bei der Berührung erfasste ihn ein plötzliches Prickeln. Er begegnete ihrem Blick, und für einen flüchtigen Moment sah er einen Anflug von Schock in ihren Augen.

Seltsamerweise war Ava immer ein Teil seines Lebens gewesen. Sowohl als Erzfeindin als auch als Anreiz. Hatte er seinem Vater – und sich selbst – nicht ständig beweisen wollen, dass er Erfolg haben würde, trotz allem, was James Casseveti getan hatte? Er war getrieben davon, es besser zu machen als James Cassevetis Tochter.

All das erklärte diesen Schock und vermutlich auch, warum ihre Finger immer noch ineinander verschlungen waren.

Als hätte sie es auch gemerkt, entzog sie ihm die Hand, trat zurück und sah ihn an.

„Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich haben. Bevor ich Ihnen erkläre, warum ich gekommen bin, dürfte ich fragen, ob Ihr Vater jemals von meinem Vater gesprochen hat?“

Bei dieser Frage hätte er beinahe verbittert aufgelacht. Stattdessen neigte er nur leicht den Kopf.

„Ja, das hat er“, bestätigte er.

Täglich. Die Geschichte von James Cassevetis Betrug war gleichsam Liams Gutenachtgeschichte gewesen. Eine Erzählung darüber, wie Terry Rourkes bester Freund ihre Geschäftsidee genutzt hatte, um Ruhm und Reichtum zu erlangen. Dieser Verrat hatte das Leben seines Vaters zerstört, seine Ehe, seinen Job … Der Erfolg von „Dolci“ hatte Terry Rourke gebrochen, und seine Familie war ebenfalls daran zugrunde gegangen.

Er riss sich aus seinen Gedanken und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

„Setzen Sie sich doch. Dann können Sie mir erzählen, warum Sie gekommen sind.“

2. KAPITEL

Während Ava zu dem Stuhl ging, versuchte sie, sich wieder zu fassen und ihre Nerven zu beruhigen. Was, zum Teufel, war nur los mit ihr?

Hör auf, dir etwas vorzumachen, Ava!

Sie wusste genau, was los war. Aus einem unerklärlichen Grund hatten ihre Hormone beschlossen, aus ihrem Schlafzustand zu erwachen und ihre Aufmerksamkeit auf Liam Rourke zu richten.

Fairerweise musste sie einräumen, dass der Mann umwerfend war. Dichte kupferbraune Haare, ein Gesicht, dessen klare Linien Stärke und Entschlossenheit verrieten, feste Lippen, dazu ein großer, muskulöser, geschmeidiger Körper und …

Du lieber Gott, was machte sie da nur? Eine Begutachtung? Dafür war sie nicht hierhergekommen.

Sie sank auf den hochmodernen Stuhl und betete, dieser Mann möge nicht gemerkt haben, wie sie ihn angestarrt hatte.

„Ich möchte Ihnen sagen, dass mein Vater zu Lebzeiten Ihre Familie mir gegenüber nie erwähnt hat.“ Die Worte hatte sie sorgsam einstudiert. „Doch er hat mir einen Brief hinterlassen, den ich nach seinem Tod öffnen sollte. Darin hat er erklärt, dass er Ihrem Vater moralisch unrecht getan hat. Offenbar haben sie zusammen über ein Unternehmen wie ‚Dolci‘ gesprochen, und deshalb hatte er das Gefühl, es sei moralisch nicht richtig von ihm gewesen, ‚Dolci‘ ohne Beteiligung Ihres Vaters aufzubauen.“ Sie stockte und fuhr dann fort: „Ich möchte betonen, dass keine rechtliche Verpflichtung besteht. Es gab keine Partnerschaft und keine bindende Vereinbarung, Ihren Vater miteinzubeziehen.“

„Und warum sind Sie dann hier, wo doch die rechtliche Verpflichtung offenbar mehr zählt als moralische Verantwortung?“ Wut schwang in seiner Stimme mit, und sie konnte es ihm nicht verübeln.

„Das habe ich nicht gesagt. Ich bin hier, weil mein Vater sich moralisch verantwortlich gefühlt hat, aber es wäre dumm von mir, mein Unternehmen nicht zu schützen. Um es klar zu sagen: Ich würde gerne eine Entschädigung anbieten. Ich möchte dem Wunsch meines Vaters entsprechen, sein Verhalten wiedergutzumachen.“

„Wie nobel von ihm.“ Liam machte nicht einmal den Versuch, seinen Sarkasmus zu verbergen. „Leider ist es zu spät. Mein Vater ist vor zehn Jahren gestorben.“

„Das tut mir leid“, sagte sie, und das meinte sie auch so.

Sie hatte sich an der unrealistischen Hoffnung festgehalten, dass sich das Handeln ihres Vaters nicht auf Terry Rourke ausgewirkt hatte. Doch dass Liam verbittert und wütend den Mund verzog, machte diese Hoffnung zunichte und zeigte ihr, wie unzulänglich ihre Worte gewesen waren.

„Eine Entschuldigung wird meinem Vater jetzt nicht mehr helfen. Sie können nicht wiedergutmachen, was Ihr Vater ihm angetan hat.“

„Es muss doch etwas geben.“

„Zum Beispiel?“ Er klang kühl und ein wenig verächtlich.

Doch es war unbedingt erforderlich, dass sie den Wunsch ihres Vaters erfüllte. Sie wusste, dass sie diese Verantwortung nicht einfach abstreifen konnte. Und sie wollte es auch nicht.

„Was ist mit Ihrer Familie? Gibt es etwas, was ich für sie tun kann?“, erkundigte sie sich.

„Nein“, sagte er entschieden. „Meine Mutter hat wieder geheiratet und ist glücklich. Ich will nicht, dass Sie sie belästigen und Erinnerungen wecken, nur damit Sie sich besser fühlen.“

„Das ist nicht der Grund.“ Jetzt war sie wütend. „Vielmehr möchte ich etwas tun, um das wiedergutzumachen, was mein Vater getan hat. Das war sein Wunsch.“

„Warum hat er es dann nicht gemacht?“

Eine gute Frage, die sie allerdings nicht beantworten wollte. Um ehrlich zu sein, war ihr Vater in moralischer Hinsicht immer schwach gewesen. Vielleicht hatte er vorgehabt, die Sache wieder ins Reine zu bringen, es jedoch immer wieder aufgeschoben.

„Das ist jetzt unwichtig. Er hat mich gebeten, für ihn tätig zu werden, und das möchte ich auch tun.“

„Das können Sie nicht. Akzeptieren Sie es einfach – und auch, dass ich Ihre Wohltätigkeit nicht will, weil nichts diesen Verrat wiedergutmachen kann. Die Niederträchtigkeit Ihres Vaters hat meinen zerstört. Er fühlte sich betrogen und war verbittert, und das hat ihn zerfressen. Er fing an, sehr viel zu trinken, hat seinen Job verloren, und seine Ehe ist zerbrochen, während er dabei zusehen musste, wie Ihr Vater immer berühmter und erfolgreicher wurde. Ich sehe ein, dass er sich anders hätte entscheiden können, aber seine Entscheidungen wurden bedingt durch das Handeln Ihres Vaters.“

Ava zuckte zusammen, während ihr klar wurde, dass er recht hatte.

„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gestand sie.

„Dann sagen Sie nichts. Es ist nicht Ihre Schuld, das weiß ich.“ Er rieb über seinen Nacken und stieß die Luft aus. „Aber Sie können nichts tun, um seinen Fehler wiedergutzumachen. Der Mann, dem Ihr Vater das angetan hat, ist tot. Also ist es ein bisschen zu spät dafür. Das Beste, was Sie machen könnten, ist, jetzt zu gehen.“

Ava nickte. Ihr war bewusst, dass allein ihre Gegenwart Erinnerungen in ihm weckte.

Als sie aufstand, erhob er sich ebenfalls, kam um den Schreibtisch herum und geleitete sie zur Tür. Auf halbem Weg blieb sie stehen.

„Einen Moment.“ Sie griff in ihre Tasche und nahm eine Karte heraus. „Hier. Das ist …“

Ihre Worte erstarben auf ihren Lippen, und sie schienen beide zu erstarren. Sie konnte sich nicht mehr rühren, weil er ihr plötzlich so unerwartet nahe war. Der Duft seines würzigen Aftershaves reizte sie, und für einen Moment sah sie auf seinen Mund.

Was machte sie da? Entschieden steckte sie eine Haarsträhne hinters Ohr.

„Darauf stehen meine Daten“, fuhr sie dann fort, wobei sie verärgert merkte, dass ihre Stimme ein wenig zitterte. „Ich weiß, dass ich das, was mein Vater getan hat, nicht wiedergutmachen kann. Aber sollte ich Ihnen irgendwann einen Gefallen tun können, dann melden Sie sich.“

Wahrscheinlich würde das nie passieren.

„Ich meine es ernst“, versicherte sie.

Autor

Nina Milne
<p>Nina Milne hat schon immer davon geträumt, für Harlequin zu schreiben – seit sie als Kind Bibliothekarin spielte mit den Stapeln von Harlequin-Liebesromanen, die ihrer Mutter gehörten. Auf dem Weg zu diesem Traumziel erlangte Nina einen Abschluss im Studium der englischen Sprache und Literatur, einen Helden ganz für sich allein,...
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