Nachts, wenn alle anderen schlafen

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Lara hat alles versucht: den Kopf unters Kissen gesteckt. Laut Radio gehört. Gegen die Decke geklopft. Aber der Mann über ihr scheint ein unermüdlicher Liebhaber zu sein, zumindest den Geräuschen nach. Jetzt reicht’s! Erbost steigt sie eine Treppe höher, um ihn zur Rede zu stellen. Riesenfehler! Denn als Alex öffnet, versteht Lara schlagartig, warum die Frauen reihenweise in sein Bett fallen. Dieser Body, dieser Charme, dieser Sex-Appeal - gehören verboten. Doch warum Alex nachts so schlaflos ist, erfährt Lara erst, als sie unerwartet das Apartment mit ihm teilen muss …


  • Erscheinungstag 05.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719500
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Lara Connor war fest entschlossen, den Markt in Notting Hill mit erlesener Lingerie zu erobern. Aber dieser Traum würde sich nie verwirklichen, wenn ihre French-Cut-Höschen aussahen, als wären sie von einem Schimpansen mit Wurstfingern genäht worden.

Fassungslos starrte sie auf die schiefe Naht in der blassrosa Seide und die verzogene Spitze. Sie knirschte mit den Zähnen, bis ihr der Kiefer wehtat. Und jetzt ging das Hämmern über ihrem Kopf wieder los, so laut, dass die Wut in ihr überschäumte.

Normalerweise hielt Lara sich für einen toleranten, positiven Menschen. Leben und leben lassen, das war ihr Motto. Aber so langsam setzte ihr diese ständige Beschallung aus dem oberen Stockwerk zu. Seit Wochen wurde Nacht für Nacht ihr Schlaf gestört. Die Müdigkeit hatte sie an den Rand ihrer Geduld getrieben. Wenn das noch lange so weiterging, würde es bald Mord und Totschlag geben.

Sie zog den teuren Stoff aus der Nähmaschine, besah sich das Resultat und warf es zusammengeknüllt in den Korb mit den Stoffresten. Da war nichts mehr zu retten. Nur konnte sie es sich nicht leisten, Satin und Spitze zu verschwenden, schließlich hatte sie ihren letzten Penny in dieses Projekt gesteckt. Der Restekorb füllte sich mehr und mehr, und das war allein die Schuld dieses Don Juans von oben, der scheinbar keine Nacht ohne Sex auskommen konnte.

Vor ein paar Wochen hatte das Hämmern und Klopfen in den Rohren eingesetzt, nicht lange, nachdem Lara hier eingezogen war – und genau zu dem Zeitpunkt, als Poppys Bruder vom Militär zurückgekommen und vorübergehend bei seiner Schwester eingezogen war. Poppy gehörte die Wohnung über Lara, und in den letzten fünf Wochen hatte Lara sie und ihre Mitbewohnerin Izzy näher kennengelernt. Aus dem nachbarschaftlichen Grüßen im Treppenhaus war schnell ein regelmäßiger Plausch bei einer Tasse Kaffee im „Ignite“ geworden, dem Café im Parterre des Gebäudes. Beide Frauen waren begeistert von Laras Geschäftsidee. Izzy hatte ihr sogar schon ein paar Teile abgekauft. Es freute Lara, dass sie neue Freunde gefunden hatte, jetzt, da sie in ihrer eigenen Wohnung lebte. Wenn Poppys Bruder Alex nur ein kleines bisschen mehr Diskretion an den Tag legen würde …

Beim Plaudern mit den beiden Nachbarinnen hatte sie einiges über ihn erfahren. Er war wohl so eine Art Kriegsheld, ehrenhaft aus der Armee entlassen, nachdem er lange Frontdienst geleistet hatte. Im ganzen Gebäude kursierte der Klatsch über die endlose Parade von Frauen, die am frühen Morgen in Abendgarderobe und mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen das Gebäude verließ. Es hieß, dass er jede Nacht eine andere mitnahm!

Der logische Schluss ließ also keinen Zweifel daran, was den nächtlichen Lärm verursachte, der ihr die Konzentration und daher auch das Geld raubte, von dem sie ohnehin nichts mehr hatte.

Anfangs hatte Lara noch über den nächtlichen Lärm geschmunzelt. Sein Bett musste genau an der Heizung stehen, sodass die Geräusche durch die Heizungsrohre, die durch das gesamte Gebäude liefen, übertragen wurden. Mit der Zeit jedoch hatte sie die Augen verdreht und genervt – vielleicht auch ein wenig neidisch – gestöhnt. Nicht wegen des Kriegshelden selbst, sondern weil auf diesem Gebiet schon lange nichts mehr bei ihr lief. Das war eben der Preis, den man für ehrgeizige Pläne zahlte. Lara arbeitete nämlich auf ein Ziel hin.

Die nächste Etappe auf ihrer Reise war bereits erreicht – der kleine Pop-up-Laden, den sie für zwei Monate gemietet hatte und in dem sie ihre selbst entworfenen und genähten Dessous ausstellen konnte. Die Miete für das kleine Studio, in dem sie wohnte, hatte zwar ihre gesamten Ersparnisse aufgefressen, aber das war die Sache wert. Hier konnte sie arbeiten, und der Laden lag gleich um die Ecke. Abgesehen davon, dass sie jede freie Minute nähte, musste sie sich auch noch eine Marketingstrategie und die Ladenausstattung überlegen. Sie hatte also genug zu tun und konnte es sich nicht leisten, abgelenkt zu werden.

Vor allem nicht von einem unverbesserlichen Schürzenjäger im oberen Stock. Nein, das mache ich nicht länger mit! Nachts war schlimm genug, aber wenn das jetzt auch noch tagsüber weiterging … Seit einer guten halben Stunde hämmerte der Typ da oben jetzt schon wie wild. Lara hielt es nicht länger aus.

Grimmig schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf.

Es reichte!

Mit stocksteifem Rücken und zusammengebissenen Zähnen stieg Lara die Treppe hinauf. Sie würde Poppys Bruder anständig die Meinung geigen!

Sie kam auf dem Treppenabsatz an … und nicht nur erstarb ihr die wütende Tirade, zu der sie bereits ansetzte, auf den Lippen, sondern ihr blieb auch der Mund offen stehen angesichts dessen, was sie vor der geschlossenen Wohnungstür sah.

Poppys rücksichtsloser Bruder? Berichtigung: Poppys fast nackter, atemberaubend muskulöser und umwerfend attraktiver Kriegsheld-Bruder. Das Einzige, was diesen Wahnsinnskörper bedeckte, war ein kleines weißes Handtuch um seine Hüften. Unter der gebräunten Haut waren alle Muskeln deutlich zu erkennen, der Bizeps, der Waschbrettbauch … Das kurze dunkle Haar war noch feucht vom Duschen. Es kostete Lara ihre gesamte Willenskraft, sich auf sein Gesicht zu konzentrieren, da ihre Augen viel lieber unterhalb seines Halses auf Entdeckungsreise gegangen wären.

Für einen Moment verschlug es ihr tatsächlich die Sprache. Die Gerüchte stimmten also, Poppys Bruder war überwältigend. Doch den Eindruck machte er sofort zunichte, indem er die Faust hob und lautstark gegen die Apartmenttür hämmerte. Es war der Laut, der sie seit einer halben Stunde an den Rand des Wahnsinns gebracht hatte. Und natürlich war es jetzt noch lauter, da sie mehr oder weniger danebenstand. Ihre Kopfschmerzen verstärkten sich.

„Ich würde behaupten“, hob sie mit klirrend kalter Stimme an, „wir können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass jeder, der auf der anderen Seite dieser Tür wohnt, entweder nicht zu Hause oder aber inzwischen längst taub ist.“

Alex Spencer hielt mitten in der Bewegung inne und drehte den Kopf, um die Frau neben sich anzusehen. Ihr dichtes blondes Haar war mit einem Bleistift locker hochgesteckt. Sie hatte volle rote Lippen und große blaue Augen, die faszinierend sein könnten, wenn in ihnen nicht deutlich zu lesen stünde, dass sie ihn am liebsten tot im Straßengraben gesehen hätte. Sie trug eine violette Strickjacke, deren obere offenstehende Knöpfe den Blick auf ein perfektes, schimmerndes Dekolletee freigaben, dazu aufgekrempelte Jeans. Und sie war barfuß. Obwohl er so müde war, dass er kaum richtig sehen konnte, und gerade eine höchst aktive Nacht hinter sich hatte, regte sich sein Interesse.

„Und Sie sind?“, fragte er mit einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue, als wäre es völlig normal, nur von einem knappen Handtuch bedeckt mitten auf dem Hausflur zu stehen, und sie wäre diejenige, die hier fehl am Platz war.

„Das arme Wesen, das direkt hier drunter wohnt“, fauchte sie. „Direkt unter Ihnen.“

Sein müdes Hirn bemühte sich, den Sinn ihrer Worte zu verstehen, doch sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Wegen seiner Schlaflosigkeit hatte er die Nacht zum Tag gemacht und umgekehrt. Eigentlich würde er jetzt seit einer guten Stunde im Bett liegen und versuchen zu schlafen. Daher hing seine Selbstbeherrschung an einem seidenen Faden.

„Wovon reden Sie überhaupt?“

Eine Frage, die er sich besser verkniffen hätte, denn offensichtlich hatte er damit die Schleuse geöffnet. Unwillkürlich wich Alex einen Schritt zurück.

„Ihre nächtlichen Aktivitäten ruinieren mein Leben. Jede Nacht, die ganze Nacht, klopft und hämmert es in den Heizungsrohren, wenn Sie sich mit der Frau vergnügen, die Sie für die Nacht abgeschleppt haben. Ihr Bett steht vermutlich an der Heizung, und die Geräusche ziehen so laut durch die Rohre, als wäre ich mit Ihnen in einem Zimmer. Das ist die pure Rücksichtslosigkeit! Ich höre jede Bewegung, und ich halte das nicht mehr aus!“ Sie presste die Hände an die Schläfen, als müsste sie ihren Schädel vor dem Explodieren bewahren. „Ich kann solche Ablenkungen jetzt wirklich nicht gebrauchen. Mir bleibt noch eine Woche, bevor ich meinen Laden aufmache, und wenn ich nicht endlich eine Nacht durchschlafe, werde ich verrückt!“

Die blauen Augen blickten tatsächlich leicht irre, und Alex verspürte unerwartet so etwas wie Verständnis. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie sehr mangelnder Schlaf einen quälen konnte. Denn Schlaf fehlte ihm, seit er zurück war – mit Zwischenstopps in Klinik und Reha-Zentrum. Er war verwundet worden, als er über einen versteckten Sprengsatz gefahren war, und inzwischen hatte er auch erfahren, dass er nicht mehr zurückgehen würde. Kriegsverletzungen waren eine Sache, eine ganz andere war es, wenn sie das abrupte Ende einer Karriere bedeuteten. Er hatte nicht aus der Armee entlassen werden wollen, ob nun ehrenhaft oder nicht. Und dass er nachts nicht schlief wie ein Baby, lag einfach daran, dass er im Moment viel auf dem Tablett hatte – redete er sich zumindest ein.

„Der Laden?“, fragte er.

„Ich bin dabei, einen Pop-up-Shop auf der Portobello Road aufzuziehen. Mein erster Anlauf für einen festen Verkaufssitz statt der Stände auf den Wochenmärkten. Es muss unbedingt ein Erfolg werden, und das lasse ich mir durch nichts, auch nicht durch Ihre Libido, verbauen!“

Was sie sagte, erinnerte ihn daran, wie ziellos seine eigene Zukunft im Moment vor ihm lag. Allerdings ruinierte seine Schlaflosigkeit sein Leben nicht, er hatte nur noch keinen genauen Plan. Und wenn seine Routine dahin war … wen interessierte das schon? Momentan bestand seine nächste Umgebung aus seiner Schwester und einer Freundin von Poppy sowie einem alten Freund, mit denen er zusammenwohnte. Wobei Letzterer nur selten anwesend war. Auswirkungen von mangelndem Schlaf standen also nicht unbedingt ganz oben auf seiner Prioritätenliste. Schon allein deshalb nicht, weil ihn – wenn er denn einmal schlief – Albträume quälten.

Nachdem die Granatsplitter operativ entfernt worden waren und nach vier Monaten Reha war er körperlich wiederhergestellt und praktisch so gut wie neu. Er hatte hart an sich gearbeitet, um die alte Kondition wiederzuerlangen. Vor allem aber hatte er damit gerechnet, dass die Sache damit abgeschlossen wäre. Mit Albträumen hatte er nicht gerechnet. Davon wusste jedoch niemand, nicht einmal Poppy hatte er es erzählt. Er hoffte darauf, dass die Träume irgendwann aufhören würden, wenn er Schlaf vermied. Die wachen Stunden füllte er mit Aktivität. Dazu nutzte er den derzeitigen Mangel jeglicher Disziplin, die sein Leben bisher immer bestimmt hatte, erst im Internat, dann beim Militär, weidlich aus. Zum ersten Mal überhaupt stürzte er sich in eine Welt, die nur aus Spaß und holder Weiblichkeit zu bestehen schien. Die Frauen sanken ihm nämlich zu Füßen, ohne dass er sich anstrengen musste.

Außer vielleicht diese hier.

„Wenn das so weitergeht, verständige ich das Ordnungsamt oder noch besser die Polizei“, sagte sie gerade. „Können Sie Poppy nicht einfach anrufen?“

Mit beiden Händen deutete er auf das schmale Handtuch. „Sieht das aus, als hätte ich ein Handy dabei? Und wenn meine liebe Schwester endlich ihren lahmen Hintern aus dem Bett schwingen würde, bräuchte ich keinen Lärm zu machen“, schrie er gegen das Türblatt und hämmerte zur Bekräftigung noch einmal mit der Faust dagegen.

Woraufhin die irre Nachbarin von unten steif wurde wie ein Brett. „Wollen Sie wohl endlich mit dem Hämmern aufhören!“, brüllte sie und warf die Hände in die Luft. „Poppy ist offensichtlich nicht zu Hause, sondern arbeiten. Sie erwähnte etwas davon, dass sie diese Woche Bereitschaftsdienst hat.“

Diese Information ließ Alex abrupt erstarren. Das hieß, dass es noch Stunden dauern konnte, bis Poppy zurückkam. Und er konnte kaum eine Ärztin aus ihrem Dienst her zitieren, nur weil er sich nach seinem neuesten Abenteuer dummerweise ausgesperrt hatte. Izzy, die bis vorgestern ebenfalls in der Wohnung gelebt hatte, war gerade ausgezogen, und die einzige andere Person, die einen Schlüssel hatte, war sein Freund Isaac, der die Wohnung aber praktisch nur als Übernachtungsmöglichkeit nutzte und meistens unterwegs war. So wie auch aktuell: Er reiste quer durch Europa, um neue Locations zu erkunden, wo er demnächst noch einen seiner bekannten In-Clubs eröffnen könnte.

Alex blieb also nichts anderes übrig, als sich den Tatsachen zu stellen. Er konnte hier auf dem Flur auf Poppys Rückkehr warten, nur mit einem Handtuch bekleidet, oder sich bei der Nachbarin einschmeicheln. Auch wenn sie wirkte, als würde sie seinen Kopf lieber auf einem Pfahl aufgespießt sehen.

Also trat er als Erstes von der Tür weg, denn er ahnte, dass seiner Entschuldigung die nötige Wirkung fehlen würde, wenn er noch immer in unmittelbarer Nähe derselben stand.

„Hören Sie, es tut mir leid. Wie heißen Sie eigentlich?“

Seine plötzliche Liebenswürdigkeit machte sie misstrauisch. Sie kniff die Augen zusammen. „Lara Connor.“

„Hi, Lara. Ich bin Alex.“

Nicht die Spur eines Lächelns, nur ein knappes Nicken. Also strengte er sich etwas mehr an und zog ein reuiges Gesicht. „Mir war nicht klar, dass ich jemanden störe. Bisher hat sich niemand beschwert.“ Im Gegenteil, er hatte Mühe, sich aus dem nächsten Date mit der jeweiligen Dame herauszuwinden. Schließlich hatte er keinesfalls vor, sich den Spaß, den er im Moment hatte, durch so etwas wie eine feste Beziehung zu verderben.

„Niemand sonst beschwert sich, weil niemand sonst direkt unter Ihrem Zimmer schläft. Und ich will keine Entschuldigung von Ihnen, sondern die Versicherung, dass Sie diesen Lärm einstellen.“

„Natürlich. Ich werde das Bett weiter von der Heizung wegrücken.“

Lara bemerkte, dass er nicht zusagte, die Parade der wechselnden Frauen zu beenden. „Gut. Und wie sieht es mit jetzt aus? Sie können nicht endlos gegen die Tür hämmern. Wie wollen Sie die Zeit überbrücken, bis Poppy zurückkommt?“

Resigniert hob er die Schultern. „Ich werde wohl warten müssen. Es sei denn, Sie erbarmen sich meiner.“

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Wohl eher nicht.“

„Aber das kann noch Stunden dauern. Und ich habe nicht einmal ein T-Shirt.“ Mitleid heischend sah er sie an.

„Pech. Es kann nichts schaden, wenn Sie sich zur Abwechslung auch mal unwohl fühlen.“ Damit wandte sie sich zur Treppe um. Sie wollte ihn noch ein bisschen betteln hören, bevor sie ihm anbieten würde, in ihrer Wohnung zu warten.

Aber ganz offensichtlich war er nicht der Typ für Betteln, denn kaum war sie zwei Stufen hinabgestiegen, da setzte das Hämmern wieder ein. Mit ungläubiger Miene drehte Lara sich auf der Treppe zu ihm zurück.

„Wissen Sie, ich bin nicht wirklich überzeugt, dass Poppy nicht zu Hause ist. Ich denke vielmehr, dass ich nur lange genug klopfen muss, damit mir irgendwann jemand aufmacht.“

Mit der Betonung auf „lange genug“ und „irgendwann“ machte er sehr deutlich, dass er notfalls den ganzen Tag an die Tür hämmern würde.

Schäumend vor Wut starrte Lara ihn an und erkannte die Herausforderung in seinen Augen. Wenn sie heute noch etwas schaffen wollte, müsste sie nachgeben. Sie würde vernünftig bleiben müssen, obwohl sie ihn am liebsten in der Luft zerrissen hätte. Aber in ihrem eigenen Interesse würde sie nachgeben und damit die Überhand behalten. Und nein, sie würde nicht auf sein Niveau herabsinken. Allerdings sollte er sich ja nicht einbilden, das hier wäre schon vorbei.

„Also dann“, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu.

Nach einem Moment sah sie über die Schulter zurück zu ihm. Von den zwei Stufen Höhenunterschied hätte sie einen fantastischen Blick auf seinen fast nackten Körper haben können, doch sie zwang sich, ausschließlich in sein Gesicht zu sehen. „Kommen Sie schon, Sie können in meiner Wohnung warten. Ich habe Besseres zu tun, als hier zu stehen und zu streiten. Sie können mein Telefon benutzen, vielleicht erwischen Sie Poppy ja.“ Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Sie konnte jetzt wirklich keinen halb nackten Soldaten in ihrer winzigen Wohnung gebrauchen, wenn überall Dessous verstreut lagen und noch fertig genäht werden mussten. „Oder Izzy. Irgendwo muss ich ihre Nummer haben. Vielleicht hat sie ja noch einen Schlüssel.“

Die Hand auf dem Geländer, stieg sie würdevoll die Treppe hinab. Sollte der Mann es jedoch wagen, irgendeinen triumphierenden Kommentar abzugeben, wäre sie vielleicht doch noch versucht, die Polizei zu verständigen.

2. KAPITEL

Alex folgte Lara die schmale Treppe hinunter in ihr Apartment. Hatte er bisher gedacht, BHs auf der Wäscheleine über der Badewanne in Poppys Wohnung überschritten die Grenze, dann bot sich ihm hier ein ganz anderes Bild.

An der einen Seite des Zimmers standen zwei Rollständer, die sich fast vor Kleidung bogen. Und nicht etwa simple Kleidung, sondern alles aus Seide, Satin und Spitze. Für einen sprachlosen Augenblick konnte er einfach nur stehen und starren. An der anderen Wand waren Stoffballen gestapelt, in der Mitte stand ein riesiger Zuschneidetisch mit zwei Nähmaschinen.

„Leben Sie allein hier?“, fragte er, als sie durch den vollgestopften Raum zur Kochnische ging. Im Vergleich zu Poppys großzügiger Wohnung war das hier ein Schuhkarton.

Lara nickte. „Es ist ein Studio. Viel Platz gibt es nicht, aber das wird wettgemacht durch die Nähe zu meinem Laden.“ Sie deutete auf das Sofa. „Setzen Sie sich ruhig. Ich koche frischen Tee.“

„Und was genau machen Sie?“ Er musste erst einen Haufen Seide und Spitze zur Seite schieben, bevor auf dem Sofa Platz für ihn war.

Lara hantierte in der Küche, und Alex sah sich um. In der Ecke gab es noch eine Tür, das musste ihr Schlafzimmer sein, wenn sie, wie sie behauptete, direkt unter seinem Zimmer schlief.

Irritiert schüttelte er den Kopf. Was interessierte es ihn, wo und wie sie ihre Nächte verbrachte? Er war nur hier, bis er wieder in die Wohnung zurückkehren konnte. Das war besser, als im Hausflur zu warten. Er wollte gar nichts über die nervtötende Nachbarin von unten herausfinden. Also lehnte er sich im Sofa zurück – und zuckte zusammen, rutschte ein Stück zur Seite und zog eine pinke Federboa unter seinen Schenkeln hervor. Großer Gott.

„Ich entwerfe und schneidere meine eigene Lingerie-Linie.“ Der Anflug von Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Slips, Hemdchen, Negligees, Bustiers, Korsagen, Mieder.“ Sie zählte an den Fingern ab. „Inspirieren lasse ich mich vom frühen Hollywood-Glamour. Ich möchte die weibliche Figur zur Geltung bringen.“

Sie hätte genauso gut Chinesisch sprechen können. Schon seit Wochen fühlte Alex sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Während der letzten Jahre hatte er in Kasernen und auf Feldbetten geschlafen – wenn solch ein Luxus geboten wurde –, und jetzt wohnte er plötzlich mit zwei Frauen zusammen. Noch immer kam es ihm vor, als wäre er auf einem fremden Planeten gelandet. Alles war parfümiert. Wirklich alles. Unterwäsche hing über den Heizkörpern, der Kühlschrank war voll mit fettarmem Joghurt, Hummus und anderen Dingen, deren Anblick allein reichte, damit sich ihm der Magen umdrehte. Die Gesprächsthemen blieben ihm ein völliges Rätsel, und im Bad standen alle möglichen Tiegel und lagen alle möglichen Tuben. Aus lauter Verzweiflung hatte er seinen alten Schulfreund zur Unterstützung in die Wohnung geholt. Doch einen wirklichen Unterschied machte es nicht, weil Isaac ständig unterwegs war. Alex bewegte sich also so oder so schon auf unbekanntem Gebiet, aber dieses Zimmer voller Dessous warf ihn geradezu um.

„Seit Ewigkeiten ziehe ich von Wochenmarkt zu Wochenmarkt und habe mir so einen Stammkundenkreis aufgebaut. Ich habe auch einen Blog“, erzählte Lara weiter. „Boudoir Fashionista.“

„Einen Blog?“ Dieses Gespräch wurde immer bizarrer. Alex lehnte den Kopf auf die Sofalehne. Die Kopfschmerzen wurden mit jeder Minute schlimmer.

„Ja.“ Sie rumorte weiter in der Küche, ohne sich umzudrehen. „Ich präsentiere meine Lingerie, chatte über Mode und Schönheit. Schon seit Längerem wollte ich mich vergrößern, aber eine eigene Boutique ist eine Rieseninvestition und auch ein Risiko. Also habe ich mich schlau gemacht über Pop-up-Shops.“

Er erwiderte nichts. Ihre Stimme war sanft, ja melodisch. Er hielt die Augen geschlossen und hoffte, so die Kopfschmerzen – eine Nebenwirkung seines verdrehten Rhythmus’ – in Schach halten zu können.

„Das ist eine kurzfristige Sache und daher auch ein geringes Risiko. Solche Läden werden jetzt überall aufgezogen, das ist ein neuer Trend. Man mietet ein leeres Ladenlokal an, manchmal sogar nur für einen Tag. Als ich den Shop direkt auf der Portobello fand, konnte ich mein Glück kaum fassen. Für zwei Monate habe ich ihn angemietet, das ist perfekt für die Vorweihnachtszeit und lange genug, um zu sehen, wie viel Resonanz ich bekomme.“

Lara rührte ein letztes Mal in der Teekanne. Sie hielt sich in der Küche auf, weil es ihr half, ihre Gedanken von der Tatsache abzulenken, wie viel kleiner ihre so oder so schon winzige Wohnung mit der Anwesenheit dieses Mannes schien. Sie würde ihm eine Tasse Tee anbieten und dann versuchen, Izzy zu kontaktieren. Die Vorstellung, dass sie ihn den ganzen Tag um sich haben könnte, verursachte ihr ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie hatte unendlich viel zu tun und schon jetzt eine Stunde ihrer Zeit verschwendet, weil sie sich als hilfreiche Nachbarin betätigte. Mit den Teebechern in der Hand drehte sie sich um … und das kleine Lächeln auf ihren Lippen erstarb.

Er schlief tief und fest.

Und er passte so überhaupt nicht auf ihr Sofa zwischen all die Spitzen und Rüschen. Poppys Bruder hatte den perfekten männlichen Körper, wie man ihn eigentlich nur in Männermagazinen sah. Breite Schultern, schmale Hüften, alle Muskeln perfekt ausgebildet.

Für einen Moment studierte Lara ihn. Im Schlaf war nichts von der Angriffslust, mit der er ihr seine geheuchelte Entschuldigung angeboten hatte, zu bemerken. Sein militärisch kurzes Haar war inzwischen trocken. Sein markantes Gesicht war auf klassische Art attraktiv – hohe Wangenknochen, kantiges Kinn, feste Lippen.

Ihr Blick wanderte weiter, und Lara schnappte leise nach Luft. Das Treppenhaus war eher dämmrig, und die meiste Zeit hatte er ja auch von ihr abgewandt gestanden. Bedachte man zudem, wie sie sich bemüht hatte, ihren Blick ausschließlich auf sein Gesicht zu richten, war es logisch, dass sie seinen Körper nicht genauer gesehen hatte.

Die linke Seite seiner muskulösen Brust war von Narben überzogen. Lara presste die Lippen zusammen. Sicher, sie wusste von Poppy, dass Alex im Einsatz verwundet worden war. Doch sie hatte angenommen – vor allem aufgrund der Aktivitäten in seinem Zimmer –, dass es sich dabei nur um eine leichte Verletzung gehandelt hatte.

Was immer diese Narben verursacht hatte … es war garantiert alles andere als „leicht“ gewesen.

Sie stellte die beiden Becher auf dem Zuschneidetisch ab, ging zu ihm, streckte die Hand aus und wollte ihn an der Schulter wachrütteln. Doch dann bemerkte sie die dunklen Ringe unter seinen geschlossenen Augen. Er sah so völlig erschöpft aus. Kein Wunder. Laut Poppy schlief er kaum. Jetzt jedoch waren seine Atemzüge tief und regelmäßig. Sie zog die Hand wieder zurück.

Warum soll ich ihn nicht schlafen lassen? Sie konnte auch ohne seine Hilfe versuchen, Poppy oder Izzy zu erreichen. Sie zog die Patchworkdecke von der Armlehne. Ihre Pflegemutter hatte sie für Lara genäht. Die Decke war groß und weich und warm. Vorsichtig deckte Lara den schlafenden Mann damit zu. Er rührte sich nicht einmal.

Dann setzte sie sich wieder an die Nähmaschine, ihren Teebecher direkt neben ihrem Ellbogen. Sie musste noch Applikationen an über fünfzig Seidenhöschen anbringen, und das war nur der Anfang.

Stunden waren vergangen, als ein raues Stöhnen vom Sofa Lara zusammenzucken ließ. Sie war so in die Arbeit vertieft gewesen, dass sie ihren Gast vollkommen vergessen hatte. Inzwischen war es später Nachmittag. Es dämmerte, und die kleine Leuchte der Nähmaschine und die Tischlampe waren die einzigen Lichtquellen in dem dunklen Zimmer.

Lara stand auf und sah zu Poppys Bruder, der ausgestreckt auf dem Sofa lag. Er schlief noch immer, und sie wollte sich gerade wieder setzen, als er einen gequälten Schrei ausstieß. Seine Finger krallten sich in die Decke, die sie über ihn gebreitet hatte, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Lara sah auf seine vernarbte Brust. Wohin hatte der Traum ihn geführt? Zurück in ein grausames Kampfgetümmel?

Er zuckte und wand sich unkontrolliert, stöhnte laut. Lara hielt es nicht länger aus. Sie streckte die Hand aus, um ihn aufzuwecken und von den Horrorszenarien zu erlösen, die er im Schlaf durchlebte.

Zuerst spürte Alex eine Berührung an seinem Oberarm. Zurückhaltend, nicht fest. Dann stieg ihm ein Duft in die Nase, frisch und sauber. Blumig, wie Rosen. So hatte es im Ankleidezimmer seiner Mutter gerochen, in dem Raum mit den antiken Möbeln und den vielen Parfümzerstäubern. Bei der Erinnerung zuckte er leicht zusammen. Es war Jahre her, seit er den heimischen Landsitz zuletzt besucht hatte, und er hatte auch nicht vor, in nächster Zeit dorthin zu fahren. Wozu auch? In dem großen Haus, ständig überfüllt mit den verschiedensten Menschen, war es verdammt einsam für ein Kind gewesen.

Er hob die Lider, versuchte, sich zu orientieren. Nicht die Kaserne. Auch nicht sein Zimmer in Poppys Wohnung. Stattdessen ein Raum, für den ihm nur eine Beschreibung einfiel: Boudoir. Und es wurde dunkel.

Seine Gedanken überschlugen sich, als er sich hastig aufsetzte. Alles fiel ihm wieder ein. Er hatte sich aus Poppys Wohnung ausgesperrt. Die Nachbarin von unten hatte ihn mit zu sich in die Wohnung genommen und ihm einen Tee angeboten. Das war das Letzte, woran er sich erinnerte. Er sah an sich herab, als die Patchworkdecke an ihm herunterrutschte. Das kleine Handtuch hatte sich von seinen Hüften gelöst. Eiligst griff er danach und befestigte es wieder. Panik stieg in ihm auf, als ihm klar wurde, dass er in der Wohnung einer Fremden eingeschlafen war und sie in aller Seelenruhe seine Narben hatte studieren können.

Autor

Charlotte Phillips
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