Tausend Tränen und ein Kuss

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Bei Lee findet die junge Witwe Angela ein neues Glück. Bis auch er zurück in den Einsatz muss. Verliert sie zum zweiten Mal einen geliebten Mann?


  • Erscheinungstag 30.01.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521291
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Leland Wolfe Remington bog von der Landstraße ab und fuhr heimwärts nach Wickham Falls in West Virginia. Es war lange her, dass er The Falls als seine Heimat betrachtet hatte, und es war das erste Mal seit zwölf Jahren, dass er als Zivilist zurückkehrte.

Lee bezweifelte, dass er zurückgekommen wäre, wenn seine Schwester Viviana ihn nicht um Hilfe gebeten hätte. Sie hatte das familiengeführte Boarding-House schließen müssen, nachdem ihr Freund sie um ihr Erbe betrogen hatte. Nun musste sie nicht nur befürchten, dass das Haus wegen rückständiger Grundsteuern vom County gepfändet wurde, sondern ihr drohten auch noch Klagen wegen hoher unbezahlter Rechnungen über Einkäufe, die sie nie getätigt hatte. Die bislang letzte Liebe ihres Lebens hatte ihre Identität gestohlen, und nun stand Viviana vor dem Bankrott. Lee hatte ihr vorwerfen wollen, dass sie zu vertrauensselig war, es dann aber doch nicht über sich gebracht, als er sie weinen gehört hatte. Sie hatte ihn angefleht zu kommen, um das Haus zu retten, denn es war alles, was vom Erbe ihrer Mutter noch übrig war.

Lee fuhr jetzt langsamer und wie ein Tourist durch den Ort, mit dem er gute, aber auch schlechte Erinnerungen verband. Es waren die schlechten, die ihn direkt nach der Highschool die Flucht hatten ergreifen lassen. Damals hatte er sich geschworen, niemals dauerhaft hierher zurückzukehren.

Er bremste und hielt am Straßenrand an, als er eine große schlanke Frau sah, die gerade zu einem Minivan vor dem Haus ging, in dem sein bester Freund Justin Mitchell aufgewachsen war. Plötzlich war er wieder hellwach. Er schaltete den Motor ab, stieg aus dem Jeep Grand Cherokee aus und winkte der Frau zu. Sie beschattete mit einer Hand ihre Augen und an der anderen hielt sie ihren Sohn.

„Habe ich mich so sehr verändert, dass du mich nicht mehr erkennst?“, fragte Lee scherzhaft, während er auf sie zuging.

Angela Banks-Mitchell sah ihn verblüfft an. „Lee Remington?“

„Leibhaftig“, bestätigte er lächelnd.

Er fing den neugierigen Blick des kleinen Jungen auf, der den hellbraunen Teint, die dunklen Augen und das lockige Haar seines verstorbenen Vaters geerbt hatte. Malcolm und seine Zwillingsschwester waren noch nicht geboren worden, als Justin auf einer Patrouille in Afghanistan ums Leben gekommen war. Lee hatte gerade die US Army Ranger School absolviert, als er es erfahren hatte, und war sofort nach Wickham Falls zurückgefahren, um als Sargträger an der Beerdigung seines Freundes teilzunehmen. Seitdem war er nicht mehr in seiner Heimatstadt gewesen – bis zu diesem Tag.

„Es gab Gerüchte, dass du schon letztes Jahr zurückkommen wolltest“, sagte Angela nun.

Ihre melodische Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und ihre weit auseinanderstehenden Augen zogen ihn in ihren Bann. Ihr Teint hatte die Farbe von Mousse au Chocolat. Ihre zarten Gesichtszüge, die endlos langen Beine und ihre schlanke Figur hatten sie noch vor dem Highschool-Abschluss zu einem gefragten Model werden lassen. Modedesigner hatten sich um Amerikas Naomi Campbell, wie man Angela schon bald genannt hatte, gerissen. Lee hatte immer das Gefühl gehabt, dass er sie zweimal verloren hatte: einmal an Justin und einmal an die glamouröse Welt der High Fashion Models.

Die Jahre hatten es mehr als gut mit Angela gemeint. Ihr Gesicht war genauso schön wie früher, während ihr Körper mittlerweile weiblichere Rundungen bekommen hatte.

Lee legte ihr eine Hand auf die Schulter. Wenn das Kind nicht dabei gewesen wäre, hätte er Angela wahrscheinlich auf die Wange geküsst. Ihm fiel auf, dass ihr Mund zwar lächelte, aber in ihren dunkelbraunen Augen eine tiefe Traurigkeit lag.

Sein Blick fiel unwillkürlich auf ihre linke Hand. Obwohl sie verwitwet war, hatte sie ihre Ringe nie abgelegt.

„Mir war etwas dazwischengekommen.“ Lee verspürte Gewissensbisse, weil er nach Justins Beerdigung nicht mit Angela in Kontakt geblieben war.

„Wie lange bleibst du denn?“, fragte sie.

Er nahm die Hand von ihrer Schulter. „Ich weiß noch nicht.“ Seine Schwester hatte ihn schon im letzten Frühjahr gebeten zu kommen, doch er hatte ihr absagen müssen. Er hatte es nur nicht über sich gebracht, ihr den wahren Grund dafür zu nennen – dass er im Mittleren Osten und anschließend in einem kriegszerrütteten afrikanischen Land stationiert worden war.

„Vielleicht einen Monat oder zwei?“

Lee starrte auf seine Stiefelspitzen, bevor er den Kopf hob. „Sagen wir einfach, bis auf Weiteres.“ Er verriet Angela nicht, dass er sich eine Frist von einem Jahr gesetzt hatte, um das Boarding-House wieder zum Laufen zu bringen, ehe er sich neu bei der Armee verpflichtete.

„Hast du die Army verlassen?“

Er neigte den Kopf. „Ja, das habe ich … fürs Erste.“

„Aber … aber ich dachte, du wärst Berufssoldat.“

Lee lächelte schief. „Das Leben kann einem die schönsten Pläne durchkreuzen.“ Kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, bereute er ihn auch schon. „Es tut mir leid.“

Angela schüttelte den Kopf. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Die Pläne, die wir als Teenager gemacht haben, sind längst nicht mehr gültig.“

Er nickte. Sie hatte recht. Er, Angela und Justin hatten mit sechzehn ihre Zukunftswünsche aufgeschrieben und die Zettel in einen Umschlag gesteckt, den sie versiegelt und erst einen Tag vor ihrer Highschool-Abschlussfeier wieder geöffnet hatten. Lee hatte sich seinen Wunsch erfüllt, zum Militär zu gehen, und Angela war wie erhofft als Model erfolgreich geworden. Nur Justin war von seinem Ziel, Arzt zu werden, abgewichen. Er hatte das Medizinstudium nach einem Jahr abgebrochen, um sich bei den Marines zu verpflichten.

Lees Blick schweifte zu dem kleinen Jungen, der zu ihm hochschaute. „Hallo, Kumpel.“

Das Kind runzelte leicht die Stirn. „Ich bin kein Kumpel, ich heiße Malcolm.“

Lee lächelte breit. „Ein kluger Junge“, sagte er mit gedämpfter Stimme zu Angela.

Angela starrte ihren Sohn an. Ihre Kinder waren immer geradeheraus, was ihre altmodische Schwiegermutter extrem störte, die der Meinung war, dass Kinder gesehen, aber nicht gehört werden sollten. „Malcolm, sag Mr. Lee bitte Hallo.“

Malcolm blinzelte langsam. „Hallo, Mr. Lee.“

Lee ging in die Hocke und gab ihm die Hand. „Schön, dich kennenzulernen, Malcolm.“

„Danke, gleichfalls“, erwiderte der Kleine lächelnd.

Angela musterte Lee. Sie hatte ihn zuletzt auf der Beerdigung ihres Mannes gesehen, und damals war ihr sofort seine hagere Erscheinung aufgefallen. Als sie ihn gefragt hatte, ob er krank gewesen war, hatte er ihr erzählt, dass er während der zweimonatigen, extrem harten Ausbildung zum Army Ranger fast vierzig Pfund abgenommen hatte. Offensichtlich hatte er seitdem nicht einfach nur wieder zugenommen, sondern vor allem viel Muskelmasse aufgebaut. Die kräftigen Oberarme in den aufgerollten Ärmeln seines Tarnanzugs bewiesen es.

Lee war sehr groß, einen Meter neunzig, und so auffallend attraktiv, dass man sich unweigerlich nach ihm umdrehte. Sein Vater war halb Afroamerikaner, halb Cherokee, seine Mutter eine Weiße. Diesen Genen verdankte er den hellbraunen Teint, das rabenschwarze wellige Haar und die blaugrauen Augen. Ihre Mitschülerinnen waren von ihren Eltern vor ihm gewarnt worden – sein gutes Aussehen, gepaart mit dem kriminellen Ruf seines Vaters, hatte ihn in ihren Augen äußerst gefährlich gemacht. Wie der Vater, so der Sohn, hatte Angela die Leute sagen hören.

Aber sie hatte immer gewusst, dass Lee niemals Drogen nehmen würde, weil er erlebt hatte, wie sie seine Familie beinahe vollkommen zerstört hätten. Selbst als viele Jungs anfangen hatten, Marihuana zu rauchen, Alkohol zu trinken oder Pillen zu schlucken, war er stets ein Außenseiter geblieben, und sie vermutete, dass es mit der Drogensucht seines Vaters zu tun gehabt hatte.

Lee richtete sich jetzt wieder auf, und ihre Blicke trafen sich. Sie erinnerte sich an seine Frage, ob er sich sehr verändert hatte. Im ersten Moment hätte Angela Nein gesagt, doch bei näherem Hinsehen bemerkte sie Dinge, die bei ihrer letzten Begegnung noch nicht sichtbar gewesen waren. Um seine Augen hatte sich ein Netz aus feinen Linien gebildet, und die Stoppeln auf seinem schmalen Gesicht mit den hohen Wangenknochen betonten seine Männlichkeit. Jetzt, mit dreißig Jahren hatte ihr Freund keine Spur von Jungenhaftigkeit mehr an sich.

„Wo ist denn deine Tochter?“, fragte er.

„Zoe ist im Haus bei Justins Mutter. Malcolm und ich haben einen Termin beim Zahnarzt.“

Lee neigte den Kopf. „Dann will ich dich nicht aufhalten. Wenn du Zeit hast, ruf mich doch mal an, damit wir uns über alles austauschen können.“

Angela nickte. Es gab so viel, das sie Lee erzählen wollte. Im vorherigen Jahr hatte sie als Empfangssekretärin in einer Arztpraxis angefangen und war danach schnell zur Büroleiterin befördert worden.

„Ich würde dich und deine Schwester gern einmal zum Sonntagsessen einladen. Ich weiß nicht, ob Vivi es erwähnt hat, aber ich habe mein Haus verkauft und bin ein paar Monate vor der Geburt der Zwillinge zu meiner Schwiegermutter gezogen.“

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Nein, das hat sie nicht erwähnt. Ich habe die nächste Zeit nichts vor, also würde ich mich über ein Treffen wirklich freuen.“

Angela erwiderte sein Lächeln. „Ich würde mich gern noch länger mit dir unterhalten, aber wir müssen dringend los, sonst kommen wir zu spät.“ Sie machte eine kleine Pause, bevor sie sagte: „Ich freue mich, dass du wieder zu Hause bist.“

Ein Herzschlag verging, bevor Lee sagte: „Ich mich auch.“

Lee beobachtete, wie Angela ihren Sohn ins Auto setzte. Ihre letzte Begegnung lag zwar Jahre zurück, aber die Zeit hatte nichts an seinen Gefühlen für die Witwe seines besten Freundes geändert. Kurz nach seinem fünfzehnten Lebensjahr war ihm bewusst geworden, dass er sich zu dem Mädchen hingezogen fühlte, das ihm gesagt hatte, dass es ihn wie einen Bruder liebte. Seine Gefühle waren alles andere als brüderlich gewesen, doch er hatte darauf geachtet, sich nicht zu verraten. Als Justin ihm zwei Wochen vor der Highschool-Abschlussfeier anvertraut hatte, dass er und Angela miteinander geschlafen hatten, hatte er gewusst, dass sie nun endgültig für ihn verloren war. Obwohl sie sich gegenseitig versprochen hatten, miteinander in Verbindung zu bleiben, waren er und Justin und Angela getrennte Wege gegangen.

Sie hatten sich nie getroffen, wenn er mal aus familiären Gründen nach The Falls zurückgekommen war. Die einzige Verbindung hatte in gelegentlichen E-Mails oder Chats mit oberflächlichen Updates über das, was in ihrem Leben vorging, bestanden. Lee hatte damals überrascht zur Kenntnis genommen, dass Justin das Medizinstudium abgebrochen hatte, um zum Militär zu gehen. Als er ihn gefragt hatte, warum er seinen Traum, Arzt zu werden, aufgab, hatte Justin ihm geantwortet, dass es eigentlich der Traum seiner Mutter gewesen war, nicht seiner.

Lee schaute Angelas Auto hinterher, bis es um die Ecke verschwunden war. Er bereute es immer noch, dass er keinen engeren Kontakt zu den beiden Menschen, die nicht über ihn gerichtet hatten, weil er Emory Remingtons Sohn war, gehalten hatte.

Für die Männer in seiner Einheit war er Sergeant Remington oder Wolf, aber für die Leute in Wickham Falls war er immer nur der Nachkomme der berüchtigten Wolfes, denen früher die meisten Kohleminen im Johnson County gehört hatten und die bekannt für die Ausbeutung ihrer Arbeiter gewesen waren. Obwohl viele der Minen seit über dreißig Jahren stillgelegt waren, konnte Lee dem Stigma, mit dem sein Nachname behaftet war, einfach nicht entfliehen. Obwohl seine Mutter einen Remington geheiratet hatte, trug er den Namen Wolfe nach alter Tradition als Mittelnamen.

Lee atmete mehrmals tief ein und aus. Nun war er zurück in Wickham Falls, nicht für einen Tag oder eine Woche, sondern für fast ein ganzes Jahr. Diese Zeit würde er sich nehmen, bis er sich wieder als Army Ranger verpflichtete.

Fünf Minuten später bog Lee in die Einfahrt zum Falls House ein. Jahrelang war es als Wolfe Hall bekannt gewesen, aber als es von einer Familienresidenz zu einem Boarding-House umfunktioniert worden war, hatte seine Tante Babs den Namen geändert. Die hundert Jahre alte Südstaatenvilla zeigte unverkennbare Anzeichen des Verfalls. Einige Fensterläden hatten sich aus der Verankerung gelöst, und was einmal als schönstes Haus im Johnson County gegolten hatte, wirkte auf Lee jetzt eher wie ein Schandfleck.

Er parkte in der Nähe von zwei Kutschenhäusern, die zu Gästehäusern umgebaut worden waren, die allerdings ebenfalls einen frischen Anstrich benötigten. Reparaturen standen jedoch nicht ganz oben auf seiner To-do-Liste, sondern ein ernstes Gespräch mit seiner Schwester. Als Erstes mussten sie ermitteln, wie viel Geld sie brauchte, um das Anwesen halten zu können.

Lee stieg aus und ging auf das dreistöckige Gebäude zu. Nach dem Klingeln brauchte er nicht lange zu warten, bis die Tür aufging. Sein Lächeln schwand allerdings schnell, als er die Anzeichen von Stress bei seiner Schwester bemerkte. Sie hatte dunkle Ringe unter den großen hellbraunen Augen, und ihr von schulterlangen schwarzen Locken umrahmtes Gesicht wirkte viel schmaler als sonst, schon beinahe abgezehrt.

Viviana ließ sich sofort von ihm umarmen und weinte stumm. Lee legte das Kinn auf ihren Kopf, streichelte ihr tröstend über den Rücken und wartete, bis sie sich wieder ein bisschen gefasst hatte.

„Du bist tatsächlich gekommen“, sagte sie schniefend an seiner Brust.

Er lächelte. „Das habe ich dir doch versprochen.“

Sie lehnte sich zurück und schaute zu ihm hoch. Er musste plötzlich daran denken, wie sie sich als Kinder gegenseitig getröstet hatten, nachdem der Arzt ihnen mitgeteilt hatte, dass ihre Mutter für immer eingeschlafen war. Obwohl Lee gewusst hatte, dass sie unheilbar krank war, hatte er mit seinen neun Jahren noch nicht verstanden, dass sie nicht mehr für ihn und Viviana da sein würde. Der Verlust ihrer Mutter war durch die Abwesenheit des Vaters nur noch verschlimmert worden. Denn Emory Remington war für den Raubüberfall auf eine Tankstelle zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er hatte ausgesagt, dass er Geld gebraucht hatte, um seinen Dealer zu bezahlen. Lee würde niemals vergessen, wie er sich geschämt hatte, als sein Vater in Handschellen von US Marshals zur Beerdigung seiner Mutter geführt worden war. Emory hatte nicht einmal bei seinen Kindern sitzen dürfen, sondern im hinteren Teil der Kirche bleiben müssen.

„Es tut mir so leid, was ich dir zumute“, sagte Viviana, während ihr wieder Tränen in die Augen stiegen.

Lee zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte ihr das Gesicht ab. Er hatte seiner Mutter versprochen, sich immer um seine kleine Schwester zu kümmern, und das würde er auch tun. „Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, Vivi. Ich werde als Erstes die Steuern zahlen, und danach setzen wir uns zusammen und listen auf, was du sonst noch an Schulden hast.“

Sie nahm das Taschentuch und putzte sich die Nase. „Dieser elende Betrüger hat unter meinem Namen Schulden in Höhe von Tausenden von Dollar gemacht. Ich habe kaum noch genug Geld, um den Strom zu bezahlen.“

Lee umfasste ihr Gesicht. „Habe ich nicht versprochen, mich um dich zu kümmern?“ Sie nickte. „Dann glaub mir, wenn ich dir sage, dass du das Haus nicht verlieren wirst. Gib mir ein paar Tage Zeit, um mich zu akklimatisieren, und dann überlegen wir gemeinsam, wie wir vorgehen. Ich habe sogar schon ein paar Ideen.“

Viviana lächelte jetzt unter Tränen. „Was für Ideen?“

Er küsste sie auf die Stirn. „Das verrate ich noch nicht. Darüber unterhalten wir uns, sobald wir unser finanzielles Problem gelöst haben.“

Sie blinzelte überrascht. „Unser Problem, Lee?“, fragte sie. „Es geht hier nicht um unser Problem, sondern ausschließlich um meins. Ich war es, die sich von einem Schleimer hat einwickeln lassen, ihm vertraut und ihm alles geglaubt hat, bis es zu spät war. Ich …“

„Genug jetzt“, unterbrach Lee sie sanft. „Wir werden nie wieder über deinen sogenannten Freund reden. Der ist Vergangenheit. Ich bin jetzt hier, um dir zu helfen, nach vorn zu schauen. Das Haus steht noch, und mit ein paar Reparaturen wird es bald wieder so gut wie neu sein.“

„Das habe ich ihr auch gesagt.“

Lee erstarrte, als er eine Stimme hörte, die er schon fast vergessen hatte. Langsam drehte er sich zu der Person um, von der er geglaubt hatte, dass er sie nie wiedersehen würde. Es war mindestens zwanzig Jahre her, dass er und Emory Remington sich gegenübergestanden hatten, und diese Begegnungen hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war Emory wie schon zuvor hin und wieder ohne Vorwarnung bei ihnen aufgekreuzt und ein oder zwei Wochen geblieben. Viviana war dann immer außer sich vor Freude gewesen, aber Lee hatte kaum ein Wort mit seinem Vater gewechselt und sich erst wieder entspannen können, wenn dieser gegangen war. Emory schien, wie von einer inneren Unruhe getrieben, nicht lange an einem Ort verweilen zu können. Es gab so viel, was Lee ihm sagen wollte, und das meiste davon war nicht nett, aber seine gute Erziehung verbot es ihm, seine Gedanken offen auszusprechen.

Emory war erst einundfünfzig, wirkte jedoch viel älter. Es lag allerdings nicht so sehr an dem schneeweißen Pferdeschwanz oder an den Fältchen um seine braunen Augen, sondern vielmehr an seinem müden Gesichtsausdruck, der wahrscheinlich auf jahrelangen Drogenkonsum und die Inhaftierung zurückzuführen war. Was sich hingegen nicht geändert hatte, war seine schlanke Gestalt und die stocksteife Haltung eines ehemaligen Marines.

Ein Muskel zuckte in Lees Wange. „Was machst du denn hier?“

Viviana fasste nach seiner Hand und drückte sie fest. „Bitte, Lee, fang jetzt keinen Streit mit ihm an. Wenn du möchtest, kann Daddy in eines der Gästehäuser ziehen.“

Lee sah sie verärgert an. Wenn sie ihm gesagt hätte, dass Emory bei ihr war, wäre er wenigstens auf die Begegnung vorbereitet gewesen. „Nein, das muss er nicht. Mir scheint es eher so, als wäre ich hier der Eindringling. Ich ziehe ins Heritage House.“

„Lee, bitte, bleib“, bat Viviana.

Er zwang sich zu einem Lächeln. „Es ist schon okay, Vivi. Ich brauche sowieso Zeit für mich, um mich wieder an das Leben als Zivilist zu gewöhnen. Ruf mich an, wenn du alle Unterlagen zusammenhast.“

Er ging, stieg in den Jeep und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Es kostete ihn immense Selbstbeherrschung, seinem Vater nicht an den Kopf zu werfen, was er von ihm hielt. Jahrelang hatte er die passenden Worte dafür eingeübt. Doch mit der Zeit war er reifer geworden und hatte nur noch selten an den Mann gedacht.

So gern Lee seiner Schwester auch helfen wollte, die Entscheidung, nach Hause zu kommen, war ihm nicht leichtgefallen, denn er fühlte sich nicht wohl damit, wieder in seiner Heimatstadt leben zu müssen. Es kursierten immer noch alte Geschichten über die Wolfes als gewissenlose Minenbesitzer, die es vorgezogen hatten, ihre Bergwerke zu schließen und die Arbeiter in die Armut zu treiben, anstatt mit verbesserten Sicherheitsbedingungen weiterzumachen. Außerdem erzählte man sich, dass seine Mutter ihre Verlobung mit einem jungen Mann aus guter Familie gelöst hatte, um mit Emory durchzubrennen … einem Künstler, der als Schildermacher jobbte und in seiner Freizeit malte.

Lee bog auf die Straße ab, die zum Heritage House Apartmenthotel führte. Er hätte Viviana anschreien können, weil sie ihn nicht gewarnt hatte, dass Emory bei ihr wohnte, aber das hätte letzten Endes auch nichts gebracht. Sie war nach dem Desaster mit ihrem Ex-Freund emotional unfassbar erschöpft, und sich mit ihr zu streiten würde sie nur noch mehr herunterziehen.

2. KAPITEL

Lee fuhr auf den Parkplatz des Heritage House, schaltete den Motor aus und blieb eine Weile regungslos im Jeep sitzen. Seinen Vater nach zwanzig Jahren überraschend wiederzusehen hatte ihn bis ins Mark erschüttert.

Lee schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wie lange Emory vorhatte, in The Falls zu bleiben, aber er wusste, dass er nicht mit ihm unter einem Dach wohnen könnte. Die Erinnerung daran, wie seine Mutter auf dem Sterbebett um ihren Mann geweint hatte, ließ es nicht zu.

Er schlug die Augen auf und atmete mehrmals tief ein und aus. Das Apartmenthotel, das früher ein Motel gewesen war, war vergrößert und renoviert worden. Er stieg aus, nahm seine Reisetasche und seinen Rucksack aus dem Kofferraum und stieß die Tür zur Lobby auf. Der Mann, der hinter dem Schreibtisch gedöst hatte, stand sofort auf.

„Willkommen, Soldat. Was kann ich für Sie tun?“

Lee lächelte. „Guten Abend. Ich hätte gern eine Suite.“

Der schlanke Mann zog seine Hosenträger zurecht. „Wie lange möchten Sie denn bleiben? Ich frage nur deshalb, weil wir Gästen, die mindestens drei Monate bleiben, besondere Nachlässe anbieten, und für Militärangehörige gibt es zusätzlich noch mal fünfzehn Prozent Rabatt.“

Lee überlegte kurz … Juni … Juli … August. Diese Zeit gab er sich, um sich wieder in das Leben als Zivilist einzugewöhnen, bevor er seine nächsten Schritte planen würde. „Drei Monate“, sagte er schließlich.

„Dann brauche ich eine Kreditkarte und einen Ausweis von Ihnen.“

Lee reichte ihm seine Karte und seinen Militärführerschein.

„Ich habe für Sie eine Suite mit einer komplett ausgestatteten Küche, WLAN, Fernseher in Wohn- und Schlafzimmer und einem Reinigungsservice. Wenn Sie saubere Laken und Handtücher brauchen, hängen Sie einfach den Zettel an die Tür, und jemand wird sich darum kümmern.“

Er machte eine Kopie vom Führerschein und gab ihn Lee zusammen mit der Kreditkarte und zwei Schlüsselkarten zurück. „Sie haben Suite 322. Die Fahrstühle finden Sie links am Ende des Flurs. Wir haben einen Fitnessraum und einen Swimmingpool. Ich weiß nicht, ob Sie die Gegend hier kennen, aber weniger als eine Viertelmeile von hier entfernt gibt es ein paar Restaurants. Die Shopping Mall ist ein wenig weiter, dafür haben wir aber ganz in der Nähe einen Supermarkt. Sie können entweder vor Ort einkaufen oder alles, was Sie brauchen, online bestellen und sich liefern lassen. Danke übrigens für Ihren Dienst.“

Lee hätte dem redseligen Mann sagen können, dass er mehr als vertraut mit der Gegend war, doch er beschloss, ihn bei Laune zu halten. „Es war mir eine Ehre zu dienen“, erwiderte er wahrheitsgemäß. Aber jetzt wollte er dringend in seine Suite, duschen und den Tarnanzug gegen Zivilkleidung austauschen. Er war erst am Morgen aus Übersee zurückgekehrt, hatte dann sein Apartment auf dem Stützpunkt geräumt und sich direkt danach ins Auto gesetzt, um das 75. Ranger Regiment in Fort Benning, Georgia, Richtung West Virginia zu verlassen.

Sobald er sich frisch gemacht hätte, würde er im Internet Lebensmittel bestellen, um den Kühlschrank zu bestücken. Seine Tante Barbara, die jeder Babs nannte, hatte ihm das Kochen beigebracht, und es war etwas, das er gern tat.

Lee liebte die Frau, die die Vormundschaft für ihn und seine Schwester übernommen hatte, ebenso sehr, wie er seine Mutter geliebt hatte. Als sie den Wunsch geäußert hatte, in ein wärmeres Klima zu ziehen, hatte er dafür gesorgt, dass sie und ihr Mann, in eine Golf-Wohnanlage in Arizona ziehen konnten.

Lee schloss die Tür zu seiner Suite auf und war positiv überrascht von der Einrichtung. Verschiedene Grün- und Gelbtöne sorgten für ein tropisches Flair. Er stellte sein Gepäck ab und ging ins ebenso farbenfrohe Schlafzimmer mit einem Kingsize-Bett, einer großen Kommode und Nachttischen. In dem geräumigen Wohnbereich gab es ein kleines Sofa und eine Chaiselongue sowie eine Büroecke mit Schreibtisch und Stuhl. Lee wusste sofort, dass er sich hier wohlfühlen würde. Er warf einen Blick ins Bad und stellte fest, dass er die Wahl zwischen einem Whirlpool und einer Kabine mit Regendusche hatte.

Minuten später stand er vor dem Waschbecken und trug Rasierschaum auf Wangen und Kinn auf. Er hielt kurz inne, als er im Spiegel das Gesicht eines jüngeren Emory erkannte. Manchmal hatte er sich schon nicht mehr erinnern können, wie sein Vater aussah, weil seine Tante alle Fotos von Emory im Haus entfernt hatte. Es war, als ob sie damit die Erinnerung an den Mann, der ihrer Schwester so viel Leid zugefügt hatte, auslöschen wollte.

Lee drehte den Wasserhahn auf, befeuchtete den Rasierer und entfernte dann die Bartstoppeln.

Wie ein Gefangener, der die Tage bis zu seiner bevorstehenden Entlassung herunterzählte, zählte Lee diesen Tag als den ersten als Zivilist. Er hatte noch dreihundertvierundsechzig Tage Zeit, bis die Frist, innerhalb derer er sich wieder verpflichten konnte, ablief.

Angela saß auf einem kleinen Sofa auf der geschlossenen Veranda auf der Rückseite des Hauses ihrer Schwiegermutter und beobachtete ihren Sohn und ihre Tochter beim Zusammensetzen eines großteiligen Puzzles. Sie hatte noch etwas Zeit, bevor sie die Koffer packen musste. Vor ihr lagen vierzehn Tage Urlaub, und die Kinder würden sechs Wochen lang bei ihren Eltern bleiben. Angela war bisher noch nie von ihnen getrennt gewesen, sodass es für sie alle eine vollkommen neue Erfahrung werden würde.

Sie sah zu ihrer Schwiegermutter Joyce Mitchell hinüber, die gerade an einer Patchwork-Decke arbeitete. Joyce, eine attraktive Frau Mitte fünfzig, war seit mehr als zehn Jahren verwitwet. Männer, die sich für sie interessierten, hatte sie stets mit der Begründung abgewiesen, dass sie noch immer um ihren Mann und ihren Sohn trauerte. Angela war noch nicht so lange verwitwet wie Joyce, doch sie war realistisch genug zu begreifen, dass Justin nie mehr zurückkehren würde. Vor jeder neuen Stationierung hatte er ihr beim Abschied gesagt, dass sie nicht den Rest ihres Lebens um ihn trauern sollte, falls er es nicht schaffen sollte.

Autor

Rochelle Alers
<p>Seit 1988 hat die US-amerikanische Bestsellerautorin Rochelle Alers mehr als achtzig Bücher und Kurzgeschichten geschrieben. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Zora Neale Hurston Literary Award, den Vivian Stephens Award for Excellence in Romance Writing sowie einen Career Achievement Award von RT Book Reviers. Die Vollzeitautorin ist Mitglied der...
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