Was wünscht sich bloß ein Milliardär?

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Ein arroganter Milliardär ist das Letzte, was die alleinerziehende Mya braucht. Aber leider ist Giles Wainwright der leibliche Daddy ihrer geliebten Adoptivtochter Lily und setzt alles daran, die Kleine zu gewinnen … Was dann doch etwas mit Myas Herzen macht: Sie verliert es!


  • Erscheinungstag 09.01.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521260
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mya Lawson saß im Arbeitszimmer und sah aus dem Fenster, während sich das Papierausgabefach des Druckers mit den Manuskriptseiten füllte, die sie überarbeitet hatte. Sie wunderte sich immer noch, dass ihr ein weiterer Plot für ihre Romanreihe eingefallen war. Was zunächst als Hobby begonnen hatte, war mittlerweile ihr Beruf geworden, seit sie ihre Stelle als Lehrerin am College aufgegeben hatte, um zu Hause bei ihrem Kind bleiben zu können.

Das Rattern des Druckers, der unaufhörlich Papier ausspuckte, wetteiferte mit dem Geräusch des Regens, der pausenlos an die Fensterscheiben tropfte. Mya stellte sich deshalb schon darauf ein, mit Lily im Haus zu spielen, sobald die Kleine aus dem Mittagsschlaf aufwachte. Unwillkürlich lächelte sie, als ihr Blick auf die Eiche im hinteren Teil des Gartens fiel. Unzählige Male hatten sie und ihre Schwester sich hinter dem dicken Stamm verborgen oder waren hoch in den Baum geklettert, wenn sie mit ihrer Mutter Verstecken gespielt hatten.

Ein melancholischer Ausdruck huschte über Myas Gesicht. Sie und die sieben Monate alte Lily waren die letzten Nachkommen der Familie Lawson in Wickham Falls. Ironischerweise stimmte weder ihre noch Lilys DNS mit der ihrer Namensvetter überein, denn Graham und Veronica Lawson hatten sich nach mehr als zwanzig Jahren kinderloser Ehe zu einer Adoption entschlossen. Sie hatten zuerst Mya bei sich aufgenommen und zwei Jahre später Samantha.

Mya seufzte tief. Ihre Eltern waren tot, Samantha war tot, und jetzt gab es nur noch sie und ihre Nichte.

Ihre Schwester hatte gewollt, dass Mya das Kind in Wickham Falls großzog – einem kleinen Ort mit etwas mehr als viertausend Einwohnern. Dabei hatte Samantha sich immer über das Leben in der Kleinstadt beklagt und es gar nicht erwarten können, erwachsen zu werden und fortzugehen, um die Welt zu sehen. Sie war Flugbegleiterin geworden und hatte viele der Städte und Länder besuchen können, von denen sie immer geträumt hatte.

Sammie, wie Mya sie genannt hatte, war vor einem Monat gestorben, und Mya versuchte immer noch, sich an den Verlust zu gewöhnen. Bei einem ihrer seltenen Besuche in Wickham Falls hatte Sammie ihr offenbart, dass sie in der sechsten Woche schwanger war, obwohl sie verhütet hatte. Sie hatte ihr daraufhin von ihrer Affäre mit einem New Yorker Geschäftsmann erzählt, dessen Namen sie jedoch nicht hatte verraten wollen. Er hatte nichts von dem Baby erfahren sollen, weil er zuvor rigoros erklärt hatte, dass er für eine Ehe oder Vaterschaft nicht bereit war.

Das Klingeln des Telefons riss Mya jetzt aus ihren Gedanken. Unbewusst runzelte sie die Stirn, als sie auf dem Display den Namen der Anwaltskanzlei las, die Sammies letzten Willen beurkundet hatte. Sie hob den Hörer ab.

„Hallo.“

„Ms. Mya Lawson?“

Mya nickte. „Ja, das bin ich.“

„Ms. Lawson, ich bin Nicole Campos, Mr. McAvoys Assistentin. Er bittet Sie, nächsten Donnerstag zu uns ins Büro zu kommen, weil er sich mit Ihnen über die Zukunft Ihrer Tochter unterhalten möchte.“

Myas Stirnrunzeln wurde sofort tiefer. „Worum geht es denn?“

„Es tut mir sehr leid, aber das darf ich am Telefon nicht sagen.“

Ärger und Panik stiegen in Mya auf. Sie wollte nicht noch einmal die Angst durchleben müssen wie zu der Zeit, als das Gericht der Adoption ihrer Nichte noch nicht zugestimmt hatte. „Wann am Donnerstag?“

„Um elf Uhr. Ich schicke Ihnen eine E-Mail und rufe Sie einen Tag vorher noch einmal an, um Sie an den Termin zu erinnern.“

Mya atmete hörbar aus. „Danke.“

Dass ihre Hand zitterte, merkte sie erst, als sie den Hörer wieder auf die Station zurücklegte. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fuhr sich mit den Fingern durch ihr lockiges braunes Haar.

Die Gefahr, Lily an Pflegeeltern zu verlieren, hatte zum Glück niemals bestanden, weil Sammie testamentarisch verfügt hatte, dass Mya das Sorgerecht für das Kind bekommen sollte.

Eine Woche nach der Geburt des hübschen dunkelhaarigen Mädchens hatte Sammie sie gebeten, das Kind wie ihr eigenes großzuziehen. Zuerst hatte Mya geglaubt, dass Sammie unter postpartaler Depression litt. Nichts hätte sie auf die Tatsache vorbereiten können, dass ihre Schwester unheilbar krank war.

Bei Sammie war eine aggressive Form von Brustkrebs festgestellt worden. Mya hatte sich vor ihrer Schwester tapfer gegeben, doch wenn sie allein gewesen war, hatte sie unaufhörlich geweint. Die wunderschöne, temperamentvolle Frau, die das Leben liebte, war mit zweiunddreißig Jahren zum Sterben verurteilt worden, und es hatte nichts gegeben, das Mya für sie hatte tun können.

Gurgelnde Geräusche ertönten jetzt über das Babyphone. Mya schaute auf den kleinen Monitor, über den sie ihre Tochter beobachten konnte. Es war drei Uhr, und Lily war aufgewacht.

Mya stand auf und ging über den Flur ins Kinderzimmer. Lily stand bereits in ihrem Bettchen. Mit fünf Monaten hatte sie sitzen können, mit sechs Monaten hatte sie angefangen zu krabbeln, und jetzt, mit sieben Monaten, konnte sie bereits stehen, aber nur, wenn sie sich an etwas festhalten konnte. Wenn es in diesem Tempo weiterging, würde sie noch vor ihrem ersten Geburtstag laufen können.

Monate vor Lilys Geburt hatten Mya und Sammie zusammen Möbel ausgesucht und das Zimmer eingerichtet. Grün- und Rosatöne wiederholten sich in Decken, Kissen und der bunten Bordüre entlang der altweißen Wände.

„Hey, Püppchen. Hast du gut geschlafen?“

Fröhlich quiekend streckte die Kleine ihre molligen Ärmchen aus, um hochgehoben zu werden. Kaum hatte sie das Geländer losgelassen, plumpste sie auf den Hintern, weinte aber nicht. Mya nahm sie aus dem Bett und rümpfte die Nase, dann küsste sie die feuchten tintenschwarzen Locken. „Da braucht aber jemand dringend eine frische Windel.“

Lily schürzte die Lippen, als wollte sie Myas Miene nachahmen. Mya lächelte das hübsche Mädchen mit den großen himmelblauen Augen an. Lily sah Sammie überhaupt nicht ähnlich, also hatte sie vermutlich die Haar- und Augenfarbe ihres Vaters geerbt.

Mya legte die Kleine auf die Wickelkommode, zog ihr den feuchten Strampelanzug aus und wechselte die Windel. Mya hatte nicht geplant, mit vierunddreißig Jahren Mutter zu werden, doch sie hatte schnell gelernt. Sie hatte Bücher über Ernährung, Zahnen, Topftraining und die Meilensteine Krabbeln, Laufen und Sprechen gelesen. Außerdem hatte sie das Haus kindersicher gemacht – alle Steckdosen waren abgedeckt, es gab Schlösser an Küchenschränken und Schubladen, Kabel waren vom Boden entfernt und alle Möbel mit scharfen Kanten aus dem Weg geräumt worden.

Nachdem sie Lily umgezogen hatte, nahm sie das Baby auf den Arm und küsste es auf die Stirn. „Du wirst langsam ganz schön schwer.“

Auf dem Weg die Treppe hinunter, ergriff Lily einige Strähnen von Myas Haar. „Wenn du weiter an meinem Haar ziehst, werde ich mir Extensions machen lassen müssen.“ Mya hatte sich angewöhnt, ihr Haar entweder zu einem Zopf zu flechten oder zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden, weil ihre Tochter offenbar von der Lockenfülle fasziniert zu sein schien.

In der Küche setzte Mya das Kind in den Hochstuhl, goss Milch in eine Schnabeltasse und reichte sie Lily, die vor Vergnügen quiekte.

Eine Welle von Wärme durchströmte Mya, während sie Lily beim Trinken beobachtete. Ihre Tochter würde ohne ihre leibliche Mutter aufwachsen müssen, aber Mya hatte ein Tagebuch angefangen, in dem sie die Meilensteine des Babys notierte und das außerdem Fotos von Sammie und Postkarten aus den von ihr besuchten Städten enthielt. Wenn Lily alt genug war, um zu verstehen, dass ihre Mutter eigentlich ihre Tante war, würde Mya ihr die Umstände ihrer Geburt ganz genau erklären.

„Giles, Brandt ist auf Leitung zwei.“

Die Stimme seiner Assistentin, die jetzt über die Gegensprechanlage erklang, riss Giles Wainwright abrupt aus seinen Gedanken. Die letzten zwanzig Minuten hatte er damit verbracht, das 3D-Modell und den Grundriss für sechs Häuser mit je drei Schlafzimmern und zwei Bädern auf einer Bahamas-Insel zu studieren, die er kürzlich für die internationale Abteilung der Wainwright Developers Group gekauft hatte.

Er drückte auf eine Taste der Telefonanlage. „Danke, Jocelyn.“ Er aktivierte den Lautsprecher, lehnte sich im Chefsessel zurück und legte die Füße auf die Ecke des antiken Schreibtisches. „Was gibt’s, Cousin?“

„Ich rufe an, um dir zu sagen, dass Ciara und ich endlich einen Termin für die Hochzeit festgelegt haben.“

Brandt Wainwrights Karriere als Profi-Footballspieler hatte abrupt geendet, als er sich bei einem Autounfall beide Beine gebrochen hatte. Private Krankenschwestern hatten sich in seiner Penthouse-Suite die Klinke in die Hand gegeben, bevor Ciara Dennison gekommen war, die sich nicht von ihm hatte einschüchtern lassen. Am Ende hatte Brandt erkannt, dass er seine Seelenverwandte gefunden hatte.

„Na endlich“, erwiderte Giles scherzhaft. „Wann und wo?“

„Am einundzwanzigsten Februar im Family Resort auf den Bahamas. Das ist nach dem Super Bowl, und in der Woche sind Winterferien. Sollte jemand seine Kinder mitbringen wollen, umso besser.“

Giles lächelte. „Ich bin mir sicher, die Kinder haben nichts dagegen, an einem tropischen Strand herumzuhängen, statt im Norden Ski zu fahren.“

Brandt lachte. „Wahrscheinlich hast du recht. Ich werde einige Villen reservieren, um die ganze Familie unterbringen zu können.“

Brandt sprach nun davon, dass die Verwandten wählen konnten, ob sie mit dem Firmenjet, der Platz für achtzehn Passagiere bot, fliegen oder mit der Mary Catherine, der Familienjacht der Wainwrights, anreisen wollten. Giles reiste lieber per Schiff, weil er ohnehin schon zwei- bis dreimal im Monat auf die Bahamas fliegen musste, um dort den Makler zu treffen, der den Verkauf von zwei Dutzend Privatinseln abwickelte, die jetzt der Wainwright Developers Group International, kurz WDG, Inc., gehörten.

Das Gespräch kreiste außerdem darum, dass der Wainwright-Clan weiteren Zuwachs erwartete, weil Jordan und seine Frau Aziza in ein paar Wochen ihr erstes Kind bekommen würden.

Giles nahm die Füße vom Schreibtisch und setzte sich gerade hin, als Jocelyn Lewis leise anklopfte und den Kopf zur Tür hereinsteckte. Sie hielt einen Umschlag in der Hand.

Giles winkte sie herein. „Bleib dran, Brandt, meine Assistentin bringt mir gerade etwas.“

„Ich weiß, dass du zu tun hast, Giles. Wir reden später“, sagte Brandt.

„Liebe Grüße an Ciara.“

„Richte ich aus.“

Giles beendete das Telefonat, stand auf und nahm Jocelyn das Kuvert ab. Er hielt große Stücke auf seine Assistentin, die mit sechsundvierzig Jahren ihre Position als Leiterin einer Kinderbetreuungsstätte aufgegeben hatte, um sich einer neuen Herausforderung zu stellen.

„Wer hat das geschickt?“, fragte er, als er sah, dass Briefmarke und Poststempel fehlten. Unter der Adresse stand persönlich und vertraulich, und der Absender war eine Anwaltskanzlei in Wickham Falls in West Virginia.

„George hat es hochgebracht“, antwortete Jocelyn. „Es ist heute Morgen mit FedEx gekommen.“

Giles nickte. „Danke.“

Er wartete, bis sie das Büro verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe er sich setzte und den Umschlag mit einem Brieföffner aufschlitzte. Stirnrunzelnd las er das Schreiben einmal und dann direkt noch ein zweites Mal. Er wurde zu einer Testamentseröffnung geladen. Der Brief verriet allerdings nicht, um wessen Testament es sich handelte, aber es wurde darum gebeten, dass er anrief, um sein Kommen zu bestätigen.

Er nahm das Telefon zur Hand und wählte die angegebene Nummer. „Hier ist Giles Wainwright“, stellte er sich vor, als sich die Rezeptionistin mit dem Namen der Kanzlei meldete. „Ich habe einen Brief von Ihnen erhalten, in dem ich aufgefordert werde, am nächsten Donnerstag bei Ihnen zu einer Testamentseröffnung zu erscheinen.“

„Bitte bleiben Sie in der Leitung, Mr. Wainwright. Ich verbinde Sie mit Mr. McAvoys Büro.“

Giles trommelte mit den Fingern auf die mit Intarsien verzierte Tischplatte des Mahagonischreibtisches.

„Mr. Wainwright, ich bin Nicole Campos, Mr. McAvoys Assistentin. Rufen Sie an, um den Termin zu bestätigen?“

„Ich kann nichts bestätigen, solange ich nicht weiß, wer mich in seinem Testament erwähnt hat.“

„Es tut mir sehr leid, Mr. Wainwright, aber das darf ich leider nicht sagen.“

Er verharrte regungslos. „Sie erwarten von mir, dass ich von New York nach West Virginia fliege, ohne zu wissen, warum?“

„Jemand aus Ihrer Vergangenheit hat Sie im Anhang seines Testaments erwähnt. Falls Sie nicht kommen wollen, betrachten wir die Angelegenheit als erledigt.“

Giles kramte in seinem Gedächtnis herum. Die einzige Person, die er aus West Virginia kannte, war ein Soldat, der in Afghanistan unter ihm gedient hatte.

Corporal John Foley hatte ein Auge verloren, als er vom Schrapnell einer Granate getroffen worden war. Der junge Marine war mit einem Purple Heart ausgezeichnet und aus gesundheitlichen Gründen aus der Army entlassen worden. Giles betete, dass sich John, der Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung gezeigt hatte, nicht das Leben genommen hatte wie so viele andere Kampfveteranen.

Er dachte einen Moment lang darüber nach, ob er es John oder dessen Familie schuldete, Verbindung mit der Vergangenheit aufzunehmen.

„Okay, Ms. Campos. Ich werde kommen.“

Er hörte an ihrer Stimme, dass sie lächelte, als sie sagte: „Danke, Mr. Wainwright.“

Giles legte auf und ließ sich in den Stuhl zurückfallen. Er war erst vor zwei Tagen von den Bahamas zurückgekehrt und hatte sich eigentlich darauf gefreut, endlich wieder in seinem eigenen Bett zu schlafen und zu hören, was es bei seinen Eltern und Geschwistern Neues gab.

An den meisten Tagen blieb er noch Stunden, nachdem seine Angestellten Feierabend gemacht hatten, im Büro. Dann telefonierte er mit dem Makler auf den Bahamas wegen des Ankaufs weiterer unbewohnter Inseln. An anderen Tagen fanden abendliche Meetings oder Arbeitsessen mit Abteilungsleitern und Managern statt – die alle geborene Wainwrights waren oder in die Familie eingeheiratet hatten.

Die Wainwright Developers Group war das zweitgrößte Immobilienunternehmen im Nordosten, und jeder in der Firma engagierte sich, um es auf dieser Position zu halten oder es sogar zur Nummer eins zu machen.

Giles drehte sich mit dem Stuhl herum und schickte Jocelyn eine E-Mail mit seinen Reiseplänen für den kommenden Donnerstag. Er hatte keine Ahnung, wo Wickham Falls lag, doch nächste Woche würde er es wissen.

Nachdem die Maschine auf dem Flughafen von Charleston in West Virginia gelandet war, stieg Giles aus. Eine Limousine mit Chauffeur wartete schon auf ihn. Jocelyn hatte das organisiert, ebenso wie sie auch eine Hotelsuite für ihn gebucht hatte, weil er nicht wusste, wann er aus Wickham Falls nach New York zurückkehren würde.

Der Fahrer stieg aus und kam auf ihn zu.

„Mr. Wainwright?“

Giles nickte. „Ja.“ Er reichte dem Mann seinen Koffer und die Ledertasche mit seinem Laptop.

Noch immer verspürte Giles ein leichtes Unbehagen, weil er keine Vorstellung davon hatte, was ihn erwartete. Leider konnte er nicht ausschließen, dass John Foley etwas zugestoßen war.

Er zog das Jackett aus, glitt auf die Rückbank des Wagens, streckte die Beine aus und zwang sich, an nichts zu denken. Jocelyn hatte ihn darüber informiert, dass Wickham Falls eine Autostunde von der Hauptstadt des Staates entfernt lag. Er schloss deshalb die Augen und schlug sie erst wieder auf, als der Chauffeur verkündete, dass sie am Ziel angekommen waren.

Giles stieg aus und schlüpfte wieder in sein Jackett. „Ich weiß leider nicht, wie lange der Termin dauern wird“, sagte er zu dem großen und schlanken Fahrer in dem schwarzen Anzug, der ihm eine Nummer zu groß zu sein schien.

„Kein Problem, Mr. Wainwright. Ich werde hier auf Sie warten.“

Giles ließ seinen Blick über das Geschäftsviertel schweifen und lächelte.

Wickham Falls war der Inbegriff einer amerikanischen Kleinstadt. Die Straßen waren gesäumt von Tante-Emma-Läden mit schwarz-weißen Markisen und amerikanischen Flaggen. Es schien so, als ob die Zeit in Wickham Falls vor fünfzig Jahren stehen geblieben war. Es gab weder ein Fast-Food-Restaurant noch einen Drugstore einer großen Kette.

Giles war sich nicht sicher, ob er in einer so kleinen Stadt leben könnte. Er war in New York geboren und aufgewachsen und lebte immer noch dort, und wenn er irgendetwas wollte, brauchte er es nur per Telefon zu bestellen.

Er öffnete die schwere Eichentür der Kanzlei und betrat den Empfangsbereich. Eine Frau mittleren Alters mit einer toupierten Hochfrisur im Stil der sechziger Jahre saß an einem Schreibtisch hinter einer geschlossenen Glasabtrennung. Als Giles näher kam, schob sie die Scheibe auf. Sein erster Eindruck bestätigte sich: Die Stadt und ihre Einwohner waren offenbar wirklich in der Vergangenheit stecken geblieben.

„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“

Giles lächelte. „Ich bin Giles Wainwright und habe um elf Uhr einen Termin mit Mr. McAvoy.“

Sie erwiderte sein Lächeln. „Guten Morgen, Mr. Wainwright. Bitte nehmen Sie Platz. Ich lasse Sie in Kürze abholen und zum Konferenzraum bringen.“

Er nickte. „Danke.“

Giles setzte sich gar nicht erst, sondern blieb mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt stehen. Er hatte an diesem Morgen schon genug gesessen. Erst im Auto auf der Fahrt zum Flughafen, dann im Flugzeug und danach auf der Fahrt nach Wickham Falls. Normalerweise ging er jeden Morgen im Swimmingpool des Apartmenthauses, in dem er wohnte, einige Runden schwimmen.

Schwimmen und Kraftsport halfen ihm, sich zu entspannen und gleichzeitig die körperliche Fitness aus seiner Militärzeit zu erhalten. Der Übergang vom aktiven Dienst zum Büroalltag war fast so etwas wie ein Kulturschock für ihn gewesen, und er hatte über ein Jahr gebraucht, um sich an das Leben als Zivilist zu gewöhnen.

„Mr. Wainwright?“

Er drehte sich um, als er die Stimme der Frau erkannte, mit der er telefoniert hatte. „Ms. Campos?“

Die zierliche dunkelhaarige Frau mit dem Pixie Cut reichte ihm die Hand. „Ja.“

Giles folgte ihr in einen Raum am Ende des Flurs. Dort fiel sein Blick auf eine Frau, die ein schwarzhaariges Baby im Arm hielt. Die winzigen Diamantstecker in den Ohren des Mädchens reflektierten das Licht der Wandlampen. Das quengelige Kind wimmerte und drehte sich nach hinten, um sich dem Griff seiner Mutter zu entwinden.

Giles lächelte, und zu seiner Verwunderung hielt das Baby auf einmal still und starrte ihn mit großen blauen Augen an. Als es gähnte, konnte er die Andeutung von zwei winzigen Zähnen im Oberkiefer erkennen. Die Kleine faszinierte ihn irgendwie. Ihre Augen erinnerten ihn an irgendjemanden.

Er richtete seine Aufmerksamkeit nun auf den Mann, der am Kopf des Konferenztisches saß und dessen weißes Haar einen seltsamen Kontrast zu seinem glatten, jugendlichen Gesicht bildete.

Giles lächelte und nickte. „Guten Morgen.“

„Guten Morgen. Ich bin Preston McAvoy. Bitte entschuldigen Sie, dass ich nicht aufstehe, Mr. Wainwright, aber ich habe mir beim Footballspielen mit meinen Söhnen das Knie ausgekugelt und immer noch Probleme damit.“ Er deutete auf den Platz gegenüber der Frau mit dem Baby. „Bitte setzen Sie sich doch.“

Giles gehorchte, wobei sein Blick dem der Frau begegnete, die ihn mit unglaublich schönen haselnussbraunen Augen ansah. Ihr Teint war karamellfarben. Mit ihren schulterlangen, von goldenen Glanzlichtern durchsetzten braunen Locken, die ihr Gesicht wie eine Mähne umrahmten, wirkte sie majestätisch wie ein Löwe. Eine leichte Falte bildete sich zwischen ihren Brauen, als sie ihn musterte. Er fragte sich, ob sie ihn vielleicht zufällig auf einer seiner vielen Reisen gesehen hatte, wohingegen er sich sicher war, dass er ihr nie zuvor begegnet war – er selbst hätte sie niemals vergessen, denn sie war atemberaubend schön.

Preston räusperte sich nun und öffnete den Aktenordner, der vor ihm lag. Er schaute zuerst Giles an und dann die Mutter des Babys. „Es tut mir sehr leid, dass meine Assistentin Ihnen aus rechtlichen Gründen vorher nicht sagen durfte, warum Sie hier erscheinen sollten.“ Er nahm einen Umschlag aus dem Ordner, zog ein einzelnes Blatt Papier heraus und warf einen bedeutungsvollen Blick in die Runde. „Dies ist ein Anhang zum Testament von Samantha Madison Lawson.“

Giles erstarrte augenblicklich. Der Name beschwor das Bild einer Frau herauf, die eines Tages plötzlich spurlos aus seinem Leben verschwunden war. Jetzt wurde ihm klar, dass er nicht wegen eines früheren Kameraden nach Wickham Falls gekommen war, sondern wegen einer Frau, mit der er über ein Jahr lang eine On-Off-Beziehung geführt hatte.

„Vor ihrem Tod“, fuhr Preston fort, „hat Ms. Lawson testamentarisch verfügt, dass ihre Schwester Mya Gabrielle Lawson Vormund ihrer Tochter Lily Hope Lawson wird. Ms. Samantha Lawson erteilte mir im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte die Anweisung, den Inhalt dieses Anhangs erst einen Monat nach ihrem Ableben zu verkünden.“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause und las danach den Inhalt vor.

Giles, ein ehemaliger Captain des US Marine Corps, der unter seinem Befehl Männer in möglicherweise todbringende Schlachten geführt hatte, bekam seine Panik jetzt einfach nicht in den Griff. Im Raum herrschte nun angespanntes Schweigen, als Preston zu Ende gelesen hatte.

Ich bin Vater! Die Frau, die Giles gegenübersaß, hielt gerade seine Tochter in den Armen. Er hatte keinen rechtlichen Anspruch auf das Kind, aber die leibliche Mutter hatte ihm in ihrem Testament ein Umgangsrecht garantiert. Er durfte Lily in den Schulferien und an langen Wochenenden, an Thanksgiving, Weihnachten und einen Monat im Sommer sehen, wobei aber alle Besuche vorher von Mya Gabrielle Lawson genehmigt werden mussten.

Langsam schüttelte er den Kopf. „Das wird nicht passieren.“ Die Worte trieften nur so vor Gift und Verbitterung.

„Was wird nicht passieren?“, fragte Preston verwirrt.

„Niemand wird mir vorschreiben, wann und wo ich meine Tochter sehen darf.“

„Sie haben es doch gerade gehört.“ Die Frau, die das Kind hielt, hatte zum ersten Mal gesprochen.

2. KAPITEL

Mya war sich sicher, dass die anderen hörten, wie heftig ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte. Sie war nicht fähig gewesen, sich zu bewegen oder auch nur einen Laut von sich zu geben, als der große schwarzhaarige Mann mit den eisigen blauen Augen den Konferenzraum betreten hatte. Sie hatte auf den ersten Blick erkannt, dass dieser Mann Sammies Ex-Lover und Lilys Vater war. Er starrte sie ununterbrochen auf eine Art an, die absolut einschüchternd war, doch sie würde sich nicht einschüchtern lassen, weil er rechtlich überhaupt keinen Anspruch auf ihre Tochter hatte.

„Da irren Sie sich“, sagte Giles in einem leisen und drohenden Tonfall. „Als Lilys leiblicher Vater kann ich auf ein gemeinsames Sorgerecht klagen.“

„Wenn Sie das tun, werden Sie mit Sicherheit verlieren“, entgegnete Mya kalt.

Preston räusperte sich. „Ich fürchte, Ms. Lawson hat recht, Mr. Wainwright. Nach der aktuellen Gesetzeslage haben Sie keinerlei Anspruch auf das Kind. Aber sehen Sie es doch positiv, dass die Mutter des Babys den Wunsch hatte, dass Sie regelmäßigen Kontakt zu Ihrer Tochter haben sollen.“

Giles sah Preston durchdringend an. „Eine Frau hat mein Kind bekommen und hielt es nicht einmal für nötig, mich darüber zu informieren, und Sie erlauben ihr, noch vom Grab aus die Strippen zu ziehen und so das Leben anderer zu manipulieren?“

Autor

Rochelle Alers
<p>Seit 1988 hat die US-amerikanische Bestsellerautorin Rochelle Alers mehr als achtzig Bücher und Kurzgeschichten geschrieben. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Zora Neale Hurston Literary Award, den Vivian Stephens Award for Excellence in Romance Writing sowie einen Career Achievement Award von RT Book Reviers. Die Vollzeitautorin ist Mitglied der...
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