Zärtliche Träume in Sydney

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Geld, Erfolg im Beruf, ein Traumhaus mit Blick über Sydney – und trotzdem unglücklich? Der attraktive Neurochirurg Bryn Dalton ist ein Rätsel für Tierärztin Kiara. Erst als sie herausfindet, was der Einzelgänger verbirgt, sieht sie ihn plötzlich mit anderen Augen …


  • Erscheinungstag 06.02.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536820
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mein Bruder ist ein selbstherrlicher Idiot. Er ist ein sehr guter Chirurg, aber seine Sozialkompetenz lässt stark zu wünschen übrig. Und jetzt ist er verletzt, weil er den Helden spielen musste und nicht auf den Rettungsdienst gewartet hat. Er hat die Betreuung seiner – unserer – Nichte übernommen, aber in seinem Zustand ist er der Letzte, der sich für die Rolle eignet.“

Vor zwei Tagen war die Frau unangekündigt in Dr. Kiara Brails Tierklinik und Auffangstation aufgetaucht. Sie hatte sich als Lady Beatrice Stonehouse vorgestellt und fast wie die Karikatur einer englischen Adligen gewirkt – eine untersetzte Frau, die trotz des herrlichen australischen Frühlingswetters ein Tweedkostüm und derbe Schuhe getragen hatte und es offenbar gewohnt war, Anweisungen zu erteilen.

„Ich muss nach England zurückkehren“, hatte sie verkündet. „Ich bin nur hergeflogen, um mich um das Kind zu kümmern, bis mein Bruder aus dem Krankenhaus entlassen wird. Mein Mann hat meine Pferde und meine Hunde jetzt lange genug betreut, aber ich kann die beiden hier nicht einfach zurücklassen, ohne dass sie sich an etwas festhalten können. Meiner Meinung nach sind ein Hund oder ein Pferd die einzige Lösung. Da mein Bruder ja unbedingt dieses dämliche Architektenhaus kaufen musste, kommen Pferde nicht infrage, also muss es ein Hund sein. Sie sind dafür bekannt, dass Sie auch schwierigen Haltern passende Hunde vermitteln, und mein Bruder ist schwierig. Beide sind es. Aus dem Kind bekomme ich kein Wort heraus. Doch wenn Sie den richtigen Hund für die beiden finden können und ihm beim Einleben helfen, werde ich mich mehr als großzügig zeigen.“

Dann hatte sie ihr eine Summe genannt, die Kiara den Atem geraubt und sie zum Nachdenken gebracht hatte.

Die Nachfrage war größer als das Angebot. Doch die Aussage des Bauunternehmers am Vortag hatte ihr große Angst gemacht. Das Gebäude war von Termiten zerfressen, und ihr fehlte das Geld für die Renovierungsarbeiten.

Deshalb stand sie nun vor dem schmiedeeisernen Tor zu dem imposanten Anwesen in Clovelly, einem der schönsten und teuersten Vororte von Sydney.

Der Garten war perfekt gepflegt, das Haus niedrig und aus hellem Stein erbaut, sodass es eine harmonische Einheit mit den Klippen bildete. Kiara sah einen großen Parkbereich, der mit demselben Stein gepflastert war. Sicher gab es auch mehrere Garagen. Hinter den Bäumen schimmerte das blaue Wasser eines Swimmingpools durch.

Unwillkürlich musste sie an ihren verwilderten Garten in Birralong in den Blue Mountains denken. Um keinen Preis in der Welt hätte sie sich von dem heruntergekommenen Haus und ihrer geliebten Auffangstation getrennt, doch nun verspürte sie einen Anflug von Neid. Was hätte sie mit einem Bruchteil der Summe, die dieses Gebäude wert war, anfangen können?

Genau deshalb bin ich doch hier, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie musste nur ein Zuhause für einen ihrer Hunde finden und diesen Bryn Dalton dazu bringen, sich von einem Teil seines hart verdienten Geldes zu trennen.

Oder hart ererbten. „Mein Halbbruder ist sehr vermögend“, hatte Lady Stonehouse verkündet. „Unsere Eltern waren, gelinde gesagt, unzulänglich, aber sie haben uns alle … uns beide gut versorgt.“

Nachdem Kiara tief durchgeatmet hatte, drückte sie auf den Knopf der Sprechanlage.

Und wartete.

Um den Stadtverkehr zu umgehen, hatte sie den Zug genommen und war den Pfad auf den Klippen entlanggegangen. In der von blühenden Frangipanibäumen gesäumten Straße war es ruhig, man hörte nur das Kreischen der Loris.

„Er wird zu Hause sein“, hatte Lady Stonehouse gesagt. „Da sein Knie zertrümmert war, brauchte er ein künstliches Gelenk. Jetzt macht er zu Hause Reha.“

Es hatte so geklungen, als hätte sie ihren Halbbruder gezwungen, sie zu empfangen. Vielleicht war dieser Besuch Zeitverschwendung.

Trotzdem musste sie es versuchen. Wieder drückte Kiara auf den Knopf und wäre fast zusammengezuckt, als sich eine schroffe Stimme meldete.

„Sind Sie die Tierärztin?“

„Ja, ich bin Dr. Kiara Brail“, bestätigte Kiara.

Wieder herrschte Stille. Kiara sah auf und senkte schnell wieder den Blick, als sie eine Kamera auf sich gerichtet sah.

Dr. Bryn Dalton würde eine Frau Anfang dreißig in einer weißen Bluse und ihren besten Jeans sehen. Da sie von ihrer Großmutter, einer Aborigine, die dunkle Haut geerbt hatte, schminkte sie sich immer nur leicht. Sie war klein und schlank und bändigte ihr dichtes schwarzes Haar meistens zu einem Pferdeschwanz. „Sie ist eher für die Arbeit gemacht“, hatte ihr Vater immer gesagt. „Und wenigstens weiß sie sich im Hintergrund zu halten.“

Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich jetzt ganz klein. Sie befand sich weit außerhalb ihrer Komfortzone.

Doch sie brauchte unbedingt Geld, wie sie sich erneut ins Gedächtnis rief. Was sein muss, muss sein. Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an diese Redewendung? War es das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, den seine Schwester als selbstherrlichen Idioten beschrieben hatte?

Er kann kein kompletter Idiot sein, sagte Kiara sich. Sie hatte im Internet über ihn recherchiert. Offenbar war Bryn Dalton Neurochirurg. Den Artikeln zufolge galt er als einer der besten. Sein Lebenslauf war, gelinde gesagt, beeindruckend. Also konnte er zumindest im Beruf kein Idiot sein.

„Ich stelle Ihrer Schwester meinen Besuch in Rechnung“, verkündete sie schroff. „Möchten Sie ihr Geld noch mehr vergeuden, indem Sie mich hier weiter warten lassen?“

Wieder folgte eine Pause. Entnervt wandte Kiara sich ab. Im nächsten Moment wurde das Tor hinter ihr geöffnet. Sie blieb stehen. Inzwischen war sie fuchsteufelswild. Diese Leute in ihren großen Häusern, ihren privilegierten Positionen …

„Es tut mir leid“, erwiderte die Stimme. „Bitte kommen Sie rein.“

Atme tief durch, sagte Kiara sich. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, ihren Hitzkopf zu zeigen. Falls sie ihren Hunden zuliebe ein wenig zu Kreuze kriechen musste, würde sie es tun.

Als sie vor der Haustür stand, öffnete diese sich automatisch. Kiara ging hinein und blickte sich in der Eingangshalle um, betrachtete den glänzenden Marmorboden und die gewölbte Decke, den exquisiten antiken Tisch und zwei nutzlose Stühle, auf denen man sicher nicht sitzen konnte. Auf dem Tisch stand ein exquisites Blumenarrangement, das sicher genauso viel gekostet hatte, wie sie in der Woche für Hundefutter ausgab.

Und genau deshalb bin ich hier, rief sie sich wieder ins Gedächtnis. Dennoch fühlte sie sich ganz klein.

„Kommen Sie durch“, erklang die Stimme aus der Sprechanlage über der Tür.

Nun zuckte Kiara zusammen. Die einzige offene Tür war die links.

Nachdem sie erneut tief durchgeatmet hatte, betrat sie den Raum. Ein Arbeitszimmer? Nein, es handelte sich vielmehr um eine Bibliothek. Mit Ledermöbeln und einem enormen Mahagonischreibtisch, der in einem Erker auf der gegenüberliegenden Seite stand.

Ein Mann in einem Rollstuhl drehte sich zu ihr um.

Dunkel, war ihr erster Eindruck, und das bezog sich sowohl auf den Raum als auch auf den Mann. Nicht einmal die Schreibtischlampe erhellte sein Gesicht. Sein Bein hatte er hochgelegt, und er machte keine Anstalten, auf sie zuzukommen. Einen Moment lang herrschte Stille, während er sie anscheinend von Kopf bis Fuß musterte.

„Ich bin Kiara Brail. Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Dalton.“ Sie bemühte sich um einen geschäftsmäßigen Tonfall. „Ihre Schwester hat mir erzählt, dass Sie gern einen Hund hätten.“

„Sie ist meine Halbschwester, und eigentlich will ich keinen Hund“, entgegnete er scharf. „Das hat Beatrice sich in den Kopf gesetzt.“ Er atmete tief durch, als müsste er sich zusammenreißen. „Doch ich will es wenigstens versuchen, denn das Kind braucht etwas. Allerdings möchte ich nichts mit dem Ding zu tun haben. Sobald ich wieder arbeiten kann, werde ich kaum noch zu Hause sein. Beatrice hat mir erzählt, dass sie Sie dafür bezahlt. So fühlt sie sich besser und kann uns endlich allein lassen. Also bringen Sie den Hund her. Doch der Deal ist, dass Sie eine Woche bleiben, um den Hund ans Haus und an mich zu gewöhnen, sodass ich nicht in meinen Abläufen gestört werde. Wenn meine Nichte dann möchte, dass er bleibt, geht es in Ordnung. Ansonsten verschwindet er wieder, aber Sie bekommen trotzdem Ihr Geld.“

Oha!

Zwei Worte waren herausgestochen. Das Ding.

Two Tails war keine gewöhnliche Auffangstation. Kiaras Ziel war es, den perfekten Begleiter für Menschen zu finden, die unbedingt einen brauchten. Sie scheute auch keine Mühe, um das zu verwirklichen.

Sie hatte sich auf ältere Tiere spezialisiert, deren Besitzer sich nicht mehr um diese kümmern konnten und die man in den meisten anderen Auffangstationen eingeschläfert hätte. Wer wollte schon ein Tier mit begrenzter Lebenserwartung annehmen?

Den Namen Two Tails hatte sie aus zwei Gründen gewählt – einmal wegen der Redewendung Glücklich wie ein Honigkuchenpferd, denn dass ihre Hunde glücklich wurden, war ihr erklärtes Ziel, und zweitens, weil ihre Hunde fast immer zwei Geschichten hatten – ein Vorher und ein Nachher.

Die Tierärzte in der Umgebung kannten sie und ihre Arbeit. Falls jemand sein Haustier verlor und glaubte, sie oder er wäre zu alt für ein neues, verwiesen die Tierärzte sie oft an sie. Wenn jemand dann tränenüberströmt bei ihr erschien und erzählte, sie oder er würde in eine Seniorenanlage ziehen und könnte den geliebten Hund nicht mitnehmen, schätzte sie den Hund ein. Falls er alle Kriterien erfüllte, nahm sie ihn auf und arbeitete mit ihm, erzog ihn richtig, wenn nötig, und dann suchte sie ein neues Zuhause für ihn.

Das alles funktionierte, weil sie jedes Tier und jeden potenziellen neuen Besitzer auf Herz und Nieren prüfte.

„Sie wollen also keinen Hund“, sagte Kiara nun und versuchte dabei, ihren Abscheu zu unterdrücken.

„Ich habe genug um die Ohren.“ Bryn Dalton schwieg kurz, offenbar bemüht, seinen Zorn zu zügeln. „Wie Sie sehen, bin ich verletzt. Ich muss mich auf die Reha konzentrieren, und außerdem habe ich sehr viel Arbeit nachzuholen. Allerdings habe ich mich bereit erklärt, mich um meine Nichte zu kümmern, und meine Schwester sagt, sie braucht einen Hund. Also …“

„Warum kümmern Sie sich um Ihre Nichte?“

Wieder schwieg er, bevor er zu ihrer Überraschung erwiderte: „Ich habe … hatte zwei Schwestern.“ Plötzlich klang er erschöpft. „Halbschwestern. Wir haben alle unterschiedliche Mütter. Unser Vater hat sich nie für uns interessiert, und deshalb haben wir praktisch nichts miteinander zu tun. Beatrice ist die Älteste, sie lebt in Großbritannien. Ich bin der Jüngste. Skye … Na ja, bis vor drei Monaten hat sie in Kalifornien gelebt, wo sie, vermutlich ermutigt durch ihre Mutter, einige falsche Entscheidungen getroffen hat. Unter anderem hat sie eine Tochter bekommen. Alice ist zehn, und vor drei Monaten bin ich ihr das erste Mal begegnet. Skye ist hier plötzlich mit ihr aufgetaucht und sagte, sie müssten beide bei mir bleiben. Da ich sowieso fast nie zu Hause bin, habe ich die beiden bei mir aufgenommen. Ich hätte …“

Er verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen, und zwang sich fortzufahren: „Egal. Anscheinend hatte Skye von Anfang an vor, Alice bei mir zu lassen und …“ Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er einen Albtraum abschütteln. „Zwei Wochen nach ihrer Ankunft hat sie sich das Leben genommen.“

Kiaras Magen krampfte sich zusammen. Noch vor zwei Minuten hatte sie den unwiderstehlichen Drang verspürt, dieses Haus so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Und nun …

Ich kann die beiden hier nicht einfach zurücklassen, ohne dass sie sich an etwas festhalten können.

Starr sah Kiara den Mann vor sich an, und er erwiderte herausfordernd ihren Blick.

„Ihr Bein?“ Nun, da ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnten, beobachtete sie, wie seine Züge sich noch mehr verhärteten. Er hatte einen Dreitagebart, und mit dem zerzausten dunklen Haar und den tief liegenden Augen sah er …

Gequält aus?

Als er wieder sprach, klang er distanziert, und seine Stimme verriet Schmerz. „Meine Schwester hat sich hier von den Klippen gestürzt. Leider hat sie einen Abschiedsbrief hinterlassen, und Alice hat ihn zu früh gefunden. Sie ist ihrer Mutter gefolgt, hat es gesehen und dann versucht, nach unten zu klettern. Als ich die beiden erreicht habe, war Skye schon tot, aber Alice saß unten fest, genau unter der Flutmarke. Nachdem ich die Luftrettung angerufen hatte, bin ich ihr gefolgt, denn ich hatte keine andere Wahl. Und natürlich bin ich gestürzt und habe mir das Knie zerschmettert. Aber wenigstens bin ich auf demselben Vorsprung wie sie gelandet. Eine halbe Stunde später hat der Rettungshubschrauber uns weggebracht.“

„Oh nein!“

„Allerdings.“ Jetzt klang Bryn wieder förmlich. „Sie hat jetzt also niemanden mehr. Beatrice will sie aufs Internat schicken, aber Alice ist sehr still und in sich gekehrt und hat große Angst davor. Deshalb lasse ich sie bis zum Ende der Ferien erst mal in Ruhe. Und nun besteht Beatrice darauf, dass sie einen Hund bekommt.“

Es brach Kiara fast das Herz. Ein zehnjähriges Mädchen …

„Aber Sie wollen keinen Hund?“

„Ich will nur mein altes Leben zurück“, brauste er auf, schien sich dann allerdings wieder zu fangen. „Ich bin Neurochirurg“, fuhr er geschäftsmäßig fort. „Ich arbeite im Sydney Central und lehre außerdem als Professor an der Uni. Außerdem sitze ich in einigen Gremien und Vorständen. Ich musste deswegen alles auf Eis legen …“

„Wegen Alice?“, platzte Kiara heraus.

„Wegen meines Beins“, erwiderte er gewandt. „Ich habe mir die Kniescheibe zertrümmert und mir das Schien- und das Wadenbein gebrochen. Es wird noch einen Monat dauern, bis ich länger stehen kann, und deshalb habe ich mich bereit erklärt, mich bis dahin um Alice zu kümmern. Danach wird sie aufs Internat gehen müssen.“

Offenbar hatte er ihren Gesichtsausdruck bemerkt, denn nun klang er leicht defensiv. „Ich verstehe sie ja. Sie ist eine Einzelgängerin, denn offenbar wurde sie nur von bezahlten Kräften erzogen. Sie kommt also gut allein klar. Nun wird sie natürlich von den besten Psychologen behandelt – darum habe ich mich gekümmert. Allerdings kann sie keine besonders enge Beziehung zu Skye gehabt haben, weil sie diese kaum gesehen hat. Wenn sie dieses Trauma einigermaßen verarbeitet hat, wird sie es auf einer guten Schule besser haben.“

„Und dann?“ Konzentrier dich auf den Grund für deinen Besuch, sagte Kiara sich mühsam beherrscht. „Was passiert dann mit dem Hund?“

„Der kann hierbleiben, wenn er keinen Ärger macht“, erwiderte Bryn lässig. „Die Angestellten werden sich um ihn kümmern, und Alice wird die Ferien hier verbringen. Sie hat ja sonst kein Zuhause mehr. Also, wenn sie den Hund will, kann sie ihn behalten. Doch Beatrice sagte, Sie würden ihn zurücknehmen, wenn wir ihn nicht mehr brauchen.“ Er sah sie an und schien zu wissen, was sie dachte. Schnell fuhr er fort: „Aber ich werde mich Ihrem Urteil beugen. Ich hatte noch nie ein Haustier. Wenn Sie es besser finden, werde ich jede Summe zahlen, wenn Sie ihn nehmen und ihn uns in den Ferien bringen.“

Wieder kämpfte Kiara mit dem Drang, von hier zu fliehen. „Der Hund ist also Mittel zum Zweck für Ihre Nichte?“

„Beatrice meinte, Ihre Auffangstation würde sich durch Spenden finanzieren. Ich schätze, Sie wären dankbar.“

„Überhaupt nicht. Meine Hunde sind keine Gegenstände.“

Nun schwieg er ziemlich lange.

Inzwischen hatten ihre Augen sich so weit an das schummrige Licht gewöhnt, dass sie ihn deutlich erkennen konnte. Vor seinem Sturz musste er fit gewesen sein, denn er war offenbar groß und durchtrainiert. Er trug ein verwaschenes T-Shirt mit einem Designeremblem. Da er einen Fixateur trug, war ein Bein seiner Jeans abgeschnitten. Unter gesenkten Lidern blickte er sie herausfordernd an – doch plötzlich sah sie einen Anflug von Erschöpfung.

Aus irgendeinem Grund sah sie eine der vielen verletzten und verängstigten Kreaturen vor sich, die sie in ihrer Laufbahn als Tierärztin behandelt hatte. Allerdings war sie nicht hier, um einen verletzten Mann und seine verwaiste Nichte zu behandeln. Mit einem Anflug von Bedauern dachte sie an die Summe, die Beatrice erwähnt hatte, doch dies war kein Zuhause für ein traumatisiertes Tier.

„Ich finde allein raus“, sagte Kiara, woraufhin Bryn sie überrascht anblickte.

„Sie helfen uns also nicht?“

„Ich glaube nicht, dass es Ihnen helfen würde, wenn ich Ihnen einen Hund gebe“, erwiderte sie sanft, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Aber vielleicht …“ Auf diesem Gebiet war sie keine Fachfrau, doch sie spürte Schmerz hinter seiner Schroffheit, und dieser rührte nicht nur von einem verletzten Bein. „Sie sagten, Sie hätten psychologische Unterstützung für Ihre Nichte organisiert. Vielleicht … könnten Sie das auch gebrauchen?“

Wieder schwieg er, diesmal noch länger. „Verschwinden Sie“, forderte er sie dann auf.

Das Kind brauchte einen Hund. Das hatte Beatrice angeordnet.

Was das Kind wirklich brauchte, waren Eltern. Eltern, die es liebten.

Bryn kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Er hatte seine Arbeit als Dozent wiederaufgenommen und musste einige Anfragen von Studenten beantworten.

Stattdessen stützte er jedoch den Kopf in die Hände und gab sich nur für einen Moment seiner Verzweiflung hin. Fast hätte er die Frau, die gerade gegangen war, angeschrien. Sein Mantra im Leben war Beherrschung, und Dr. Kiara Brail hatte ihm einige entsetzliche Augenblicke lang das Gefühl vermittelt, dass seine Welt zusammenbrach.

Und in diesem Moment schien es ihm, als wäre genau das der Fall.

Seine Halbschwester, der er erst vor drei Monaten zum ersten Mal begegnet war, war zu dem Ergebnis gekommen, dass er ein geeigneter Vater – nein, Vormund – für ihre Tochter war. Selbst das Wort Vormund war lächerlich. Er hatte keine Ahnung von Kindern. Er wusste nicht, was Familie bedeutete.

Sein Leben bestand nur aus Arbeit. Gefühle, Bindungen erforderten Zeit und Hingabe und bewirkten, dass man sich verletzlich fühlte. Hatte er das nicht schon als Kleinkind gelernt? Damals hatte sein Vater seine Mutter verlassen. Und seine Mutter … Er war von wechselnden Angestellten großgezogen worden.

Schon früh hatte er die Erfahrung gemacht, dass man besser niemandem nahekam. Deshalb liebte er sein Junggesellenleben. Er investierte seine ganze Energie in seinen Beruf – und er war ein guter Neurochirurg. Er heilte Menschen, kam ihnen jedoch nicht nahe. Nun aber war er außer Beatrice der einzige Angehörige eines Kindes, von dessen Existenz er bis vor Kurzem nicht einmal gewusst hatte. Und Beatrice würde sie nicht nehmen.

Er hatte Verantwortung übernommen. Damit hatte er sich während seines wochenlangen Krankenhausaufenthalts auseinandergesetzt, und zu der Zeit hatte er bereits gewusst, welche Barrieren das Mädchen um sich aufgerichtet hatte. Vielleicht hatte Beatrice recht. Ein Hund könnte Alice über die ersten harten Monate hinweghelfen. Allerdings wusste er aus Erfahrung, dass sie mehr Rüstzeug brauchte, um aufs Internat gehen und wieder am Leben teilnehmen zu können.

Sie hatten beide keine Wahl. Sie mussten weitermachen. Er hatte seine Arbeit, sein Leben. Und Alice hatte bereits gelernt, allein zu sein.

Bryn dachte an jene schreckliche Nacht zurück, als Skye sich das Leben genommen hatte. Er hatte oben auf den Klippen gestanden und nach unten geblickt. Seine Nichte auf einem Felsvorsprung über dem Wasser entdeckt. Für einen Moment geglaubt, sie wäre tot.

Im Strahl seiner Taschenlampe hatte sie ihm dann das Gesicht zugewandt. Verzweifelt gewirkt. Nachdem er den Rettungshubschrauber gerufen hatte, war er hinuntergeklettert – oder hatte es zumindest versucht. Wie Alice dorthin gekommen war, war ihm immer noch ein Rätsel, doch irgendein überwältigendes Gefühl hatte ihn dazu veranlasst.

Natürlich war er abgestürzt – und dann hatte man sie beide retten müssen. Er hätte sich von seinem Verstand leiten lassen müssen. Sicher hätte Alice allein überlebt.

Und das war die wichtigste Lektion, die jedes Mitglied seiner kaputten Familie gelernt hatte. Allein zu sein war der einzige Weg, um zu überleben.

Bryn versuchte, die Gefühle abzuschütteln, die die Frau in ihm geweckt hatte. Alles würde sich fügen. Alice würde sich von dem Schock erholen und ein eigenständiges Leben führen. Er würde sie dabei nach Kräften unterstützen – mit einer guten Schule, Erzieherinnen in den Ferien, selbst einem Hund.

Oder ohne Hund. Die Frau hatte spöttisch reagiert. Meine Hunde sind keine Gegenstände. Und … mitleidig?

Er brauchte kein Mitleid. Sein Bein heilte.

Ihr Mitleid hatte allerdings nicht seinem Bein gegolten. „Sie sagten, Sie hätten psychologische Unterstützung für Ihre Nichte organisiert. Vielleicht … könnten Sie das auch gebrauchen?“

Das war albern. Er hatte sein Leben fast wieder unter Kontrolle. Er musste nur wieder gesund werden, sich um seine Nichte kümmern … Und verdrängen, dass diese freche Tierärztin ihn mit einem mitleidigen Ausdruck in den Augen betrachtet hatte.

Eigentlich hatte Kiara wutentbrannt hinausstürmen wollen. Sie hatte nicht nur einen ganzen Vormittag vergeudet, sondern der Besuch war ihr nahegegangen und würde sie wochenlang verfolgen.

Sie fühlte sich schuldig. Und das ist Unsinn, wie sie sich sagte. Alice wurde von Psychologen betreut. Sie hatte eine Tante und einen Onkel. Ihr Job war es, sich um die Bedürfnisse ihrer Tiere zu kümmern, und nur weil es ihr das Herz zerrissen hatte …

Und das nicht nur wegen Alice, sondern auch wegen ihres Onkels. Bryn Dalton mochte überheblich gewirkt haben, doch durch ihre Tätigkeit wusste Kiara, wann jemand psychisch gestresst war. Doch sie konnte ihm nicht helfen. Sie musste sich zusammenreißen und von hier verschwinden.

Als sie jedoch das Haus verließ, saß ein Mädchen im Schneidersitz auf dem Weg, der zum Tor führte. Kiara blieb stehen, woraufhin die Kleine sie ansah. Sie war blass und viel zu dünn.

„Mein Onkel sagt, Sie holen mir einen Hund“, erklärte sie herausfordernd. „Ich will aber keinen.“

Für ihre zehn Jahre war sie ziemlich klein. Das feine blonde Haar reichte ihr bis zu den Schultern und war zerzaust. Sie trug ein schmuddeliges Designer-T-Shirt und abgetragene Shorts. In ihren hellblauen Augen lag ein trauriger Ausdruck.

Hatte sie geweint?

Oh, verdammt! Aus Erfahrung wusste Kiara sofort, wann sie es mit einer verletzten Kreatur zu tun hatte. Sie brachte es nicht über sich, dieses Kind allein zu lassen.

„Du musst auch keinen haben“, erwiderte sie unwillkürlich. Sie sollte gehen, doch Alice hatte sie zu einer Diskussion herausgefordert. Außerdem erahnte sie deren Schmerz.

Aus irgendeinem Grund musste sie plötzlich an ihre eigene Kindheit denken. An ihren Vater. An den Wurf einer ihrer Hündinnen. Ein Welpe nach dem anderen war an seine neuen Besitzer weggegangen, und sie hatte den kleinsten Hund auf den Arm genommen und ihren Vater flehentlich gefragt, ob sie ihn behalten könnte.

„Sei nicht albern“, hatte dieser sie angefahren. „Das sind Hütehunde, und sie bringen Geld. Setz den Welpen wieder ab.“

Warum erinnerte sie sich jetzt daran? Warum klopfte ihr Herz schneller?

„Du bist Alice, nicht wahr?“, fragte sie, woraufhin das Mädchen nickte und herausfordernd zu ihr aufsah. „Warum möchtest du keinen Hund?“ Dann setzte sie sich ihr im Schneidersitz gegenüber.

Die Kleine wirkte ein wenig erschrocken und rückte unmerklich ein Stück zurück.

„Ich bin Kiara“, stellte Kiara sich sanft vor. „Warum möchtest du keinen Hund?“

„Weil ich nicht hierbleibe. Meine Mutter sagt … sagte, ich muss hierbleiben, aber das mache ich nicht.“

„Du wirst zur Schule gehen.“

„Nein.“

„Und wohin willst du dann gehen?“

„Ich weiß nicht“, rief Alice daraufhin so gequält, dass Kiara zusammenzuckte.

„Du bleibst hier“, erklang in diesem Moment eine unwirsche Männerstimme. Unbemerkt war Bryn im Rollstuhl herangefahren. Vielleicht hatte Alice ihn kommen sehen, doch sie reagierte nicht. Sie sah ihn auch nicht an.

„Du bleibst hier, solange du musst“, fuhr er schroff fort, wobei er Kiara ignorierte. „Das habe ich dir versprochen, Alice.“

„Du willst mich doch gar nicht. Du wolltest nie, dass ich herkomme.“

„Wir sind eine Familie. Ich bin dein Onkel.“

Falsche Antwort, dachte Kiara, während sie sich fragte, wie sie sich an seiner Stelle verhalten hätte.

Wer wusste das schon? Sie hatte auch keine stabile Familie, keine Erfahrung, aus der sie schöpfen konnte. Abgesehen von den Tieren, die sie liebte – den einsamen Kreaturen, die bei ihr landeten.

Sie dachte an eine der wenigen Katzen, die sie ausnahmsweise aufgenommen hatte. Sie hatte Mops im Busch hinter dem Grundstück entdeckt, wo er sich abgemagert und völlig verwahrlost durchschlug. Da er ihr nicht nur leidgetan hatte, sondern Katzen auch wilderten, hatte sie eine Lebendfalle aufgestellt, in die er in der dritten Nacht getappt war.

Er war verängstigt gewesen und hatte sich nach Kräften gewehrt. Sie hatte ihn aufgepäppelt, und allmählich hatte er Zutrauen zu ihr gefasst. Nun lebte er bei einem älteren Witwer. Bei ihrem obligatorischen Hausbesuch, den sie allen neuen Besitzern abstattete, hatten er und sein neues Herrchen sehr glücklich gewirkt.

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