Eine Lady für das Biest

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In den Straßen von Whitechapel nennt man ihn nur „Beast“, doch an diesen grausamen Spitznamen hat Benedict Trewlove sich gewöhnt. Längst hat er sich damit abgefunden, dass sein finsterer Ruf und sein vernarbtes Gesicht ihn nicht gerade zum Frauenhelden machen. Dann begegnet er der faszinierenden Althea – und der Gedanke an die engelsgleiche Schönheit lässt ihn nicht mehr los. Was führt eine elegante, vornehme Lady wie sie in Londons ärmstes Stadtviertel? Und wie kann ein Findelkind wie er, das auf den Straßen aufgewachsen ist, die Liebe einer Frau gewinnen, die so offensichtlich aus gutem Hause stammt?


  • Erscheinungstag 22.04.2022
  • Bandnummer 139
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511148
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London,

Anfang November 1840

Hektisches Klopfen weckte Ettie Trewlove aus einem erquickenden Schlaf – dem ersten seit mehreren Nächten. Ihre kleinen Buben, alle drei erst wenige Monate alt, hatten angefangen zu zahnen und waren seitdem quengelig und gereizt. Doch diese Nacht schliefen sie unerklärlicherweise so friedlich wie Engel.

Das Klopfen dauerte an. Da es wahrscheinlich nur aufhören würde, wenn sie die Tür öffnete, schlug Ettie die Decke zur Seite und kletterte aus dem Bett. Sie nahm die Nachttischlampe, drehte den Docht hoch und machte sich auf den Weg. Als sie an der Wiege vorbeiging, in der ihre geliebten kleinen Jungen dicht aneinandergekuschelt schliefen, stahl sich ein Lächeln in ihre Züge. Nicht mehr lange, dann war die Bettstatt zu klein für die drei, und sie würde ihnen ein anderes Nachtlager herrichten müssen.

Sie schlurfte zur Tür, öffnete sie einen Spalt und spähte nach draußen. Zu ihrem Erstaunen stand eine Frau auf der Schwelle, die nur unwesentlich jünger sein konnte als sie selbst mit ihren zwanzig Jahren. Die Fremde hielt ein in eine Decke gewickeltes Bündel fest an sich gepresst. Bisher hatten nur Männer die Lieferungen gebracht.

„Sind Sie Ettie Trewlove, die unehelich geborene Kinder aufnimmt und sich gut um sie kümmert?“ Angst und Hoffnung hielten sich die Waage in der Stimme, die mit starkem schottischem Zungenschlag sprach.

Ettie nickte. Als Ziehmutter nahm sie für ein schmales Entgelt Bastarde auf, die niemand wollte, und ersparte den ledigen Frauen die Schande und die Probleme, die die Kinder ihnen sonst bereitet hätten. „Aye.“

„Nehmen Sie meinen Kleinen? Ich kann Ihnen nur ein paar Shilling geben, aber Sie brauchen ihn nicht lange zu behalten.“ Mit ihren großen dunklen Augen sah die Fremde sich ängstlich um. „Nur, bis es sicher ist. Dann komme ich ihn mir wieder holen.“

Ettie stellte die Lampe auf dem Wandtisch neben sich ab. Mit ein paar Shilling konnte sie den Säugling nicht sehr lange durchfüttern, und sie hatte noch drei andere Mäuler zu stopfen. Trotzdem öffnete sie die Tür weiter und streckte die Arme aus. „Aye, ich nehme ihn.“

Vorsichtig schob die junge Frau die Decke beiseite und küsste das schlafende Baby auf die Wange.

„Was zur Hölle haben Sie ihm angetan?“, brach es bestürzt aus Ettie heraus.

Der Kopf der Fremden ruckte hoch, sie begegnete Etties Blick. „Nichts. Es ist ein Geburtsfehler. Aber er ist ein braves Kind und wird Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Bitte weisen Sie ihn nicht ab. Sie sind meine letzte Hoffnung, denn ich kann ihn vor denen, die ihm tatsächlich etwas antun wollen, nicht schützen.“

Ettie nickte. Es gab Menschen, die glaubten, dass man unehelichen Kindern die Luft zum Atmen verweigern sollte, weil sie in Sünde geboren waren.

„Ich werfe den armen Würmchen nichts vor, was nicht ihre Schuld ist.“ Wie auch, mit den drei unehelichen, die sie in Pflege genommen hatte? Besser gesagt, vier. Sie wackelte mit den Fingern. „Geben Sie ihn her.“

Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, legte die junge Frau – im Licht der Lampe wirkte sie eher kindlich als erwachsen – den Jungen in Etties Arme. „Versprechen Sie mir, dass Sie ihn lieben werden, als wäre er Ihr eigenes Kind?“

„Eine andere Art, die Kleinen zu lieben, kenne ich gar nicht.“

Die junge Frau lächelte zittrig und drückte Ettie ein paar Münzen in die Hand. „Ich danke Ihnen.“

Sie wandte sich um, ging drei Schritte, dann blickte sie über die Schulter zurück. Tränen glitzerten in ihren Augen. „Er heißt Benedict. Und Sie können sich darauf verlassen, dass ich ihn mir wiederhole.“

Sie sprach mit grimmiger Entschlossenheit, und Ettie fragte sich, wen das Mädchen zu überzeugen versuchte, sie oder sich selbst.

Rasch verschwand die junge Frau im dichten Nebel und in der Dunkelheit.

Ettie Trewlove hielt ihr Versprechen. Sie erzog den Jungen, als wäre er ihr eigener, und liebte ihn, wie nur eine Mutter es konnte.

1. KAPITEL

Whitechapel,

Dezember 1873

Die Frau gehörte nicht hierher.

Es passte nicht zu ihr, dass sie im Mermaid and Unicorn arbeitete, und schon gar nicht, dass sie Alkohol servierte.

Benedict Trewlove, in ganz Whitechapel als Beast bekannt, wusste mit absoluter Gewissheit, dass seine Einschätzung stimmte – genauso sicher, wie er wusste, dass er niemals Bordellbesitzer hatte werden wollen.

Doch mit siebzehn, als Hafenarbeiter, mit Fäusten so groß wie Schweinehaxen, war er von der ein Jahr jüngeren Sally Greene gebeten worden, auf sie aufzupassen, wenn sie ihrem Gewerbe nachging. Ein Bandenführer knöpfte ihr Schutzgeld ab, und sie war zu dem Schluss gekommen, dass Beast ihr lange nicht so viel von ihren Einnahmen abnehmen würde wie Drei-Finger-Bill. Sie sollte recht behalten.

Beast hatte gar keine Bezahlung gewollt, aber von Zeit zu Zeit ein paar Münzen in seinen Taschen gefunden. Sally war nicht nur eine erfahrene Dirne, sondern auch eine geschickte Taschendiebin, und manchmal machte sie beides gleichzeitig. Beast verzichtete darauf, sie danach zu fragen und womöglich in Verlegenheit zu bringen. Stattdessen akzeptierte er das Geld mit Anstand.

Als Freundinnen von ihr ihn baten, sie ebenfalls zu beschützen, entschied er, dass es einfacher war, der Aufgabe nachzukommen, wenn sie sich alle an einem Ort befanden. Also mietete er ein paar Zimmer – was sich auch insofern als vorteilhaft erwies, als sie es im Winter warm hatten, sodass sie kaum krank wurden und mehr verdienten. Irgendwann mietete er ein ganzes Gebäude für seine Mädchen. Inzwischen war er der Besitzer des Hauses.

Gott lohnt es dem Menschen, wenn er Gutes tut, hatte seine Mutter ihm immer gesagt. Seiner Erfahrung nach wurde ein Mann belohnt, wenn er fleißig war – selbst wenn er seinen Fleiß auf etwas verwendete, das diejenigen mit einer strengeren Moral missbilligten.

Die Frau, die er beobachtete, missbilligte sicher vieles. Jedenfalls sah sie so aus. Klang so. Ihre vornehme, klare Art zu sprechen wies eindeutig darauf hin, dass sie von Stand war und entsprechend aufgewachsen und erzogen.

Ihre Kleidung ebenfalls. Stoff, Schnitt und Verarbeitung ihres schlichten grauen Tageskleids waren erstklassig, doch seit seiner Anschaffung schien sie etwas Gewicht verloren zu haben. Und während die anderen Schankmägde ein Gutteil ihres Dekolletés entblößt hatten in der Hoffnung auf ein paar zusätzliche Münzen Trinkgeld, war ihr Kleid bis zum Kinn und bis zu den Handgelenken zugeknöpft. Ihr Haar, von einem silbrigen Blond, das ihn an Mondlicht erinnerte, trug sie zu einem erstaunlich unordentlichen Knoten zusammengebunden. Einige Strähnen hatten sich daraus gelöst und fielen ihr über die fein gezeichneten Jochbeine. Es war das Einzige an ihr, das nicht elegant wirkte. Als sie zu seinem Tisch kam, um ihm den Scotch zu bringen, den er vor ein paar Minuten bestellt hatte, war ihr Gang anmutig und ihre Haltung tadellos.

Die Lippen leicht gespitzt, blies sie energisch den Atem aus, sodass die widerspenstigen Haarsträhnen nach hinten flogen, und stellte das Glas vor ihn auf den Tisch. „Bitte schön, Sir. Der Mann am Tresen sagt, das Getränk geht aufs Haus.“

Seine Schwester war an diesem Abend nicht da, ohnehin arbeitete sie nur noch selten im Mermaid, seit sie Duchess war. Gillie erwartete nicht von ihm, dass er für Essen und Getränke zahlte, genauso wenig, wie er erwartete, dass sie ihn für den Transport des außerhalb der Seegrenzen Englands erworbenen Alkohols auf seinen Schiffen entlohnte. Die Trewloves stellten sich untereinander nichts in Rechnung, noch führten sie Buch über die Gefälligkeiten, die sie sich gegenseitig erwiesen.

Die Schankmagd wandte sich zum Gehen …

„Was machen Sie hier?“, fragte er übergangslos.

Sie wirbelte herum, und eine senkrechte Falte erschien zwischen ihren bogenförmigen dunkelblonden Brauen, die die ungewöhnlichsten blauen Augen überwölbten, die er je gesehen hatte. Sie waren von einem tiefen Dunkelblau mit winzigen grauen Sprenkeln darin. „Ihnen Ihren Whisky bringen.“

Er schüttelte den Kopf und machte eine lässige Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste. „Ich meine in Whitechapel. Dass Sie arbeiten, und dann noch in dieser Schänke. Alles an Ihnen sieht nach Mayfair aus.“

„Geht Sie ’nen verdammten feuchten Kehricht an“, antwortete sie in perfektem Cockney. „Besser so?“ Perfektes Mayfair.

Sie drehte ihm den Rücken zu und marschierte davon. Beast ergötzte sich an dem Anblick ebenso wie an ihrem ungehaltenen Schnauben und trank einen großen Schluck Scotch. Sie hatte Temperament, das musste er ihr lassen. Außerdem hatte sie recht. Sie ging ihn nichts an. Trotzdem war er fasziniert. Sie war zu kultiviert für diese raue Taverne. Eher sah sie aus, als gehörte sie in einen Ballsaal, einen Figurengarten, ein stattliches Herrenhaus, wo sie bedient wurde, anstatt diejenige zu sein, die bediente.

Ihm war es wichtig, sich die Welt erklären zu können, und bei ihr gelang ihm das nicht. Kein Wunder, dass er versucht war, das Geheimnis, das sie umgab, zu lüften, zu durchschauen und aufzuklären.

Althea Stanwick spürte, dass er sie beobachtete, sie fühlte seinen Blick wie eine Berührung, als ginge er neben ihr her, die Hand auf ihrem unteren Rücken.

Sie hatte ihn bemerkt, sobald er hereingekommen war. Fast hatte es sich angefühlt, als wiche die Luft im Raum vor ihm zurück, um seiner eindrucksvollen Größe und der Breite seiner Schultern ebenso wie seinem Selbstbewusstsein und seinem ganzen Auftreten Platz zu machen. Der Mann war durch den Schankraum geschlendert wie jemand, der vor nichts Angst hatte, jemand, der die Macht hatte, Weltreiche nach Belieben ins Wanken zu bringen.

Eine Mischung aus Faszination und Beunruhigung hatte sie erfasst, als er zielstrebig den hinteren Bereich ihres Reviers angesteuert und an einem leeren Tisch Platz genommen hatte. In dem Moment war ein Ruck durch ihren Körper gegangen, wie früher, wenn die Zofe an ihrer Korsettverschnürung gezerrt hatte und ihre Rippen so fest zusammengequetscht worden waren, dass sie kaum atmen konnte.

Sie hatte weitere Gäste bedient und es so lange wie möglich hinausgeschoben, sich zu seinem Tisch zu begeben, aber schließlich war ihr nichts anderes mehr übrig geblieben. Sie wusste, dass er jede Einzelheit von ihr in sich aufnahm, genau wie sie es bei ihm tat. Seine dichte schwarze Mähne war so lang, dass sie ihm bis auf die breiten Schultern fiel, fast wie um sie zu streicheln. Er trug den Seitenscheitel so tief, dass das Haar die eine Hälfte seines Gesichts fast bedeckte, was ihn umso mysteriöser aussehen ließ. Wie einen Mann, der Geheimnisse hatte und sie außerordentlich gut zu hüten wusste.

Etwas an ihm kam ihr vertraut vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, woher sie ihn kannte. Vielleicht war er ihr in einer der Straßen des Viertels begegnet, in denen sie sich nun, nach drei endlosen Monaten, nicht mehr so fremd fühlte. Vielleicht war er auch schon einmal Gast im Mermaid gewesen und hatte an einem anderen Tisch gesessen. Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie ihn dann vergessen hätte. „Was darf ich Ihnen bringen, Sir?“

Die dunklen Augen, mit denen er sie unverwandt angeblickt hatte, weiteten sich anerkennend, wenn auch kaum wahrnehmbar. Kein Wunder, dass ihre Stimme ein wenig belegt klang.

„Scotch.“

Seine Stimme war tief und volltönend und vibrierte durch ihren ganzen Körper, ähnlich wie die Empfindungen von Wärme und Behaglichkeit, die sie durchliefen, wenn sie aus der bitteren Kälte vor einen Kamin mit loderndem Feuer trat. Es enttäuschte sie, dass er nur ein einziges Wort geäußert hatte. Doch als sie mit dem Getränk zurückgekommen war, hatte er Fragen gestellt – Fragen, die sie nicht beantworten konnte, ohne auf ihre Vergangenheit einzugehen.

Und ihre Vergangenheit war ein Geheimnis, das sie sorgfältig wahren musste. Denn wenn irgendjemand die Wahrheit erfuhr …

Nicht auszudenken, was dann passierte.

Sie bahnte sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch und beschloss, dass sie gar nicht erst an ihn denken würde.

Ein Arm schoss vor, schlang sich um ihre Taille und riss sie grob von den Füßen, sodass sie hart auf einem stämmigen Schoß landete. Finger wanderten zu Gegenden ihres Körpers, wo sie eindeutig nichts zu suchen hatten, zwickten Stellen, die zu zwicken Althea dem Eigner der Hand nicht gestattet hatte. „Nun, was haben wir denn da?“, fragte der junge Bursche, auf dessen kräftigen Schenkeln sie saß, frech. „Und wie heißt du eigentlich, meine Hübsche?“

Althea griff hinter sich, bekam den vollen Bierkrug zu fassen, der vor einem seiner Freunde stand, und kippte dem dreisten Burschen den Inhalt über seinen rothaarigen Schädel. Fluchend und brüllend, ließ er sie los, und sie brachte sich hastig in Sicherheit. „Wie ungeschickt von mir. Ich hole Ihnen ein neues Ale.“

Lieber hätte sie ihm den Bierkrug auf dem Kopf zerschlagen, doch sie steckte auch so schon in Schwierigkeiten. Das Mermaid hielt sich etwas darauf zugute, dass es Gäste höflich behandelte, unabhängig davon, ob ihre Zeche hoch war oder nicht. Rasch eilte Althea zum Tresen und knallte den Zinnkrug auf die gemaserte Holzplatte. „Ein Guiness.“

Der Barmann, gleichzeitig der Geschäftsführer, seufzte, als wäre sie der Fluch seines Lebens, was sie vermutlich auch war. „Ich habe dir schon einmal gesagt, du kannst den Leuten nicht einfach Bier über die Köpfe kippen.“

Es war das dritte Mal, dass sie es getan hatte, seit sie vor zehn Tagen im Mermaid eingestellt worden war. Kurz überlegte sie, ob sie sich verteidigen sollte, doch sie hatte es schon zweimal getan und kein Verständnis geerntet, lediglich einen Blick, der mit jedem Wort, das sie von sich gegeben hatte, härter geworden war. Also nickte sie nur zum Zeichen, dass sie die unverdiente Schelte akzeptierte. Bis vor Kurzem hatte sie Verweise überhaupt nicht gekannt. Sie mochte es nicht, wenn man sie derart rücksichtslos behandelte oder ihrer Meinung keinerlei Gewicht zubilligte, doch andererseits mochte sie so manches an ihrem neuen Leben nicht. Wenn sie ehrlich war, gab es nichts an diesem Leben, das sie gemocht hätte.

„Ich werde dir dieses Pint von deinem Wochenlohn abziehen müssen.“

In dem Bemühen, bußfertig zu wirken, sodass sie nicht plötzlich ohne Arbeit auf der Straße stand, nickte sie abermals. Wenn es so weiterging, würde sie überhaupt keinen Wochenlohn haben.

„Jimmy hat sie in den Hintern gekniffen, Mac.“ Polly, ebenfalls Schankmagd, gesellte sich zu ihnen. „Ich hab’s gesehen.“

„Wie denn, Polly?“ Mac schnaubte verächtlich. „Du hast doch hier gestanden.“

„Ich hab halt gute Augen.“

„So gut nicht.“ Mac wandte sich um und füllte den Krug.

Polly maß sie mit einem mitfühlenden Blick. „Die Jungs haben sich bloß einen kleinen Spaß erlaubt.“

„Nur dass es überhaupt nicht spaßig ist, nicht wahr?“ Althea hätte wetten können, dass Polly mit der üppigen Oberweite reichlich Erfahrung damit hatte, auf irgendwelche Männerschöße gezogen zu werden. Aber vielleicht machte es ihr nichts aus. Sie war immer fröhlich, flirtete mit den Männern und schien sich prächtig zu amüsieren in Situationen, die Althea vollkommen gegen den Strich ging.

Enttäuschung wallte in ihr auf, als der hochgewachsene Bursche, dem sie soeben den Whisky gebracht hatte, sich vorbeugte, um mit dem kichernden Jimmy zu reden. Wahrscheinlich, um ihn zu fragen, wie ihr Hinterteil sich angefühlt hatte. Doch mit einem Mal hörte Jimmy zu lachen auf und wurde kreideweiß. Sie hatte davon gehört, dass Menschen bleich wurden wie Gespenster, es aber noch nie mit eigenen Augen gesehen. Bis jetzt. Jimmy sah aus, als hätte der Mann ihm rasch und wirksam sein gesamtes Blut aus den Adern gesogen.

„Er wird nicht wagen, dich noch einmal anzufassen“, sagte Polly triumphierend. „Nicht nachdem Beast ihn ins Gebet genommen hat.“

„Beast?“

Polly sah sie erstaunt an und nickte. „Jawohl. Der große Bursche da drüben.“

Der große Bursche, der ohne einen Blick zurück die Schankstube verließ. Beast nannten sie ihn – Ungeheuer? Althea fragte sich, wie er zu seinem Spitznamen gekommen war, denn in ihren Augen hatte er nichts Garstiges. Teufelskerl hätte besser zu ihm gepasst, denn er sah teuflisch gut aus mit seinen kühnen, wie gemeißelt wirkenden Zügen.

„Und wer ist er?“

Polly warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Jemand, den du besser nicht verärgerst, wenn du weißt, was gut für dich ist.“

Althea konnte nur bedauern, dass sie diesen Rat nicht vor ihrer Begegnung mit ihm erhalten hatte. Sie war einigermaßen sicher, dass er von ihrer Reaktion auf seine Frage nicht erbaut gewesen war, daher bezweifelte sie, dass Jimmys Erbleichen irgendetwas mit ihr zu tun gehabt hatte. Eher war anzunehmen, dass er dem Mann Geld schuldete.

Mac stellte den Bierkrug auf den Tresen. „Sei so gut, Polly, und bring ihn Jimmy.“

„Wäre besser, wenn Althea das übernehmen würde.“

Sie hätte Mac küssen können, als er Polly den Auftrag gegeben hatte, und Polly mit einem finsteren Blick bedenken, weil sie sich weigerte, doch es war unfair, der Kollegin ihre Arbeit zuzumuten. Also nahm sie den Zinnkrug, bahnte sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch, bis sie bei dem ankam, an dem Jimmy saß. Er und seine Kumpane hielten den Blick stur auf die Tischplatte gerichtet, beinahe so, als hätten sie nie zuvor Holz gesehen und versuchten herauszufinden, wie es entstanden war. Ohne ein einziges Wort stellte Althea den Krug auf den Tisch.

„Tut mir leid“, stieß Jimmy gepresst hervor.

„Wie bitte?“

Mit schreckgeweiteten Augen sah er zu ihr hoch. „Verzeihung. Ich hätte das nicht tun sollen. Wird nicht wieder passieren.“

Sie versuchte ihre Überraschung nicht zu zeigen. „Das weiß ich sehr zu schätzen. Ihre Entschuldigung ebenfalls.“

„Sie sagen es Beast, nicht wahr, wenn er das nächste Mal herkommt, nicht wahr, dann sagen Sie ihm, dass ich mich entschuldigt habe, nicht wahr? Braucht mir die Finger nicht zu brechen.“ Die Worte purzelten förmlich aus ihm heraus, überschlugen sich, ohne Atempause.

Diesmal, so nahm Althea an, stand ihr ihre Verblüffung ins Gesicht geschrieben. Der Mann mit dem Spitznamen Beast hatte Jimmy gedroht, ihm die Finger zu brechen? Seine Kameraden wagten es immer noch nicht, sie anzusehen. Stattdessen saßen sie mit hochgezogenen Schultern da und versuchten sich kleinzumachen und ihren Blick zu meiden. „Ja, ich lasse es ihn wissen.“

„Prima.“ Jimmy griff nach dem Bierkrug und trank in großen Schlucken.

Sie wusste nicht, ob sie ihm sein Verhalten vorwerfen sollte. Und genauso wenig wusste sie, weshalb der Fremde zu ihrer Rettung geeilt war. Aber es tat ihr gut. Es war lange her, dass ein Mann, der nicht ihr Bruder war, sich für sie stark gemacht hatte.

Sie ging zu dem Tisch, an dem der hochgewachsene Gentleman gesessen hatte, um sein leeres Glas zu holen. Als sie es hochhob, lag ein Sovereign darunter.

„Der ist für dich.“

Als sie aufsah, erblickte sie Rob, der den Nachbartisch abwischte. Für gewöhnlich sammelte der schlaksige, schmale junge Mann alles ein, was auf den Tischen lag, und wischte sie gründlich ab. Doch da der Gast nichts schmutzig gemacht hatte, konnte sie ihm den Aufwand sparen. „Ich bin sicher, er war für dich gedacht, fürs Saubermachen.“ Eine mehr als großzügige Gabe für die Dienstleistung.

Rob trat zu ihr. „Mein Trinkgeld hat er mir gegeben. Der Sovereign auf dem Tisch gehört dir.“

„Er hat uns beiden einen Sovereign gegeben?“ Die Münze war zwei Mal so viel wert wie die zehn Shilling, die sie für sechs Tage Arbeit pro Woche verdiente. Jedenfalls wenn sie das Bier, das sie Jimmy über den Kopf gekippt hatte, nicht abzog.

Rob zuckte mit den Schultern, und die braunen Locken fielen ihm in die Stirn. „Wie alle Trewloves ist er wahrscheinlich so reich wie Krösus.“

Er war ein Trewlove? Sicher war er ihr deshalb bekannt vorgekommen. Wahrscheinlich hatte sie ihn bei einer der zahlreichen Hochzeiten seiner Familie gesehen. Die Trewloves hatten alle Adlige geheiratet. Die Besitzerin des Mermaid etwa, die nun die Gattin des Duke of Thornley war. Ob der Mann namens Beast seiner Schwester erzählen würde, wie unhöflich sie sich ihm gegenüber verhalten hatte? Ob sie ihre Arbeit verlieren würde? Aber warum hätte er ihr ein Trinkgeld dalassen sollen, wenn er dafür sorgen wollte, dass sie entlassen wurde?

„Na los, nimm schon.“ Rob begann den Tisch abzuwischen.

Sehr vorsichtig nahm sie die Münze an sich und ließ sie in ihre Rocktasche fallen. „Kommt er oft hierher?“

„Hängt davon ab, was du unter oft verstehst. Die Brüder Trewlove haben viel Zeit im Mermaid verbracht, ehe sie verheiratet waren. Er ist der Einzige, der der Ehefessel bisher entronnen ist, aber nun, da die anderen sich rarmachen, kommt er auch nicht mehr so oft.“

Wenn Mr. Trewlove das nächste Mal kam, würde sie ihn nicht nur wissen lassen, dass Jimmy sich entschuldigt hatte, sondern sich auch bei ihm dafür bedanken, dass er den übermütigen jungen Burschen ins Gebet genommen hatte. In nächster Zukunft würde es wahrscheinlich keiner der jungen Männer an seinem Tisch wagen, ihrem Hinterteil Beachtung zu schenken.

Und ganz sicher würde niemand ihr an diesem Abend noch zu nahe treten.

Trotzdem war sie froh, als die letzten Gäste um Mitternacht gegangen waren, und die Eingangstür verriegelt wurde. Sie und die anderen Beschäftigten stellten die Stühle auf die Tische, fegten und wischten den Schankraum und räumten ihn auf. Eine gute halbe Stunde später traten sie hinaus in die Gasse. Mac verschloss die Hintertür, sagte ihnen Gute Nacht und ging hinauf zu den Räumlichkeiten, die er bewohnte. Die anderen – Polly, Rob, der Koch, ein weiterer Barmann und die dritte Schankmagd – wünschten ihr ebenfalls Gute Nacht und gingen davon. Althea schlenderte zu der Straße vor der Taverne. Für gewöhnlich stand ihr Bruder schon da, wenn sie kam, um sie nach Hause zu begleiten. Er mochte es nicht, wenn sie bei Nacht allein in Whitechapel unterwegs war, und sie auch nicht.

Ein Anfall von Panik drohte sie zu übermannen, als sie in die Straße einbog. Von Griffith keine Spur. Sonst war er immer pünktlich, was sie anfangs erschreckt hatte. Als zweiter Sohn war er immer nur am Glücksspiel interessiert gewesen und hatte nie Verantwortung für irgendetwas außer seinem Amüsement übernommen.

Das Licht der wenigen Straßenlaternen konnte die Schatten nicht völlig zurückdrängen. Althea sah sich um und entdeckte in einiger Entfernung ein paar Menschen, die rasch kleiner wurden. Griffith würde ohnehin nicht aus dieser Richtung kommen. Vielleicht hatte er sich lediglich verspätet.

Bitte lieber Gott, mach, dass ihm nichts zugestoßen ist. Er war ein guter Schütze, ein meisterlicher Fechter und beherrschte den Faustkampf, aber dennoch konnte sie nicht sicher sein, ob es reichte, um die niederträchtigen Schurken zu besiegen, die in Whitechapel ihr Unwesen trieben. Ihr Bruder war mit den Gefahren dieser Gegend genauso wenig vertraut wie sie.

Sie zog ihren hermelingefütterten Umhang fester um sich und ging los in der Hoffnung, Griffith in Kürze auf sich zukommen zu sehen und sich ihrer Wohnung dann bereits ein gutes Stück genähert zu haben. Nach zehn Stunden Arbeit taten ihr die Füße weh und der Rücken und die Schultern nicht minder. Sie wollte nach Hause. Dann fiel ihr ein, dass sie nie mehr nach Hause gehen würde. Ihr Zuhause war ihnen fortgenommen worden, und was sie jetzt hatten, verdiente den Namen nicht.

Plötzlich sträubten sich ihr die feinen Härchen im Nacken, als berührte eine warme Hand ihren Hals. Sie wirbelte herum.

Die Leute, die sie kurz zuvor gesehen hatte, hatten sich noch weiter entfernt, statt auf sie zuzukommen. Doch obwohl sie sicher war, dass ihr keine Gefahr drohte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie nicht allein war. Dass sich jemand ganz in der Nähe befand, ihre scharfen Atemzüge hörte und sie beobachtete.

Aber in der Dunkelheit konnte sie nichts erkennen. Nur das gelegentliche Vorbeihuschen von Ratten war zu hören.

Sie griff in ihr Retikül, zog den kurzen Dolch hervor, den ihr ältester Bruder ihr geschenkt hatte, ehe er Gott weiß wohin verschwunden war. Sie bezweifelte, dass die vier Zoll lange Klinge reichte, um jemanden zu töten, aber vielleicht gab sie einem Halunken zu denken, hielt ihn in Schach.

Abgesehen davon war es wahrscheinlich ihre Fantasie, die ihr Streiche spielte. Bis vor drei Monaten war sie nie allein ausgegangen. Ihre Zofe, Lakaien, ihre Mutter, Freundinnen – immer hatte jemand sie begleitet. Nie war sie gezwungen gewesen, ihre Umgebung im Auge zu behalten, nie hatte sie befürchten müssen, belästigt zu werden. Doch inzwischen war sie außerordentlich wachsam und misstrauisch. Die ständige Sorge und die Unsicherheit nagten an ihr, und sie versuchte, nicht an die Vergangenheit zu denken, als Sicherheit etwas Selbstverständliches gewesen war und sie angenommen hatte, immer verwöhnt, gepflegt und sorglos zu sein. Als das Leben nur Freude, Lachen und Fröhlichkeit für sie bereitgehalten hatte.

Sie drehte sich wieder um und erstarrte, als ein paar Schritte weiter Griffith auftauchte. Beinahe hätte sie bei seinem Anblick aufgeschrien, doch dann wäre sie nur noch wütender geworden. „Wo zum Teufel hast du gesteckt?“

Er zog den Kopf ein. „Entschuldige. Ich wurde aufgehalten und habe ganz vergessen, wie spät es ist.“

„Aufgehalten wodurch?“

„Unwichtig. Lass uns nach Hause gehen.“

Er trat neben sie, legte ihr beschützend eine Hand auf die Schulter und zog sie mit sich. Auch er war wachsamer als sonst. Unablässig drehte er den Kopf hin und her, ließ den Blick über die Umgebung schweifen, als hielte er nach irgendetwas Ausschau.

Vor den Umwälzungen in ihrem Leben hatte er kaum je Zeit für sie gehabt. Ohnehin war sie nie sonderlich vertraut gewesen mit ihren Brüdern. Der Titelerbe, Marcus, war fünf Jahre älter als sie. Griffith drei, und sie hatte den Eindruck, dass beide sie als ein Ärgernis betrachteten, das es, wo immer möglich, zu meiden galt. Und selbst wenn sie ihrer Gesellschaft nicht entfliehen konnten, verwickelten sie sie nur selten in eine Unterhaltung, saßen eher schweigend und unbehaglich da. Das Einzige, was sie verband, schienen ihre Eltern zu sein.

Nach ein paar Schritten fiel ihr auf, dass die angenehme Empfindung einer warmen Hand in ihrem Nacken verschwunden war. Sie sah über die Schulter. Hatte tatsächlich jemand sie beobachtet und sich zurückgezogen, als Griffith aufgetaucht war?

„Ist dir auf dem Weg hierher jemand begegnet?“, fragte sie beiläufig.

„Nicht in unmittelbarer Nähe, und niemand, von dem ich den Eindruck hatte, dass er eine Gefahr für dich darstellt. Entschuldige meine Verspätung. Ich vermisse es sehr, dass mir nicht einfach eine verdammte Kutsche zur Verfügung steht, wenn ich eine brauche.“

In den gesamten vierundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie Griffith nie fluchen hören. Jetzt waren seine Bemerkungen oft gespickt mit Worten, die man in Anwesenheit einer Dame nicht äußerte, aber andererseits war sie keine Dame mehr. Auch ihr fehlte es, dass sie nicht mehr einfach eine Kutsche rufen konnte, erst recht, wenn sie befürchten musste, sich nicht länger auf den Beinen halten zu können.

Aber sie biss die Zähne zusammen, ging weiter, bis sie irgendwann bei dem schäbigen kleinen Quartier ankamen, das sie gemietet hatten. In der Wohnung im oberen Stockwerk, die nur über eine Außentreppe erreichbar war, wohnte jemand mit außerordentlich schwerem Schritt. Griffith schloss auf und öffnete die Tür, dann ließ er Althea eintreten. Es war keine komfortable Unterkunft. Gas, das ihre Situation ein wenig erträglicher gemacht hätte, gab es nicht. Stattdessen stand eine Petroleumlampe auf dem Eichentisch neben dem kalten Herd, und ihr Bruder beeilte sich, sie anzuzünden

„Sieht aus, als ob Marcus hier gewesen wäre.“ Griffith griff nach einem Päckchen, das in braunes Papier eingeschlagen und mit einer Kordel verschnürt war. Er wickelte es auf, und ein paar Pfundnoten kamen zum Vorschein. „Die sichern uns für eine Weile das Dach über dem Kopf.“

„Warum tut er so geheimnisvoll? Warum besucht er uns nicht und lässt stattdessen nur kleine Geschenke da, wenn wir nicht zu Hause sind?“ Als sie ihr gesellschaftliches Ansehen verloren hatten, alles verloren hatten, hatte Marcus sie unter seine Fittiche genommen, ihnen diese Wohnung besorgt. Doch sobald sie sich eingerichtet hatten, war er einfach verschwunden. Althea hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen.

„Es ist sicherer für uns und für ihn.“

„Warum willst du mir nicht sagen, was genau er tut?“ Die Frage hatte sie ihm schon viele Male gestellt.

„Ich weiß keine Einzelheiten.“ So lautete seine Antwort immer, obwohl sie inzwischen annahm, dass er log.

„Doch was immer es ist, es ist gefährlich.“ Je weiter sie das Thema verfolgte, desto sicherer war sie, dass ihre Sorge um Marcus angebracht war.

Ihr Bruder rieb sich die Stirn. „Es ist spät, Althea, und ich muss morgen in aller Frühe im Hafen sein. Ich sollte zu Bett gehen.“

„Erst will ich mir deine Hände ansehen.“

„Das ist nicht nötig.“

„Griffith, wenn sie sich entzünden, könntest du sie verlieren, und was wird dann aus uns?“

Mit einem leidgeprüften, dramatischen Seufzer – er hatte einmal eine Affäre mit einer Schauspielerin gehabt, und Althea kam der Gedanke, dass er sich einige ihrer Allüren abgeschaut hatte – nickte er.

Da es kalt war im Zimmer und sie heute Nacht kein Feuer haben würden, machte sie sich nicht die Mühe, ihren Umhang abzulegen. Sie pumpte Wasser in eine Schüssel, griff sich ein paar saubere Lappen und die Wundsalbe. Als sie sich zu ihm an den Tisch setzte, hatte er die Verbände, die sie ihm am Morgen um die Hände gewickelt hatte, abgenommen.

„Sie sehen besser aus“, sagte sie nach kurzer Prüfung.

Obwohl er Handschuhe trug, hatte das Heben und Tragen von schwerem Frachtgut Hautabschürfungen, Blasen und Schwielen verursacht. Er zuckte zusammen, als sie die Wunden versorgte. Es war ihr schleierhaft, wie er die Arbeit machen konnte. Bis vor drei Monaten war die einzige Anstrengung, die es in seinem Leben gegeben hatte, das Anheben eines Bierkrugs oder einer Karte am Spieltisch gewesen. Bei Tagesanbruch aufgestanden war er nie. Vor Mittag hatte man ihn selten zu Gesicht bekommen.

„Ach, ehe ich es vergesse. Eine gute Neuigkeit. Ein Gast gab mir heute Abend einen Sovereign Trinkgeld.“

„Wie kommt er dazu?“ Der Argwohn in Griffiths Stimme war nicht zu überhören. Sie hatten gelernt, niemandem zu trauen.

„Wegen meines Lächelns?“

Er grinste. „Es hieß, es wirke umwerfend auf Männer.“

In der Tat, es hatte eine Zeit gegeben, da war sie der Liebling des ton gewesen und hatte keinerlei Eile gehabt, sich auf jemanden festzulegen. Bis sie sich schließlich für den Earl of Chadbourne entschieden hatte. Sie hätten im Januar heiraten sollen, in ein paar Wochen. „Ich gebe ihn dir, wenn ich hier fertig bin.“

„Behalte ihn. Womöglich brauchst du ihn noch.“

„Ich will auch etwas beitragen.“ Darum hatte sie die Arbeit in der Schänke angenommen. Weil sie sich immer nutzloser gefühlt hatte. Ordnung zu halten, Essen zu kochen – durchaus eine Herausforderung – und Griffiths Kleider zu flicken hatte ihr nicht gereicht als Beschäftigung. Einen Großteil des Tages war sie sich selbst überlassen gewesen, ohne etwas tun zu können, außer sich Sorgen zu machen.

„Dann pass gut auf ihn auf. Ich lasse dich wissen, wenn wir ihn brauchen.“

Sie schätzte Griffiths Fürsorglichkeit, doch sie wollte auch als unabhängig betrachtet werden; wollte, dass ihre Brüder sahen, dass sie in der Lage war, mit der Veränderung ihrer Lebensverhältnisse umzugehen. Griffith würde Marcus niemals verbieten, sich in die Wohnung zu schleichen und ihnen Geld dazulassen, doch er weigerte sich, Geld von ihr zu nehmen.

Sie tätschelte ihm die frisch verbundenen Hände. „Fertig. Beinahe so gut wie neu.“

Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Nicht wirklich.“ Dann schob er den Stuhl zurück und stand auf. „Nimmst du die Lampe?“

Sie wusste nicht, warum er fragte. Es war ihr abendliches Ritual. Sie verließen das kleine Zimmer, und im Flur wandte er sich nach rechts und sie sich nach links. Sie wartete, bis er in seiner Schlafkammer, die nach vorne hinausging, verschwunden war, obwohl er immer behauptete, dass ihm die Dunkelheit nichts ausmache, dass er seinen Weg auch ohne Licht fand. Wenn er die Tür hinter sich schloss, ging sie zu ihrem Zimmer auf der Rückseite der Wohnung und kämpfte die Melancholie nieder, die sie beim Anblick des unmöblierten Zimmers und dem Stapel Decken auf dem Fußboden, die ihr als Bett dienten, jedes Mal überkam.

Sie wusste, dass ihr Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal gewesen war, musste sich aber an die Hoffnung halten, dass es mit der Zeit besser würde.

Sie stellte die Lampe auf dem Fußboden ab, zog sich aus und schlüpfte in ihr Nachthemd, dann löste sie ihr Haar, bürstete es ausgiebig und flocht es zu einem Zopf. Sie hatte sich gerade auf die Decken gelegt und den hermelingefütterten Umhang über sich gebreitet, als ihr der Sovereign einfiel. Sie fischte ihn aus der Rocktasche und kuschelte sich unter die Decke. Ohne dass sie es hätte erklären können, betrachtete sie die Münze als Talisman, als Versprechen auf eine bessere Zukunft.

Die Finger fest um das Geldstück geschlossen, legte sie die Hand auf die Brust, und hoffte einerseits, dass der Mann namens Beast wiederkommen würde, und betete andererseits darum, ihn nie wiederzusehen. Er hatte richtig geraten, als er ihre Herkunft in Mayfair verortet hatte.

Wie lange würde er brauchen, um herauszufinden, dass die Veränderung ihrer Lebensverhältnisse damit zu tun hatte, dass ihr Vater, der Duke, ein Hochverräter war?

Beast durchquerte die Eingangshalle und warf einen Blick in den vorderen Salon. Jewel, die Bordellmutter, war dabei, vier Kunden, die wahrscheinlich darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen, mit Alkohol abzufüllen und ihnen mit deftigen Anekdoten und Scherzen die Zeit zu vertreiben. Es war Jahre her, dass sie einen Mann mit in ihr Bett genommen hatte. Als sie ihn erblickte, lächelte sie leicht, um ihm zu signalisieren, dass alles in Ordnung war und kein Ärger drohte.

Himmel, wie er dieses verdammte Gewerbe verabscheute.

Er kehrte zurück ins Foyer und machte sich auf den Weg nach oben. Auf halber Treppe kam ihm Lily mit einem Gentleman entgegen. Der Bursche wirkte so stolz auf sich, dass Beast sich flüchtig fragte, ob es sein erstes Mal gewesen war. Dann sagte er sich, dass es ihn nichts anging. Und dass es ihm egal war. Er hatte die herumlungernden Männer, die Frauen, die ihnen die Zeit versüßten, bis oben hin satt. Genau wie die Pflicht, sie zu beschützen.

Im Korridor im obersten Stockwerk angekommen, wo seine und die Wohnräume der Frauen lagen, ging er zielstrebig in die Bibliothek. Nachdem er sich einen großzügig bemessenen Whisky eingeschenkt hatte, ließ er sich in den Ohrensessel vor dem lodernden Feuer fallen und versuchte, nicht an die Schankmagd zu denken, deren engelsgleiche Schönheit selbst einen Heiligen in Versuchung zu führen vermochte.

Allein die Erinnerung an sie reichte aus, um ein Verlangen zu empfinden, als säße sie ihm gegenüber.

Ein Zustand erhöhter Wachsamkeit hatte sich seiner bemächtigt, als er den Mann entdeckt hatte, der auf sie zugekommen war, nachdem sie die Taverne verlassen hatte. Er war nicht darauf aus gewesen, ihr nachzuspionieren, aber weil sie nicht aus Whitechapel stammte, hatte er sich vergewissern wollen, dass sie nicht so töricht war, allein durch die nächtlichen Straßen zu wandern. Doch wie es schien, gab es einen Beschützer in ihrem Leben – einen Ehemann oder Verehrer –, und sobald Beast erkannt hatte, dass sie keiner Gefahr ausgesetzt war, hatte er sich zurückgezogen und war nach Hause gegangen.

Nach Hause. Eine merkwürdige Bezeichnung für einen Ort, an dem Frauen ihren Lebensunterhalt in der Horizontalen verdienten. Mit den Jahren war es ihm gelungen, für viele von ihnen eine andere Arbeit zu finden, und jetzt waren nur noch sechs von ihnen übrig. Und sie mussten sich andere Fähigkeiten aneignen und gehörig aufpoliert werden, wenn es für sie eine Hoffnung geben sollte, ihr jetziges Leben hinter sich zu lassen.

Aber solange sie es nicht konnten, konnte er es auch nicht.

Weil er die Frauen, die unter seinem Schutz standen, nicht im Stich lassen, sie nicht der Gnade von Männern ausliefern würde, denen es nichts ausmachte, ihnen Gewalt anzutun. Er schuldete es Sally Greene. Sie hatte sich auf ihn verlassen, und am Ende hatte er versagt.

Er trank aus, stellte das Glas fort und starrte in die züngelnden Flammen im Kamin. Seine verbliebenen Schützlinge sollten einmal so viel Haltung zeigen wie die Schankmagd, die ihn an diesem Abend bedient hatte – auch wenn sie zweifellos auf eine jahrelange Erziehung zurückblickte, die bereits in der Wiege begonnen hatte. Ihre ganze Ausstrahlung wies darauf hin, dass selbst noch der geringfügigsten Kleinigkeit an ihr Aufmerksamkeit gezollt, dass keine einzige Facette ihrer Persönlichkeit dem Zufall überlassen worden war. Er hätte wetten mögen, dass sie Dutzende Lehrer gehabt hatte. Wenn er an die eleganten Bewegungen ihrer Hände dachte, die Gelassenheit, mit der sie ihm sein Glas hingestellt hatte, ihr Haar …

Ihr Haar war ein ziemlich schiefes Durcheinander gewesen, ohne Zweifel deswegen, weil sie nicht gelernt hatte, es zu frisieren. Es war die Aufgabe einer Zofe gewesen, und die Zofe, die dafür gesorgt hatte, dass jede Strähne dort blieb, wo sie hingehörte, gab es nicht mehr. Er stellte sich vor, wie es sein würde, die Haarnadeln herauszuziehen und zu beobachten, wie die schwere Pracht ihr über die Schultern fiel.

Das Bild ihrer geschürzten Lippen stieg vor seinem inneren Auge auf, als sie erfolglos versucht hatte, sich die widerspenstigen Strähnen aus dem Gesicht zu blasen. In Mayfair hatte sie das bestimmt nie tun müssen. Die Geste war typisch Whitechapel, wenn vielleicht auch das Einzige an ihr, das diesen Ursprung hatte.

Ob sie in einen Skandal verwickelt gewesen war? Oder hatte es einen gut aussehenden Verehrer gegeben, der ihr das Herz gestohlen und sie ruiniert hatte? War sie bereit gewesen, das Leben, für das sie erzogen worden war, über den Haufen zu werfen, weil sie sich in einen Bürgerlichen verliebt hatte? War es der Mann, der sie abgeholt und bei dessen Ankunft sie so überaus erfreut und erleichtert reagiert hatte?

Und wieso nahm sie so viel Raum in seinen Gedanken ein? Schließlich spielte sie keine andere Rolle in seinem Leben als die einer Schankmagd, die ihm sein Lieblingsgetränk brachte, wenn er die Taverne seiner Schwester besuchte.

Vielleicht sollte er eine der Frauen mitnehmen, wenn er das nächste Mal hinging. Die Bordellwirtin am besten, und ihr zeigen, wie elegant sich die Bedienung bewegte, wie perfekt ihre Haltung war, wie gelassen und gleichmütig ihr Mienenspiel …

Worte wie elegant und Mienenspiel würde er den Frauen erklären müssen. Beobachten allein würde ihnen nicht reichen. Sie mussten gezeigt bekommen, wie man es machte, wie man ein solches Maß an natürlichem Selbstbewusstsein erwarb. Sie brauchten jemanden, der sie unterrichtete. Aber wo zum Teufel sollte er so jemanden im ärmsten Teil Londons finden? Schließlich war es nicht so, dass die Straßen von Whitechapel überquollen vor vornehmen Leuten.

Er lehnte sich zurück, nahm das Glas in die Hand und beobachtete, wie das zuckende Licht der Flammen sich in dem geschliffenen Bleikristall spiegelte. Whitechapel quoll nicht über vor vornehmen Leuten. Aber eine vornehme Dame gab es hier.

Und er wusste, wo sie zu finden war.

2. KAPITEL

Es war schon nach zehn, als Altheas Spürsinn ihr plötzlich sagte, dass er hereingekommen war. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und stellte zwei Krüge auf den Tisch vor ihr, dennoch wusste sie mit jeder Faser, dass er da sein würde, wenn sie sich umdrehte. Hochgewachsen, breitschultrig und kühn, sein Blick auf ihr ruhend.

Als sie sich schließlich umwandte, war sie überrascht zu sehen, dass er sich nicht vom Eingang fortbewegt hatte, beinahe so, als hätte ihn ihr Anblick festgenagelt. Zu behaupten, ihr Blick hätte sich in seinen gerammt, drückte es noch milde aus. Was an ihm war es nur, das ihr das Gefühl gab, dass er sich an sie presste, und keineswegs auf die abstoßende Art, wie Jimmy es am Abend zuvor getan hatte, sondern in einer Weise, die ihre Brustspitzen zum Pochen brachte, unbotmäßige Dinger, die sie waren?

Sie war es, die den Blickkontakt abbrach, um zum Tresen zu gehen und die Getränke für einen Vierertisch zu holen. Setz dich nicht an einen meiner Tische. Setz dich an einen meiner Tische. Ja, bitte. Nein, auf keinen Fall.

Er tat es. An denselben Tisch, an dem er am Abend zuvor gesessen hatte, und plötzlich fiel ihr auf, dass nie ein anderer Gast dort saß. War es eine unausgesprochene Regel des Mermaid, dass der Platz stets für ihn frei gehalten wurde?

„Scotch!“, rief sie Mac zu, als er den letzten der vier Krüge vor sie hinstellte. Schnell brachte sie die Getränke zu den Gästen, holte den Whisky und ging in den hinteren Teil der Schankstube.

Man hätte nicht sagen können, dass er lächelte, als sie das Glas vor ihn hinstellte, doch ihr entging nicht, dass sich seine Mundwinkel kaum merklich nach oben bogen, fast so, als wäre er versucht zu grinsen. Es verursachte ihr eine merkwürdige Empfindung hinter den Rippen, wie von Hunderten aufflatternder Schmetterlinge.

„Sie haben sich mein bevorzugtes Getränk gemerkt.“

„Keine große Sache. Sie waren ja gestern Abend erst hier.“ Hatte sie ihre Lungen bei Mac gelassen? Weshalb fiel es ihr so schwer, Luft zu holen? „Jimmy hat sich entschuldigt.“

Er lehnte sich zu ihr vor, legte den Kopf ein wenig schräg, so wie Gäste es häufig taten, wenn sie ein Ohr in ihre Richtung hielten. Wie gewöhnlich war die Taverne voll, und man bekam kaum noch einen Platz. Bei dem lauten Stimmengewirr aus unzähligen Unterhaltungen, dem Gelächter, dem Scharren von Stuhlbeinen und den Faustschlägen auf Tischplatten, war es schwierig, jemanden zu verstehen, wenn er sprach. Althea pflegte es genauso zu machen.

„Was sagten Sie?“

Sie erhob die Stimme. „Jimmy hat sich entschuldigt – überschwänglich, um genau zu sein.“

„Gut.“

„Er beharrte darauf, dass ich es Ihnen mitteile.“

Er nickte nur.

„Drohen Sie Leuten oft an, ihnen die Finger zu brechen?“

Er nickte. „Und eine Menge anderer Knochen auch. Ich dulde es nicht, wenn Männer Frauen misshandeln.“

„Aber Sie kennen mich ja nicht einmal.“

„Bekanntschaft ist keine Voraussetzung dafür, dass ich sicherstelle, dass man Sie nicht belästigt.“

„Ich könnte ein veritabler Zankteufel sein.“

Sein Mund lächelte nicht, seine Augen allerdings schon, und irgendwie wurde er dadurch viel gefährlicher, viel nahbarer, viel charmanter.

„Es würde keine Rolle spielen.“ Der Stuhl mit der hohen, geraden Lehne schien für ihn so bequem zu sein, als wäre es ein dick gepolsterter Ohrensessel. „Sie sprechen nicht wie jemand, der aus der Gosse kommt.“

„Sie auch nicht.“ Er sprach, als entstammte er der Aristokratie. Sie hatte gehört, dass sich die Geschwister Trewlove, allesamt Bastarde, trotz anrüchiger Geburt und der bescheidenen Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen waren, in allen wichtigen und angemessenen Bereichen gebildet hatten und sich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegen konnten, ohne dass man ihnen ihre Herkunft anmerkte. Und in letzter Zeit konnte man den Eindruck gewinnen, dass die meisten von ihnen sich ganz und gar mühelos in dieser Welt bewegten. Außer ihm. Althea erinnerte sich nicht, ihn irgendwo anders als bei den kirchlichen Trauungen gesehen zu haben.

„Trotzdem haben wir eine sehr unterschiedliche Erziehung genossen. Lag ich richtig gestern Abend? Stammen Sie aus Mayfair?“

„Warum ist es Ihnen so wichtig, das zu wissen?“

„Warum ist es Ihnen so wichtig, dass ich es nicht weiß?“

Sie warf einen Blick in die Runde, vergewisserte sich, dass niemand ihr ein Handzeichen machte, und wünschte sich gleichzeitig sehnlichst, jemand täte es. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Da er so hartnäckig fragte, konnte sie ihm das Geheimnis genauso gut enthüllen, wenn er sie dann in Ruhe ließ. „Ich habe einmal in Mayfair gewohnt, richtig.“

Er verengte unmerklich die Augen, als versuchte er sich einen Reim darauf zu machen. „Dann sind Sie eine Dame von Stand.“

„Nein.“ Sie musste dem ein Ende setzen. „Sie irren sich.“ Vor drei Monaten hätte er richtiggelegen, aber heute nicht. Andererseits hätte sie ihm vor drei Monaten keinen Whisky serviert, sie hätten sich nicht unterhalten, und sie wäre froh darüber gewesen. Allerdings nur, weil sie dann niemals die Erfahrung gemacht hätte, dass er sie anblickte, als existierte auf der ganzen Welt nichts und niemand außer ihr.

„Das passiert mir nicht oft.“

War es eine höfliche Art, sie der Lüge zu bezichtigen? Sie hob die Brauen. „Eine überhebliche Bemerkung. Und dabei klangen Sie gar nicht überheblich, als Sie sie gemacht haben. Eher bescheiden.“

Flirtete sie etwa? Nein, wirklich nicht. Sie hatte sich das Flirten abgewöhnt. Es führte nur zu Herzeleid.

„Wahrhaftigkeit geht mit Selbstvertrauen einher“, erwiderte er ruhig. „Sie braucht keine Arroganz.“

„Dann sind Sie also ein Philosoph.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich möchte wetten, dass Sie dazu erzogen wurden, Ihren Platz in der Welt der Aristokratie einzunehmen, und zwar nicht als Dienerin, sondern als eine Frau, die bedient wird.“

„Ich nehme die Wette nicht an. Aber ich habe eine gute Erziehung genossen, ja.“ Seine Fragen wurden ihr langsam zu gezielt, drohten ihr Geheimnis zu enthüllen. „Wenn Sie mich dann entschuldigen wollen? Ich habe noch andere Gäste.“

„Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.“

Ach, wieso sagte er so etwas? Wenn sie doch gerade begonnen hatte, ihn zu mögen. „Sie und die Hälfte der Gentlemen in dieser Schankstube. Ich bin nicht interessiert.“

Sie straffte die schmalen Schultern und marschierte davon, und beinahe hätte er ihr hinterhergerufen: „Wer hat Sie belästigt?“

Wie es schien, gab es noch ein paar Kerle, mit denen er ein ernstes Wort wechseln musste.

Seufzend hob er sein Glas, trank bedächtig von seinem Scotch, während er sich gleichzeitig eingestand, dass er die Sache nicht gut gehandhabt hatte. Wahrscheinlich hätte er sein Anliegen besser erklären sollen, es anders formulieren. Und wie oft wurden die Männer im Mermaid als Gentlemen bezeichnet? Die meisten von ihnen waren Arbeiter, Hafenarbeiter, Maurer – nicht dass er etwas an ihren Berufen auszusetzen hatte. Er war selbst einmal Hafenarbeiter gewesen.

In Mayfair war natürlich jeder Mann, der ihren Weg kreuzte, ein Lord, ein Adliger, ein echter Gentleman, der so bezeichnet und so behandelt wurde. Was Beast erneut zu der Frage brachte, was zur Hölle sie in Whitechapel zu suchen hatte.

Aus Spaß war sie nicht hier. Als Gillie die Schänke eröffnet hatte, hatte er gelegentlich ausgeholfen. Die Arbeit war anstrengend. Er zog die Docks vor. Wenigstens musste er dort nicht Menschen gegenüber höflich sein, denen er am liebsten ein Ale über den Kopf gegossen hätte. Was womöglich der Grund war, weshalb er am Abend zuvor Jimmy gewarnt hatte. Normalerweise hätte er dem Burschen befohlen, die Finger von der Schankmagd zu lassen, und das hätte gereicht. Aber der Ausdruck von Furcht, der über ihre Gesichtszüge gezuckt war, als Jimmy sie auf seinen Schoß gezerrt hatte, war ihm durch und durch gegangen. Die rauen Sitten in diesem Teil Londons war sie eindeutig nicht gewohnt, und daher hatte er seinen Worten eine Drohung hinzugefügt.

Er trank seinen Whisky aus. Dann zog er seine Taschenuhr hervor, sah nach, wie spät es war, und steckte sie wieder ein. In einer Stunde wurde das Mermaid geschlossen. Es war verdammt kalt draußen, und er würde sich vergewissern, ob der Kerl, der sie am Abend zuvor abgeholt hatte, auch heute wieder kam.

Da sie es geflissentlich vermied, in seine Richtung zu schauen, brauchte es eine Weile, bis es ihm gelang, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er hob sein leeres Glas hoch, außerstande, den Blick von ihr abzuwenden.

Es verschlug ihm den Atem, wie schön sie war. Doch ihre Anziehungskraft hatte wenig damit zu tun, dass ihr Gesicht herzförmig war und ihre Nase schmal und zierlich, dass sie hohe Jochbeine besaß und zum Küssen einladende Lippen. Obwohl alles zusammen sie zu einem umwerfend attraktiven Geschöpf machte.

Es war die Beherrschtheit in ihren Gesichtszügen, die ihn faszinierte. Nie zeigte sich Zorn oder Ärger oder Ungeduld in ihnen. Gleichgültig, wie lange manche Gäste brauchten, um sich zu entscheiden, was sie wollten, oder sie mit Fragen das Angebot betreffend zu bombardieren, als wären sie noch nie zuvor in einem Wirtshaus gewesen und wüssten nicht, was man bestellen konnte. Gleichgültig, wie oft sie mit weiteren Getränken zum selben Tisch laufen musste. Gleichgültig, wie oft sie ein Getränk ersetzen musste, weil der Gast zu dem Schluss gelangte, dass das, was er bestellt hatte, ihm überhaupt nicht mundete.

Beast nahm an, dass sie an den Abenden, wenn er nicht da war, Klapse auf den Hintern bekam. Einen Gast sah er mit der flachen Hand nach ihr klatschen. Sein Begleiter versetzte ihm einen leichten Schlag auf das Handgelenk und machte eine ruckartige Kinnbewegung in Beasts Richtung. Der Möchtegern-Übeltäter riss erschrocken die Augen auf und nickte verstehend. Dass die Trewloves eine solche Art von Benehmen Frauen gegenüber nicht duldeten, war den meisten Bewohnern des Stadtteils bekannt.

Stets schenkte sie ihren Gästen ein freundliches Lächeln. Nur bei ihm bogen sich ihre Mundwinkel nicht nach oben, zeigte sich kein Funkeln in ihren Augen. Ihn zu bedienen war Arbeit, eine lästige Pflicht. Er vermisste ihr Lächeln und wusste nicht, weshalb. Er wusste nicht, warum sie am Abend zuvor seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und immer noch auf sich zog. Warum sie ihn daran erinnerte, wie einsam er war.

Als sie schließlich zu ihm kam und das frische Glas Whisky vor ihm abstellte, sagte er schnell: „Sie haben mich missverstanden, was mein Angebot angeht.“

„Das bezweifle ich.“

Sie reckte unmerklich das Kinn, und obwohl sie von eher zierlichem Wuchs war, sah es aus, als blickte sie vom Gipfel des Olymp auf ihn herab.

Er machte keinen Versuch, sie aufzuhalten, als sie davonging. Zu viele solcher hochmütigen Blicke hatten sich in den letzten Jahren auf ihn gerichtet, wenn er der Einladung zu einer der verwünschten Hochzeiten seiner Geschwister nachgekommen war. Sie alle hatten Adelige geheiratet, und jedes Mal war die Kirche brechend voll gewesen mit sogenannten feinen Leuten. Ein paar der Damen hatten sich ihm sogar genähert und ihm zu verstehen gegeben, dass sie einem etwas härteren Intermezzo nicht abgeneigt wären. Sie schienen zu glauben, dass es etwas Exotisches war, wenn sie es sich von einem Mann aus dem einfachen Volk besorgen ließen – ein Ausdruck, den sie ganz lässig benutzten, sehr zu seiner Verwunderung, denn er hätte gewettet, dass anständige Damen das Wort nicht kannten, geschweige denn in den Mund nahmen – statt von einem Aristokraten.

Eine hatte er an der Wand stehend genommen, eine andere über den Schreibtisch eines Vikars gebeugt, und beide vermutlich in ihrer Annahme bestärkt, bestätigt, dass er seinen Namen verdiente.

Danach hatte er sich beschmutzt, verdorben und benutzt gefühlt, keinerlei Verlangen mehr danach gehabt, je wieder mit einer Adligen intim zu werden.

Wenn er in Bezug auf die neue Schankmagd auch nur den Hauch eines Zweifels gehabt hätte, jetzt war er sicher. Er wusste nicht, was sie nach Whitechapel verschlagen hatte, aber er hätte wetten können, dass sie blaublütig war. Und er wollte verdammt sein, wenn er sie bat, ihm zu helfen.

Althea starrte auf die zwei Münzen auf dem Tisch, dann nahm sie sich vorsichtig eine.

„Sie sind beide für dich.“ Rob begann mit den nassen Lappen die Tischplatte abzuwischen.

„Weshalb sollte er mir zwei Sovereigns dalassen?“ Um ihr einen Vorgeschmack auf seine Großzügigkeit zu geben, wenn sie sein Angebot annahm?

Rob zuckte mit den Schultern. „Warum gibt er uns überhaupt Trinkgeld?“

„Wie viel hat er dir heute gegeben?“

„Zwei.“

Sie war nichts Besonderes für ihn, und die Erkenntnis erleichterte sie. An diesem Abend war er bis kurz vor der Schließung geblieben. Sie hatte gesehen, wie er mehrfach auf seine Taschenuhr geschaut hatte, als müsste er noch irgendwo hin. Aber wieso war er dann so lange geblieben?

Und wieso hatte er sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen? Ohne anzüglich zu grinsen oder sie zu begaffen, hatte er sie nur unauffällig beobachtet, und ein Außenstehender hätte wohl nicht sagen können, worauf genau seine Aufmerksamkeit gerichtet war. Doch sie hatte sich den ganzen Abend so gefühlt, als würden ihre Wangen unendlich zärtlich gestreichelt und widerspenstige Haarsträhnen gebändigt.

Als er den dritten Whisky bestellt hatte, war sie in der Erwartung an seinen Tisch getreten, dass er sein Angebot erneuern würde, und hatte sich bereits eine beißende Erwiderung zurechtgelegt, angesichts derer die beiden vorherigen Zurückweisungen höflich erschienen wären. Doch er hatte kein Wort verloren, als sie ihm das Glas hingestellt hatte, sie stattdessen gemustert, als könnte er auf den Grund ihrer Seele blicken und besäße die Macht, darin herumzuwühlen und alle ihre Geheimnisse herauszufinden.

Sie war ziemlich sicher, dass ihre Wangen unter seinem Blick hochrot geworden waren, und bedauerte, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, ihn ein weiteres Mal zurückzuweisen. Die meisten Männer, die ihr ihre schmutzigen Vorstellungen davon, was sie am liebsten mit ihr machen würden, mitteilten, gaben nicht auf, ehe sie sturzbetrunken unter dem Tisch lagen. Er hatte ihr sein Angebot unterbreitet, ehe er auch nur einen Schluck Alkohol getrunken hatte, und dadurch war es noch viel schlimmer, weil sie es nicht darauf schieben konnte, dass er berauscht war und nicht mehr klar denken konnte. Er hatte seine fünf Sinne beisammengehabt, und es tat umso mehr weh, dass er sie als eine Frau ansah, die seine Achtung so wenig verdiente.

Andererseits – was tat es zur Sache? Griffith hatte sie gewarnt, dass sie mit anzüglichen Bemerkungen und unanständigen Offerten würde rechnen müssen, wenn sie die Arbeit in der Taverne annahm. Vorher hatte sie es mit zwei anderen Beschäftigungen versucht. Für den schmalen Lohn einer Weißnäherin reichten ihre Nähkünste nicht aus, und ihr Versuch in einem Krämerladen hatte ebenso enttäuschend geendet. Der Besitzer hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu betatschen, und als er zufällig ihre Brust berührt hatte, war sie ohne viel Federlesens entlassen worden, weil sie ihm zufällig eine Ohrfeige verpasst hatte.

Auf die unerwünschten Aufmerksamkeiten im Mermaid hätte sie ohne Weiteres verzichten können, doch wenigstens war der Lohn besser als sonst irgendwo. Andere Beschäftigungen mochten akzeptabler sein und sie besser dafür geeignet, aber in der Aristokratie würde niemand sie als Gouvernante oder Gesellschafterin beschäftigen. Nicht nachdem der Verrat ihres Vaters die Mitglieder ihrer Familie zu Parias gemacht hatte.

Als sie und die andern aufgeräumt und abgeschlossen hatten, ging sie wie üblich zur Straße. Griffith war nirgendwo zu entdecken, und die Enttäuschung traf sie mit Wucht … abermals. Was in aller Welt war der Grund für seine Unpünktlichkeit? Und wenn es sie umbrachte, sie würde ihm die Antworten entlocken, wenn er auftauchte.

Sie kam zu dem Schluss, dass es genauso gefährlich für sie war zu warten, wie sich auf den Weg zu machen. Also nahm sie den Dolch aus ihrem Retikül und setzte sich mit weit ausgreifenden Schritten in Bewegung. Wie schon am Abend zuvor stellte sich auch heute wieder die angenehme Empfindung einer warmen Hand in ihrem Nacken ein. Ohne die Schritte zu verlangsamen, wirbelte sie herum, ging ein Stück zurück und spähte in die Dunkelheit. Es war niemand zu sehen, dennoch hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.

Sie wandte sich wieder um, begann schneller zu gehen und umklammerte das Heft der Waffe. Sicher würde Griffith jede Minute auftauchen. Sonst würde sie sich eine Mietdroschke nehmen. Einen kleinen Teil des unerwarteten Trinkgelds konnte sie darauf verwenden, sicher nach Hause zu kommen.

Wieder warf sie einen raschen Blick über die Schulter, doch es war nichts Verdächtiges zu hören oder zu sehen. Wahrscheinlich litt sie schon unter Verfolgungswahn nach all den Warnungen, die sie von Griffith zu hören bekommen hatte. Dass sie nachts arbeitete, fand nicht seinen Beifall, aber es war die einzige Arbeit …

Wie ein Schraubstock schlossen sich plötzlich Finger um ihr Handgelenk, und ein Arm schlang sich brutal um ihre Taille. Sie stieß einen markerschütternden Schrei aus, als sie in eine stockdunkle Gasse gezerrt wurde, und stach blindwütig mit dem Dolch zu. Als sie ihr Ziel traf, erschauderte sie.

„Du Schlampe! Du hast mich aufgeschlitzt!“

Ihr Kopf krachte gegen eine Backsteinwand und prallte davon ab. Grelle Lichtblitze zuckten um sie auf. Die Beine knickten unter ihr ein, und sie sank tiefer, immer tiefer …

Aus großer Entfernung, von irgendwo jenseits ihrer Existenz, hörte sie ein tiefes Grollen, gefolgt vom durchdringenden Knirschen von Knochen. Wieder Grollen. Schritte.

Eine große Hand umfasste schützend ihren Kopf. „Bleib, meine Schöne. Bleib bei mir.“

In der Stimme klang Verzweiflung mit, und sie hätte der Forderung gern Folge geleistet. Doch das Vergessen lockte unwiderstehlich.

3. KAPITEL

Zuerst war Althea sich nur der Wärme bewusst, die sie umgab, der Abwesenheit von Kälte, die nun schon so lange ein Teil ihres Lebens war. Dann stieg ihr Rosenduft in die Nase, so stark, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Abwechselnd tätschelte und rieb jemand ihre Hand.

„Wunderbar, meine Liebe, ganz wunderbar. Sie kommen zu sich.“ Eine weibliche Stimme; rau und heiser wie bei jemand, der Husten hatte.

Als sie die Augen aufschlug, blickte sie in das Gesicht einer Frau, die ein paar Jahre älter war als sie selbst und feuerrotes Haar hatte. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten, und ihr Lächeln enthüllte einen vorstehenden Schneidezahn. Ihre gütigen Züge verhießen Vergebung; eine Hirtin, die verlorene Lämmer aufnahm.

„Na also. Wunderbar, so ein braves Mädchen. Sie haben ihm ganz schön Sorgen gemacht.“ Die Frau warf leicht den Kopf zurück, und Altheas Blick ging an ihr vorbei zu Beast Trewlove, der an der dunkelgrün und burgunderrot tapezierten Wand neben dem Fenster stand, die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt, von der sie aus irgendeinem Grund ganz genau wusste, wie sie sich anfühlte. Bisher hatte sie ihn immer nur im Mantel gesehen und geglaubt, dass er deshalb so breit wirkte. Sie hatte sich geirrt. Er war unglaublich muskulös.

„Was ist passiert? Wie bin ich hierhergekommen?“

Sie befand sich in einem schummerig beleuchteten Salon, der ziemlich protzig mit roten, fransenbesetzten Polstermöbeln ausgestattet war, zudem mit zahlreichen Statuetten und Gemälden, auf denen man die strammen Hinterbacken und kecken Brüste nackter Paare in leidenschaftlicher Umarmung sehen konnte. Sie lag auf dem gemütlichsten Sofa, auf das sie ihren müden Körper je gebettet hatte.

„Sie sind ohnmächtig geworden, meine Liebe“, sagte die Frau in ihre Gedanken hinein.

„Ich werde nicht ohnmächtig.“ Sie war in ihrem ganzen Leben noch nicht ohnmächtig geworden.

„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Er musste Sie hertragen.“

Auf seinen starken Armen, an seiner breiten Brust. Der Mund wurde ihr trocken bei dem Gedanken.

„Ich heiße übrigens Jewel. Kommen Sie, ich helfe Ihnen, sich aufzusetzen, damit Sie ein wenig heißen Tee trinken können.“

Sie schob den Arm unter Altheas Rücken, hob sie an, und half ihr, sich an die dicken Polster zu lehnen. Althea verzog das Gesicht, als Schwindel sie erfasste und ein stechender Schmerz ihr durch den Schädel fuhr. Sie rieb sich mit einer Hand vorsichtig die Stirn, doch es half nicht.

„Ich habe nach dem Doktor geschickt“, hörte sie Beast ruhig sagen.

Sie sah auf, begegnete seinem Blick. „Ich brauche keinen Arzt.“

„Die Beule an Ihrem Hinterkopf und der Blutverlust sprechen eine andere Sprache.“

Überfallartig kamen die Erinnerungen, und sie wusste wieder, dass sie in eine dunkle Gasse gezerrt worden war. Konnte den Schmerz, der in ihrem Kopf explodiert war, aufs Neue spüren. Hörte das Grollen. Das Knirschen. Und eine Menge anderer Knochen auch. Wahrscheinlich hatte er ihrem Angreifer heute Nacht sämtliche Knochen gebrochen. „Sie sind mir gefolgt.“

„Ohne schändliche Absichten. Ich wollte nur sicherstellen, dass Ihnen nichts passiert, nachdem Ihr Ehemann nicht aufgetaucht ist.“

„Mein Ehemann?“ Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf und schrie beinahe auf vor Schmerz, presste sich die Finger an die Schläfen. Es schien das Beste zu sein, sich nicht zu bewegen. „Er ist nicht mein Ehemann, sondern mein Bruder.“ Dann fiel ihr etwas auf. „Woher wissen Sie überhaupt von ihm?“

Er besaß den Anstand, schuldbewusst auszusehen.

„Sie sind mir auch gestern Abend gefolgt.“ Seine Gegenwart hatte das warme Gefühl in ihrem Nacken verursacht.

„Nur bis ich wusste, dass Sie nicht allein waren. Dann bin ich meiner Wege gegangen.“

Sie war ihm dankbar, und gleichzeitig nahm sie ihm seine Fürsorge übel. „Mein Bruder wird sich Sorgen machen. Ich muss gehen.“

„Nicht ehe der Arzt Sie untersucht hat.“

„Ein Arzt kostet Geld.“

„Ich kümmere mich darum.“

„Ich möchte Ihnen nichts schuldig sein.“

Jewel lachte. „Ich würde sagen, das sind Sie bereits, meine Liebe.“ Sie hielt Althea eine Tasse auf einem Unterteller hin, hob die Tasse …

„Ich kann es allein, danke.“ Trotzdem war Althea erstaunt zu sehen, dass ihre Finger zitterten. Sie schloss beide Hände um das feine Porzellan, atmete das kräftige Aroma ein und trank einen Schluck. Der Geschmack war so köstlich, dass sie fast aufgestöhnt hätte. Wenn sie es schaffte, auf die Füße zu kommen, konnte sie fort sein, ehe der Arzt eintraf. Aber wenn sie jetzt aufstand, würde sie wahrscheinlich sofort umfallen, und sie wollte sich um keinen Preis schwach zeigen in Beasts Gegenwart. Wieder sah sie sich um. „Sind wir hier in einem … Bordell?“

Jewel lachte kehlig. „Volltreffer.“

Althea verengte misstrauisch die Augen und wandte sich zu Beast um. Ob er ihr hatte vorschlagen wollen, im Freudenhaus zu arbeiten, anstatt sich um ihn persönlich zu kümmern? Es war gut möglich, dass sein Angebot noch beleidigender ausgefallen wäre, als sie angenommen hatte. „Sie führen ein Bordell?“

„Jewel führt es. Ich wohne nur hier.“

Sie runzelte verwirrt die Stirn. „Sie sind ein …“ Wie sollte sie es nennen? „… eine männliche Hure?“

Was sich auf seinen Zügen zeigte, war immer noch kein Lächeln, doch seine Mundwinkel bogen sich höher nach oben, als sie es bisher bei ihm gesehen hatte. „Nein.“

„Nicht aus Mangel an interessierten Damen.“ Jewel lachte leise in sich hinein. „Er könnte ein Vermögen verdienen, wenn er zur Verfügung stünde.“

„Jewel, warum kümmerst du dich nicht um die Gäste, die darauf warten, an die Reihe zu kommen.“ Es war kein Vorschlag, sondern eine Anweisung.

Die Frau erhob sich vom Sofa, und Althea stellte erstaunt fest, wie groß und üppig sie war. Ihr eng anliegendes rotes Seidenkleid hob ihre drallen Rundungen hervor. „Vielleicht solltest du sie nach oben bringen. Die Kunden werden es nicht schätzen, wenn sie so lange im Foyer stehen müssen. Einige haben sicher einen Schreck gekriegt, als du mit dem leblosen Bündel auf den Armen wie ein Verrückter hereingestürmt kamst und sie angeschrien hast.“

„Gib ihnen ein Getränk aus. Ich komme dafür auf.“

Jewel lächelte augenzwinkernd und tätschelte Althea tröstend die Schulter. „Trinken Sie Ihren Tee aus. Der Brandy wird Ihnen guttun.“

Brandy. Kein Wunder dass der Tee so gut schmeckte und sie so gründlich wärmte. Sie trank einen weiteren Schluck, blickte Beast über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Er stand immer noch regungslos da, und sie wäre froh gewesen, wenn ihn die Nase gejuckt hätte, weil er dann eine Bewegung hätte machen müssen, anstatt jede ihrer Bewegungen zu beobachten. Sie kannte niemanden, der so lange so stillhalten konnte.

„Wir sind uns nie richtig vorgestellt worden. Man nennt mich Beast.“

„Ich weiß. Polly sagte es mir.“

„Dann bin ich im Nachteil, denn ich kenne Ihren Namen nicht.“

Ihr fiel ein, wie er sie in der Gasse genannt hatte. Die Verzweiflung, die Heiserkeit in seiner Stimme hallten immer noch in ihr nach. Meine Schöne. „Althea Stanwick.“

„Wie kommen Sie hierher, Miss Stanwick?“

„Sie haben mich hergebracht.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich stelle Ihnen die gleiche Frage wie gestern Abend. Was hat Sie nach Whitechapel verschlagen, in die Taverne meiner Schwester, und wieso riskieren Sie Ihr Leben, indem Sie nachts ohne Begleitung nach Hause gehen?“

„Dass ich allein unterwegs war, war nicht vorgesehen.“ Sie stellte die Teetasse beiseite. „Ich muss los. Wie ich schon sagte, mein Bruder wird sich Sorgen machen.“ Inzwischen war er wahrscheinlich außer sich. Der Stutzuhr auf dem Kaminsims zufolge war es nach zwei.

„Der Doktor …“

„Ich will keinen Doktor.“ Vorsichtig erhob sie sich, dankbar, dass sie nicht wankte. „Wo ist mein Umhang?“

„Was Sie vorhaben, ist töricht.“

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Meinen Umhang bitte, Sir. Sofort.“

Er ließ die Arme sinken, trat zu einem der Sessel und schnappte sich ihren Umhang und seinen Mantel. „Ich begleite Sie nach Hause.“

„Nicht nötig.“

Sein finsterer Blick hätte eine Invasionsarmee dazu gebracht, wie angewurzelt stehen zu bleiben. „Haben Sie nichts aus dem Überfall heute Abend gelernt?“

Sie war störrisch und unabhängig, diese zierliche kleine Person, die ihm bestenfalls bis zum Brustbein reichte. In der Taverne strahlte sie ein solches Selbstbewusstsein aus, dass sie viel größer wirkte. Noch verlockender war sie, wenn sie neben ihm her ging. Mit der Kapuze auf dem Kopf und den schmalen, ein wenig hochgezogenen Schultern, nicht dass er es ihr vorwarf, wirkte sie regelrecht eingemummelt in ihren Samtumhang. Es war so kalt, dass sich Atemwolken bildeten, und an den Rändern der Pfützen glitzerte Eis. Beast stellte den Kragen seines Wollmantels hoch.

Sie hatte sich nicht bei ihm unterhaken wollen, doch ihre Schritte waren kürzer und sie ging langsamer als früher am Abend, da er ihr gefolgt war.

Auch wenn er es sich nicht eingestehen mochte, war er erleichtert, dass es sich bei ihrem Beschützer um ihren Bruder und nicht ihren Ehemann handelte. Blieb die Frage, warum er vor dem Mermaid gewartet hatte. Vielleicht weil ihr Begleiter am Abend zuvor unpünktlich gewesen war? Oder weil er geahnt hatte, dass es Ärger geben würde?

Autor

Lorraine Heath
<p>Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt...
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