Tochter der Sünde - Duchess der Liebe?

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Er ist schwer verletzt! Die schöne Schankmaid Gillie schleppt den bewusstlosen Gentleman in ihre Wohnung. Doch kaum schlägt er die Augen auf, bereut sie ihr Tun. Denn noch nie hat sie eine so gefährlich maskuline Anziehungskraft verspürt wie bei Thorne, wie er sich nennt. Als er sie wieder verlässt, ist Gillie rettungslos seinem Charme verfallen. Nur brennende Sehnsucht bleibt ihr… bis er einige Tage später in ihrer Schänke auftaucht: Antony Coventry, Duke of Thornley. Gillie glaubt vor Glück zu vergehen, aber er hat ein grausames Anliegen: Seine Braut hat ihn vor dem Altar verlassen; ausgerechnet Gillie soll ihm helfen, sie aufzuspüren!


  • Erscheinungstag 24.01.2020
  • Bandnummer 119
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748623
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

London, Winter 1841

Ettie Trewlove war das Weinen von Babys gewohnt, schließlich hatte sie selbst vier. Dieses klägliche Jammern jedoch ertönte jenseits ihrer dünnwandigen Haustür. Während sie auf das energische Anklopfen wartete, das sie herbeizitieren sollte, betrachtete sie ihre geliebten Jungen, die schlafend in ihrem kleinen Bett lagen, und fragte sich, ob sie es wagen konnte, noch ein Baby bei sich aufzunehmen. Die wenigen Münzen, die sie dafür bekommen würde, reichten nicht lange vor, um es zu ernähren und zu kleiden. Sie reichten nie.

„Nicht noch eins“, flüsterte sie vor sich hin. „Nicht noch eins.“ Sie musste hart bleiben und dieses Kind zurückweisen, auch wenn ihr das Herz brach, weil sie es dadurch wahrscheinlich zu einem schlimmeren Schicksal verdammte.

Doch es kam kein Klopfen, obwohl das jämmerliche Weinen anhielt. Ganz langsam ging sie zur Tür, durch deren Ritzen ein eisiger Wind pfiff, öffnete sie und spähte nach draußen. Dicke Schneeflocken schwebten vom Himmel und hüllten alles in makelloses Weiß, das sich schon bald schmutzig grau verfärben würde; auch den Korb auf ihrer Türschwelle und das rotgesichtige Baby darin, das sich mit bloßen Ärmchen vergeblich gegen die Kälte, die Ungerechtigkeit und die Härte des Lebens zu wehren schien.

Ettie trat nach draußen und sah die trostlose Straße hinunter, in der nicht einmal Straßenlaternen brannten; nur vereinzelt fiel hier und da ein schwacher Lichtschein aus einem Fenster. Keine Menschenseele war zu sehen, niemand eilte hastig davon. Wer auch immer dieses Kind vor ihrer Tür abgelegt haben mochte, hatte es eilig gehabt, zu verschwinden. Allerdings hielt auch die Scham die meisten davon ab, länger bei ihr zu verweilen.

„Nicht einmal so anständig, wenigstens ein paar Pennys dazulassen“, grollte sie, als sie sich bückte, den Korb hochhob und ihn zusammen mit dem kostbaren Bündel darin in das schützende Innere ihres Hauses trug. Sie stellte ihn auf den Tisch und sah prüfend das Kleine an, das immer noch bitterlich weinte.

Die Decke war viel zu dünn, um das Kind wärmen zu können. Ettie schob sie beiseite und sah, dass man ihr ein Mädchen gebracht hatte. Das Baby war nackt und trug nicht einmal eine Windel. Dem Aussehen nach war es erst ein paar Stunden alt. Das Leben in den Elendsvierteln war weder freundlich noch sicher für ein Mädchen.

Ettie nahm das Kind behutsam auf den Arm, als wäre es aus hauchdünnem Porzellan, und setzte sich mit ihm in den Schaukelstuhl am Ofen, in dem das bisschen Kohle kaum ausreichte, das ganze Zimmer zu heizen. Als Ettie vor drei Jahren Witwe geworden war, hatte sie nach einer Möglichkeit gesucht, etwas Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Bekannte hatte davon geschwärmt, wie lukrativ es war, sich um die unehelichen Kinder der Gutbetuchten zu kümmern. Findelhäuser nahmen die in Sünde Geborenen nicht bei sich auf, die Arbeitshäuser auch nicht. Was sollte man anfangen mit jenen, deren bloße Existenz schon eine Schande war?

Sie brachte es jedoch nicht übers Herz, diese unschuldigen Geschöpfe einfach ihrem Schicksal zu überlassen, wie so viele andere es taten. Das war der Grund, warum sie vier Jungen hatte, die auf sie angewiesen waren. Und jetzt auch noch diese Kleine.

Sie mochte dem Kind vielleicht nicht viel zu bieten haben – aber sie konnte ihm Liebe schenken. Sie betete darum, dass das ausreichte.

1. KAPITEL

Whitechapel, Mitte August 1871

Er starb wegen einer verdammten Uhr. Es spendete Antony Coventry, dem neunten Duke of Thornley, nur bedingt Trost, dass er die Schande seiner Dummheit mit ins Grab nehmen und niemand davon erfahren würde.

In diesem Moment jedoch war Trost nur schwer zu finden. Die Schurken gingen wirklich grob mit ihm um; zwei zogen ihm unsanft die Stiefel aus, ein weiterer zerrte an seiner Jacke, während der vierte sich damit abmühte, die Uhrkette vom Knopf seiner Westentasche zu lösen. Seltsam, dass der Dieb sich jetzt solche Mühe gab, nachdem er Thorne zuvor zwei so heftige Tritte gegen den Kopf versetzt hatte, dass der vorübergehend das Bewusstsein verloren hatte.

Was vielleicht die Folge dessen gewesen war, dass er beschlossen hatte, seine Uhr mit allen Kräften zu verteidigen. Widerstandslos hatte er seinen Geldbeutel und seinen Siegelring ausgehändigt, schließlich war er nicht dumm. Vier gegen einen – das war aussichtslos. Geld und Ringe konnten ersetzt werden. Den Tritt gegen die Schläfe hatte er einstecken müssen, weil er dem Anführer die Gegenstände nicht rasch genug übergeben hatte.

„Her mit der Uhr, aber schnell!“, hatte der Rüpel höhnisch verlangt.

Die Uhr. Sie war von Generation zu Generation weitervererbt worden. Das auf dem Deckel eingravierte Wappen war schon ganz abgenutzt, nachdem ein Duke nach dem anderen vor einer schwierigen Entscheidung besorgt mit dem Daumen darübergestrichen hatte. Er selbst war fünfzehn gewesen, als ihm sein Vater auf dem Sterbebett in einem selten gewordenen lichten Moment die Uhr in die Hand gedrückt hatte. „Dein Vermächtnis. Pass gut darauf auf. Mach mich stolz auf dich.“

Also hatte er zu den Halunken in der dunklen Gasse, in der der Nebel waberte, gesagt: „Bedaure, Gentlemen, aber ich habe Ihnen alles gegeben, was ich zu geben bereit bin. Die Uhr behalte ich.“

Vielleicht wäre seine Antwort anders ausgefallen, wenn er die Messer früher bemerkt hätte. Aber nein, wahrscheinlich nicht. Sie hatten ihn am Oberschenkel, an der Seite, an der Schulter und am Arm verletzt. Die Schläge harter Fingerknöchel und die Tritte schwerer Stiefel, die folgten, als er schon in die Knie gegangen war, hatten ihn vollends niedergestreckt. Er blieb im Dreck liegen und spürte, wie sein warmes Blut durch die ihm verbliebene Kleidung sickerte und langsam kalt wurde. Sein Blick trübte sich immer mehr, bis er nur noch die schmutzigen Hände sehen konnte, die sich um seine kostbare Uhr schlossen.

„Ich hab sie!“, rief der Schurke.

„Nein!“ Er glaubte, den Schrei durch das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren hindurch zu hören. Er musste tatsächlich geschrien haben, denn die Augen des Räubers weiteten sich, kurz bevor ihm Thorne mit letzter Kraft die geballte Faust gegen das Kinn schlug. Das Bersten brechender Knochen war zu hören, dann bohrte sich ein weiteres Messer durch seine Haut in sein Fleisch und seine Muskeln …

„Was zum Teufel macht ihr da?“

Die Männer erstarrten, als der empörte Schrei von den Mauern der umstehenden Häuser widerhallte.

„Großer Gott, das ist Gil! Sehen wir zu, dass wir schleunigst wegkommen!“, nuschelte der Anführer, als hätte er sich den Kiefer ausgerenkt.

Thorne hörte, wie sie mit schweren Schritten davonrannten. Dann ein neues Geräusch, leichtere, aber eilige Schritte. Verschwommen nahm er wahr, dass sich jemand neben ihn kniete und ihn mit sanften Händen vorsichtig berührte.

„Was für eine verdammte Schweinerei!“

Sie klang wie ein Engel. Es dürfte sich auch weniger um ein Fluchen handeln als um eine zutreffende Beschreibung seiner blutgetränkten Kleidung. Woher kam sie? War sie eine Gefährtin dieses Kerls namens Gil? Hatte der die Verfolgung der Wegelagerer aufgenommen? Er wünschte, er könnte sie deutlicher sehen, aber ihm wurde langsam schwarz vor Augen. „Meine … Uhr.“

Sie beugte sich über ihn, und er nahm den Geruch von … Bier wahr. Konnte das sein? „Wie bitte?“

„Uhr.“ Der Gauner hatte sie fallen gelassen, das hatte er genau gehört. Verzweifelt tastete er den Boden neben sich ab. Er musste sie unbedingt finden.

Sie hielt seine Hand fest und umschloss sie mit langen, schlanken Fingern. „Hier ist keine Uhr, Schätzchen. Hier ist gar nichts.“

Das konnte nicht sein. Er sollte die Uhr doch eines Tages an seinen Sohn weitergeben! Aber nun würde es wohl keinen Sohn mehr geben. Keinen Erben, keine Ehefrau, nichts.

Nur den Tod. In einer faulig stinkenden Gasse, in der es plötzlich eiskalt war, eine Kälte, die ihm bis in die Knochen kroch. Warm war ihm nur dort, wo die Unbekannte ihn berührte. Er klammerte sich fester an ihre Hand und hoffte, dass ihre Wärme auf ihn überging und ihm Kraft gab. Er durfte nicht sterben, nicht so, nicht kampflos.

Er durfte nicht aufgeben. Erst musste er Lavinia finden.

Gillian Trewlove legte den Arm um die Schultern des Mannes und versuchte, ihn aufzurichten. Sie fluchte leise. „Du bist verdammt schwer.“ So wie er dalag, war es schlecht abzuschätzen, aber sie vermutete, dass er ein ganzes Stück größer war als sie, also deutlich größer als einen Meter achtzig. Sie klopfte auf seine unrasierte Wange, bis er langsam wieder zu sich kam. „Komm, Schätzchen. Du musst aufstehen!“

Er nickte und versuchte, sich aufzusetzen, wobei sie ihm behilflich war, so gut sie konnte; sie zog hier, stemmte dort und achtete nicht auf seine Schmerzenslaute. Der typisch kupferartige Blutgeruch hing in der Luft. Seine Kleidung war nass, aber nicht vom immer dichter werdenden Nebel, der sie allmählich einhüllte wie ein dünnes Leichentuch.

„Hör zu, ich kann dich nicht allein tragen. Ich weiß, die Dunkelheit ruft nach dir, und sie ist eine verlockende Geliebte. Aber du musst ihr widerstehen. Du musst gegen sie ankämpfen und mir helfen.“

Wieder ein Nicken, ein Ächzen, mühsames Atmen. Sie schlüpfte unter seinen Arm, bot ihm ihre Schulter als Stütze und legte ihren Arm um seinen Rücken. Er stöhnte erneut schmerzerfüllt auf, und sie bemerkte die warme Flüssigkeit, die ihr über die Finger rann. Nicht gut. Gar nicht gut.

Er stützte sich auf sie und lehnte sich Halt suchend an die Backsteinmauer. Er schob sich daran hoch, sie drückte und zog ihn, bis er schließlich stand. Oh ja, sehr viel größer als ein Meter achtzig.

„So ist es gut. Ich wohne gleich dort drüben, es ist nicht weit.“ Sie hatte ihre Schänke wie immer um Mitternacht geschlossen, ihre Angestellten waren nach dem Aufräumen nach Hause gegangen, und sie hatte noch eine Weile über den Büchern gesessen. Um halb eins hatte sie Schluss gemacht und gerade den Müll nach draußen bringen wollen, als sie den Lärm gehört hatte. Es ärgerte sie maßlos, dass sich hinter ihrem Lokal offenbar Schändliches abspielte. Sie duldete keine Raufbolde in ihrer Schänke, und außerhalb ebenfalls nicht. Ihre Toleranz war bei Übeltaten sehr eingeschränkt und sogar noch eingeschränkter, wenn dabei Menschen verletzt wurden.

Sie kamen nur sehr langsam voran. Er atmete keuchend und unregelmäßig, und mehr als einmal geriet er ins Stolpern und richtete sich dann mühsam wieder auf. Mit sanfter Stimme sprach sie auf ihn ein und spornte ihn weiter an, wenn er nicht stolperte oder schwankte. Sie überlegte, ihn in die Schänke zu bringen, aber es war nicht gut, wenn er je dort sterben sollte. Besser brachte sie ihn in ihre Wohnung, allerdings würde die Treppe eine echte Herausforderung sein.

Endlich hatten sie sie erreicht. „Halt dich am Geländer fest, und zieh dich daran nach oben. Du musst nur die Füße etwas mehr anheben.“

„Gut“, sagte er leise, aber entschlossen.

„Du schaffst das.“

„Das muss ich auch. Ich habe noch ein paar alte Rechnungen zu begleichen.“

Ein Mann mit einem festen Ziel vor Augen konnte einiges überstehen, das hatten ihr ihre Brüder beigebracht. „Spar dir deinen Atem und deine Kraft für das Treppensteigen.“

Es war ein langer, beschwerlicher Aufstieg, aber sie musste ihm zugutehalten, dass er nicht ein einziges Mal ins Schwanken geriet, obwohl er zu zittern angefangen hatte, und das wiederum beunruhigte sie. Es war zwar eine kühle Nacht, aber nicht so kühl, dass man eine Jacke gebraucht hätte, und Gillie schwitzte mittlerweile vor Anstrengung. Andererseits floss in ihren Adern deutlich mehr Blut, während er zunehmend Blut verlor und eine dunkelrote Spur auf der Treppe hinterließ. Auf der drittletzten Stufe sank er auf die Knie, und sie wäre beinahe über ihn gestolpert. Sie fand ihr Gleichgewicht wieder und kniete sich neben ihn.

„Wir haben es fast geschafft.“ Auf allen vieren erklomm er mühsam eine Stufe nach der anderen. Gillie sprang hoch, holte ihren Schlüssel hervor und sperrte ihre Wohnungstür auf. „Hier drinnen kannst du dich erst einmal auf den Boden fallen lassen.“ Und genau das tat er. Sie rannte die Treppe wieder hinunter und eilte in die Schänke. „Robin?“

Der kleine Junge, der in einem schmalen Bett am Kamin schlief – trotz all ihrer Bemühungen, ihm ein richtiges Zuhause zu suchen, was er strikt ablehnte –, setzte sich auf und rieb sich die Augen. „Ja?“

„Hol sofort Dr. Graves in meine Wohnung.“ Sie drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. „Nimm eine Droschke, wenn du eine findest. Du musst dich beeilen. Sag ihm, bei mir auf dem Fußboden stirbt ein Mann.“

„Haste versucht, ihn umzubringen, Gillie?“

„Hast du“, verbesserte sie ihn automatisch. Sie versuchte stets, an seiner Aussprache zu arbeiten, denn sie hatte frühzeitig die Erfahrung gemacht, dass eine gute Ausdrucksweise einen besseren Eindruck bei den Leuten hinterließ. „Hätte ich das getan, wäre es wohl nicht bei einem Versuch geblieben, nicht wahr? Dann wäre er jetzt tot.“

„Was is denn passiert?“

Wieder ein fehlender Buchstabe, aber sie hatte keine Zeit, den Jungen zu korrigieren. „Später. Jetzt hol Dr. Graves! Schnell!“

Der Junge schlüpfte in seine Schuhe und flitzte davon.

Als Gillie in ihre Wohnung zurückkehrte, stellte sie erschrocken fest, dass der Mann sich während ihrer Abwesenheit keinen Millimeter bewegt hatte. Sie legte den Finger an seine Lippen und spürte seinen schwachen Atem auf ihrer Haut. Erleichtert seufzte sie auf und beugte sich hinab zu seinem Ohr. „Wag es nicht, jetzt einfach zu sterben!“, drohte sie ihm.

Er hörte ihre Stimme, die ihn beschwor durchzuhalten, wie durch einen dicken Nebel, sanft und zugleich etwas heiser, während sein geschundener Körper und seine Seele sich wieder nach der tiefen Besinnungslosigkeit sehnten, in der nur noch Frieden herrschte. Gillie deckte ihn mit einer warmen Decke zu, aber er zitterte unkontrolliert weiter, und seine fest zusammengebissenen Zähne klapperten trotzdem. Sie drückte die Hand auf den tiefsten Schnitt. Es tat höllisch weh, aber ein noch funktionierender Teil seines Bewusstseins sagte ihm, dass die Blutung gestillt werden musste, wenn er eine Chance haben wollte, zu überleben.

„Bleib bei mir“, drängte sie jetzt. „Dr. Graves wird gleich hier sein.“

Graves? Einer der Ärzte der Königin? Wie kam es, dass sie, die in einem so schäbigen Viertel wie Whitechapel wohnte, einen so berühmten Mann kannte?

„Wie heißt du?“, fragte sie.

Seine Gedanken zerstoben, als er sich darauf konzentrierte, diese einfache Frage zu beantworten. „Thorne.“

„Ich bin Gillie.“

War sie etwa dieser Gil, vor dem die Räuber geflohen waren? Er hatte das für eine Kurzform von Gilbert gehalten. Blinzelnd versuchte er, diesen sich über ihn beugenden Menschen schärfer zu sehen, aber sein Sehvermögen war noch nie besonders gut ausgeprägt gewesen, was Dinge betraf, die sich direkt vor ihm befanden. Er wollte nach seiner Brille in der Jackentasche tasten, doch dann fiel ihm ein, dass die Räuber die Jacke mitgenommen hatten. Also konzentrierte er sich darauf, so viel wie möglich von dem Geschöpf zu erkennen, das ihm zu Hilfe gekommen war.

Kurzes Haar, das kaum die Ohren bedeckte. Dunkel. Mehr konnte er in dem schwachen Licht nicht ausmachen. Eine Bluse … nein, keine Bluse. Ein Hemd, ähnlich wie seins. Ein Kilt? Nein, kein Tartan, einfarbig. Ein Rock? Das ergab keinen Sinn. Warum hätten die Räuber vor einer Frau weglaufen sollen?

„Mir gehört die Schänke unten.“

Offenbar doch ein Mann, ein Mann mit der Stimme eines Engels. Egal. Der Kerl hielt ihn davon ab, das Diesseits zu verlassen, nur darauf kam es an.

Dann fing der Engel an, ihm den Prozess des Bierbrauens zu schildern. Eindeutig ein Mann. Eine Frau hätte über die verschiedenen Stiche eines Stickmusters geredet. Er konnte einfach nicht klar denken. Natürlich war das ein Mann. Eine Frau hätte niemals vier Banditen in die Flucht geschlagen, ihn die Treppe hinaufgeschleppt und ihm nun die Unterschiede zwischen verschiedenen Schnapssorten erklärt.

Er wusste nicht, warum er darüber enttäuscht war. Er wusste nur, dass die Finger, die ihm behutsam durch das Haar fuhren, die sanftesten waren, die er je gespürt hatte.

2. KAPITEL

Sie hatte ihn verloren. Irgendwann während ihrer Schilderung des Unterschieds zwischen Brandy und Cognac hatte er das Bewusstsein verloren. Das war wie ein Fausthieb für sie, sie wollte ihn nicht verlieren. Mit einem Stoffstreifen hatte Gillian seinen Oberschenkel straff verbunden, sie hatte seine anderen Wunden mit Leinen verschlossen – obwohl er dabei vor Schmerzen geschrien hatte – und drückte nun mit aller Kraft ihre Hand auf die schlimme Verletzung an seiner Schulter, sie schien der tiefste Schnitt zu sein. Unter ihren Fingern sickerte das Blut nur noch schwach, während die anderen Blutungen, den roten Flecken auf dem Leinen nach zu urteilen, wohl zum Stillstand gekommen waren. Er war jedoch so blass, als pulsierte nicht mehr genügend Blut durch seinen Körper.

Eilige Schritte waren auf der Treppe zu hören, dann ein energisches Anklopfen an der Tür, Gott sei Dank!

„Schnell!“, rief sie. Sie ärgerte sich über sich selbst und wünschte, sie hätte die Tür offen gelassen, aber sie hatte vermeiden wollen, dass es zu kühl im Zimmer wurde und der Fremde sich zu Tode fror.

William Graves kniete bereits neben ihr auf dem Boden, ehe ihr auffiel, wie derangiert er aussah. Bestimmt hatte Robin ihn aus dem Schlaf geholt, und der Arzt hatte sich beeilt, sich etwas überzuwerfen. Wahrscheinlich hatte er nur seine Finger benutzt, um seine helle Lockenpracht zu bändigen, und rasiert schien er auch nicht zu sein.

„Heiliger Bimbam! Was für eine verdammte Schweinerei!“, rief Robin, der dem Arzt ins Zimmer folgte und mit großen Augen den reglosen Mann auf dem Fußboden anstarrte. „Das war kein Fluch, Gillie, ehrlich! Ich meine nur das viele Blut.“

„Ich weiß, Robin. Das hast du gut gemacht. Aber jetzt ab ins Bett mit dir. Du brauchst das nicht mit anzusehen.“

„Aber …“

Unter ihrem strengen Blick wich er zwei Schritte zurück. „Ins Bett! Und erzähle niemandem von ihm.“

„Warum nicht?“

„Weil ich dir das sage!“

Er sah sie verdrossen an, als gefiele ihm ihre Antwort nicht, ehe er sich umdrehte und aus dem Zimmer schlurfte. Also wirklich! Männer schmollten öfter als jede Frau, die sie kannte. Das Leben steckte voller Enttäuschungen. Am besten, man lernte aus ihnen, bevor man sie einfach abtat und mit seinem Leben weitermachte.

„Was ist passiert?“, fragte Dr. Graves und holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Er hatte die blutgetränkte Decke weggezogen.

Sie wunderte sich, wie er so ruhig sein konnte. „Er ist unten in der Gasse von Räubern überfallen worden. Er nennt sich Thorne, ob das sein Vor- oder Nachname ist, weiß ich nicht.“

„Es könnte auch sein Titel sein.“

„Was hat ein Adeliger in diesem heruntergekommenen Teil von Whitechapel zu suchen?“

„Was hat eine einigermaßen begüterte Frau hier zu suchen?“, konterte er, während er den Mann zügig abtastete und jede Wunde einzeln untersuchte, ehe er sich der nächsten widmete.

Gillie war nicht begütert gewesen, als sie hier angefangen hatte. Ihr ältester Bruder hatte ihr unter die Arme gegriffen, und sie arbeitete immer noch hart, um etwas aus ihrem Leben zu machen. „Sie gibt denen etwas zu trinken, die das wünschen, und sie gibt denen Arbeit, die Arbeit brauchen.“

Der Arzt sah sie mit seinen blassblauen Augen an. „Das war nur ein Gegenargument, Gillie. Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung ihrer kleinen Küche. „Wenn Sie seine Beine nehmen und ich seinen Oberkörper anhebe, schaffen wir es dann, ihn auf den Tisch zu legen?“

Es war mühsam, aber Gillies Größe erwies sich als Vorteil, als sie den Mann auf den Tisch wuchteten. Er war ebenfalls sehr groß, die Tischplatte reichte nur bis zu seinen Kniekehlen. Außerdem war er kräftig gebaut. Seine Schultern waren breit, die Schultern eines Arbeiters, und sein Körper war der eines Mannes, der sich nicht Tag und Nacht der Völlerei hingab. Er schien ein Mann der Tat zu sein. Sie bezweifelte stark, dass er ein Adeliger war, aber das erlesene Tuch seiner ihm verbliebenen Kleidung ließ zumindest darauf schließen, dass er ebenfalls begütert war.

„Warmes Wasser!“, verlangte Graves entschieden und riss Gillie aus ihren Betrachtungen, zu denen sie weiß Gott keinen Anlass haben sollte. Die Zeit drängte, wenn sie diesen Mann retten wollten, und der Arzt erwartete zu Recht von ihr, dass sie ihm zur Hand ging.

Sie schob ein paar Holzscheite in den Ofen, machte Feuer und stellte einen Topf mit Wasser auf die Ofenplatte. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich, weil sich nicht nur ein, sondern gleich zwei Männer in ihrer Wohnung aufhielten. Sie brachte nie Männer hierher und empfing auch nie Besuch, nicht einmal ihre Brüder. Diese Räume waren ihr Zufluchtsort; ein Ort, an den sie sich vor der Härte des Lebens zurückziehen und an dem sie den Frieden finden konnte, den sie brauchte, um wieder leichter in der Welt draußen zurechtzukommen. Sie hatte immer zu Zurückgezogenheit geneigt, weil die vielen Leute und das geschäftige Treiben in der Schänke ihr viel Energie entzogen. Um überleben zu können, hatte sie gelernt, sich nicht völlig zu isolieren, trotzdem brauchte sie eine ungestörte Umgebung, in der sie wieder zur Ruhe kam.

Sie prüfte die Wassertemperatur, kam zu dem Schluss, dass das Wasser warm genug war, und goss es in eine große Schüssel, die sie sonst zum Teigkneten benutzte. Dann drehte sie sich um, und beinahe wäre ihr die Porzellanschüssel entglitten. Graves hatte den Mann vollständig entkleidet und untersuchte jetzt die Wunde an seinem Oberschenkel – die in der Nähe seines Geschlechts war, das jetzt zwar erschlafft, aber immer noch von beeindruckender Größe war.

Als Mädchen hatte sie ihre Brüder nackt gesehen, wenn sie einmal in der Woche gebadet worden waren, aber da waren sie Kinder gewesen, und dieser Mann war definitiv kein Kind mehr. Von Kopf bis Fuß war er ein sehr beeindruckendes Exemplar von einem Mann mit ausgeprägten Muskeln. Das Haar auf seiner Brust war fein und dunkel und verlief dann in einer dünnen Linie bis zu der Stelle, bei der ihr das Atmen plötzlich schwerfiel. Sie stellte die Schüssel neben seinem Kopf auf den Tisch, eilte zum Wäscheschrank und zog hastig ein Bettlaken heraus.

„Sehr gut“, lobte Graves. „Wir brauchen Stoffstreifen zum Verbinden.“

Sie fuhr zu ihm herum. „Ich dachte eher daran, anstandshalber seine Blöße zu bedecken!“

Der Arzt schien plötzlich zu verstehen und streckte die Hand aus. „Verzeihung, Gillie, ich habe nicht nachgedacht.“ Er nahm ihr das Laken ab und breitete es über seinem Patienten aus, wobei er den verletzten Oberschenkel und einen Großteil des Oberkörpers aussparte. Das Laken schmiegte sich an den Körper des Mannes und trug nicht dazu bei, dass sie vergaß, was sich darunter befand. Sie befürchtete, rot zu werden wie ein schüchternes Mädchen, ausgerechnet sie, die erfahrene Schankwirtin. „Wird er überleben?“

„Ich hoffe es. Die Verletzungen an Schulter und Oberschenkel sind am schlimmsten, aber nicht weiter lebensbedrohlich. Er hat eine klaffende Wunde am Gesäß. Mit den Stichwunden an der Seite und am Arm hat er Glück gehabt, sie scheinen nur oberflächlich und nicht tief genug zu sein, um wichtigere Teile getroffen zu haben. Trotzdem hat er sehr viel Blut verloren.“ Er hob den Kopf und sah sie an. „Er kann froh sein, dass Sie ihn gefunden haben.“

„Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.“

„Ich muss die Wunden gründlich säubern, was unglaublich schmerzhaft für ihn sein wird, und sie dann nähen. Da ich nicht will, dass er aufwacht und sich gegen mich wehrt, werde ich Chloroform verwenden. Sobald er fest schläft, müssen Sie dafür sorgen, dass das so bleibt, bis ich fertig bin. Ich halte Sie für intelligent genug, meine Anweisungen genau zu befolgen.“

Sie nickte. „Was immer Sie wünschen.“

„Und Sie fallen mir auch nicht in Ohnmacht?“

„Machen Sie sich nicht lächerlich!“

Trotzdem wurde ihr ein wenig übel, als sie ihm bei der Arbeit zusah, deshalb konzentrierte sie sich darauf, den Patienten genau zu beobachten, damit er ja nicht wach wurde. Er hatte Blutergüsse im Gesicht, einen am Kinn, den anderen auf der Wange, und ein Auge schwoll allmählich zu. Drei Schläge also, ganz zu schweigen von den vielen blauen Flecken an seinen Armen und am Oberkörper. Er musste sich verzweifelt gewehrt haben.

Sie verstand nicht, warum die Leute ihre Wertsachen bei einem Überfall nicht einfach aushändigten. Kein Gegenstand war so kostbar wie das Leben. Andererseits schien dieser Mann allein dem Aussehen nach ziemlich kompromisslos zu sein. Er hatte eine markante Kieferpartie mit dunklem Bartschatten. In letzter Zeit dürfte er sich nicht rasiert haben, daher glaubte sie nicht, dass er unterwegs zu einer Frau gewesen war. Die meisten Männer machten sich in dem Fall wenigstens etwas zurecht, selbst wenn sie für die Liebe, die sie suchten, bezahlen mussten.

Ehe Graves zu arbeiten angefangen hatte, hatte sie bereits etwas warmes Wasser in eine andere Schüssel gegossen. Jetzt tauchte sie einen Lappen ein und begann, dem Fremden behutsam das getrocknete Blut vom Gesicht zu tupfen. Ihr gefiel nicht recht, was dabei zum Vorschein kam. Selbst mit den Blutergüssen und Kratzern war er der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Er löste die seltsamsten Empfindungen in ihr aus, ein Flattern und Kribbeln in ihrem Inneren … Das war ein ganz neues Gefühl für sie. Normalerweise reagierte sie nicht auf Männer, höchstens mit Wachsamkeit. Sie hatte schon früh gelernt, nicht darauf zu vertrauen, dass Männer sich ihr gegenüber anständig benahmen; daher war sie stets bereit, sie in ihre Schranken zu weisen und dafür zu sorgen, dass sie sich nichts von ihr holten, was sie nicht zu geben bereit war. Bis zu diesem Tag hatten ihre Lippen noch nicht einmal die Lippen eines Mannes berührt.

Ihre Mum war in den Elendsvierteln sehr um ihre Sicherheit besorgt gewesen, deshalb hatte sie ihr die abgelegten Sachen ihrer Brüder angezogen, ihr das Haar kurz geschnitten und ihre Brüste von Anfang an fest bandagiert. Gillie war schon fast erwachsen gewesen, als sie zum ersten Mal einen Rock getragen hatte. Sie war froh, wenn sie keine Aufmerksamkeit erregte. Selbst in der Schänke hielt sie sich am liebsten hinter dem Tresen auf und mischte sich nur ganz selten unter die Gäste, es sei denn, es gab Ärger.

Allein ihre Erscheinung wirkte einschüchternd. Durch ihre Größe war sie unmöglich zu übersehen, und ihr aufgebrachter Blick versprach Vergeltung. Nicht unbedingt in Form von körperlicher Züchtigung, obwohl sie durchaus austeilen konnte, aber sie hatte vier wesentlich stärkere Brüder, die jederzeit bereit waren, sie zu verteidigen – und das wussten alle.

Das war bestimmt auch der Grund, warum die Räuber die Flucht ergriffen hatten, als sie aufgetaucht war, was wiederum bedeutete, dass sie aus dieser Gegend stammten. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass sie denjenigen vielleicht bedient hatte, der diesem Mann das angetan hatte, einem so prachtvollen Mann, der sich unter ihren Händen so gut anfühlte. Als alles Blut und aller Schmutz von seinem Gesicht abgewaschen waren, hätte sie sich am liebsten über ihn gebeugt, die Kratzer und Blutergüsse weggeküsst und ihn wenigstens auf diese Weise geheilt.

Sie war nie sehr mütterlich veranlagt gewesen, die harten Zeiten in ihrer Jugend hatten solche Instinkte verdrängt. Wenn ihre Brüder verprügelt worden waren, hatte sie ihre Verletzungen immer leidenschaftslos versorgt und war stets darauf bedacht gewesen, ihr eigenes Herz zu schützen. Es tat viel zu weh, für jemanden tiefere Zuneigung zu empfinden. Sie kannte ihre Grenzen und den Weg, der vor ihr lag. Ein Weg ohne Ehe, Kinder und Liebe. Der verletzte Mann weckte in ihr den Wunsch, weicher zu sein, ihn in die Arme zu nehmen und ihm allen Trost spenden zu können, Empfindungen, die sich so viele Jahre in ihr aufgestaut hatten.

„So.“ Graves holte sie aus ihrer seltsamen Trance zurück, während deren sie einen Mann angestarrt hatte, als könnte er tatsächlich erfreut sein, in ihren Armen zu liegen, wenn er wieder zu sich kam. „Das sollte fürs Erste reichen.“

Sie bedauerte beinahe, ihn nicht weiter versorgen zu können, und war fast neidisch auf den Glücklichen, der sich um ihn kümmern würde. Sie trug die Schüssel und den Lappen zurück zum Spülstein, denn sie waren nur im Weg bei dem, was als Nächstes passieren würde.

„Wenn Sie mir helfen, können wir ihn aufs Bett legen“, sagte Graves.

Sie fuhr mit klopfendem Herzen herum. Auf das Bett? Das war nicht das, was als Nächstes hätte passieren sollen. Sie hatte eigentlich an die Kutsche des Arztes gedacht. „Sie lassen ihn nicht hier!“

Graves schloss seine Arzttasche und richtete sich auf. „Wir haben wohl keine andere Wahl.“

„Wir ziehen ihn wieder an …“

„Ich musste seine Kleidung zerschneiden und zerreißen, um ihn ausziehen zu können.“

„Nun, das war ziemlich dumm.“

„Es ging schneller und einfacher so, außerdem war sie ohnehin schon ruiniert.“

Aber jetzt hat er nichts mehr zum Anziehen! hätte sie beinahe entsetzt gerufen. Ein eigenartiges Gefühl, fast schon eine Angst machte sich in ihr breit – ausgerechnet in ihr, die sich noch nie im Leben vor etwas gefürchtet hatte, bis auf ein einziges Mal. Er konnte nicht hierbleiben. Was sollte sie mit einem Mann in ihrem Bett anfangen? „Dann wickeln wir ihn eben in ein frisches Laken und eine Decke und tragen ihn in Ihre Kutsche.“ Sie war froh, dass ihr sachlicher Tonfall nicht ihr ungutes Gefühl, ihr Zögern und ihre Angst verriet.

„Bei einer holprigen Fahrt in der Kutsche reißen wahrscheinlich seine Wunden wieder auf. Er hat schon so viel Blut verloren, einen weiteren Blutverlust würde er wohl kaum überleben. Es ist besser, wenn er vorerst hierbleibt.“

„Wenn Sie langsam und vorsichtig fahren, wird es nicht holpern.“

„Gillie!“ Unter seinem scharfen Blick fühlte sie sich wie ein unvernünftiges Kind, das ermahnt wurde, stillzusitzen. „Wenn Sie seinen Tod in Kauf nehmen, nachdem ich mir solche Mühe gegeben habe, ihn wieder zusammenzuflicken – warum haben Sie mich dann überhaupt hergerufen?“

„Ich dachte nicht, dass er bei mir bleiben muss.“

„Er ist viel zu schwach, um die Situation auszunutzen.“

Sie schnaubte wenig damenhaft. „Als ob das meine Sorge wäre! Ich habe gusseiserne Bratpfannen, mit denen ich mich sehr gut verteidigen kann.“

„Was ist denn dann Ihr Problem?“

Ein Mann in ihrem Schlafzimmer, in ihrem Bett. Sie war fast dreißig und hatte noch nie einen Mann in ihrem Bett gehabt, so etwas gab nur Ärger. Ihre Mum trug die Last sechs unehelicher Kinder nicht, weil Männer Heilige waren. „Ich muss arbeiten“, erwiderte sie knapp.

„Sie öffnen erst in ein paar Stunden. Vielleicht hat er sich bis dahin so weit erholt, dass er später am Tag gehen kann.“

In der Zwischenzeit musste sie auf ihn aufpassen und ihn weiter versorgen. Hatte sie vorhin noch bedauert, das nicht selbst tun zu können, machte diese Aussicht sie jetzt ausgesprochen nervös. Sie atmete tief durch und versuchte, ihrer Furcht Herr zu werden. „Können Sie mir eine Krankenschwester schicken?“

„Ich soll um diese Uhrzeit jemanden aus dem Schlaf holen?“

Ja, natürlich, was für eine dumme Frage! „Nein, aber vielleicht gleich morgen früh.“

Er nickte. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber jetzt …“ Er schob die Hände unter die Schultern des Mannes und zog eine blonde Augenbraue hoch. Sie hätte ihn am liebsten geohrfeigt, aber immerhin hatte er einmal einen ihrer Brüder gerettet.

Sie eilte in ihr Schlafzimmer und schlug die Bettdecken zurück, ehe sie zu Graves an den Tisch zurückkehrte. Vorsichtig zog sie dem Mann das Laken über die Knie und passte auf, dass es dabei an seiner männlichsten Stelle nicht verrutschte, obwohl eigentlich alles an ihm äußerst männlich wirkte. Er hatte lange, kräftige Beine, muskulöse Waden und große Füße. Was sie über die Größe von Männerfüßen in Bezug auf die Größe anderer gewisser Körperteile gehört hatte, schien also zu stimmen. Wenn die Männer in ihrer Schänke zu viel getrunken hatten, wurde ihre Ausdrucksweise oft derb, und sie sagten Dinge, die für die Ohren einer Dame eigentlich nicht bestimmt waren. Aber sie war ja auch keine Dame.

Sie schob endlich ihre Arme unter seine Knie, und mithilfe des Arztes schleppte sie ihn in ihr Schlafzimmer. Er war sehr schwer, und ihr kam der Gedanke, dass er bei dem Überfall vielleicht die Oberhand gewonnen hätte, wenn die Kräfteverhältnisse nur ein klein wenig ausgeglichener gewesen wären. Zum Glück verrutschte das Laken nicht, als sie ihn auf das Bett legten. Durch die Größe dieses Mannes wirkte es plötzlich klein, fast wie ein Kinderbett.

„In manchen Kulturen ist man für einen Menschen verantwortlich, nachdem man ihn vor dem Tod gerettet hat“, bemerkte Graves ruhig.

„Ich bin nicht für ihn verantwortlich.“ Sie war nicht sonderlich erfreut, dass ihre Worte wenig überzeugend klangen.

„Ich lasse ihm Laudanum gegen die Schmerzen da und eine Salbe, die verhindern soll, dass seine Wunden sich entzünden. Die Verbände sollten mehrmals am Tag gewechselt werden. Sagen Sie mir Bescheid, wenn er fiebert und halluziniert. Versuchen Sie, ihm wenn möglich etwas Wasser und Brühe einzuflößen.“

Sie seufzte schwer. „Er wird eine ziemliche Last sein für mich.“

Graves lachte leise. „Die Frauen, die ich kenne, sind der Meinung, dass das auf die meisten Männer zutrifft. Aber vielleicht ist er es ja wert.“

Das bezweifelte sie. „Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“

„Das regele ich mit ihm selbst, wenn er sich wieder erholt hat.“ Er nahm seine Tasche und sah Gillie scharf an. „Denken Sie daran, mich zu benachrichtigen, wenn ich gebraucht werde?“

Sie nickte, begleitete ihn hinaus und schloss die Tür hinter ihm. Dann lehnte sie sich dagegen und fühlte sich erschöpfter als jemals zuvor in ihrem Leben. Sie sah sich um, die sonst so friedliche Atmosphäre in ihrer Wohnung fehlte. Brutalität und Gewalt – jedenfalls die Folgen davon – hatten sich Zutritt verschafft. Gillie hatte das kaum zu unterdrückende Bedürfnis, alles mit kochend heißem Wasser abzuwaschen.

Stattdessen begnügte sie sich damit, den Tisch und die Schüsseln gründlich zu reinigen, ehe sie die zerrissene Kleidung des Fremden aufhob. Die Sachen konnten geflickt werden; soviel sie wusste, waren sie das Einzige, was er noch besaß. Die Kleidung mochte ursprünglich elegant gewesen sein, aber das hatte nicht viel zu sagen. Vielleicht machte er ja gerade schwierige Zeiten durch – sonst hätte er sich wohl kaum in dieser Gegend aufgehalten. Sie hatte vor, die Sachen später zu waschen.

Erst jetzt merkte sie, dass ihre eigene Kleidung voller Blut war, seinem Blut. Sie sollte sich so schnell wie möglich umziehen, bevor er wach wurde und sie sich wieder um ihn kümmern musste.

Zuerst spürte Thorne nur die grausamen Schmerzen. Er versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Die Wegelagerer, der Kampf, der Raub seiner Habseligkeiten, der Mann mit der Engelsstimme, der ihn gerettet hatte.

Mit äußerster Anstrengung schlug er die Augen auf. Im Zimmer war es dunkel bis auf eine einzelne Lampe auf dem Tisch neben dem Bett und den schwachen Feuerschein im Kamin. Davor konnte er eine Gestalt ausmachen, die sich gerade ein Hemd über den Kopf mit den kurzen Haaren zog und es zur Seite warf. Fasziniert beobachtete er, wie die Gestalt eine Leinenbandage von ihrem Oberkörper wickelte, bis das Licht aus dem Kamin auf zwei vollkommene Brüste fiel. „Sie sind doch eine Frau!“

Ein spitzer Aufschrei. Ihre Bewegungen waren so hastig, dass er ihnen in seiner Benommenheit nicht folgen konnte, doch als ein wütender Schmerz durch seine linke Schulter schoss, begriff er, dass sie irgendetwas nach ihm geworfen hatte. Er stöhnte gequält auf. Instinktiv griff er nach seiner Schulter, drehte sich auf die Seite und machte die Sache dadurch nur noch schlimmer. Er wurde gnadenlos daran erinnert, dass die Banditen ihn mit Messern malträtiert hatten – zur Hölle mit ihnen! Jetzt würde er sterben, nur wegen einer verdammten kurzen Bemerkung. Wie oft konnte man in einer einzigen Nacht dem Tod immer wieder ins Auge sehen und trotzdem Sieger bleiben?

Er stöhnte erneut auf, als die Matratze neben ihm nachgab. Plötzlich drehten ihn kühle Hände sanft wieder auf den Rücken. Erst wollte er sich dagegen wehren, aber dann fühlten diese Hände sich so herrlich zart und sanft an, dass er sie gewähren ließ.

„Es tut mir leid“, sagte sie, „aber Sie haben mich erschreckt.“

Die Schmerzen spielten für ihn keine Rolle mehr. Plötzlich hatte die Möglichkeit, zu sterben, nichts Erschreckendes mehr für ihn, nicht, wenn das Letzte, was er auf dieser Welt sah, ein hübscher Busen genau vor seinem Gesicht war, zum Küssen nahe. Vielleicht hätte er genau das auch getan, aber er befürchtete, dass sie ihn dann so hart ohrfeigen würde, dass er aus dem Bett fiel.

„Verdammt, Sie bluten schon wieder.“ Sie presste die Hand gegen seine Schulter.

Er sah Funken, sein Blick trübte sich. Beinahe hätte er vor Schmerzen laut aufgeschrien, doch sein Stolz hinderte ihn daran. Er biss die Zähne zusammen, fest entschlossen, sich nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Gleichzeitig zwang er sich, sich ganz auf sie zu konzentrieren, weil er nicht wieder in Bewusstlosigkeit versinken wollte. Er wollte bei dieser Frau bleiben, die ihn gerettet hatte, die seine Verbindung zum Leben war und die selbst jetzt ihr Schamgefühl unterdrückte, um seine Blutung zu stillen.

„Ich glaube, es hat aufgehört zu bluten“, stellte sie nach einer Weile sachlich fest.

Die meisten Frauen, die er kannte, fielen allein bei dem Wort Blut in Ohnmacht, von dessen Anblick ganz zu schweigen.

Sie stand auf. Irgendetwas hielt sie in der Hand, aber er konnte nicht erkennen, was es war. „Ich hole frisches Leinen und wechsele Ihren Verband“, sagte sie und kehrte ihm den Rücken zu. Sie stellte den Gegenstand zurück auf den Kaminsims, von dem sie ihn ursprünglich genommen hatte, um damit nach ihm zu werfen. Dann ging sie zum Schrank, holte etwas zum Anziehen heraus und machte sich auf den Weg zur Tür. Kurz davor blieb sie stehen, drückte das Bündel an ihre Brust und drehte sich zu ihm um.

Ihr Hals und ihre Schultern blieben nackt, und er konnte sich vorstellen, was für ein Vergnügen es für einen Mann sein musste, beides mit den Lippen zu berühren. Er hatte offenbar hohes Fieber, dass er in seinem Zustand überhaupt an so etwas denken konnte.

„Bleiben Sie im Bett!“, befahl sie energisch, als wäre sie es gewohnt, Befehle zu erteilen, die ohne Widerspruch befolgt wurden.

Dann war sie fort, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und er blieb allein zurück und zählte die Minuten bis zu ihrer Rückkehr.

3. KAPITEL

Gillie zitterte so sehr, dass sie Mühe hatte, sich anzuziehen. Die Spitzen ihrer Brüste waren schmerzhaft aufgerichtet. Noch nie zuvor hatte der heiße Atem eines Mannes ihre Haut gestreift. Das Gefühl war erschreckend und gleichzeitig angenehm gewesen, angenehm auf eine Art, mit der sie nie gerechnet hätte. Und sich erst recht nicht erhofft hatte.

Sie hatte sich mit einem Arm abgestützt, als sie sich über ihn gebeugt hatte, dabei wäre ihr nichts lieber gewesen, als auf ihn zu sinken, bis sie seine warme Haut an ihrer gespürt hätte.

Nachdem ihre blutbefleckte Kleidung auf dem Boden lag und Gillie sich saubere Sachen angezogen hatte, ging sie zur Küche, goss kaltes Wasser in eine Schüssel und spritzte es sich ins Gesicht, um ihre Wangen zu kühlen. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass sie flammend rot waren.

Sie schüttelte die letzten Wassertropfen von den Händen, nahm ein Handtuch und tupfte damit ihr Gesicht ab. Jetzt hatte sie sich wieder besser unter Kontrolle und fühlte sich imstande, sich um den Fremden zu kümmern, obwohl er ihr gar nicht mehr wie ein Fremder vorkam nach der unbeabsichtigten intimen Szene zwischen ihnen.

Sie musste ihm unbedingt etwas Brühe einflößen und ihn dann fertig waschen, auch wenn ihr das entsetzlich peinlich war. Noch nie im Leben war sie vor einem Mann rot geworden, und sie würde ganz bestimmt nicht jetzt damit anfangen.

Doch als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, hatte er die Augen geschlossen und atmete leise und gleichmäßig. Sie war nicht sonderlich erfreut, dass sie darüber sowohl erleichtert als auch enttäuscht war. Ihre Neugier hatte sie dazu gebracht, ihn mit Fragen löchern zu wollen. Und ihre Verlegenheit, weil sie seinen Atem auf ihrer Haut genossen hatte, brachte sie dazu, sich von ihm fernhalten zu wollen.

Essen konnte er auch später. Im Moment war es wichtiger, ihn vom letzten Schmutz zu befreien und dem getrockneten Blut. Ihre Schänke oder ihre Wohnung zu putzen hatte noch nie zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört. Umso merkwürdiger, dass sie sich jetzt beinahe auf die vor ihr liegende Aufgabe freute.

Ganz langsam kam Thorne wieder zu sich. Er hatte Schmerzen. Alles tat ihm weh, doch die Schmerzen waren unterschiedlich stark. Am schlimmsten waren sie in seiner linken Schulter, seinem rechten Oberschenkel und seiner rechten Gesäßhälfte. Er war sich nicht sicher, ob er sich jemals wieder würde richtig bewegen können.

Ehe er jedoch vor Schmerzen stöhnen oder gar schreien konnte, spürte er einen warmen, feuchten Lappen, also konzentrierte er sich darauf und verbannte die Schmerzen in die hinterste Ecke seines Bewusstseins, wohin er alles Unangenehme zu verbannen neigte, anstatt sich damit zu befassen. Der Lappen berührte sanft seine Brust, und er stellte sich vor, wie sie jede einzelne Rippe zählte, während sie sich mit ihrem Lappen immer weiter nach unten vortastete bis zu seinem Bauch und seiner Hüfte.

Er versuchte krampfhaft, die Augen zu öffnen, doch es blieb bei zwei schmalen Schlitzen, durch die er nur blinzeln konnte. Seine Retterin saß auf der Bettkante; er sah sie immer noch verschwommen, aber nicht mehr so undeutlich wie vorher, und er fragte sich, wie er je an ihrem Geschlecht hatte zweifeln können. Ihr Haar und ihre Kleidung waren zwar irritierend, aber das Profil ihres Gesichts war zart und fein. Eine kleine Nase, ein rundes Kinn und ein langer, schlanker Hals. Am meisten faszinierten ihn jedoch ihre Augen. Die Farbe konnte er nicht erkennen, dafür war es zu dunkel, aber das Mitgefühl und die Anteilnahme in ihrem Blick waren nicht zu übersehen, während sie sich ganz auf ihre Aufgabe konzentrierte.

Es war ein leichter Schock für ihn, feststellen zu müssen, dass er nichts anhatte, lediglich ein lose über seine Hüften gebreitetes Laken bedeckte seine Blöße einigermaßen. Als er das erste Mal aufgewacht war, hatte er kaum etwas anderes wahrgenommen als sie. Wie gebannt hatte er sie angestarrt. Er hatte wach bleiben wollen bis zu ihrer Rückkehr, aber das hatte er offensichtlich nicht geschafft. Darüber war er enttäuscht, andererseits hätte sie sich wohl kaum solche Freiheiten herausgenommen, wenn er wach gewesen wäre.

Jetzt schien sie sich große Mühe zu geben, um das dünne Laken herumzuarbeiten; sie schob es nur gerade so weit zur Seite, dass sie seinen Oberschenkel, die Wade und den Fuß säubern konnte, achtete aber sonst sorgfältig darauf, dass es seine intimsten Stellen stets verdeckte. Es war sehr warm im Zimmer, sicher kam das von einem Feuer im Kamin, wenn er das flackernde Licht im Hintergrund richtig deutete, doch das war ihm unwichtig. Für ihn zählten nur sie und die Sanftheit, mit der sie ihn behandelte, als wäre er jemand, den man schätzen, beschützen und umsorgen musste – kein Mann, vor dem die Frauen wegliefen.

Nachdem sie mit ihrem Vorhaben fertig war, deckte sie ihn wieder ganz mit dem Laken zu, legte den Kopf in den Nacken und bewegte ihn leise stöhnend hin und her. Unter anderen Umständen hätte ihn dieser Laut erregt, aber nun wollte er nur die Hand ausstrecken, ihren Nacken massieren und ihre Schmerzen lindern, so wie sie seine gelindert hatte. „Danke“, krächzte er.

Sie sprang so abrupt auf, dass das Bett schwankte, und sein geschundener Körper reagierte mit wieder heftiger werdenden Schmerzen, sodass er unwillkürlich aufstöhnte. „Verzeihung.“ Sie streckte die Hand aus, zog sie dann wieder zurück und machte einen Schritt nach hinten, als wäre sie sich nicht ganz sicher, was sie mit ihm anfangen sollte – oder mit sich selbst. „Sie haben mich schon wieder erschreckt.“

„Das scheint eine Angewohnheit von mir zu sein.“

„Ich habe nicht gemerkt, dass Sie wach sind.“

Im schwachen Licht der Lampe neben dem Bett konnte er sie etwas genauer ausmachen, aber nicht in allen Einzelheiten. Sie war groß, wahrscheinlich die größte Frau, die er je gesehen hatte, nur ein paar Zentimeter kleiner als er, zudem schlank, aber nicht mager.

„Haben Sie Durst?“, fragte sie.

Es fiel ihm schwer, aber er brachte ein Nicken zustande.

„Ich hole Ihnen Wasser.“

Sie wischte sich die Hände am Rock ab, ehe sie das Zimmer verließ, und er wünschte, er hätte nichts gesagt, aber seine Kehle war so trocken, dass er kaum schlucken konnte. Die Versuchung, wieder einzuschlafen, war groß, aber er kämpfte dagegen an, weil er nicht wollte, dass sie sich umsonst um das Wasser bemühte. Also konzentrierte er sich auf seine Umgebung, zumindest auf das, was er erkennen konnte. Ein Schaukelstuhl am Kamin. Porzellanfiguren, Meerjungfrauen und Einhörner, auf dem Kaminsims. Er nahm an, dass sie mit einer Meerjungfrau nach ihm geworfen hatte, als sie sich das erste Mal vor ihm erschreckte. War er dazu verdammt, sie ständig zu erschrecken? Sie machte nicht den Eindruck einer nervösen Frau, schließlich hatte sie die Banditen in die Flucht geschlagen, um ihn zu retten. Trotzdem schien sie in seiner Gegenwart äußerst wachsam zu sein. Aber was wusste sie schon über ihn? Oder er über sie?

Sie war ohne Zweifel mutig. Sie besaß sowohl eine innere als auch eine äußere Kraft, mit der sie ihn dazu gezwungen hatte, sich auf seine eigene zu besinnen und die Treppe zu bewältigen, was ihm vermutlich das Leben gerettet hatte. Sie war freundlich und sanft, fühlte sich aber in seiner Gegenwart nicht recht wohl. War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Wie kam sie zurecht?

Diese Spekulationen strengten ihn zu sehr an, daher sah er sich weiter im Zimmer um. Eine Frisierkommode. Ein Kleiderschrank. Nicht mehr. Nichts Ausgefallenes, kein Zierrat. Sie hatte einen schnörkellosen Geschmack, einen Hang zur Schlichtheit, diese Frau, die draußen unterwegs gewesen war, als anständige Leute längst im Bett lagen. War sie ein leichtes Mädchen? Wenn ja, dann zog sie sich allerdings nicht provokant genug an, um ihre Reize besser an den Mann zu bringen. Auch ihre Ausdrucksweise war zu gewandt für die Straße, nicht direkt gehoben, aber eindeutig auf eine gewisse Schulbildung zurückzuführen. Vielleicht hatte sie – oder ein Elternteil von ihr – in einem vornehmen Haushalt gearbeitet? In einem Akt der Rebellion war sie dann fortgelaufen, und nun war sie hier. Welche Rolle spielte das? Doch, ja, eine gewisse schon. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass Männer sie begrapscht hatten bei ihrem mutigen Versuch, ihn zu retten. Wenn die Banditen nun nicht die Flucht ergriffen hätten? Und doch hatten sie genau das getan, nur weil sie aufgetaucht war. Wer zum Teufel war sie?

Er hörte Schritte und sah zur Tür. Die Frau bewegte sich zu schnell, sodass er sie nicht so deutlich sehen konnte, wie es ihm lieb gewesen wäre, aber ihm fiel auf, dass ihre Kleidung den Eindruck erweckte, als verfügte sie über keine nennenswerten Rundungen, auch wenn er das inzwischen besser wusste. Ihr Rock schmiegte sich nicht an ihre Hüften, sondern bauschte sich beim Gehen wie ein Segel im Wind. Sie wollte nicht, dass man auf ihre weiblichen Reize aufmerksam wurde. Er fragte sich, warum.

Sie stellte ein Tablett auf den Nachttisch, nahm ein Glas und setzte sich auf die Bettkante, ehe sie eine Hand tröstlich kühl unter seinen Kopf schob und ihn sanft anhob.

Er konnte sich nicht erinnern, je etwas so Köstliches getrunken zu haben wie dieses Wasser, das seinen Durst auf wunderbare Weise stillte.

„Nicht zu viel“, warnte sie und stellte das Glas zurück auf das Tablett. „Wir wollen ja nicht, dass Ihnen schlecht wird.“

Als ob es ihm noch schlechter gehen konnte als im Moment! Sie fing an, mit irgendetwas auf dem Tablett zu hantieren. Eine Schale, aus der Dampf aufstieg. Sie tauchte einen Löffel hinein und rührte den Inhalt so konzentriert um, als hinge ihr Leben davon ab.

„Sie haben mich für einen Mann gehalten“, sagte sie ruhig.

Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie sich auf seine Bemerkung bezog, als er das erste Mal zu sich gekommen war und sie mit der Figur nach ihm geworfen hatte. Der Schlag gegen den Kopf musste seinen Verstand beeinträchtigt haben. Hoffentlich nicht dauerhaft, denn er ahnte, dass ein vernünftiges Gespräch mit dieser Frau ein unvergessliches Vergnügen sein würde. „Ich konnte Sie nicht richtig erkennen. Diese Bastarde haben mir meine Brille weggenommen.“

„Bastarde“, wiederholte sie leise und rührte weiter in der Schale. „Mit diesem Wort wird oft so leichtfertig umgegangen.“

„Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich klingen. Ich bin nicht ganz ich selbst.“ Er sah, wie ihre Mundwinkel sich leicht nach oben bogen, und plötzlich erschien ihm der Verlust seiner Uhr weitaus unwichtiger als der seiner Brille. Er hätte sie gern deutlicher gesehen, die Umrisse ihrer Nase, ihres Kinns, ob sie vielleicht Sommersprossen oder ähnliche kleine Makel hatte …

„Sie haben eine schlimme Nacht hinter sich.“

„Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.“

„Noch sind Sie nicht über den Berg. Dr. Graves meint, wegen Ihrer Wunden dürfen Sie noch nicht reisen. Ihre Wunden könnten sich öffnen, und dann sterben Sie.“ Sie klang etwas unglücklich. „Ich habe ein wenig Brühe warm gehalten für den Fall, dass Sie aufwachen.“ Ihr Tonfall klang nicht gerade ermutigend, so als hätte sie Zweifel daran gehabt, dass er je wieder aufwachen würde. „Meinen Sie, Sie schaffen es, ein, zwei Löffel davon zu sich zu nehmen? Sie müssen wieder zu Kräften kommen.“

Er hatte das Gefühl, überhaupt keine Kraft mehr zu haben, aber sie hatte recht. Er musste schnell wieder auf die Beine kommen, und eine Brühe förderte die Heilung am besten. Doch als er sich aufrichten wollte, versagte sein Körper ihm den Dienst.

„Halten Sie still!“, befahl sie und vermittelte erneut den Eindruck, als sei sie es gewohnt, dass man ihr gehorchte. Den meisten jüngeren Frauen, die er kannte, wäre es nicht im Traum eingefallen, einem Mann zu sagen, was er tun sollte, ihn herumzukommandieren und zu erwarten, dass er sich ihren Wünschen fügte. Es ging ihm jedoch so schlecht, dass er es eigentlich ganz schön fand, wenn ein anderer das Kommando übernahm.

Sie stand auf, schob den Arm unter seine Schultern und hob ihn leicht an, um die Kissen hinter ihm so anzuordnen, dass er sich in halb sitzender Position befand. Sie war sehr stark, aber das wusste er ja längst. Er erinnerte sich, wie sie ihn gestützt hatte, als er so schwach gewesen war, so kraftlos, eingehüllt in einen Nebel aus Schmerzen. Es war ihm ziemlich peinlich, dass er immer noch ihre Hilfe brauchte, dass sie ihn so geschwächt sah. Ihre Nähe brachte jedoch die verschiedensten Düfte mit sich – nach Eichenholz und Hefe, dunkel und intensiv, unterlegt von einem schwächeren, femininen Duft, dem Duft einer Frau. Er gab seinen Verletzungen die Schuld daran, dass er je an ihrem Geschlecht hatte zweifeln können.

Sie setzte sich wieder zu ihm auf die Bettkante, nahm die Schale und rührte noch einmal um. Dann hob sie den Löffel und prüfte mit der Oberlippe, wie heiß die Brühe war, ehe sie mit der Zungenspitze die Lippe berührte. Trotz seiner Schmerzen und der grenzenlosen Mattigkeit, die ihn lockte, einfach wieder einzuschlafen, verfolgte er ihr Tun fasziniert und spürte, wie sein Körper auf diese sinnliche, aber ganz sicher harmlose Geste reagierte. Sie versuchte nicht, ihn zu betören; sie wollte ihn nur möglichst bald wieder aus ihrem Bett haben.

Beinahe hätte er laut gelacht. Das war etwas ganz Neues. Die Frauen hatten es nie eilig damit, ihn aus ihrem Bett zu vertreiben. Auch Lady Lavinia hätte an diesem Abend die Erfahrung gemacht, wenn sie ihn nicht am Morgen vor dem Altar hätte stehen lassen.

Gillie beobachtete, wie unterschiedlichste Gefühlsregungen über seine Züge huschten, wie Gewitterwolken, die sich an der Sonne vorbeischoben, so schnell, dass es ihr vielleicht gar nicht aufgefallen wäre, wenn sie ihn nicht so aufmerksam betrachtet hätte. Ganz am Anfang war da so etwas wie Verlangen gewesen, was natürlich lächerlich war – schließlich hatte sie nichts vorzuweisen, wonach ein so prachtvoller Mann wie er sich hätte sehnen können, außer nach ihrer Fähigkeit, ihm eine schnelle Genesung zu ermöglichen. Dann ein Aufflackern von Zorn, rasch gefolgt von – Scham? Er hatte den Blick abgewandt, als wäre er verlegen. Andererseits lag er nackt im Bett einer Wildfremden. Er musste sich hilflos und verwundbar fühlen.

„Also gut“, sagte sie so neutral wie möglich, um ihn nicht noch weiter in seinem Stolz zu verletzen. Es gab weitaus mehr Männer als Frauen in ihrer Welt, und sie hatte oft genug Gläser nachkaufen müssen, um zu wissen, wie dumm die Vertreter des angeblich starken Geschlechts sein konnten, wenn es um ihre Eitelkeit ging – als ob das Werfen eines Glases oder ein Fausthieb sie plötzlich zu mutigen und unbesiegbaren Helden machte!

Sie hob den Löffel an seinen Mund und fragte sich, warum er so wundervolle Lippen haben musste, dass sie sich unweigerlich vorstellte, was er mit diesen Lippen alles anstellen konnte. Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch, als er die Brühe schlürfte, seine Lippen leckte und die Augen schloss, als hätte er noch nie etwas so Köstliches gegessen.

„Wie lange?“, krächzte er.

„Wie bitte?“

„Wie lange bin ich schon hier?“

„Ein paar Stunden. Die Sonne geht bald auf.“ Sie hatte sich bewusst viel Zeit gelassen, ihm den Schmutz und das Blut abzuwaschen. Sie tauchte den Löffel erneut in die Brühe, prüfte die Temperatur …

„Hören Sie auf damit!“, verlangte er mit einer Schärfe, die sie ihm in seinem geschwächten Zustand gar nicht zugetraut hatte.

„Ich will nur nicht, dass Sie sich verbrennen“, erwiderte sie erstaunt, aber auch etwas verärgert über seinen Ton.

„Das Risiko nehme ich auf mich.“

Sie versuchte, nicht gekränkt zu sein, was ihr aber nicht gelang. „Ich habe keine ansteckende Krankheit.“

„Ich muss hier weg“, knurrte er, versuchte sich aufzurichten und sank stöhnend wieder auf das Bett.

„Sagte ich nicht, dass Dr. Graves meint, Sie müssten noch eine Weile hierbleiben? Ganz abgesehen davon, dass er Ihre Kleidung zerschnitten hat. Ich muss sie erst flicken, ehe Sie sie wieder anziehen können. Ich bin ebenso wenig glücklich über diese Situation wie Sie.“

„Ihr Ehemann wird darüber noch weniger glücklich sein.“

„Ich habe keinen Ehemann.“

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Mit wem leben Sie zusammen?“

„Mit niemandem.“

„Sie sind eine alleinstehende Frau?“

„Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken. Wenn es sein muss, werde ich spielend mit Ihnen fertig.“ Sie stellte die Schale zurück auf das Tablett. „Sie sollten versuchen, sich auszuruhen. Je eher Sie wieder zu Kräften kommen, desto schneller können Sie von hier verschwinden.“

„Wer weiß, dass ich hier bin?“

Welche Rolle spielte das schon? „Ich, Graves und Robin.“

„Wer ist Robin?“

„Der Junge, den ich losgeschickt habe, um Dr. Graves zu holen.“

„Niemand darf wissen, dass ich hier bin.“

Erneut regte sich ihr Ärger. „Besorgt um Ihren Ruf?“

„Nein, um Ihren.“

Seine Worte verblüfften sie, und ihr Zorn verrauchte. Sie besaß eine Schankwirtschaft. Ihr guter Ruf war ihr längst abhandengekommen. „Mein Ruf geht Sie nichts an, und er wird wohl auch kaum darunter leiden.“

„Sie sind eine alleinstehende Frau mit einem Mann in Ihrem Bett. Ich werde Sie nicht heiraten können.“

„Das würde ich auch verdammt noch mal nicht wollen, Sie arrogantes Scheusal!“ Sie erhob sich abrupt und nahm das Tablett. „Schlafen Sie jetzt, ehe ich beschließe, Dr. Graves Warnungen, Sie könnten verbluten, zu ignorieren und Sie aus dem Haus zu werfen.“ Als sie aus dem Zimmer stürmte, dachte sie unwillkürlich, dass Männer wirklich die nervtötendsten Geschöpfe waren, die Gott erschaffen hatte.

Du lieber Himmel! Noch nie hatte ihn eine Frau derartig angefaucht. Thorne fand das ziemlich erfrischend. Ohne seine Schmerzen und die geradezu peinliche Schwäche hätte er sie wahrscheinlich gepackt, auf das Bett gezogen und auf ihren vorlauten Mund geküsst. Aber er hatte nun einmal Schmerzen, war schwach und so verdammt müde.

Ihr Ruf war nicht der einzige Grund, weshalb niemand von seiner Anwesenheit hier erfahren sollte – nicht so sehr, warum er in ihrem Bett lag, sondern warum er sich in diesem Teil Londons aufhielt. Was sagte es denn über ihn aus, dass seine Braut es vorgezogen hatte, nach Whitechapel zu flüchten, anstatt mit ihm vor dem Altar die Ringe zu tauschen?

Als die Braut zum verabredeten Zeitpunkt nicht erschienen war, hatte Thorne ein ungutes Gefühl beschlichen. Dann war ihr Bruder, der Earl of Collingsworth, ohne die Braut an seinem Arm zu ihm an den Altar getreten und hatte ihm zugeflüstert, Lavinia habe den Kutscher gebeten, sie nach Whitechapel zu fahren. Der Mann, der dem Earl treu ergeben war, hatte sich geweigert, und so hatte sie sich auf die Suche nach einer Mietdroschke gemacht.

„Wie es aussieht, ist Lady Lavinia krank geworden“, hatte Thorne sich an die versammelten Hochzeitsgäste gewandt. „Da ich möchte, dass unsere Hochzeit für sie zu einer ihrer schönsten Erinnerungen wird, wird die Trauung verschoben, bis sie sich wieder besser fühlt.“

Danach hatte er gedemütigt und wütend die Kirche verlassen, um seine Braut zu suchen. Er war fest entschlossen gewesen, sie ausfindig zu machen und zu erfahren, warum sie ihn in aller Öffentlichkeit so unfassbar lächerlich gemacht hatte.

Im Nachhinein war es dumm von ihm gewesen, sich allein auf die Suche nach ihr zu begeben. Er hatte irrtümlich angenommen, er bräuchte nur durch die Straßen zu gehen, dann würden sich ihre Wege schon irgendwann kreuzen. Je weiter die Nacht vorangeschritten war, desto hartnäckiger hatte er nach ihr gesucht, auch wenn er wusste, dass er vermutlich keinen Erfolg haben würde. Er hatte sich von seinem Kutscher in diesen Teil Londons bringen lassen und ihn dann wieder fortgeschickt in der festen Absicht, sich eine Droschke zu nehmen, wenn er bereit war, nach Hause zurückzukehren. Offensichtlich war er zu spät dazu bereit gewesen, und dafür hatte er einen hohen Preis bezahlt.

Als der Schlaf erneut lockte, wehrte sich Thorne nicht mehr. Sein letzter Gedanke war, warum dieser Tag, der der schönste in seinem Leben hätte werden sollen, so gründlich aus dem Ruder laufen konnte.

Gillie wagte erst ins Zimmer zurückzukehren, als sie das Schnarchen hörte. Es war leise, eher wie das Schnurren einer Katze, nicht wie das laute Schnarchen der Betrunkenen, die in irgendeiner Ecke ihrer Schänke einschliefen. Sie aufzuwecken, damit sie nach Hause torkeln konnten, hatte ihr noch nie Spaß gemacht. Handelte es sich um einen Stammgast, den sie mochte, ließ sie ihn dort weiterschlafen, wo er sich gerade befand. Außerdem fühlte Robin sich wichtig, wenn sie ihm die Aufgabe übertrug, den Betrunkenen im Auge zu behalten, so als wäre er ihr persönlicher Leibwächter.

Sie hatte kurz überlegt, Robin zu wecken, damit er bei dem Mann, der sich Thorne nannte, Wache hielt, aber dann hätte sie sich für ihre eigene Feigheit gescholten. Dieser Mann beunruhigte sie auf eine Art, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatte, deshalb schlich sie ins Zimmer, als sie das leise Schnarchen vernahm, stellte sich ans Bett und betrachtete ihn mit vor der Brust verschränkten Armen.

Er war so unglaublich schön anzusehen, alles an ihm, bis auf seine Verletzungen natürlich. Noch nie hatte sie einen Mann einfach nur betrachten wollen, und das ging ja schlecht, wenn er wach war. Heiraten würde sie ihn nicht – überhaupt gar keinen Mann –, denn durch die Eheschließung ginge die Schänke in seinen Besitz über. Kein Mann, dem sie nicht genauso viel bedeutete wie ihr selbst, sollte sie je erhalten. Außerdem hatte sie nicht die geringste Lust, zur Sklavin zu werden. Seit Gillie denken konnte, war sie unabhängig gewesen. Zusammen mit ihren Brüdern, die alle nur ein Jahr älter waren als sie, war sie durch die Straßen gestreift und dabei zusammen mit ihnen in alle möglichen Schwierigkeiten geraten. Sie hatten sie nie wie ein Mädchen behandelt, ganz anders als ihre Schwester Fancy.

Kurz vor Gillies dreizehntem Geburtstag war Fancy geboren worden. Ihre Brüder waren schon mit vierzehn große, starke Burschen gewesen. Als Fancy alt genug war, um unbewacht von ihrer Mum draußen spielen zu können, hatte niemand sich mit den Trewlove-Brüdern anlegen wollen. Infolgedessen hatte Ettie Trewlove es nie für nötig gehalten, das Geschlecht der eigenen Tochter zu verbergen. Da fünf ihrer Kinder bereits etwas zum gemeinsamen Lebensunterhalt beitragen konnten, war sie sogar in der Lage gewesen, für ihre Jüngste ein paar anständige Kleider zu kaufen. Alle versuchten, sie zu beschützen, vielleicht, weil sie so viel jünger als die anderen war, so viel zierlicher und mädchenhafter. Gillie war mit zwölf schon fast so groß gewesen wie jetzt, gertenschlank, aber mit kräftigen Muskeln von der harten Arbeit als Kind. Als Erwachsene war sie dann noch stärker geworden, als sie angefangen hatte, Bierfässer aus dem Keller nach oben in die Schänke zu schleppen und Betrunkene auf die Straße zu befördern.

Als der Fremde seine Besorgnis wegen ihres guten Rufs geäußert hatte, war ihr für einen flüchtigen Moment der Gedanke gekommen, wie schön es sein musste, von einem Mann umsorgt und beschützt zu werden. Natürlich beschützten auch ihre Brüder sie, wenn es nötig wurde, aber das zählte nicht, da sie ihre Familie waren und das in Familien eben so üblich war. Keiner von ihnen war mit dem anderen blutsverwandt, aber ihre Mum hatte ihnen beigebracht, dass es Bande gab, die stärker waren als Blutsbande.

Wie das Band zwischen einem Mann und einer Frau, das Band, das in der Frau den Wunsch weckte, ihn zu heiraten und seine Kinder zur Welt zu bringen – Letzteres auch ohne den Segen einer Ehe. Das war der Grund, warum sie und ihre Geschwister existierten. Uneheliche Kinder, die nur deshalb auf der Welt waren, weil ein Mann eine Frau verführt und sich dann geweigert hatte, eine ehrbare Frau aus ihr zu machen. Gillie fragte sich, ob dieser Thorne auch zu einem so schrecklichen Verhalten fähig war. Aber wenn ja, wäre er dann um ihren Ruf besorgt gewesen?

Es gefiel ihr überhaupt nicht, wie ihr ganz flau und warm geworden war, als sie ihm einen Schluck Wasser und etwas Brühe eingeflößt hatte. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass es ihr sogar Freude machte, sich um ihn zu kümmern, dass sie so zufrieden gewesen war, weil ihm die einfache Brühe anscheinend so gut geschmeckt hatte.

Plötzlich bewegte er sich und schlug um sich. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf die Bettkante und legte die Hand auf seine Stirn, die zum Glück nicht heiß war. „Schsch, es ist alles gut. Alles ist gut.“

Er runzelte die Stirn, aber er wurde ruhiger, obwohl er schneller atmete, und Gillie fragte sich, ob dieser Überfall, dieser Albtraum ihn bis in den Schlaf verfolgte.

„Sie sind in Sicherheit“, flüsterte sie. „Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen nichts passiert.“ Die Falten auf seiner Stirn verschwanden. „So ist es gut. Lösen Sie sich von Ihren Ängsten, sie gehören nicht hierher. Schlafen Sie friedlich, damit sich Ihr Körper erholen kann.“

Er atmete jetzt wieder tiefer und gleichmäßiger. Sie hatte keinen Grund, ihn noch länger zu berühren, und doch war sie nicht imstande, ihre Hand fortzunehmen. Eine dunkle Locke war über ihre Finger gefallen, und diese seidige Strähne schien sie fester an ihn zu binden als das dickste Seil.

Vor ihm hatte sie noch nie einen Mann berührt. Sicher, sie hatte ihren Brüdern auf die Schulter geklopft, sie umarmt, ihre Haut gespürt, wenn sie die zahlreichen Wunden versorgt hatte, die sie in ihrem jugendlichen Ungestüm davongetragen hatten, als sie eher von Zorn beeinflusst gewesen waren als vom gesunden Menschenverstand. Aber mit ihnen war sie aufgewachsen, sie waren ihr vertraut. Sie hatte ganz gewiss nie einen von ihnen angesehen und gedacht: „Ich würde dich so gern mit den Händen erkunden, deine Muskeln, deine samtweiche Haut.“

Sie hatte plötzlich Mühe, zu schlucken, als ihr klar wurde, dass sie diesen Mann heimlich berühren konnte, ohne dass er es merkte. Sie musste nur das Laken zurückziehen, und er würde wie ein Geschenk vor ihr liegen. Gewiss, wenn ein Mann sich ihr gegenüber solche Freiheiten herausgenommen hätte, hätte sie ihn höchstwahrscheinlich umgebracht – ganz langsam und äußerst schmerzhaft. Selbst dann, wenn ihm der Gedanke daran auch nur durch den Kopf gegangen wäre …

Autor

Lorraine Heath
<p>Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt...
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