Miss Trewlove und die Jagd nach dem Earl

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London, 1873. Ein Lord … nein, besser ein Earl! Fancy Trewlove hat geschworen, auf ihrem Debütantinnenball einen Adligen zu bezaubern und ihn schnellstmöglich zu heiraten! Das ist sie ihrer Mutter schuldig, die sie unehelich bekommen hat. Weshalb sie den attraktiven Matthew Sommersby, der eines Tages ihr Geschäft betritt, nicht erhören darf. Charmant, seelenverwandt – doch nicht adlig! Aber als sie erhitzt und beschwingt von ihrem ersten Ball zurückkehrt, erwartet Matthew sie bereits im Dunkel der Nacht. Kühn entführt er sie in das geheime Reich der Leidenschaft – und bringt damit Fancys Herz, ihre Unschuld und ihren Schwur in größte Gefahr!


  • Erscheinungstag 02.07.2021
  • Bandnummer 132
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502351
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London 1854

Der Schmerz kam plötzlich und war heftig.

Ettie Trewlove schnappte nach Luft, presste sich eine Hand auf ihren runden Bauch und ließ die Suppenkelle fallen. Sie fiel auf den zerkratzten Esstisch und bespritzte ihren Ältesten mit Suppe, der ihr gerade seine Schüssel hingehalten hatte. Das war nicht die erste Wehe. Sie hatte schon den ganzen Tag welche gehabt, aber diese war ohne Frage die schlimmste, und sie konnte spüren, wie ihr das Wasser an der Innenseite ihrer Schenkel herunterlief. „Mick, lauf und hol Mrs. Winters. So schnell du kannst.“

Der Junge, der vor vierzehn Jahren mitten in der Nacht zu ihr gebracht worden war, schoss, ohne zu zögern, zur Tür hinaus, um sich auf die Suche nach der Hebamme zu machen. Ihre anderen Lieblinge – drei Jungen und ein Mädchen – starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie lächelte ihnen beruhigend zu. „Ihr müsst euch selbst Suppe nehmen. Esst doch einfach draußen im Hof. Da könnt ihr bleiben, bis ich euch rufe.“

Sie schleppte sich langsam in ihre kleine Schlafkammer hinüber. Sie wollte gerade ihr Mieder aufknöpfen, als sie leise Schritte hinter sich hörte. Sie blickte sich über die Schulter hinweg um und sah ihre Tochter aufmunternd an. „Ab mit dir, Gillie. Tu, was man dir sagt.“

„Ich bleib hier.“ Das Mädchen presste die Lippen zusammen und machte ein Gesicht wie ein störrisches Maultier, dann ging sie zum Kleiderschrank hinüber. Es war beinahe dreizehn Jahre her, seitdem sie in eine Wolldecke gewickelt in einem Körbchen auf Etties Türschwelle abgesetzt worden war. Eigentlich waren alle ihre Kinder zu ihr an die Tür gebracht worden, auf die eine oder andere Weise. Gillie zog ein Nachthemd aus dem Schrank und hielt es ihr hin.

Ettie seufzte resigniert, denn ihre Tochter war das sturste ihrer Kinder. „Aber nur bis Mrs. Winters hier ist.“

Als Mick mit rotem Gesicht und außer Atem zurückkam, hatte sie ihr Nachthemd an, lag im Bett und hatte zwei weitere Wehen überstanden, ohne zu schreien. Aber es wurde immer schwieriger, den Mund zu halten.

„Sie ist bei einer anderen Geburt“, verkündete Mick mit solchem Ernst, als wäre die Hebamme ums Leben gekommen.

„Na dann.“ Ettie schlug die Bettdecke zurück. „Ich sollte lieber einen Topf Wasser aufsetzen.“

„Das machen wir.“ Gillies störrische Miene konnte die Furcht in ihren Augen nicht verbergen.

„Ich komme schon zurecht, Liebes.“

„Sag uns einfach, was wir machen sollen, Mum.“

Also tat sie das. Und vier Stunden später hielt sie das hübscheste Baby in den Armen, das sie je gesehen hatte. Sie strich sanft mit den Fingern über sein dunkles Haar. Voller Trauer musste sie kurz an die beiden Kinder denken, die sie ihrem Ehemann geschenkt hatte, und an die süße Freude, die sie ihnen gebracht hatten, als sie geboren worden waren. Doch dann war Michael gestorben und kurz darauf auch ihre Kleinen. Danach hatte sie angefangen, illegitime Kinder bei sich aufzunehmen, um ein bisschen Geld zu verdienen. Und jetzt hatte sie wieder ein eigenes.

„Wie willst du sie nennen?“, fragte Gillie.

„Fancy. Das bedeutet vornehm. Denn eines Tages wird sie nicht mehr in dem Schmutz leben müssen, in dem ihre Mutter gelebt hat. Sie wird nämlich einen vornehmen Mann heiraten, in einem vornehmen Haus wohnen und ihr vornehmes Leben genießen.“ Sie lächelte den fünf Kindern voller Wärme zu, die sie umringten. „Ihr werdet alle ein vornehmes Leben führen.“

1. KAPITEL

London 1873

Zwei Ereignisse bildeten die Klammer um das Leben eines Mannes: seine Geburt und der Tag, an dem man ihn mit den Füßen zuerst hinaustrug. Dazwischen lagen noch weitere wichtige Augenblicke, aber für den Earl of Rosemont hatten nur drei davon tatsächlich Bedeutung: sein Hochzeitstag, die Nacht, in der seine Frau gestorben war, und der Morgen, an dem sie von den Toten auferstanden war, um sein Leben auf den Kopf zu stellen.

Er saß am Schreibtisch in seiner Bibliothek, schlug die Zeitung auf, die sein Butler pflichtgemäß gebügelt hatte, und las ein weiteres Mal den Brief, der ihm vor drei Tagen beim Frühstück den Appetit verdorben hatte.

Meine sehr verehrten Damen von London,

mit beispielloser Sorge, aber auch voller Hoffnung schreibe ich diesen Brief an Sie. An diesem Tag, sehr verehrte Damen, an dem Sie ihn lesen, ist seit meinem Hinscheiden genau ein Jahr vergangen. Wir wissen alle, dass Gentlemen die Trauerzeit von zwei Jahren selten ganz einhalten, während Damen in der Regel treuere Seelen sind und die Regeln der Gesellschaft mit größerer Strenge befolgen.

Ich für meinen Teil bin froh, dass wir den Männern eine derartige Nachsicht zuteil werden lassen, denn ich möchte, dass mein lieber Rosemont nicht länger als unbedingt nötig voll Trauer und ohne den Trost bleiben muss, den eine Frau an seiner Seite ihm geben kann. Aus diesem Grund, meine Damen, möchte ich Sie darum bitten, dafür zu sorgen, dass dieser Lebensabschnitt so schnell wie möglich endet und er wieder lächeln kann.

Denn Sie müssen wissen, dass es vor allem sein Lächeln gewesen ist, das mich zu ihm hingezogen hat.

Es war nicht leicht, es hervorzulocken, aber wenn es sich dann gezeigt hat, hat es mir den Atem geraubt und die Gesichtszüge eines Mannes viel weicher gemacht, der manchmal ein Opfer seines eigenen Stolzes ist. Er ist ein Mann, der nicht leicht zu lieben ist, aber dennoch habe ich ihn geliebt, denn ich habe eine Seite an ihm kennengelernt, die nur wenige zu sehen bekommen.

Er hat mir das Haar gebürstet, mir die Füße massiert und mir nicht nur voller Leidenschaft Gedichte vorgelesen, sondern auch geschrieben. Ah, meine lieben Damen, seine Stimme hat einen beruhigenden Baritonklang, sein Gesicht ist schön, und seine Schulter war immer ein unglaublicher Trost, wenn ich in Tränen eine Zuflucht gebraucht habe. Er hatte immer nur Augen für mich… nun ja, und für die Bonbonläden. Er mag so gern Zitronenkugeln.

Trotz all meiner Fehler ist er immer ein treuer und anständiger Ehemann gewesen. Versuchen Sie, sein Herz zu erobern, und entdecken Sie ein ganz neues Lebensglück für sich.

Mit den aufrichtigsten guten Wünschen

Die verstorbene Countess of Rosemont

Jedes Mal, wenn er den Brief las, fühlte er sich von der eiskalten Lüge verspottet, die sie so sorgfältig formuliert hatte. Sie hatte ihn nicht geliebt. Nicht im Geringsten. Nicht einmal mit dem kleinsten Teil ihrer Seele.

Elise war die Tochter eines Industriellen gewesen, der von der Königin zum Ritter geschlagen worden war. Sie hatte nach einem Ehemann mit Adelstitel gesucht und schon mit neunzehn Jahren genau gewusst, wie sie ihn um den Finger wickeln konnte. Er bezweifelte nicht, dass sein Lächeln es ihr angetan hatte – so viel war wahr –, aber sie war auch an dem Titel interessiert gewesen, den er erst ein Jahr zuvor geerbt hatte. Er war gerade einmal dreiundzwanzig gewesen, hingerissen von ihrer Schönheit und ihrem verführerischen Blick, der aufregende Abenteuer und eine lustvolle Flucht vor allen Sorgen zu versprechen schien. Als sie ihm während eines Balls auf dem Landsitz seiner verheirateten Schwester ein Techtelmechtel zwischen den Pflanzen im Gewächshaus vorgeschlagen hatte, war er ihrer Einladung nur allzu gern gefolgt. Nachdem Elises Vater sie mit hochgezogenen Röcken und ihn mit heruntergelassener Hose erwischt hatte, waren sie hastig vor den Traualtar getreten. Aber der Triumph in ihren Augen, als man sie unterbrochen hatte, war ihm Warnung genug gewesen: Sie hatte ihm die Rolle des leichtgläubigen Dummkopfs zugedacht.

Ihm war es eine schmerzhafte Lehre gewesen, ein hoher Preis, den er hatte zahlen müssen, und er hatte sich danach feierlich geschworen, sich nie wieder von einer Vertreterin des weiblichen Geschlechts hinters Licht führen zu lassen.

Eine Ehe, die nicht auf Vertrauen basierte, war gar keine Ehe. In den ersten zwei Jahren hatten sie einander überhaupt nichts anvertraut, verbrachten die Zeit lieber getrennt, er auf dem Land, sie in der Stadt. Er hatte es nicht eilig, ein Kind zu zeugen. Die Freude, sie zu haben, war im Gewächshaus gestorben, und die Aussicht, mit ihr ins Bett zu gehen, entlockte ihm so gut wie gar keine Begeisterung. Im dritten und letzten Jahr war er kaum von ihrer Seite gewichen, während die Krankheit sie dahinraffte. Elise hatte mit großer Sorgfalt eine Liste von Dingen erstellt, die sie in ihrem Leben nicht mehr tun konnte. Sie hatte dem Tod nicht gelassen ins Auge gesehen, und das war auch richtig so. Sie war gerade zweiundzwanzig gewesen, mit Haar, das niemals grau werden, und einer Haut, die niemals Falten bekommen würde.

Aber ihr Brief machte ihn trotzdem wütend. Warum hatte sie sich solche Mühe gegeben, ihn zu schreiben und zum richtigen Zeitpunkt veröffentlichen zu lassen? Fühlte sie sich schuldig, weil sie ihn getäuscht hatte? Da er wusste, wie hinterhältig sie war, konnte er ihre Botschaft nicht wörtlich nehmen, was hatte sie also im Sinn gehabt, als sie das Schreiben verfasste? Nach dem, was er erlebt hatte, seitdem der Brief veröffentlicht worden war, wollte sie ihm das Leben vielleicht einfach nur so unangenehm wie möglich machen. Als ob die Kälte ihrer Ehe nicht schon genug Bestrafung dafür gewesen wäre, dass er ihr in die Falle gegangen war!

Er hörte, wie sich leise Schritte näherten, und hob den Kopf. Sein Butler kam mit einem Silbertablett herein. Der schlanke Mann, der inzwischen grau an den Schläfen wurde, blieb stehen und verneigte sich. „Mylord, Lady Fontaine und ihre Tochter sind hier.“

Aus Unmut über die wenig beneidenswerte Lage, in die Elise ihn gebracht hatte, kniff der Earl die Augen zusammen. Die ersten Besucherinnen des Tages. Er musste mindestens noch mit einem Dutzend mehr rechnen, ehe die Sonne unterging. Wenn er jetzt so tat, als ob er nicht zu Hause wäre, würden sie nur später wiederkommen. Er faltete sorgfältig die Zeitung zusammen, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Lassen Sie uns Tee in den Salon bringen.“

Und so ging es weiter. Tag für Tag für Tag.

Eine endlose Reihe junger Damen trat durch seine Tür. Sie redeten, redeten, redeten. Rezitierten Gedichte. Sangen gelegentlich. Spielten voller Inbrunst auf seinem Klavier. Er wurde zu Spaziergängen im Park eingeladen, als wäre er ein Hund, der Gassi gehen musste. Sie schickten ihm Einladungen zu Abendgesellschaften, Vorführungen, Theatervorstellungen und Gartenfesten. Sie nahmen ihm das Versprechen ab, Walzer mit ihnen zu tanzen, sobald die Saison wieder richtig angefangen hatte. Sie säuselten ihm erst ins Ohr, wie sehr sie seinen Verlust bedauerten, um ihm anschließend sofort zu versichern, dass das Glück an der nächsten Ecke auf ihn warte, wenn er es sich nicht entgehen ließ – und sie waren mehr als gerne bereit, seine Countess zu werden und mit ihm zusammen die Reise zu den Wundern anzutreten, die das Leben noch für ihn bereithielt, obwohl das Schicksal schon so ungerecht zu ihm gewesen war.

Die Zitronenkugeln brachten das Fass schließlich zum Überlaufen. Nicht einmal zwei Wochen nachdem der Brief in der Zeitung erschienen war, hatte er so viele von den verdammten Dingern geschenkt bekommen, dass er seinen eigenen Süßwarenladen hätte eröffnen können. Wenn er noch einmal den Duft von Zitrone und Zucker roch, würde er vielleicht wirklich verrückt werden.

Deshalb ließ er seine Habseligkeiten einpacken und sein Haus in London schließen, um sich auf die Suche nach Ruhe und Frieden zu begeben.

2. KAPITEL

Fancy Trewlove stand hinter dem auf Hochglanz polierten Verkaufstresen aus Eichenholz in ihrem Buchladen und las wieder einmal den Brief, den sie vor einem Monat aus der Londoner Zeitung Times ausgeschnitten hatte. Wie die Countess of Rosemont ihre Liebe zu ihrem Ehemann beschrieb, berührte Fancys romantisches Herz ganz tief; ein Herz, das, so fürchtete sie wenigstens, dumm genug war, sich in einen Lord zu verlieben, der sie als Frau fürs Bett, aber nicht für die Ehe betrachtete, wenn sie nächste Woche auf dem Ball in die Gesellschaft eingeführt wurde.

Mit ihren gut neunzehn Jahren war sie sich der rauen Wirklichkeit sehr wohl bewusst, und ihr war vollkommen klar, dass die Umstände ihrer Geburt ihr nicht von besonders großem Nutzen sein würden, wenn es darum ging, sich einen Platz im Hochadel zu sichern. Aber ihre Familie war dennoch fest entschlossen, sie mit einem Edelmann zu verheiraten. Der Mann musste einen Adelstitel besitzen. Es durfte kein zweiter oder dritter Sohn sein, sondern er musste der erste sein. Am besten wäre ein Duke, ein Marquess angemessen, ein Earl annehmbar, ein Vicomte … ein Ergebnis, das nach Kräften vermieden werden musste.

Im Augenblick ihrer Geburt hatten sie über ihre Zukunft entschieden und sie unbeirrt immer weiter in deren Richtung geschoben, aber dem Leben, das sie für sie vorgesehen hatten, fehlte ein entscheidendes Element: die Liebe.

Sie sehnte sich mehr nach Liebe als nach Luft zum Atmen. Oh, ihre Familie liebte sie, daran zweifelte sie keineswegs, aber sie sehnte sich nach der Art von Hingabe, über die Sonette geschrieben wurden und von der Dichter schwärmten, einer großen Liebe wie der, die ihre Mutter erlebt hatte. Als Fancy noch ein kleines Mädchen gewesen war, aber schon alt genug, um nach den Gründen dafür zu fragen, warum es in ihrem Haushalt keinen Mann gab, hatte sie ihren Mut zusammengenommen und nach ihrem Vater gefragt. Mit Tränen in den Augen hatte ihre Mutter ihr erzählt, wie sie sich in einen gut aussehenden Regimentsoffizier verliebt hatte. Sie waren nicht verheiratet gewesen, als sie sich am Abend vor seiner Abreise in ein fremdes Land der Leidenschaft hingegeben hatten, aber er hatte ihr versprochen, sie zu heiraten, wenn er zurückkam. Das Schicksal hatte es jedoch anders gewollt, und er war einen tragischen Heldentod auf einem Schlachtfeld auf der Krim gestorben.

„Aber er hat mir trotzdem das schönste Geschenk von allen gemacht: dich.“ Ihre Augen wurden selbst jetzt noch feucht, wenn sie an die Worte ihrer Mutter dachte. Von diesem Augenblick an war Fancy klar gewesen, dass sie etwas ganz Besonderes war. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern, die auf der Türschwelle ihrer Mutter ausgesetzt worden waren, war sie ein Wunschkind gewesen.

Aus diesem Wissen rührte ihre zärtliche Neigung zu Geschichten voller Romantik, und Lady Rosemonts Brief gehörte unzweifelhaft dazu. Er war zu einem Talisman für sie geworden. Er verlieh ihr die Hoffnung, dass sie vielleicht eine Leidenschaft entdecken würde, gegen die sie machtlos war.

Vielleicht öffnete genau in diesem Augenblick ihr zukünftiger Ehemann mit langen, schlanken Fingern die goldgeprägte Einladung, die ihn zu ihr führen würde. Seine Hände wären weich und ohne Schwielen und Narben, anders als die ihrer Brüder, und er würde sich mit Eleganz bewegen. Er wäre ein perfekter Walzertänzer, und wenn er sie in die Arme schlösse, um mit ihr über das Tanzparkett zu fliegen, würde sein Blick ihren gefangen nehmen und ihr das ganze Ausmaß seiner Liebe mitteilen, obwohl er sich ihr nicht ungebührlich nähern würde, würde ihr zeigen, wie unumstößlich sie ihn für sich gewonnen hatte. In seinen Augen würde sich seine Wärme spiegeln und seine Leidenschaft verraten …

Klingeling.

Die Klingel über der Ladentür kündigte das Eintreten eines Kunden an, und Fancy zuckte schuldbewusst zusammen. Der glühenden Wärme ihrer Wangen nach zu urteilen, war sie tiefrot angelaufen, weil sie dabei erwischt worden war, wie sie den Nachmittag verträumte. Es war auch nicht hilfreich, dass der Mann, der über die Schwelle trat, seinen schwarzen Zylinder abgenommen hatte und unter dem Hut unglaublich attraktive Gesichtszüge zum Vorschein gekommen waren. Er hatte ein Gesicht, bei dessen Anblick die Damen zweifellos der Reihe nach in Ohnmacht fielen. Sie faltete den Brief schnell zusammen und schob ihn in ihre Rocktasche, wo sie ihn jederzeit wieder hervorholen konnte, um sich daran zu erinnern, dass auch im Hochadel Liebe zu finden war und dass der Weg, den ihre Familie für sie vorgesehen hatte, ein lohnender sein konnte.

Der Gentleman sah sich in ihrem Laden um – er musterte die Regale an der Rückwand, die Gestelle voller Schriftrollen, die im rechten Winkel davor standen, die kleinen Tische, auf denen Stapel von Romanen lagen, die Bücher in den Ecken. Bücher, Bücher, Bücher überall, wo er hinsah. Sie konnte nie genug von ihnen bekommen, was jeder sofort bemerkte, wenn er ihren Laden betrat, sei es zum hundertsten oder zum ersten Mal.

Als junges Mädchen hatte einmal ein Junge zu ihr gesagt, dass sie einen Fetisch für Bücher habe. Weil sie so belesen war, kannte sie das Wort und wusste, dass er etwas Unanständiges damit gemeint hatte. Deshalb hatte sie ihm eine blutige Nase verpasst. Was sie mit den Büchern verband, war ein gesundes Bewusstsein dafür, was sie alles zu bieten hatten, eine Bewunderung für die, die sie geschrieben hatten, eine Dankbarkeit denen gegenüber, die sie druckten und herausgaben. Sie schämte sich deswegen nicht; sie genoss es vielmehr.

Sie war sich nicht sicher, ob ihr Kunde, der von allem, was ihn umgab, vollkommen überwältigt zu sein schien, begeistert von ihrer Sammlung war oder entsetzt über den vielen Raum, den die schöne Literatur einnahm. Sie wusste, dass sie ihn in ihren vier Wänden noch nie gesehen hatte – sein Gesicht war eins, das man nicht so leicht vergaß. Also drückte sie ihre schmalen Schultern durch, um den gut aussehenden Fremden bei sich zu begrüßen. „Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?“

Er wandte sich zu ihr um, und sie wurde von einem Blick aus den erstaunlichsten grünen Augen gefesselt, die sie je gesehen hatte. Sein schwarzes Haar trug er ein wenig länger, als es der neuesten Mode entsprach, aber es lag jede Strähne an ihrem Platz, sodass das Grün noch auffälliger war. Sie musste den Verstand verloren zu haben, denn sie war sofort davon überzeugt, dass sie nicht genügend Zeit haben würde, um alle Facetten der Farbe zu erkennen, selbst wenn sie für den ganzen Rest ihres Lebens in diese smaragdfarbenen Tiefen starren würde. Der Mann kam ihr gleichzeitig Ehrfurcht gebietend und zugänglich vor – und sie wäre wirklich gern auf ihn zugegangen. Sie blieb aber, wo sie war, weil sie nicht riskieren wollte, sich einen Verkauf entgehen zu lassen oder ihm nicht wenigstens ein Buch in die Hand drücken zu können.

„Auf dem Schild an der Tür steht, dass Sie geschlossen haben.“ Sein Tonfall war vornehmer als der der meisten Leute in dieser Gegend, er verriet Bildung, gute Kinderstube und möglicherweise Wohlstand. Aber es war der tiefe, samtweiche Klang seiner Stimme, der ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ.

Wie seltsam, dass er trotz des Schilds versucht hatte, die Tür zu öffnen! Dieser Mann traute offensichtlich seinen Augen nicht wirklich – oder vielleicht brauchte er auch nur den Beweis dafür, dass man ihm die Wahrheit sagte.

Sie sah auf die hohe Wanduhr links von ihr neben ihrem Büro und stellte fest, dass es in der Tat zehn Minuten nach sechs war, der Zeit, zu der sie üblicherweise ihre Türen schloss. Sie war so vertieft in den Brief gewesen, dass sie nicht einmal gehört hatte, wie die Stunde schlug. „Die Öffnungszeiten an der Tür sind ja nicht in Stein gemeißelt. Und ich habe noch nie jemanden fortgeschickt, der ein Buch gebraucht hat. Wenn Sie sich umsehen möchten … Ich kann Ihnen auch dabei helfen, etwas nach Ihrem Geschmack auszuwählen.“

Er kam näher, aber nur ein paar Schritte. „Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten, wenn Sie gerade schließen wollten.“

„Es bereitet keine Umstände, ganz bestimmt nicht. Menschen zu guten Büchern zu verhelfen ist eine der größten Freuden in meinem Leben. Ich kann Ihnen auch ein paar meiner Lieblingsbücher empfehlen, wenn Sie möchten.“

„Wenn Sie schon so freundlich sind und mir helfen wollen: Mir ist nach echten Untaten. Haben Sie die neuesten Schauerromane?“

Sie blinzelte, öffnete die Lippen …

Und hörte ein leises Auflachen. „Sie sind zweifellos viel zu jung, um sich an diesen Begriff zu erinnern. Ich glaube, man sagt heutzutage Groschenroman dazu.“

„Ah, ja, hier drüben.“ Sie umrundete den Verkaufstresen und hielt auf ein kleines, wackliges Regal zu, auf dem sie die wöchentlich erscheinenden Hefte ausstellte. „Ich habe alle Serien hier stehen, und hier, auf diesem Regal“, sagte sie und ging ein Stück weiter, „finden Sie die gebundenen Ausgaben mit allen Folgen einer bestimmten Geschichte.“

„Sehr gut.“ Er kam auf sie zu und beugte sich vor, um die Umschläge zu betrachten, auf denen die Titel der jeweiligen Serien aufgedruckt waren. Er brachte den Duft von Rasierwasser mit. Wenn er sich nicht so weit vorgebeugt hätte, wäre ihr entgangen, dass das Haar in seinem Nacken noch feucht zu sein schien. Wahrscheinlich hatte er noch gebadet, kurz bevor er das Haus verlassen hatte. Er hatte sich jedoch nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren, denn sein Kinn war voll dunkler Stoppeln. Es war ein herrliches Kinn, kräftig und markant. Es war schade, dass er es unter dem dünnen Flaum seines Backenbarts versteckte, aber andererseits war dieser unverkennbar männlich. Seine breiten Schultern gaben ihr ebenfalls Rätsel auf, und sie fragte sich, ob er diese von Natur aus hatte oder ob sie das Ergebnis seiner Arbeit waren, was auch immer er tat. Gentlemen, die keiner geregelten Tätigkeit nachgingen, wohnten nicht in dieser Gegend und kauften selten hier ein, also hatte er zweifelsohne irgendeinen Beruf. Er kam ihr wie eine seltsame Mischung aus Rauheit und Sanftheit vor, genau wie der Brandy, den sie zuweilen gerne trank.

„Ah, Dick Turpin.“ Sein Tonfall war warm und voller Freude. „Als ich ein Junge war, habe ich viele Nachmittage damit verbracht, die Abenteuer seiner Wegelagerer zu verfolgen.“ Er zog den Band aus dem Regal. „Das nehme ich.“

„Das macht sechs Schilling. Wenn das im Augenblick zu viel für Sie ist, kann ich Ihnen bis zum Monatsende Kredit gewähren. Aber nur wenn Sie hier in der Gegend wohnen oder arbeiten.“

Es war nicht unbedingt ein Lächeln. Es war eher ein Zucken seiner Lippen – und was er für schöne Lippen hatte, voll und schön geschwungen. Seine Mundwinkel zeigten von Natur aus nach oben, als ob er ständig amüsiert über die Welt wäre. „Ich bezahle lieber gleich die volle Summe.“

„Ausgezeichnet.“

Sie ging wieder hinüber zum Verkaufstresen. Er holte eine kleine Geldbörse aus der Tasche seiner Jacke, nahm die nötigen Münzen heraus und gab sie ihr. Dabei fielen ihr seine großen behandschuhten Hände auf und die elegante Leichtigkeit, mit der er die Geldbörse wieder an ihren Platz steckte. Plötzlich hatte sie Mühe einzuatmen, denn sie sah wie aus dem Nichts und völlig ungebeten vor sich, wie diese Hände andere Dinge taten – eine Haarsträhne hinter ein Ohr streichen, einen Knopf durch ein Knopfloch schieben, einen Strumpf über ein Knie ziehen. Sie hatte keine Ahnung, woher diese lüsternen Gedanken mit einem Mal gekommen waren, in deren Mittelpunkt er stand. Andererseits waren ihr in letzter Zeit öfter einmal die attraktiven Seiten an Männern aufgefallen. Ihre Familie wäre zweifellos entsetzt gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass sie vor Kurzem begonnen hatte, Bücher zu lesen, die wegen ihres obszönen Inhalts der Zensur unterlagen, sofern sie einen Band in die Hände bekam. Aber sie wollte eben nicht vollkommen naiv sein, wenn sie in die Gesellschaft eingeführt wurde.

Er kniff die Augen zusammen, während er das Regal hinter ihr betrachtete, in dem sie die seltenen Ausgaben aufbewahrte, von denen sie einige eigenhändig perfekt restauriert hatte. Sie hatte eine solche Freude an ihnen, dass sie ihre ganze Willenskraft aufbringen musste, um ihm nicht voller Stolz die schönsten Bände zu präsentieren und ihm zu erlauben, sie mit aller Vorsicht zu berühren, damit er sah, wie gut sie erhalten waren.

„Ist das eine frühe Ausgabe von Stolz und Vorurteil?“

„Eine Erstausgabe.“ Sie konnte ein strahlendes Lächeln nicht unterdrücken. „Die hat man ausgerechnet in einer Mülltonne gefunden.“ Vor einem Haus in Mayfair. Sie hatte mit großer Vorsicht den verschmutzten, ausgeblichenen Lederumschlag entfernt und bearbeitet, bis er wieder geschmeidig geworden war. Seitdem das Buch wieder zusammengesetzt war, sah es aus wie neu.

„Wühlen Sie öfter in Mülltonnen, ja?“

„Sie wären erstaunt, wenn Sie wüssten, welche Schätze die Leute wegwerfen.“

„Das glaube ich sofort.“

„Wie dem auch sei, ich wühle nicht im Müll, aber ein paar arme Waisenkinder tun es, und sie bringen mir ihre Fundstücke. Manchmal kann ich ihnen dafür ein bisschen Geld geben.“ Sie bezahlte sie auch, wenn das Buch nicht mehr zu gebrauchen war und nicht restauriert werden konnte, damit die Kinder etwas hatten, womit sie am nächsten Tag ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten.

„Glauben Sie nicht, dass Sie sie damit dazu verleiten, irgendwo anders zu stehlen?“

„Sind Sie immer so zynisch? Nein, ich ermuntere sie nur dazu, das harte Schicksal nicht einfach so hinzunehmen, das sie ereilt hat, sondern zu glauben, dass sie es mit Geschick, harter Arbeit, Entschlossenheit und ein bisschen Erfindungsgeist verbessern können.“

„Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg.“ Er tippte sich an den Hut.

Aber sie wollte ihn nicht gehen lassen, ohne ihm mehr zu erzählen. „Einmal ist ein Junge gekommen, der mir eine Geschichte mitgebracht hat, die er auf Pergamentfetzen geschrieben hat, die er hier und da gefunden hatte. Er hatte die Seiten mit Nadel und Faden zusammengenäht. Ich habe sie ihm für zwei Pence abgekauft. Ich hatte gehofft, ihn zu ermutigen, sodass aus ihm vielleicht ein Geschichtenerzähler werden könnte. Vielleicht haben Sie die Auslage im Schaufenster bemerkt.“

Sie hatte sich große Mühe mit dem kleinen Arrangement in den vorderen Fenstern gegeben, um die Leute in den Laden zu locken. Bücher, eine Figur, die eine Frau darstellte, die las, und eine, die einen Jungen darstellte, der mit einem Buch in der Hand gegen einen Baumstamm gelehnt dasaß. In einem der Fenster stand ein winzig kleiner Schreibtisch, auf dem sich Papier, Federhalter und Tintenfass befanden – alles, was die Mühen des Schreibens ausdrückte.

„Das habe ich gesehen. Ich habe mich schon gefragt, was es wohl damit auf sich hat.“

Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Jetzt wissen Sie es.“

„Allerdings.“

Er betrachtete sie genauso aufmerksam wie vorhin ihren Laden, als er hereingekommen war. Sie war sich nicht sicher, warum sie ihm so viel erzählt hatte. Doch, sie wusste es schon. Sie liebte es, über Bücher zu reden. Sie waren ihre Leidenschaft, seitdem Gillie sie das erste Mal auf ihren Schoß gehoben und ein Buch aufgeschlagen hatte, um ihr den Zauber zu zeigen, der sich zwischen den Blättern verbarg. Sie fürchtete, dass sie unter seinem prüfenden Blick rot geworden war, denn ihre Wangen waren ganz warm. „Verzeihen Sie, Sir. Ich wollte eigentlich nicht so viel reden. Ich halte Sie auf.“

„Ich habe Sie aufgehalten. Vielen Dank, dass Sie mich noch hereingelassen haben.“

„Es war mir ein Vergnügen.“ Wie auch nicht, wenn er so einen wunderbaren Anblick bot? Sie kannte die Berge zwar nur von Bildern, sie war trotzdem davon überzeugt, dass er majestätisch war wie sie. „Hoffentlich gefällt Ihnen das Buch heute noch genauso gut wie als Junge.“

„Daran habe ich keinen Zweifel.“

Sie folgte ihm zur Tür, wo er einen Moment lang innehielt – als ob er noch etwas sagen wollte –, ehe er sie öffnete und ihren Laden verließ. Sie machte die Tür hinter ihm zu und sah zu, wie er stehen blieb, um sich ihre Schaufensterauslage anzusehen, die mit dem Miniaturschreibtisch. Dann setzte er seinen Weg fort. Ihn umgab so etwas wie Wehmut und Traurigkeit. Sie fragte sich, ob er wohl keine Familie hatte, ob er ganz allein auf der Welt war.

Sie schloss ab und war dankbar für den Verkauf. Es wäre sonst der erste Tag gewesen, an dem kein einziger Penny in ihre Kasse gekommen wäre, und sie wollte sich vom Mangel an Kundschaft nicht entmutigen lassen. Sie wusste, dass nicht jeder in einer Familie aufwuchs, in der Bücher so geschätzt wurden wie in ihrer, außerdem konnten sich nicht viele Menschen überhaupt Bücher leisten. Die Verlagswelt bemühte sich jetzt schon seit einigen Jahren, Literatur erschwinglicher für die Massen zu machen, was auch der Grund war, warum sie einen Band mit einer Serie von Erzählungen zu einem so niedrigen Preis anbieten konnte.

Sie hatte ihren Laden vor etwas über einem Jahr eröffnet, und die Geschäfte liefen langsam besser. Das hatte sie zu einem nicht unerheblichen Teil der Tatsache zu verdanken, dass ihr Bruder Mick gerade dabei war, diesen Teil von London zu sanieren. Vor einigen Jahren hatte er die heruntergekommenen Ruinen abreißen lassen, die er hier im Viertel aufgekauft hatte, und sie durch solide Backsteinhäuser ersetzt, die er selbst gebaut hatte. Auf beiden Seiten der Straße befanden sich Geschäfte. An der Ecke gegenüber ihrem Laden stand – ziemlich raumgreifend – der krönende Abschluss von Micks Errungenschaften: das Grandhotel, das den Familiennamen Trewlove trug. Er hatte etwas dagegen gehabt, dass Fancy arbeitete. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie ihre Zeit damit verbracht hätte, sich auf ihre Einführung in die Gesellschaft vorzubereiten. Aber es war ihr gelungen, ihn dazu zu überreden, ihr eines der kleineren Gebäude als Buchladen zu überlassen. Alle ihre Geschwister waren mehr oder weniger erfolgreich, und sie wollte ebenfalls ihren Teil dazu beitragen, die Verhältnisse zu verbessern, nicht nur für ihre Familie, sondern auch im Leben anderer Menschen.

Sie ging zum Verkaufstresen zurück und lächelte, als ihr Kater hinaufsprang, sich träge streckte und sie aus seinen grünen Augen ansah. Sie fuhr mit den Fingern durch sein dickes Fell, das so weiß wie frisch gefallener Schnee war. Er war abgemagert und praktisch haarlos gewesen – das bisschen, das ihm noch geblieben war, ganz verfilzt –, als sie ihn in den Ställen gefunden hatte, verschnürt wie eine Wurst. Wenn sie je herausfand, wer ihn dort in diesem Zustand ausgesetzt hatte, würde sie dafür sorgen, dass der Mistkerl es bereute. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie das Vertrauen des Katers gewonnen hatte. „Eifersüchtig, Dickens? Seine Augen hatten eine viel intensivere Farbe als deine, aber du bist trotzdem noch mein Liebling.“

Er schnurrte nur und fing an, sich die Pfote zu lecken.

Sie schnappte sich ihre Kasse und ging in ihr kleines Büro. Sie hielt vor einem Bild inne, das eine Frau zeigte, die auf einer Leiter stand und die Hand nach einem Buch ausstreckte. Sie nahm das Bild von der Wand, um an den Geldschrank zu gelangen, der sicher dahinter verborgen war. Sie zog die Kette aus ihrem Kragen hervor, ergriff den Schlüssel, der daran hing, und steckte ihn ins Schloss. Sie kam sich immer ein wenig verrucht vor, weil sie einen Platz hatte, an dem sie Dinge verstecken konnte. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, verstaute sie die Kasse im Tresor und schloss ihn wieder ab. Das Gemälde kam wieder an seinen Platz an der Wand und der Schlüssel wieder zurück in ihr Mieder.

Nachdem das erledigt war, hob sie ihren kleinen, mit Blumen geschmückten Hut auf, ging zu dem ovalen Spiegel, der an der Wand hing, und rückte die Krempe so zurecht, dass sie einen kultivierten Eindruck machte. Sie hatte von ihren Geschwistern gelernt, sich den Zielen entsprechend zu präsentieren, die sie in ihrem Leben erreichen wollte. „Wenn die Leute glauben, dass du Erfolg hast, dann ist das schon die halbe Miete“, hatte Mick ihr an dem Tag gesagt, an dem sie ihren Laden eröffnet hatte.

Sie nahm sich ein winzig kleines Buch und schob es in ihre Tasche – die meisten ihrer Kleider hatten große Rocktaschen, in denen sie Dinge unterbringen konnte. Dann schlenderte sie durch ihren geliebten Laden zur Tür und trat hinaus auf den Bürgersteig.

Menschen hasteten durch die Straßen, manche waren auf dem Heimweg von der Arbeit, andere kamen vom Einkaufen. In der Luft hing der Duft von frisch gebackenem Brot, denn zwei Häuser weiter befand sich eine Bäckerei. Sie waren dort mit Sicherheit dabei, die Bestellung des Hotels ihres Bruders zu bearbeiten. Der elegante Speisesaal hatte einen guten Ruf wegen des köstlichen Essens, das dort serviert wurde – nicht dass Mick sich jemals mit weniger als Perfektion zufriedengegeben hätte. Nachdem sie abgeschlossen hatte, schlenderte Fancy die Straße hinauf.

„Hallo, Miss Trewlove!“, rief eine junge Frau mit zwei Kindern, die an ihrem Rockzipfel hingen, ihr zu, während sie die Kleinen weiterscheuchte.

„Guten Abend, Mrs. Byng. Sehe ich Sie morgen zur Vorlesestunde?“ Jeden Freitagnachmittag versammelte Fancy Kinder in ihrem Laden und las ihnen vor.

„Das wollen meine Kinder auf keinen Fall verpassen.“

Fancy nahm an, dass ihr Sohn und ihre Tochter die Süßigkeiten, die sie verteilte, genauso sehr mochten wie die Geschichten. Die Gegend hier war ganz und gar kein Armenviertel, aber sie wusste sehr gut, dass viele dieser Leute wenig Geld übrig hatten, wenn sie das Nötigste zum Leben bezahlt hatten, und sie kam sich wie eine Wohltäterin vor, wenn sie ihnen etwas Besonderes bot. Ihre Lesestunden am Nachmittag boten eine Atempause für viele der Mütter, vor allem für die, die viele Kinder hatten. Sie hatte oft bemerkt, wie manche von ihnen eindösten, während Fancy sich bemühte, die Kleinen zu unterhalten. Sie wusste, dass nur wenige Haushalte über Bücher verfügten, und ihr gefiel der Gedanke, dass sie die Kinder nicht nur mit der Macht des Lesens bekannt machte, sondern ihnen vielleicht sogar Lust darauf machte, zur Schule zu gehen. Dank der vor Kurzem von der Liberalen Partei durchgeführten Bildungsreformen wurde die Schulbildung für Kinder, deren Eltern sich das Schulgeld nicht leisten konnten, zwar von der öffentlichen Hand bezahlt, aber es gab trotzdem keine Schulpflicht. Sie hielt das für einen unverzeihlichen Fehler. Nicht allen Eltern lag etwas daran, die Lebensumstände ihrer Kinder zu verbessern. Sie war in einer Gegend aufgewachsen, in der viele der Ansicht gewesen waren, es wäre wichtiger, dass die Brut arbeitete und Geld in die Familienkasse einzahlte, als jeden Tag ein paar Stunden in einem Klassenzimmer zu verbringen.

Während sie weiterging, wurde sie noch von einigen anderen Menschen gegrüßt. Sie würde das Leben hier vermissen, wenn sie verheiratet war, aber ihr war klar, dass ihr zukünftiger Ehemann, ganz gleich welchen Titel genau er trug, eine vornehme Residenz in einem exklusiven Teil von London besitzen würde, wo sie mit ihm wohnen müsste. Um eine richtige Dame zu werden, würde sie ihr Geschäft aufgeben müssen. Auch wenn Gillie immer noch ihre Schenke führte, war immer klar gewesen, dass Fancy dazu bestimmt war, ein Spross der vornehmen Gesellschaft zu werden, und dazu würde es nicht kommen, wenn sie sich nicht ganz und gar auf diese Kultur einließ, indem sie Vormittagsbesuche machte, Tee- und Abendgesellschaften veranstaltete und Bälle ausrichtete. Ganz abgesehen davon, dass sie ihrem Mann einen Erben und vielleicht noch eine oder zwei Töchter als Zugabe schenken musste.

Aber solange sie noch nicht offiziell in die Gesellschaft eingeführt worden war, hatte sie die Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte, und sie wollte im Jolly Roger zu Abend essen, dem Pub, den Gillie vor einem halben Jahr hier in der Gegend eröffnet hatte. Weil sie mit der Geschäftsführung in ihrer Schenke, dem Meerjungfrau und Einhorn, ihren herrschaftlichen Pflichten und der Erziehung der beiden Töchter, die sie dem Duke geschenkt hatte, so viel zu tun hatte, hatte sie Roger die Zügel ihres neuesten Geschäfts in die Hand gegeben. Er hatte ihr schon in der Meerjungfrau geholfen. Die Köchin, die zufällig auch noch in ihn verliebt war, war mit ihm gekommen. Hannahs Essen war einfach, aber köstlich und erinnerte Fancy an die Gerichte, die ihre Mutter immer kochte.

Sie genoss es zwar, ihren eigenen Haushalt zu haben, aber sie vermisste ihre Mutter ziemlich, genau wie damals auf dem vornehmen Internat, für das Mick aufgekommen war, als ersten Schritt, um die Träume ihrer Mutter von einer guten Ehe für Fancy zu verwirklichen. Seitdem waren ihre Manieren über jeden Zweifel erhaben, ihre Sprache gewählt, und sie hörte sich nicht mehr an wie aus der Gosse gekrochen.

Allerdings hatte sie nie so geredet, als ob sie aus einfachen Verhältnissen käme. Gillie hatte darauf bestanden, dass alle ihre Geschwister sich ordentlich ausdrückten und ihre Aussprache klar und deutlich war, denn sie hielt gehobene Umgangsformen für unerlässlich, wenn man seine Lebensumstände verbessern wollte, und ihr erster Arbeitgeber hatte ihr beigebracht, wie man sich klar ausdrückte. Ehe Fancy überhaupt ein Klassenzimmer betreten hatte, hatte sich Gillie mit ihr hingesetzt und ihr beigebracht, wie die Menschen sprachen, die in den wohlhabenden Gegenden von London zu Hause waren.

Fancy hatte die Zeit im Internat genutzt und verstanden, warum man lernen musste, wie die oberen Gesellschaftsschichten zu gehen, zu sprechen und zu essen. Aber sie verabscheute es, von ihrer Familie getrennt zu sein. Auch wenn ihre Brüder und Gillie viel älter waren als sie und ihre eigene Bleibe hatten, noch ehe sie sechs geworden war, spielten sie weiter eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Sie kamen oft zu Besuch, holten sie zu Ausflügen ab, brachten ihr Süßigkeiten, Puppen und andere Geschenke mit. Sie hatten sie schrecklich verwöhnt – eigentlich bis heute – und sie liebte sie alle sehr dafür. Sie wollte sie nicht enttäuschen, indem sie keinen Platz in der vornehmen Gesellschaft für sich eroberte, damit sie stolz auf sie sein konnten. Die Größe dieser Aufgabe lag wie eine schwere Last auf ihren Schultern. Aber sie wollte es zu Ende bringen und ihrer Familie keinen Grund geben, sich für sie zu schämen.

Aber jetzt hatte sie wirklich genug darüber nachgedacht! Wenn ihr solche Gedanken immer weiter durch den Kopf kreisten, verdarben sie ihr nur das Abendessen. Sie machte sich auf den Weg zum Pub, um sich abzulenken. Sie öffnete die schwere Tür und ging hinein. Dann stolperte sie und blieb stehen. Sie hätte sich beinahe die Nase an der massiven Wand gestoßen, vor der sie stand. Keine Wand. Ein Brustkorb. Einer, der vor Kurzem erst in ihrem Laden gewesen war. Sie zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht und blickte auf. „Hallo noch mal.“

„Hallo.“

Er war zweifelsohne attraktiv, aber wenn er gelächelt hätte, wäre er umwerfend gewesen. „Sie haben ziemlich schnell gegessen.“

„Ich warte noch darauf, dass ein Tisch frei wird. Es sieht nicht gut für mich aus.“

„Oh.“ Sie war später hergekommen als normalerweise. Sie schaute sich um und stellte fest, dass er recht hatte. Aber dann, am anderen Ende der Schankstube …

„Sehen Sie, dahinten ist einer frei geworden.“ Zwei Herren verließen gerade einen kleinen quadratischen Tisch ganz hinten an der Wand.

„Den schnappe ich für Sie.“

Ehe sie ihn darauf hinweisen konnte, dass der Tisch ihm zustand, weil er vor ihr da gewesen war, war er schon verschwunden. Mit seinen langen Beinen und seiner schlanken Statur fiel es ihm nicht schwer, sich zwischen den vollbesetzten Tischen hindurchzuschlängeln, bis er die freien Plätze erreicht hatte. Er kam einem Jungen mit einem kleinen Kupfereimer nur um wenige Sekunden zuvor. Ohne weitere Anweisung fing der junge Mann, der vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, an, Teller und Gläser einzusammeln, ehe er mit einem feuchten Tusch die Tischplatte und die Sitzflächen der Holzstühle abwischte.

Der Kunde, der vorhin in ihrem Laden gewesen war, hob den Arm und winkte sie zu sich heran. Ihr fiel auf, mit welcher Leichtigkeit er mit der einfachen Geste so viel aussagte, als wäre er es gewohnt, Anweisungen zu erteilen, die ohne Nachfragen befolgt wurden. Es half nichts, also bahnte sie sich ihren Weg um die Tische, Stühle, Bänke und Leute herum und begrüßte dabei die, die sie kannte. Schließlich hatte sie ihn erreicht. „Ich weiß Ihre Ritterlichkeit sehr zu schätzen, aber Sie sind vor mir hier gewesen. Der Tisch sollte Ihrer sein.“

„Sie wären vor mir hier gewesen, wenn ich Sie nicht in Ihrem Laden aufgehalten hätte.“

Die Miene, mit der er das sagte, erinnerte sie an ihre Brüder, und sie wusste genau, wie mühsam es war, einen Streit mit ihnen zu gewinnen, also fügte sie sich höflich in ihre Niederlage. Sie fand allerdings, dass ein letzter Angriff angebracht war. „Hier stehen doch zwei Stühle, ich sehe keinen Grund, warum wir uns den Tisch nicht teilen sollten.“

Er kniff ein wenig die Augen zusammen. Es machte den Eindruck, als ob er ihren Vorschlag missbilligen würde, als ob sie gefragt hätte, ob sie sich die Kleider vom Leib reißen und durch das Lokal springen wollten. „Sie sind eine Dame ohne Begleitung.“

„Genau deswegen ist der Stuhl ja frei.“ Sie sagte das in heiterem, freundlichem Ton, ohne darauf hinzuzufügen, dass sie genau wusste, was sie war. Einen Herzschlag lang glaubte sie, dass er lächeln würde, aber er schien das Bedürfnis zu unterdrücken. „Bitte. Sie können Ihr Buch lesen, und ich lese meins. Wir müssen uns nicht unterhalten. Dann ist es genauso, als ob wir allein essen.“

„Sie haben ein Buch dabei?“

„Eine Miniaturausgabe. In meiner Rocktasche. Bitte setzen Sie sich zu mir. Sonst quält mich mein schlechtes Gewissen, weil Sie so spät zu Abend essen müssen, und ich kann mein Essen gar nicht genießen.“ Ihr war nicht ganz klar, warum sie so darauf bestand, obwohl er so wenig Interesse an ihrer Gesellschaft zu haben schien, aber sie hatte ganz grundsätzlich etwas dagegen, einander das Leben schwerer zu machen als nötig.

Mit einem knappen Kopfnicken zog er einen Stuhl heran und bat sie, sich zu setzen. Zum Glück hatte sie gelernt, sich wie eine Dame zu verhalten, und nahm elegant Platz. Sie war froh, dass er sich ihr gegenübersetzte, staunte aber darüber, dass er dabei beinahe genauso elegant aussah. Sie hatte in diesen Mauern schon unzähligen Männern dabei zugesehen, wie sie sich auf ihren Sitz fallen ließen. Nur wenige taten das mit solcher Sorgfalt, als ob jeder Muskel, Knochen und alle Sehnen darauf trainiert wären, sich mit größtmöglicher Eleganz zu bewegen, weil ihr Besitzer es gewohnt war, immer unter Beobachtung zu stehen, und sichergehen wollte, dass niemand etwas an ihm auszusetzen hatte. Er zog seine Handschuhe aus und legte sie auf den Tisch, während sie ihre auf ihren Schoß legte.

„N’Abend, Miss Trewlove.“

Sie sah zu der jungen Frau auf, deren Gesicht rot vor Anstrengung war und deren Busen Gefahr lief, sich aus der Enge ihres schwarzen Mieders zu befreien. „Hallo, Becky.“

„Was darf’s heute Abend sein?“

„Was hat Hannah denn gekocht?“

„Eine wunderbare Shepherd’s Pie und Hammeleintopf.“

„Ich nehme die Pastete und ein halbes Pint helles Bier.“

„Jawohl, Miss. Und Sie, Sir?“

„Ich nehme auch die Pastete und ein Pint Guinness.“

„Sehr gut, Sir. Ich bin sofort wieder da.“

Fancy sah Becky hinterher, die sich eilig entfernte, auf dem Weg leere Bierkrüge und Gläser einsammelte und denen zunickte, die sie um weitere Getränke baten. Die Frau war wie eine Jongleurin, die viel zu viele Bälle in der Luft hatte, aber es trotzdem irgendwie schaffte, dass keiner davon zu Boden fiel.

„Miss Trew-love.“

Er hatte ihren Namen leise ausgesprochen und dabei so lang gezogen, als wäre er ein Stück Konfekt, das er verzehren wollte. Damit erregte ihr Tischnachbar ihre Aufmerksamkeit wieder. „Sie sagen das, als wüssten Sie nicht, wer ich bin.“

„Das wusste ich auch nicht. Ich nehme an, Sie sind mit Mick Trewlove verwandt?“

Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Stolz auf ihren Bruder ihr ins Gesicht geschrieben stand. „Ich bin seine jüngere Schwester. Und Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Wir haben uns einander nicht vorgestellt. Ich bin Fancy Trewlove.“

„Fancys Buchladen.“

Auf eins konnte man sich bei Männern immer verlassen: Sie wiesen auf das Offensichtliche hin. „Sie haben mir aber noch nicht verraten, wer Sie sind.“

Er zögerte ein wenig, als wäre er sich da selbst nicht ganz sicher. „Matthew Sommersby. Mit zwei M.“

Sie streckte die Hand aus. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Matthew Sommersby mit zwei M.“

Das Lächeln, mit dem er sie bedachte, raubte ihr beinahe den Atem. Sie hatte vorher schon die eine oder andere Andeutung davon gesehen, ein Zucken hier, ein hochgezogener Mundwinkel da, aber als er die Lippen zu einem echten Lächeln öffnete, sodass seine perfekt geraden Zähne zum Vorschein kamen, als seine Augen funkelten, als ob er wirklich erfreut wäre, staunte sie über die Geschwindigkeit seiner Veränderung. Aus einem Mann von großem Ernst war einer geworden, der freundlicher, einladender und sinnlicher aussah, der mehr von allem hatte.

„Freut mich, Miss Trewlove.“ Seine Handfläche fühlte sich ein kleines bisschen rau an, wie sehr feiner Sand unter den Füßen am Strand. Aus irgendeinem Grund stellte sie sich vor, wie er ihre Fingerspitzen küsste. Er besaß eine Eleganz und Kultiviertheit, die sie an höfische Gepflogenheiten erinnerte. Aber er ließ ihre Hand einfach wieder los. Dann öffnete und schloss er noch einmal seine Finger, so als wollte er das Gefühl bewahren, wie es war, sie zu berühren.

„Sie wohnen sicherlich hier in der Gegend“, sagte sie.

„Eine Straße weiter. Ettie Lane Nummer 86. Aus dem Fenster im ersten Stock kann ich Ihren Laden sehen.“

Das bedeutete, dass er in ihr Schlafzimmer sehen konnte oder zumindest das Licht, das darin brannte, bis sie die Vorhänge zuzog. Sie bezweifelte, dass er tatsächlich hineinsehen und das Mobiliar betrachten konnte, aber vielleicht war sie zu erkennen, wenn sie sich bewegte. „Mick hat die Straße nach unserer Mutter benannt. Wohnen Sie schon lange dort?“

„Etwas mehr als vierzehn Tage.“

„Wie gefällt es Ihnen?“

„Bis jetzt finde ich es sehr angenehm.“

„Mein Bruder hat sich große Mühe gegeben, dort alles freund…“

„Hier, bitte sehr, meine Lieben“, sagte Becky und stellte die Zinnkrüge auf den Tisch. „Zum Wohl und lassen Sie es sich schmecken, das Essen kommt sofort.“

Nachdem das Mädchen verschwunden war, fuhr Fancy fort: „Freundlich zu gestalten, wollte ich sagen.“ Sie hob ihren Krug. „Prost.“

Während er seinen Krug nahm, trank sie einen Schluck und genoss den bitteren Geschmack. Gillie schenkte nur das Beste aus. Sie sah, wie er sich dem Umschlag seiner neuesten Erwerbung zuwandte, holte die Miniaturausgabe aus ihrer Rocktasche und stellte befriedigt fest, dass sein Blick zu ihr wanderte, als sie sich bequem hinsetzte. Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie sich in seiner Aufmerksamkeit sonnen wollte. Vielleicht lag es daran, dass sie noch nie zuvor das ganze Interesse eines Mannes erweckt hatte. Es war in der Gegend, in der sie aufgewachsen war, kein Geheimnis, dass ihre Familie Großes von ihr erwartete, also hatten die meisten Jungen Abstand von ihr gehalten, keiner von ihnen hatte es mit ihren schrecklich furchteinflößenden Brüdern aufnehmen wollen.

„Was lesen Sie da?“, fragte er.

„Die Fabeln von Äsop.“

„Haben Sie eine Lieblingsgeschichte?“

„‚Die Grille und die Ameise‘ vielleicht. Die passt zu meiner Familie, weil alle immer hart gearbeitet und sich selten die Zeit genommen haben, sich zu amüsieren. Haben Sie eine, die Sie besonders mögen, zu der Sie vielleicht eine besondere Beziehung haben?“

„‚Vom Fuchs und Raben‘. Nimm dich vor Schmeichlern in Acht oder so ähnlich.“

Sie hätte schwören können, dass ein wenig Bitterkeit in seiner Stimme mitschwang, und fragte sich, warum es so war. Aber sie kannte ihn nicht gut genug, um ihn nach den Gründen für seine Wahl zu fragen. Wahrscheinlich war die Fabel, die er ausgesucht hatte, allerdings ein Rat, den sie sich zu Herzen nehmen sollte, wenn sie demnächst Teil der vornehmen Gesellschaft wurde. Andererseits hatte sie gedacht, dass es bei der ganzen Saison in erster Linie um Schmeicheleien ging. „Haben Sie einen Rat für mich, wie man Schmeichelei von einem aufrichtigen Kompliment unterscheiden kann?“

„Unglücklicherweise nein.“

3. KAPITEL

Es war nicht so, dass Matthew Sommersby gar nicht in Versuchung gewesen wäre, sich zu entspannen und sich in Schmeicheleien zu ergehen, bei denen seine Tischdame vor Freude errötet wäre. Es war eine ganze Weile her, dass er sich zu einer Frau hingezogen gefühlt hatte.

Er fragte sich, ob er überhaupt schon einmal jemanden von so zarter Gestalt wie sie gesehen hatte, die trotzdem so viel Persönlichkeit ausstrahlte. Die Königin vielleicht. In dem Augenblick, als er ihren Laden betreten hatte, hatte Miss Trewlove ohne Verstellung, ohne Einschmeicheln und ohne Zweideutigkeiten seine Aufmerksamkeit erregt. Sie hatte ihn einfach nur mit einem warmen Lächeln und einer so angenehmen Stimme willkommen geheißen, dass er sich umsehen musste, um sicherzugehen, dass er soeben einen Buchladen betreten hatte und kein Freudenhaus. In seinem Kopf wurde diese Stimme leiser bis zu einem heiseren Wispern, mit dem sie ihm verruchte Angebote ins Ohr flüsterte. Er hatte keine Ahnung, warum sie diese Wirkung auf ihn hatte. Sie war mit Sicherheit eine schöne Frau mit ihren hohen Wangenknochen, dem zarten, geraden Kinn und den freundlichen braunen Augen, aber dass er sie so anziehend fand, hatte viel mehr mit ihrem Selbstvertrauen und ihrer Haltung zu tun.

Es war eigentlich nicht überraschend, vor allem jetzt nicht mehr, seitdem er wusste, dass sie eine Trewlove war. Trotz ihrer bescheidenen Herkunft hinterließen die Mitglieder dieser Familie bleibenden Eindruck in der vornehmen Gesellschaft, vor allem Mick Trewlove, seitdem er Gebäude, die man hatte verfallen lassen, abreißen ließ und sie durch Häuser ersetzte, für die sich Händler und Bewohner nicht zu schämen brauchten. Das war einer der Gründe dafür, dass Matthew sich entschlossen hatte, gerade hier ein Reihenhaus zu mieten. Es war modern und sauber, und die ganze Gegend hatte einige Annehmlichkeiten zu bieten.

„Wieso gerade ein Buchladen?“, fragte er.

Das Lächeln, mit dem sie ihn ansah, schien ihr ganzes Sein zu erfassen, es schien ihre Seele zu enthüllen. „Die einfache Antwort auf diese Frage ist, dass ich Geschichten liebe, aber natürlich steckt noch mehr dahinter. Meine Geschwister sind alle ein bisschen älter als ich. Meine Mutter hat sie auf eine Lumpenschule hier in der Nähe geschickt. Das hat sie nichts gekostet, weil die Schulen allen offenstehen, finanziert von der Großzügigkeit der anderen. Der Unterricht hat nur vormittags stattgefunden, und sie durften nur teilnehmen, bis sie elf gewesen sind, also war es damit schon vorbei, als ich auf die Welt gekommen bin. Aber sie haben lesen gelernt, wissen Sie, und danach konnte sie niemand mehr aufhalten.“

Das Feuer in ihrem Tonfall und ihr Gesichtsausdruck schlugen ihn in ihren Bann. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er selbst irgendeine Leidenschaft empfunden hatte.

„Sie haben sich weitergebildet. Auch ohne Schule. Sie haben ihren Verdienst zusammengelegt, um eine Guinee Jahresbeitrag für die Leihbücherei bezahlen zu können. Sie konnten sich immer nur ein Buch zur Zeit ausleihen, und sie haben sich damit abgewechselt, das Buch auszusuchen, das ausgeliehen wurde, aber es hat ihnen ganze Welten eröffnet – und mir auch. Meine schönste Kindheitserinnerung ist, von ihnen vorgelesen zu bekommen. Es war wie Zauberei. Deshalb habe ich mir einen Buchladen gewünscht, sodass ich immer von den Geschichten umgeben bin, die meine Brüder und meine Schwester so sehr geliebt haben, dass sie sie mit mir geteilt haben. Wenn ich Buchrücken auf einem Regal aufgereiht sehe, macht mich das glücklich. Noch glücklicher bin ich nur, wenn jemand ein Buch mit nach Hause nimmt. Geschichten über Abenteuer oder Romanzen oder Verbrechen sind zweifellos ein unendliches Vergnügen. Biografien, Geschichtsbücher und Geografie erweitern unser Wissen über unsere Welt. Selbst wenn ich nicht mit jeder Haltung übereinstimme, von der ich lese, finde ich trotzdem jedes geschriebene und gelesene Wort wertvoll. Deshalb führe ich einen Buchladen.“

Sie lehnte sich zurück und trank einen langen, tiefen Schluck Bier, als wäre sie sich überhaupt nicht bewusst, dass sie seine Welt gerade mit ihrer leidenschaftlichen Rede auf den Kopf gestellt hatte. Als sie fertig getrunken hatte, leckte sie sich die Lippen und hob den Blick. Er kam nicht umhin festzustellen, dass er noch nie in seinem Leben so gefesselt von einem Menschen gewesen war und es auch nie wieder sein würde. Ihre Liebe zu Büchern war aufrichtig. Sie war aufrichtig.

„Sind Sie auch auf einer Lumpenschule gewesen?“ Er wusste, dass diese Bezeichnung entstanden war, weil viele der Kinder, die diese Schulen besuchten, in Lumpen gekleidet waren. Er hasste die Vorstellung, dass sie abgetragene und zerlumpte Kleider hatte tragen müssen, wahrscheinlich ohne Schuhe. Er war sich zwar bewusst, dass Menschen in Armut aufwuchsen, aber er hatte noch nie mit jemandem gesprochen, der davon betroffen war. Er spendete regelmäßig an die eine oder andere Wohltätigkeitsorganisation, aber er hatte sich noch nie aktiv an der Arbeit beteiligt. Er schämte sich plötzlich sehr dafür, dass er ihr Leben oder das von anderen mit seiner Untätigkeit möglicherweise noch schwerer gemacht hatte.

„Oh nein. Als ich alt genug war, um zur Schule zu gehen, haben meine Geschwister alle gearbeitet, und sie haben wieder ihre Mittel zusammengelegt, dieses Mal, um dafür zu sorgen, dass ich auf eine Privatschule gehen konnte und später auf ein Internat. In beiden Fällen waren die Eltern meiner Mitschülerinnen Händler, Bankdirektoren, Kaufleute oder hatten einen anderen Beruf, der ihnen ein ordentliches Einkommen ermöglichte, aber ich bin dort immer noch nicht wirklich willkommen gewesen. Leider bringen die Umstände meiner Geburt gewisse Vorurteile mit sich.“ Sie erklärte ihm nicht näher, was das für Umstände gewesen waren, aber das war auch nicht nötig. Es war allgemein bekannt, dass die Trewloves die Tatsache, dass sie unehelich auf die Welt gekommen waren, wie ein Ehrenabzeichen vor sich hertrugen. „Ich war während meiner Schulzeit ziemlich einsam, nicht dass ich meinen Geschwistern das je gesagt hätte. Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle und jetzt auch noch weiter darüber rede. Hoffentlich nehmen Sie mir meinen Anfall von Selbstmitleid nicht übel.“

„Das hat doch kaum etwas mit Selbstmitleid zu tun, Miss Trewlove.“ Er mochte gar nicht daran denken, wie sie während der Mahlzeiten allein am Tisch gesessen hatte, im Garten am Rand gestanden hatte, weil sie beim Fangenspielen nicht erwünscht gewesen war. Andererseits hatte das, was sie durchgemacht hatte, vielleicht dafür gesorgt, dass sie ihn heute Abend eingeladen hatte, sich zu ihr zu setzen. Er war langsam dankbar dafür, dass sie es getan hatte. Sie war völlig ohne Arglist, und das empfand er als überaus erfrischend.

Sie schämte sich, weil sie einem Fremden so intime und persönliche Erinnerungen und Gedanken anvertraut hatte. Fancy zeigte mit einem Nicken auf das Buch, das Mr. Sommersby auf den Tisch gelegt hatte. „Ich hatte versprochen, dass Sie lesen können, wenn Sie sich an diesen Tisch setzen.“

„Das stimmt.“

Sie versuchte sich auf das zu konzentrieren, was sie las, aber es hatte keinen Sinn. Normalerweise bereitete es ihr keine Mühe, Ablenkungen auszublenden, wenn sie sich in ein Buch vertieft hatte, aber normalerweise wurde ihre Aufmerksamkeit auch nicht von einem Gentleman beansprucht, dessen Geschichten sie gern gehört hätte – denn er hatte mit Sicherheit einige zu erzählen. Er sah aus, als wäre er in den frühen Dreißigern. Wo war er gewesen, ehe er hier gelandet war? Was verschaffte ihm ein Einkommen?

Becky kam zurück und stellte eine Schüssel mit Shepherd’s Pie vor jedem von ihnen auf den Tisch. Daneben deckte sie jeweils ein Leinentuch und einen Löffel und machte sich dann auf den Weg zu den anderen Gästen. Mr. Sommersby legte sein Buch zur Seite, und sie breiteten gleichzeitig ihre Leinenservietten auf dem Schoß aus. Er nahm ein wenig Pastete, und sie kämpfte gegen das Bedürfnis zuzusehen, wie seine Lippen sich um den Löffel schlossen, aber es war vergeblich. Stattdessen malte sie sich auch noch aus, wie sich diese Lippen auf ihre legten. Was war nur mit ihr los, dass sie solchen unerhörten Gedanken erlaubte, sich in ihrem Kopf breitzumachen? Sie wandte den Blick ab und befasste sich mit ihrer eigenen Mahlzeit.

„Beim Essen kann man kaum lesen“, sagte er leise.

Eigentlich bereitete ihr das keine Schwierigkeiten, schon als Kind nicht, sehr zum Ärger ihrer Mutter, weil es sich für richtige Damen nicht gehörte, sich die Zeit bei Tisch auf diese Weise zu vertreiben. Man sollte sich stattdessen durch Gespräche mit dem Leben der anderen vertraut machen, aufmerksam zuhören, Bruchstücke von Wissen sammeln, um Menschen besser zu verstehen, sich ein Bild von ihrem oder seinem Charakter machen. Bei Mr. Sommersby scheiterte sie kläglich, was kein gutes Zeichen für ihre Einführung in die Gesellschaft und ihre Einschätzung von dem Mann war, der sie vielleicht um ihre Hand bitten würde.

„Ich bin überrascht“, fuhr er fort, „dass Mick Trewloves Schwester ihre Mahlzeiten hier einnimmt und nicht mit ihm in seiner Wohnung im Hotel isst.“

Ihr Bruder hatte ein Büro, von dem aus er die Geschäfte führte, und eine Privatwohnung im obersten Stockwerk. Mr. Sommersby musste davon erfahren haben, als er seine Wohnung gemietet hatte, denn er musste im Büro gewesen sein, um seinen Mietvertrag zu unterschreiben. „Ich war nicht in der Stimmung, mich in die Mangel nehmen zu lassen“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

Er hob fragend eine seiner dunklen Augenbrauen.

„Am nächsten Mittwoch werde ich offiziell in die Gesellschaft eingeführt, auf einem Ball, den meine Schwester Gillie – die Duchess of Thornley – mir zu Ehren ausrichtet.“

Ihre ganze Familie war aufgeregt. Sie waren sich alle nicht ganz sicher, ob die Leute aus Neugier auf die Bürgerliche, die es geschafft hatte, einen der mächtigsten Männer von ganz England für sich zu gewinnen, kommen würden oder ob überhaupt niemand auftauchen würde, um so die Missbilligung der vornehmen Gesellschaft darüber zum Ausdruck zu bringen, dass der Duke of Thornley unter seinem Stand geheiratet hatte.

Sie sah seinen fragenden Blick und fuhr fort: „Wieso ich eine Schwester habe, die Duchess ist …“

„Ich glaube, es gibt keine Menschenseele in ganz London, die noch nichts von den Trewloves und ihren vielen Heiraten in den Hochadel gehört hat.“

Mick war mit Lady Aslyn verheiratet, Tochter des verstorbenen Earl of Eames und Mündel des Duke of Hedley – Micks Vater, wie sich herausgestellt hatte, auch wenn der Mann nie öffentlich zugegeben hatte, dass Mick sein Sohn war. Aber sie hatten in letzter Zeit eine enge Beziehung zueinander entwickelt und wurden häufig zusammen gesehen. Finn hatte Lady Lavinia zur Frau genommen, während Aiden Selena geheiratet hatte, eine verwitwete Countess. Und dann war da natürlich noch Gillie mit ihrem Duke. Die Ehen ihrer Geschwister hätten ihnen eigentlich genug gesellschaftliche Anerkennung verschaffen sollen, aber es sah so aus, als ob der Hochadel sehr zögerlich war, wenn es darum ging, Neuankömmlinge in seiner Mitte zu begrüßen.

„Das ist vermutlich wahr. Nach allem, was ich gehört habe, sind sie das Stadtgespräch. Sie legen ziemlich hohe Maßstäbe an mich und haben hohe Erwartungen. Das war aber schon so, bevor sie angefangen haben, Ehepartner aus dem Hochadel zu sammeln. Wenn ich mit Mick zu Abend esse, bestehen er und seine Frau – die guten Seelen – also darauf, dass wir die Regeln der Etikette strikt einhalten – das richtige Besteck aus der lächerlich großen Menge aussuchen, die auf dem Tisch liegt – und nur über Themen reden, die bei einem Abendessen mit hochmütigen Adligen angebracht wären. Wenn ich einen Lord heirate, besteht mein Leben nur noch aus formellen Abendessen und gepflegten Gesprächen über langweilige Themen.“ Sie sah sich um. „Ich glaube kaum, dass es dann noch schallendes Gelächter oder Schulterklopfen oder die erstaunliche Freude gibt, wenn das Tagwerk getan ist und man ein bisschen Zeit hat, die man mit seinen Freunden verbringen kann. Also bin ich heute Abend hergekommen, damit mich niemand für mein Benehmen kritisiert und ich die gute Stimmung um mich herum genießen kann.“

„Warum wollen Sie denn dann einen Lord heiraten?“ Sein Ton war ausdruckslos, vielleicht mit einer Spur von Missbilligung, als ob er sich zu Recht von ihren Plänen gekränkt fühlte.

Sie legte keinen Wert darauf, dass er sich hier ein Urteil über sie bildete. „Meine Familie erwartet das von mir. Ich bin mit dieser Erwartung aufgewachsen. Um ehrlich zu sein, gibt es für eine Frau kaum eine andere Möglichkeit, ihre Lebenssituation zu verbessern, wenn nicht durch Heirat. Sie kann vielleicht erfolgreicher sein als ein Mann, wenn sie ein eigenes Geschäft hat und hart arbeitet, aber sie kann sich damit nicht denselben Respekt verdienen. Es ist wirklich zum Verrücktwerden, aber so läuft es nun einmal auf der Welt. Da sind Sie doch mit Sicherheit meiner Meinung.“

„Wie dem auch sei, ich würde sagen, dass ich darüber noch nie besonders viel nachgedacht habe. Es hängt wohl davon ab, was man zu tun bereit ist, um seine Ziele zu erreichen.“

„Alles, was nötig ist. Würden Sie das nicht tun?“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

„Dann würde ich sagen, dass Sie sich glücklich schätzen können und noch nicht viele Herausforderungen im Leben zu meistern hatten.“

„Da irren Sie sich.“ Er senkte den Blick auf seine Schüssel, als ob ihm seine eigenen Worte unangenehm wären, und fing an, den lockeren Kartoffelbrei mit der Fleischfüllung der Pastete zu vermischen.

Gott. Warum waren sie auf einmal beide so kurz angebunden? Ein Themenwechsel war dringend nötig. „Wenn ich so frei sein darf: Sie klingen nicht, als ob Sie von der Straße kämen. Ich wette, dass Sie eine Ausbildung gemacht haben.“

„Mein Vater hat darauf bestanden.“

„Für mich sehen Sie aus wie ein Anwalt. Oder vielleicht arbeiten Sie in einer Bank.“ Auf jeden Fall hatte er eine Position mit Macht und Einfluss. Es war einfach seine Haltung, die Selbstsicherheit, die in Wellen von ihm auszugehen schien.

„Nichts derart Interessantes, das kann ich Ihnen versichern.“

Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass dieses Gespräch jetzt beendet war, aber sie wollte noch nicht aufgeben. „Jetzt haben Sie meine Neugier geweckt, Mr. Sommersby. Woher stammt Ihr Einkommen?“

Er sah sie lange an, als wäre er hin- und hergerissen, ob er ihr ehrlich antworten oder sie zum Teufel schicken sollte. Endlich sagte er: „Ich bin ein Gentleman mit Vermögen.“

Das sagte überhaupt nichts. War ihm ein Erbe zugefallen? War er geschäftlich erfolgreich gewesen, mit seinen Investitionen, beim Pferdewetten oder beim Glücksspiel? „Womit verbringen Sie Ihre Zeit?“

„Ich tue, was mir gefällt.“

„Aber Sie behaupten trotzdem, dass Sie kein Glück gehabt hätten.“

„Alles im Leben hat seinen Preis, Miss Trewlove.“

Welchen Preis hatte er bezahlt? Es ging sie eigentlich nichts an, und außerdem war es unhöflich nachzufragen. Sie hatte die Grenzen des guten Benehmens ohnehin schon sehr strapaziert. Aber sie konnte auch nicht leugnen, dass sie neugierig auf ihn war. Es war seltsam, wie sehr er ihr Interesse weckte, obwohl das bisher keinem anderen Mann gelungen war – zumindest nicht so.

Sie hatte schon einige Männer attraktiv gefunden, aber ihr Herz hatte noch nie zu flattern begonnen, weil sie einen von ihnen so schön gefunden hätte. Sie hatte noch nie alle Einzelheiten des Lebens eines Mannes erfahren wollen und wusste auch nicht, warum sie alles über ihn wissen wollte. Vielleicht hing es einfach damit zusammen, dass sie sich innerlich bereits darauf vorbereitete, die Männer genau zu beobachten, denen sie nächste Woche begegnen würde, um festzustellen, wer von ihnen ein möglicher Ehemann war. Vielleicht hatte ihr Kopf einfach beschlossen, die dazu nötigen Fähigkeiten zu üben und zu verbessern. Oder vielleicht weckte er einfach ihr Interesse, weil er so entschlossen zu sein schien, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.

Während ihres Gesprächs hatten sie es irgendwie geschafft, ihre Mahlzeit zu beenden. Becky kam zu ihnen geeilt. „Darf ich sonst noch etwas bringen, ihr Lieben?“

„Für mich nicht“, sagte Fancy.

„Für mich auch nicht“, entgegnete er.

„Gehört der zu Ihnen, Miss Trewlove?“

Sie sah ihn an. Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt und wirkte verwirrt. Es war an der Zeit, sich für die Großzügigkeit zu revanchieren, mit der er ihr vorhin den Tisch überlassen hatte. „Ja.“

Becky lächelte freundlich. „Dann geht das Essen aufs Haus.“

„Nein“, sagte er schnell und schroff. „Ich bezahle mein Essen.“

„Aber Sie sind mit Miss Trewlove hier, und Trewloves brauchen in einem Geschäft, das den Trewloves gehört, nicht zu bezahlen.“

„Dieser Pub gehört den Trewloves?“

„Meiner Schwester Gillie“, sagte Fancy.

„Die Duchess.“

Sie lächelte, weil es gar nicht so einfach war, sich alle Mitglieder ihrer Familie zu merken, und er damit offenbar trotzdem keine Probleme hatte. „Genau.“

Sie stand auf, woraufhin er ebenfalls sofort auf den Füßen war, und holte eine Münze aus der Tasche. Leider flatterte dabei auch der Zeitungsausschnitt auf den Boden und landete neben seiner polierten Stiefelspitze. Ehe sie etwas tun konnte, hatte er sich schon vorgebeugt, um ihn aufzuheben. Sie drückte dem Serviermädchen die Münze in die Hand. „Die ist für dich, Becky.“

„Oh, Miss Trewlove, das müssen Sie doch …“

„Sie haben sich so gut um uns gekümmert. Vielen Dank.“

Das Mädchen machte einen kleinen Knicks. „Ich weiß das sehr zu schätzen, Miss, Sir.“ Dann rief jemand nach ihr, und sie rannte los, um sich um die Bedürfnisse der anderen Gäste zu kümmern.

Als Fancy Mr. Sommersby ansah, stellte sie fest, dass er den peinlichen Zeitungsausschnitt anstarrte, der unglücklicherweise aufgeklappt war, als er auf den Boden gesegelt war. Sie streckte die Hand aus. „Ich nehme Ihnen das ab.“

„Warum tragen Sie so etwas mit sich herum?“

„Weil ich den Brief schrecklich romantisch finde und ihn gerne lese. Und wenn ich ehrlich sein soll, hoffe ich, dass Lord Rosemont nächste Woche zum Ball kommen wird und ich die Gelegenheit habe, ihn kennenzulernen.“ Sie wusste nicht, warum sie das Bedürfnis hatte, sich ihm anzuvertrauen, vielleicht hatte sie einfach Angst, dass er sie für ein albernes Huhn hielt, wenn sie ihm keine weitere Erklärung gab. Sie wollte ihm ihr Beileid aussprechen, sie wollte den Mann besser kennenlernen, der seiner Frau ein so großes Stück von seinem Herzen geschenkt hatte.

Mr. Sommersby zögerte einige Augenblicke, ehe er den Brief sorgfältig zusammenfaltete und ihn in ihre ausgestreckte Hand legte. „Es ist wirklich sehr gefährlich, sich in einen Mann zu verlieben, den man nicht einmal kennengelernt hat, Miss Trewlove.“

4. KAPITEL

Wenn man nach dem rebellischen Funkeln ihrer Augen ging, hielt Miss Trewlove nicht viel von seiner Feststellung. Matthew wusste selbst nicht, warum er das gesagt hatte. Was ging es ihn an, wenn sie herumlief und Mumpitz aus der Zeitung ausschnitt, den sie dann in der Tasche mit sich herumtrug?

Vielleicht weil ihm sehr zu seiner Bestürzung klar geworden war, dass er sie falsch eingeschätzt hatte. Er hatte sie für offen und aufrichtig gehalten, hatte angefangen, sich mehr als nur beiläufig für sie zu interessieren. Und jetzt musste er feststellen, dass wahrscheinlich ein hinterhältiger Geist hinter diesen seelenvollen braunen Augen lauerte, die ihn so an die des Rehs erinnerten, das er als Haustier aufgenommen hatte, als er ein Junge gewesen war und die meiste Zeit auf dem Land verbracht hatte.

Es ärgerte ihn, dass sie vorhatte, sich einen Lord zu angeln, und dafür zu allem bereit war. Er fand es noch ärgerlicher, dass sie es vielleicht wegen eines albernen Briefes auf den Earl of Rosemont abgesehen hatte.

„Ich bin nicht in ihn verliebt“, sagte sie schließlich schnippisch, während sie den Zeitungsausschnitt zurück in ihre Rocktasche stopfte. „Seine Frau hat ihn angebetet, und ich finde es lobenswert, dass er so eine Hingabe wecken kann. Aber vor allem hat ihre Bitte, ihn aus seiner Trauer zu erlösen, mein Herz berührt. Nicht dass das in irgendeiner Weise Ihre Angelegenheit wäre, und ich bin Ihnen auch keine Erklärung schuldig.“ Sie seufzte ungeduldig. „Vielen Dank für die Unterhaltung beim Abendessen. Es ist schon spät. Ich muss gehen.“

Es war inzwischen dunkel geworden. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wann er das letzte Mal so gemächlich gegessen hatte. Normalerweise schlang er sein Essen herunter, damit die Aufgabe erledigt war, seinen Körper mit Nahrung zu versorgen, und er anfangen konnte zu trinken. „Ich begleite Sie bis zu Ihrem Laden.“

„Ich komme sehr gut allein zurecht. Niemand wagt es hier, mich anzusprechen. Alle wissen, dass meine Brüder dafür sorgen würden, dass es das Letzte wäre, was sie tun.“

„Sie gehen davon aus, dass alle hier wissen, dass Sie eine Trewlove sind. Ich wusste das nicht.“

Sie öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, und schloss ihn schnell wieder. Offensichtlich war ihr klar geworden, dass er den Streit schon gewonnen hatte. „Ich kann Sie nicht daran hindern, wenn Sie es sich in den Kopf gesetzt haben, mich zu begleiten.“

Autor

Lorraine Heath
<p>Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt...
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