Heiße Leidenschaft - kalte Lüge?

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Ist sein ganzes Leben eine Lüge? Als der Unternehmer Pierce Avery zufällig entdeckt, dass er nicht der leibliche Sohn seines Vaters ist, steht seine Welt plötzlich Kopf. Um Licht ins Dunkel seiner Herkunft zu bringen, engagiert er die Anwältin Nicola Parrish. Eine ebenso kluge wie aufregend schöne Frau, die brennendes Verlangen in ihm weckt. Doch schon bald muss er feststellen, dass Nicola ein rätselhaftes Eigeninteresse an seinem Fall entwickelt. Zwar gibt sie sich ihm in heißen Nächten leidenschaftlich hin, aber kann er ihr wirklich von ganzem Herzen vertrauen?


  • Erscheinungstag 24.03.2015
  • Bandnummer 1864
  • ISBN / Artikelnummer 9783733721046
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Pierce Averys Tag war dermaßen schlecht, dass alle anderen schlechten Tage seines bisherigen Lebens daneben verblassten. Sein Magen drückte vor Anspannung, und sein Kopf fühlte sich an, als würde er in einem Schraubstock stecken. Wahrscheinlich sollte er in seiner gegenwärtigen Verfassung noch nicht mal am Steuer sitzen.

Wenn er sonst schlecht drauf war, fuhr er mit seinem Kajak gern einen Fluss hinunter. An einem heißen Augustnachmittag gab es nichts Schöneres, als sich die Gischt ins Gesicht spritzen zu lassen, während einen gleichzeitig Freude durchströmte und innerer Friede überkam. Schon als Teenager hatte Pierce gewusst, dass er nicht dazu geschaffen war, seine Tage am Schreibtisch zu verbringen. Er vernahm den Lockruf der Natur und wusste, wo sein Platz war.

Als junger Mann hatte ihn das vor die Herausforderung gestellt, einen Beruf zu finden, bei dem er sich weiterhin wie ein verspieltes Kind aufführen durfte und auch noch dafür bezahlt wurde. Da derartige Beschäftigungsverhältnisse eher rar gesät waren, hatte er selbst kurzerhand eine Firma gegründet. Nun verbrachte er seine Tage damit, Studenten, ihrem natürlichen Lebensraum entrissene Manager und abenteuerlustige Senioren durch die Wildnis zu führen.

Er unternahm mit ihnen Abenteuertouren, ließ sich von Felsen abseilen, kletterte in Höhlen und ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach – dem Kajakfahren. Er liebte seinen Job von ganzem Herzen. Genau wie sein Leben. Doch heute bröckelte das Fundament seiner Existenz wie die Erde bei einem heftigen Regensturm.

Er stellte den Wagen in einer ruhigen Seitenstraße von Charlottesville ab. Das Semester an der Universität von Virginia hatte noch nicht begonnen, und die Straßencafés waren nur spärlich bevölkert. Trotz seiner rebellischen Natur hatte die Zeit auf der Universität Pierce’ Charakter geformt. Mit Auszeichnung hatte er hier seinen Magisterabschluss in Betriebswirtschaft erworben, weil sein Vater ihn dazu gedrängt hatte, sein volles Potenzial auszuschöpfen.

Pierce hatte seinem Vater alles zu verdanken. Und nun, Jahre später, wo sein Vater ihn brauchte, konnte Pierce ihm nicht helfen.

Mit zitternden Fingern schloss er den Wagen ab und starrte dann auf den unauffälligen Büroeingang. Vor dem Backsteingebäude standen Tontöpfe mit Geranien in der warmen Sonne. Über der Türklingel befand sich ein eingraviertes Messingschild. Alles Mögliche hätte sich hinter dieser Fassade befinden können: ein Arzt, ein Steuerberater, ein Akupunkteur. Nur ein Zu-Vermieten-Schild im Fenster störte das Bild.

Das städtische Leben in Charlottesville blühte, es gab viele Kunstgewerbeläden, aber auch ganz normale Geschäfte. Eine Exfreundin von Pierce betrieb wenige Straßen entfernt eine Töpferei. Doch heute war er zu abgelenkt, um daran zu denken. Selbst den Duft von frischem Brot, der von der Bäckerei nebenan herüberwehte, nahm er kaum wahr.

Pierce hatte einen Termin bei einer Nicola Parrish. Er läutete an der Tür und wurde sofort eingelassen. Im Vergleich zum blendenden Sonnenschein draußen wirkte der Empfangsbereich düster. Es war kühl und duftete nach Kräutern, die in Töpfen eines Erkerfensters wuchsen. Eine Frau mittleren Alters blickte von ihrem Computerbildschirm auf und lächelte ihn an. „Mr Avery?“

Pierce nickte hastig. Er wusste, dass er zu früh war, hatte es aber einfach keine Sekunde länger zu Hause ausgehalten.

Die Empfangsdame lächelte ihn an. „Gehen Sie ruhig direkt rein. Miss Parrish ist bereit für Sie.“

Pierce wusste nicht, was ihn erwartete. Seine Mutter hatte den Termin vereinbart. Tatsächlich hätte er einiges darum gegeben, wenn er einfach hätte verschwinden und die ganze Sache vergessen können.

Miss Parrish erhob sich, als er eintrat, und streckte ihm die Hand entgegen. „Guten Tag, Mr Avery. Mein Name ist Nicola Parrish. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Er schüttelte ihre Hand und bemerkte ihren festen Händedruck, die schlanken Finger und ihre weiche Haut. „Danke, dass Sie mich dazwischenschieben konnten.“

„Ihre Mutter sagte, es sei dringend.“

Plötzlich schnürte ihm eine große Traurigkeit die Brust ein. „Das ist es. Und auch wieder nicht. Tatsächlich weiß ich eigentlich gar nicht, wie Sie mir helfen können.“

Sie forderte ihn mit einer Handbewegung auf näherzutreten. „Nehmen Sie Platz. Das werden wir bald klären.“

Ihr aschblondes Haar war zu einem kinnlangen Bob geschnitten und perfekt frisiert. Sie war schlank, aber nicht dünn, und trotz ihrer Größe ein paar Zentimeter kleiner als er.

Pierce blickte auf die Wand hinter ihrem Kopf. Harvard Law School. Ein weiterer Abschluss in Naturwissenschaftlicher Forensik. Verschiedene Auszeichnungen und Urkunden. In Kombination mit dem modischen schwarzen Hosenanzug, den sie trug, war die Botschaft klar. Diese Frau war klug, engagiert und professionell. Ob sie ebenso gut darin war, Informationen aufzutreiben und Antworten zu finden, blieb abzuwarten.

Plötzlich erhob sie sich. „Vielleicht haben wir es dort drüben bequemer.“ Mit diesen Worten trat sie hinter ihrem Schreibtisch hervor und ging auf einen kleinen Sitzbereich am anderen Ende des Zimmers zu. Jetzt bemerkte er ihre auffällig schönen Beine.

Pierce folgte ihr und ließ sich in einen Lehnstuhl sinken. Die Anwältin hob eine silberne Kanne vom Tisch. „Kaffee?“

„Ja, bitte. Schwarz. Kein Zucker.“

Sie goss ihm ein, reichte Pierce die Tasse, und ihre Finger berührten sich kurz. An ihrer Hand trug sie keinen einzigen Ring. Pierce trank mit einem Schluck die halbe Tasse leer. Gegen einen Schuss Whisky hätte er auch nichts einzuwenden gehabt.

Der Blick der Anwältin war freundlich, aber distanziert. Sie wartete darauf, dass er das Wort ergriff, als er es nicht tat, seufzte sie. „Die Uhr läuft, Mr Avery. Ich habe heute nur fünfundvierzig Minuten Zeit.“

Pierce beugte sich vor, seinen Kopf in die Hände gestützt. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“ Er fühlte sich erschöpft und hilflos. Diese Gefühle waren ihm sonst fremd, und sie machten ihn wütend. Er war kurz davor, die Fassung zu verlieren.

„Ihre Mutter hat mir nur gesagt, dass es sich um die Untersuchung eines möglichen Krankenhausbetrugs vor dreißig Jahren handelt. Ich nehme an, es hat etwas mit Ihrer Geburt zu tun?“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und umklammerte fest die Stuhllehnen. Seine Mutter hatte Nicola Parrish kontaktiert, weil eine gute Freundin von ihr Miss Parrish empfohlen und deren Arbeitsmoral und Erfahrung in den höchsten Tönen gelobt hatte. Die Freundin seiner Mutter hatte Miss Parrish einmal mit einer Adoptionsangelegenheit beauftragt. „So ist es.“

„Reden wir über einen Fall, bei dem Babys vertauscht und versehentlich mit den falschen Eltern nach Hause geschickt worden sind?“

„Ganz so einfach ist es nicht.“ Vielleicht hätte er doch zuerst zu einem Seelenklempner gehen sollen, bevor er sie aufsuchte. Um seine chaotischen Gefühle zu ordnen. Anwälte verfügten zwar gewöhnlich über eine gute Beobachtungsgabe, doch sie konnten keine Gedanken lesen. Und im Grunde wollte er auch nicht, dass irgendjemand den dunklen, tosenden Fluss der Verwirrung sah, der in seinem Inneren anschwoll und kurz vor dem Überlaufen stand.

„Mr Avery?“

Er sog scharf den Atem ein und grub seine Fingernägel in die dick gepolsterten Lehnen des teuren Möbelstücks. „Mein Vater leidet an Nierenversagen. Es steht sehr schlecht um ihn.“

In ihren blaugrauen Augen stand aufrichtiges Mitgefühl. „Das tut mir sehr leid.“

„Er braucht eine Organspende. Während er auf der Warteliste steht, läuft seine Zeit ab. Ich wollte ihm eine Niere spenden. Wir haben alle notwendigen Tests gemacht, aber dann …“ Er konnte nicht weitersprechen.

„Was dann?“

Pierce sprang vom Stuhl auf und lief im Raum hin und her. Der Boden war von einem teuren Orientteppich bedeckt, der in rosa und grünen Pastellfarben gehalten war. Zwischendurch blitzten immer wieder Teile des glänzenden Parkettbodens durch. Der Kamin musste irgendwann einmal tatsächlich zum Heizen benutzt worden sein, diente jetzt aber wohl eher dekorativen Zwecken.

„Ich bin nicht sein Sohn.“ Beinahe hundert Mal hatte er diese Worte in den letzten drei Tagen im Kopf geprobt. Aber sie laut auszusprechen, machte die Wahrheit nur unerträglicher.

„Sie sind adoptiert worden? Und haben nichts davon gewusst?“

„Meine Mutter sagt, das sei nicht der Fall.“

„Eine Affäre?“

Pierce krümmte sich innerlich. „Das glaube ich nicht. Im Leben meiner Mutter hat es nur einen Mann gegeben, und das ist mein Vater. Außerdem habe ich ihr Gesicht gesehen, als der Arzt es uns gesagt hat. Sie ist aus allen Wolken gefallen. Genauso wie ich.“

„Also ist die einzige andere Erklärung, dass Sie auf der Säuglingsstation des Krankenhauses vertauscht worden sind, richtig?“

„Die Tante meiner Mutter, meine Großtante, war die diensthabende Ärztin in jener Nacht. Ich zweifele sehr daran, dass sie so einen Fehler zugelassen hätte.“

„Was also kann ich für Sie tun?“

Er stützte seinen Unterarm auf das Kaminsims und starrte auf das Porträt von Thomas Jefferson, das über der Feuerstelle an der Wand hing. Der frühere Präsident hatte eine noch immer ungeklärte Anzahl von unehelichen Kindern gezeugt. Sogar heute noch diskutierten die Leute über mögliche Verwandtschaftsverhältnisse.

Pierce hatte nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, zu welcher Familie er gehörte. Er stand seinen Eltern sehr nahe. Das Wissen, dass er nicht der leibliche Sohn seines Vaters war, erschütterte ihn im Kern. Wenn er nicht Pierce Avery war, wer war er dann?

„Meine Mutter verbringt jede wache Minute im Krankenhaus bei meinem Vater. Sie hofft, dass die Ärzte ihn hinreichend stabilisieren können, damit er nach Hause gehen kann. Aber selbst dann wird sie sich rund um die Uhr um ihn kümmern müssen.“

„Und Sie?“

„Ich habe meinen stellvertretenden Geschäftsführer informiert, dass ich aus persönlichen Gründen eine Auszeit brauche. Er ist sehr kompetent. Also muss ich mir in dieser Beziehung keine Sorgen machen. Ich werde Ihnen so oft wie möglich zur Verfügung stehen, aber Sie müssen die Untersuchung für uns durchführen. Ich brauche Ihre Hilfe.“

Nikki war noch nie einem Mann begegnet, bei dem es weniger plausibel erschien, dass er auf die Hilfe einer Frau angewiesen sein könnte. Pierce Avery war breitschultrig, über eins achtzig groß und muskulös. Er sah aus, als könnte er einen Berg mit seinen bloßen Händen auseinanderreißen – oder ihn zumindest während eines Schneesturms erklimmen.

Er schien eher dafür geboren, Frauen zu beschützen. Seine männliche Ausstrahlung löste ein Kribbeln in Nikkis Bauch aus. Sie war gebildet, selbstständig und finanziell unabhängig. Warum also bekam sie bei dem Gedanken, sich von einem großen, starken Mann beschützen zu lassen, weiche Knie?

„Unser erster Schritt sollte darin bestehen, Einsicht in die Archivaufzeichnungen des Krankenhauses zu beantragen“, sagte sie betont sachlich. Pierce Avery wollte, dass umgehend Maßnahmen ergriffen wurden. So viel war klar.

Ihr zukünftiger Klient verzog das Gesicht. „Leider war es eine Privatklinik. Sie wurde Mitte der Neunzigerjahre aufgekauft und schließlich geschlossen.“

„Trotzdem müssen die Aufzeichnungen immer noch irgendwo vorhanden sein.“

„Das hoffen wir. Wie lange wird es dauern, bis Sie an sie herankommen?“

Nikki runzelte die Stirn. „Sie scheinen unter dem falschen Eindruck zu stehen, dass Sie mein einziger Fall sind.“

„Geld spielt keine Rolle.“

Nikki fühlte, wie Zorn in ihr aufstieg. „Es gefällt mir nicht, wenn Wohlhabende mit ihrem Geld um sich schmeißen und erwarten, dass jeder sofort springt.“

Er blickte auf die edlen gerahmten Urkunden an der Wand. „Harvard gilt auch nicht gerade als billig, Miss Parrish. Ich bezweifle, dass Sie je von Essensmarken gelebt haben.“

Sie kämpfte ihren Ärger nieder und atmete tief durch, bis sie sicher war, ruhig sprechen zu können. „Sie wären überrascht.“

Er starrte sie an. „Ich habe mir nie viel aus Anwälten gemacht.“

Er brachte sie wirklich auf die Palme. Nikki biss die Zähne zusammen und funkelte ihn an. „Sind Sie immer so unausstehlich?“ Sie stand auf und strich ihren Rock glatt.

Pierce machte einen Schritt auf sie zu und fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles, ein wenig zerzaustes Haar. „Sind Sie immer so anstrengend?“

Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Eine Ader war an seinem Hals hervorgetreten und pochte. Seine dunkelbraunen Augen waren fast zu schön für einen Mann. „Ich streite mich selten mit meinen Klienten“, sagte sie leise. „Warum nur mit Ihnen?“

Er wich einen Schritt zurück. Zu ihrer eigenen Irritation war sie enttäuscht. „Ich bin nicht ich selbst“, sagte er plötzlich beschämt.

„Soll das eine Entschuldigung sein?“

„Ich mag immer noch keine Anwälte.“

„Sie können es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, nicht wahr?“

In seinen Augen blitzte es. „Das war alles nicht meine Idee.“

„Nein“, sagte sie spöttisch. „Ihre Mom ist schuld.“ Sie reizte ihn absichtlich, neugierig, wie weit sie gehen konnte.

Zu ihrer Überraschung lachte er laut auf. „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden dafür bezahle, mich beleidigen zu lassen.“

Sie schüttelte den Kopf und wunderte sich über die spontane und merkwürdige Verbindung zwischen ihnen. Eine negative Verbindung zwar, aber nicht zu leugnen, dass da etwas zwischen ihnen war. „Ich fürchte, Sie bringen das Schlechteste in mir zum Vorschein.“

„Schlecht kann auch manchmal positiv sein.“ Er sagte das, ohne eine Miene zu verziehen, doch in seinen Augen blitzte es schalkhaft.

„Warum wollen Sie Ihr Büro vermieten?“

Die Frage erwischte sie unvorbereitet. „Nun, ich …“ Verdammt. Sie war normalerweise eiskalt und effektiv im Gerichtssaal. Aber das erforderte auch Stunden an Vorbereitung. Heute spürte sie jedoch nichts als Treibsand unter ihren Füßen.

Pierce legte seinen Kopf in den Nacken. „Staatsgeheimnisse?“

Sie seufzte. „Ganz im Gegenteil. Ich habe meine Praxis verkauft, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Ich habe das Angebot erhalten, mich einer Kanzlei außerhalb von D. C. anzuschließen. Bei meinem ehemaligen Juraprofessor.“

„Ich höre da ein Aber.“ Sein neugieriger Blick milderte seine vorherige Schroffheit.

„Ich habe um Bedenkzeit gebeten. Seit meinem Abschluss vor sechs Jahren habe ich pausenlos gearbeitet. Ich fühle mich ausgebrannt.“

„Sie müssen sich Ihrer Entscheidung aber ziemlich sicher sein, wenn Sie Ihre Praxis bereits verkauft haben.“

„Das bin ich ganz und gar nicht. Aber so oder so habe ich Lust auf etwas Neues. Falls aus der Sache nichts wird, würde ich gern als Beraterin für ein Non-Profit-Unternehmen arbeiten.“

„Reich wird man damit nicht.“

„Haben Sie schon mal den Satz gehört: Folge deiner Bestimmung? Ich möchte ein paar Dinge auf meiner Liste abhaken, bevor ich alt und grau bin.“

„Das kann ich verstehen“, sagte er und schob seine Hände in die Taschen.

Sie zweifelte jedoch daran. Man sah ihm zu deutlich an, dass er mit dem Silberlöffel im Mund geboren worden war. Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Wir müssen später weitermachen“, sagte sie. „Ich habe noch einen Termin.“

„Das spielt keine Rolle“, sagte er. „Ich möchte, dass Sie mir Ihre volle Aufmerksamkeit schenken.“

Hörte sie schlecht, oder schwang in seinem Tonfall etwas Zweideutiges mit? „Ich gehe bald in den Urlaub“, sagte sie betont langsam.

„Ja, ich weiß. Um in sich zu gehen. Dabei kann ich Ihnen übrigens helfen. Ich zahle Ihnen jedes Honorar, das Sie verlangen. Damit Sie mir helfen, die Leichen aus meinem Keller zu holen. Auch wenn ich wirklich nicht scharf darauf bin. Und in der Zwischenzeit helfe ich Ihnen, die überarbeitete Anwältin abzustreifen und wieder ein normaler Mensch zu werden.“

„Ich habe noch nicht gesagt, dass ich Ihren Fall übernehmen werde. Und außerdem – was qualifiziert Sie überhaupt dafür, mir beim Entspannen zu helfen?“

Er rückte das Porträt über ihrem Kamin grade, während sie am Rand ihres kostbaren Schreibtischs lehnte. „Das werden Sie schon sehen, Miss Nicola Parrish.“

2. KAPITEL

Ganze sechs Tage lang hatte Pierce sich gedulden müssen, bis Nicola ihre restlichen Termine abgearbeitet hatte und offiziell außer Dienst war. Selbst dann hatte er ihr als Gegenleistung für ein Gespräch unter vier Augen bei ihrem Auszug aus dem Büro helfen müssen. Glücklicherweise war der Zustand seines Vaters momentan stabil.

Auf Nicolas Bitte hin hatte er den Truck mitgebracht, mit dem er und sein Dad normalerweise Fahrradschläuche, Waffen, Verpflegung und Kajaks in die Wildnis transportierten. Das musste Pierce ihr lassen – im Verhandeln war sie ein echter Profi. Er konnte sich einige Dinge vorstellen, die er an einem heißen Sommertag lieber getan hätte, als schwere Kisten durch die Gegend zu schleppen.

Doch seine Laune besserte sich sofort, als Nicola ihm die Tür öffnete. Ein schlichtes Stirnband hielt ihr das blonde Haar aus dem Gesicht, und ihre Wangen waren leicht gerötet. In den kurzen Kaki-Shorts kamen ihre schönen Beine perfekt zur Geltung, und beim Anblick ihrer Brüste in dem engen, weißen T-Shirt bekam er einen trockenen Mund. Die schwarzen Riemchensandalen an ihren Füßen wirkten viel zu jugendlich für eine erfolgreiche Anwältin.

Er räusperte sich. „Der Truck parkt draußen.“

Nicola runzelte die Stirn. „Sie sind spät dran.“

Er hob irritiert eine Augenbraue, schwor sich aber, den Köder nicht zu schlucken. „Es hat einen Unfall auf dem Weg hierher gegeben. Ich musste einen Umweg fahren.“

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und verzog das Gesicht. „Es ist höllisch heiß hier drin. Jemand hat die Termine verwechselt und mir zwei Tage zu früh den Strom abgestellt.“

„Mist.“ Er trat ins Haus und sah, dass der Empfangsbereich schon nicht mehr existierte. An dessen Stelle stand nur noch ein riesiger Kistenstapel. „Wohnen Sie in der zweiten Etage?“

„Oh nein. Das wäre fatal für einen Workaholic wie mich.“

Er ging hinter ihr die Stufen hoch, ihren wohlgerundeten Po immer auf Augenhöhe. „Die meisten Workaholics geben nicht zu, dass sie welche sind.“ Es war gut, dass er bald auf angemessene Weise zupacken durfte, denn er musste sich dringend von den lüsternen Gedanken ablenken, die diese Frau in ihm weckte.

In der oberen Etage befand sich ein großer, offener Raum mit einem integrierten Badezimmer. Offensichtlich hatte Nicola dieses Zimmer vor allem dazu genutzt, um Sachen zu lagern, doch in der Ecke standen auch ein Sofa, ein Tisch und eine Lampe. Ein Hinweis darauf, dass Nicola vielleicht gelegentlich eine Nacht hier verbracht oder an einem stressigen Tag ein Nickerchen gemacht hatte.

Sie beugte sich hinunter und hob einen Karton mittlerer Größe auf. „Es bringt nichts, sich selbst etwas vorzumachen“, sagte sie trocken. „Ich kenne mich ziemlich gut. Lassen Sie uns loslegen. Bis jetzt habe ich dreiundfünfzig Kisten gepackt.“

Es zuckte um seine Mundwinkel. „Wirklich dreiundfünfzig? Nicht vierundfünfzig oder zweiundfünfzig?“

„Machen Sie sich über mich lustig?“ Sie runzelte die Stirn, und eine winzige Falte bildete sich über ihrer klassisch geformten Nase.

Er nahm ihr die Kiste aus der Hand. „Sie packen weiter und beschriften. Ich lade die Kisten ein, Ms Parrish. Ich glaube, das macht mehr Sinn, denn ich bin mindestens vierzig Kilo schwerer als Sie. Außerdem bezweifle ich, dass Sie mir zutrauen, die Kartons richtig zu packen.“

Sie schlang die Arme um ihre Taille. „Sie können mich ruhig Nikki nennen. Ich glaube, unsere Anwalt-Klienten-Beziehung ist ohnehin ruiniert.“

Er packte sich eine zweite Kiste auf die erste, prüfte das Gewicht und entschied, dass er vielleicht sogar noch eine dritte schaffen würde. „Du sagst ruiniert, ich sage verbessert. Mir ist es lieber, wenn kein Schreibtisch zwischen uns steht.“ Es sei denn, du liegst drauf, und ich beuge mich über dich und küsse deine …

Er rief sich selbst zur Ordnung. Solche Fantasien würden ihm nicht dabei helfen, seine Probleme zu lösen. „Okay, Nikki. Und du kannst mich Pierce nennen.“

Nikki fühlte sich schuldig. Jedoch nicht schuldig genug, um Pierce Averys Hilfe abzulehnen. Er hatte drei Tage lang immer wieder in ihrem Büro angerufen. Irgendwann war sie völlig genervt gewesen und hatte ihm gesagt, dass er ihr eben beim Umzug helfen solle, wenn er diesen Termin so verdammt dringend haben wolle.

Sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er sich darauf einlassen würde. Doch nun war er hier. Und der Anblick seines Bizeps machte Nikki ebenso schwindelig wie der Duft seines Aftershaves, der im Treppenhaus hing.

Grimmig stopfte sie den letzten Rest ihrer Sachen einfach in eine Mülltüte und warf diese dann aus dem Fenster, wo ein Müllcontainer auf der Straße stand.

Nachdem sie einen letzten prüfenden Blick durchs Zimmer hatte schweifen lassen, stieg sie die Stufen herab. Vorher vergewisserte sie sich allerdings, dass Pierce noch immer draußen war. Auf keinen Fall wollte sie sich auf der schmalen Treppe an ihm vorbeidrücken müssen. Noch nie hatte ein Mann eine derartige Wirkung auf sie ausgeübt.

Als sie genauer darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass seit ihrem letzten Date in Charlottesville beinahe zwei Jahre vergangen waren. Das letzte Mal, dass sie mit einem Mann im Bett gewesen war, lag sogar noch länger zurück.

Für Männer blieb anscheinend nie genug Zeit übrig. Sie besaß einen großen Freundeskreis, und ihr Terminkalender war stets gut gefüllt. Ihre spärliche Freizeit nutzte sie, um Arbeit aufzuholen, die auf ihrem Schreibtisch liegen geblieben war.

Sie liebte ihren Job. Die Urkunden, die an ihrer Wand hingen, waren mehr als Dekoration für sie. Sie bewiesen, wie weit sie es gebracht hatte. Dieselben Urkunden lagen nun verpackt in einem stabilen Pappkarton und würden bald in den Wagen wandern. Die einzige wirkliche Herausforderung blieb ihr Schreibtisch.

Pierce stand unbemerkt im Türrahmen und ließ seinen Blick nachdenklich auf der Frau ruhen, die ihm hoffentlich dabei helfen würde, das Chaos in seinem Leben zu ordnen. Sie arbeitete schnell und methodisch, wobei sie Zipperbeutel benutzte, um Büroklammern, Stifte, Gummibänder und andere notwendige Büroutensilien zu verstauen. Sie wusste, was sie tat. Jede Kiste war in unterschiedlichen Farben markiert und mit Querverweisen beschriftet. Er musste ihre durchdachte Ordnung bewundern. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die gesamte Einrichtung in einem halben Tag zusammengepackt.

Aber Nikki Parrish war viel zu sorgfältig für derartige Hauruckaktionen. Andererseits würde sie niemals um ein Uhr morgens verzweifelt nach einem Handtuch suchen müssen, wie Pierce es in der Nacht getan hatte, als er in sein neues Haus eingezogen war.

Schweigend sah er zu, wie sie in eine Schreibtischschublade griff und einen kleinen Gegenstand hervorholte, der aus der Entfernung wie eine kleine Tierfigur aus Metall aussah.

„Ein Geschenk von einem Exfreund?“, fragte er. Mit einem wohligen Seufzer streckte er sich auf der Couch aus. Das Fenster neben dem Kamin stand offen, und eine angenehme Brise wehte ins Zimmer.

„Ich bin nicht sentimental, Mr Avery.“

„Pierce. Warum bewahrst du das Ding dann auf?“

Achselzuckend drehte Nikki den Gegenstand in ihren Händen hin und her, ihr Blick war gedankenverloren. „Es ist ein Collie aus Zinn. Ich habe ihn seit meiner Kindheit.“

Er grinste. „Also doch sentimental. Ich wette, du hast immer noch alle Stofftiere, die du als kleines Mädchen besessen hast.“

Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Es war offensichtlich, dass sie nicht gern über ihre Kindheit sprach.

Was mochte Nicola Parrish wohl erlebt haben? Er erwog, weiter nachzubohren, entschied sich aber dagegen. Auf keinen Fall wollte er sie verstimmen.

Er rollte seine Schultern und spürte schmerzhaft seine Muskeln, doch es war ein angenehmer Schmerz. Obwohl sein Job ihm körperlich viel abverlangte, hatte das zweistündige Kistenschleppen ganz andere Muskelregionen beansprucht. „Die obere Etage ist leer“, sagte er. „Alles, was wir noch haben, befindet sich hier drin.“

„Ich weiß deine Hilfe zu schätzen“, sagte sie etwas steif.

Er zuckte die Achseln. „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich führ dich heute Abend zum Essen aus, dann kannst du mir erzählen, was du bist jetzt herausgefunden hast.“

Sie beugte sich vor und ließ die Hundefigur in einen Karton fallen. „Ein Abendessen ist sicher nicht notwendig.“

„Du hattest einen langen Tag, und es wird noch eine Weile dauern, bis wir fertig sind. Es ist das Mindeste, was ich tun kann.“

„Zum Ausgehen bin ich nicht richtig angezogen.“

„Spielt keine Rolle. Ich gehe nachher nach Hause und mache mich frisch, und du kannst in der Zeit dasselbe tun. Da gibt es ein neues Restaurant am East Market, das ich gerne ausprobieren würde.“ Er zögerte. „Bringen wir die Kartons zu deinem Haus? Wir werden sicher zweimal fahren müssen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Meine Wohnung ist winzig. Ich habe zwei Wohnblöcke von hier einen Lagerraum gemietet. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dir den Schlüssel und den Zugangscode geben. Bis du zurück bist, müsste ich fertig sein.“

Als sie ihm die Schlüssel überreichte, streiften ihre Finger seine Hand. Sie beide standen nahe genug, dass er den leichten Duft ihrer Haut einatmen konnte. In diesem Moment schoss ihm ein Bild durch den Kopf, wie er mit Nikki zusammen unter der Dusche stand. Verdammt. Nicht gerade der günstigste Zeitpunkt für eine Erektion.

So lässig wie möglich trat er einen Schritt zurück. Sie reichte ihm einen Streifen Papier mit der Adresse und dem Zugangscode. „Danke.“

Autor

Janice Maynard
Janice Maynard wuchs in Chattanooga, Tennessee auf. Sie heiratete ihre High-School-Liebe während beide das College gemeinsam in Virginia abschlossen. Später machte sie ihren Master in Literaturwissenschaften an der East Tennessee State University. 15 Jahre lang lehrte sie in einem Kindergarten und einer zweiten Klasse in Knoxville an den Ausläufern der...
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