Küss mich, schöne Fremde!

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Wer ist die verführerische Fremde ohne Gedächtnis? Sheriff Mac Riggs weiß zunächst einmal nur eins: Jane, wie er sie spontan nennt, weckt eine solch wilde, heiße Leidenschaft in ihm, dass er sie am liebsten auf der Stelle in die Arme reißen und küssen möchte ...


  • Erscheinungstag 24.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733766924
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Verreck mir bloß nicht“, flehte Bridget Elliott, doch der verdammte Mietwagen wollte nicht mitspielen. Der Motor ging aus, und sooft sie auch den Schlüssel im Zündschloss drehte, er sprang einfach nicht wieder an. Ringsum gab es nichts weiter zu sehen als das trockene Land von Colorado, durch das sich die breite Landstraße zog. Am Horizont versprach die Sonne schon jetzt einen schweißtreibenden Tag. Als gebürtige New Yorkerin war sie brütend heiße Tage im Juni gewöhnt, aber in Colorado war sie noch nie gewesen.

Beim Hochzeitsempfang ihres Cousins Cullen am Abend zuvor hatte sie per Handy einen Tipp bekommen, den sie nicht ignorieren konnte. Sofort hatte sie einen Nachtflug gebucht und sich auf den Weg gemacht. Nun hoffte sie, Stoff für das letzte Kapitel ihres Buches zusammenzubekommen, in dem sie der Öffentlichkeit die Wahrheit über ihren Großvater Patrick Elliott präsentieren wollte. Zwei Generationen lang hatte der Patriarch seiner Familie Geheimnisse und Lügen aufgezwungen, nun würde dem Eigentümer und Geschäftsführer von Elliott Publication Holdings die Maske heruntergerissen werden. Sobald ihr Buch erschien, wäre es ihm nicht länger möglich, die Familiengeschichte eines der größten Zeitschriftenimperien der Welt schönzufärben. Bridget beabsichtigte, klare Verhältnisse zu schaffen und Skandale publik zu machen, auch wenn das ihren Großvater wie ein Schlag ins Gesicht treffen würde.

Er verdiente es, erst recht nach der jüngsten Unverschämtheit, die er sich vor einer Weile geleistet hatte. Als er verkündete, er werde in den Ruhestand gehen, bestimmte er nicht etwa einen Nachfolger, sondern hetzte seine vier Kinder gegeneinander auf, indem er den Posten demjenigen versprach, dessen Magazin am Jahresende das erfolgreichste war.

Für sie war das der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Deshalb war sie seit mittlerweile sechs Monaten auf der Suche nach dem unehelichen Kind von Tante Finola, das diese auf Druck ihres Vaters Patrick nach der Geburt zur Adoption hatte freigeben müssen. Bridget vermutete, dass ihre Tante diesen Verlust nie verschmerzt hatte, da sie ihr Leben völlig dem Magazin Charisma widmete. Mehr als einmal war ihr dieser verlorene Ausdruck in Finolas Blick aufgefallen, obwohl das Ganze nun schon über zwanzig Jahre her war.

Jetzt hatte sie endlich einen Hinweis erhalten. Eine Quelle behauptete, die Identität des Kindes zu kennen. Deshalb war sie auf dem Weg nach Winchester County, Colorado, um Tante Fins Tochter ausfindig zu machen. Diese Geschichte sollte das abschließende Kapitel ihres Buchs werden und aller Welt zeigen, was für ein Mann ihr Großvater in Wahrheit war.

Es war fast sechs Uhr, auf der Straße war keine Menschenseele unterwegs, und sie befand sich mitten im Nirgendwo.

Seufzend sank sie gegen die Rücklehne. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, also griff sie nach ihrem Handy, um herumzutelefonieren, damit jemand kam und ihr half. Das Display blieb dunkel – der Akku war leer. Verdammt! Wieso vergaß sie ständig, das Ding aufzuladen?

In ihrer Verzweiflung versuchte sie noch einmal, den Wagen anzulassen, aber egal, wie oft sie es probierte, es rührte sich nichts. „Dem Autoverleih werde ich was erzählen“, murmelte sie, hängte sich die Handtasche über die Schulter, stieg aus und ging zu Fuß weiter.

Vage konnte sie sich an ein Schild erinnern, das angab, bis nach Winchester County seien es zehn Meilen. Wenn sie grob überschlug, wie weit sie seitdem gefahren war, dann lagen vielleicht noch gut fünf Meilen vor ihr.

„Das kriege ich schon hin“, sagte sie sich. Doch bereits nach wenigen Schritten auf dem groben Asphalt musste sie feststellen, dass ihre Stiefel mit den acht Zentimeter hohen Absätzen zwar dem Image entsprachen, das sie mit Charisma verkauften, dem Magazin, für das sie als Bildredakteurin arbeitete, für einen Fußmarsch aber nicht taugten. Ein Paar bequeme Schuhe wären ihr in dieser Situation wesentlich lieber.

Sheriff Macon Riggs stieg aus dem Streifenwagen und ging auf die Frau zu, die reglos am Straßenrand und damit bedenklich nahe am Hang lag. Einen Sturz in die Tiefe würde sie nicht überleben. Ihr Gesicht war zur Seite gewandt, die Beine hatte sie unnatürlich angewinkelt, doch vor allem das Blut an ihrem Hinterkopf bereitete ihm Sorgen. Sie musste sich die Wunde an dem scharfkantigen Stück Granit gleich neben ihr zugezogen haben, das ebenfalls blutverschmiert war.

Beim Näherkommen fiel ihm auf, dass sie wunderschön aussah. Dunkelblondes Haar rahmte ihr Gesicht ein, ihr Mund war leicht geöffnet, die Lippen wiesen eine gesunde Rosafärbung auf.

Er griff nach ihrer Hand und drückte sie behutsam. „Miss, können Sie mich hören?“

Eigentlich hatte er nicht mit einer Reaktion gerechnet, doch die Frau schlug abrupt die Augen auf und sah ihn an. Ein paarmal zwinkerte sie, während er in ihre Iris schaute, die von einem erstaunlichen Lavendelblau war. Dieser Farbton in Kombination mit ihrem blonden Haar und der hellen Haut war etwas, das einem in Erinnerung blieb.

Er sagte in beruhigendem Tonfall: „Ich bin Sheriff Riggs. Es wird alles gut werden. Sie hatten einen Unfall.“

„Tatsächlich?“, fragte sie leise.

Ihre verwunderte Miene deutete an, dass sie immer noch benommen war von der Kopfverletzung.

„Sieht jedenfalls nach einem Unfall aus. Sie haben sich den Kopf an einem Stein angeschlagen.“

Wieder wirkte sie verwirrt.

„Bleiben Sie ganz ruhig liegen. Gleich neben Ihnen geht es steil bergab. Ich bin sofort wieder da.“ Sekunden später kam er mit dem Verbandskasten zu ihr zurück. „Ich werde Sie nicht bewegen, solange ich von Ihnen kein Okay bekommen habe. Verspüren Sie irgendwo Schmerzen?“

Die Frau schüttelte schwach den Kopf. „Anscheinend nicht. Außer dass mein Schädel wie verrückt pocht.“

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Meinen Sie, Sie können sich hinsetzen?“

„Ich denke, ja.“

Er kniete sich hin und schob einen Arm unter ihre Schultern, um ihr aufzuhelfen, bis sie aufrecht saß. Dabei fiel sein Blick ungewollt auf den tiefen V-Ausschnitt ihres himbeerfarbenen Sweaters und auf ein atemberaubendes Dekolleté. Hastig konzentrierte er sich auf das, was wichtig war, nämlich einem verletzten Menschen zu helfen. „Sehr gut, jetzt kann ich mir Ihren Kopf genauer ansehen.“

„Und? Wie schlimm sieht es aus?“, fragte sie nach einigen Sekunden.

Das Blut war getrocknet und verklebte ihre Haare, aber die Platzwunde schien sich bereits zu schließen. Wie lange die Frau bewusstlos gewesen war, ließ sich so nicht feststellen. Es war gut, dass er von Zeit zu Zeit auch auf dieser Straße Streife fuhr. Ansonsten hätte es passieren können, dass sie sich in die falsche Richtung gedreht hätte und in den Deerlick Canyon gestürzt wäre.

„Ich schätze, Sie haben Glück gehabt. Allzu ernst sieht es nicht aus.“ Er ging hinter ihr in die Hocke und fing an, mit einem feuchten Tuch das Blut wegzuwischen, damit er ihr Haar teilen konnte und einen Eindruck davon bekam, wie groß die Wunde war. „Tut das weh?“, fragte er.

„Nein, Sie können ruhig weitermachen.“

„Wie heißen Sie?“ Er bemühte sich, sie abzulenken, denn ihm war nicht entgangen, dass sie zusammenzuckte, als er ihren Kopf berührt hatte.

„Wie ich … heiße?“

„Ja, und wenn Sie schon dabei sind, erzählen Sie mir auch gleich, was Sie hier oben zu suchen hatten? Was ist passiert? Sind Sie hingefallen?“ Er bemerkte, wie sie sich bei seinen Fragen verspannte.

„Okay“, sagte er nach einer Pause etwas sanfter. „Dann fangen wir erst mal mit Ihrem Namen an.“

„Mein Name …“ Sie stockte. „Mein Name ist …“

Abrupt drehte sie sich zu ihm um und sah ihn voller Entsetzen an. „Ich weiß meinen Namen nicht!“ Ihr Blick zuckte hin und her, als würde sie ihr Gedächtnis durchforsten. „Ich weiß nicht, wer ich bin! Ich kann mich an nichts erinnern!“

Tränen stiegen ihr in die Augen, und fast ängstlich flüsterte sie: „Ich weiß es nicht … ich weiß es nicht …“

Mac erhob sich und half ihr auf. So aufgeregt, wie sie im Moment war, wollte er sie nicht in der Nähe des Abgrunds neben der Straße haben. „Das wird schon wieder. Wir lassen Sie vom Doktor gründlich untersuchen.“

„Oh mein Gott! Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht, wer ich bin … und ich habe keine Ahnung, was ich hier will.“ Flehend zog sie an seinem Ärmel. „Wo bin ich überhaupt?“

„In Winchester County.“ Als sie ihn ratlos ansah, fügte er hinzu: „In Colorado.“

„Lebe ich hier?“, wollte sie wissen, nachdem sie dem Ortsnamen keine Bedeutung hatte zumessen können.

„Keine Ahnung. Offenbar waren Sie zu Fuß unterwegs. Wir werden später Ausschau halten, ob irgendwo ein verlassener Wagen herumsteht. Von Ihren Habseligkeiten ist auch nichts zu entdecken – kein Rucksack, keine Handtasche. Falls Sie etwas bei sich hatten, ist es wohl in die Schlucht gefallen, als Sie gestürzt sind. Sofern Sie wirklich nur hingefallen sind. Ich kann lediglich eines mit Sicherheit sagen: Mit diesen Stiefeln waren Sie bestimmt nicht auf einer Wanderung.“

Sie betrachtete die schwarzen Lederstiefel, dann begutachtete sie ihre übrige Kleidung. Designerjeans, ein leichter Kaschmir-Sweater, ein dunkler Samtgürtel, aber seltsamerweise kein Schmuck, wenn man von der Armbanduhr mit einem funkelnden Diamanten absah, der ins Ziffernblatt eingelassen war. Nichts von dem, was sie sah, weckte offenbar irgendeine Erinnerung.

„Lieber Gott, ich kann mich an absolut nichts erinnern!“

„Kommen Sie, ich bringe Sie zu Dr. Quarles.“ Mac nahm ihre Hand, doch beim ersten Schritt knickten ihre Beine weg. „Hoppla“, rief er und fing sie auf, woraufhin sie die Arme um seinen Nacken schlang und sich an ihn lehnte. Ein, zwei Minuten lang ließ er zu, dass sie ihren Kopf an seiner Brust abstützte. Sie schien diese Zeit zu benötigen, um sich zu sammeln, eventuell brauchte sie auch moralische Unterstützung. Sie war in einer fremden Umgebung aufgewacht, ohne zu wissen, was sie hier wollte und wer sie war. Das musste beängstigend sein.

Während er sie festhielt, rief er sich energisch ins Gedächtnis, dass er ein Gesetzeshüter war, der seine Arbeit machte. Also durfte er nicht davon Notiz nehmen, dass seine Kehle wie zugeschnürt war und dass sein Herz mit einem Mal schneller schlug. Er konnte jedoch nicht leugnen, dass sie verdammt hübsch war und dass es sich gut anfühlte, sie in den Armen zu halten. Er hatte dieses Gefühl fast schon vergessen.

„In meinem Kopf dreht sich alles.“

Ohne zu zögern, hob er sie hoch und trug sie zu seinem Wagen. Auf dem Weg ließ er noch einmal den Blick über die Umgebung schweifen, aber es war nichts von einem verlassenen Auto oder von ihren Habseligkeiten zu entdecken. Er würde später mit ein paar Deputys zurückkommen und sich gründlicher umsehen. Im Augenblick war es wichtiger, diese junge Frau zum Arzt zu bringen.

Danach konnte er versuchen, ihre Identität festzustellen und ihrem rätselhaften Auftauchen auf den Grund zu gehen.

Ihre Gedanken überschlugen sich, daher konzentrierte sie sich ganz auf den Mann, der sie trug. Sheriff Riggs. Er hielt sie vorsichtig, doch kraftvoll in seinen Armen. Sie fühlte sich bei ihm geborgen und sicher und brauchte den Trost, den er ihr spendete. Er hatte freundliche Augen und lächelte sehr nett. Allerdings sagte ihr Gefühl ihr, dass er das nicht allzu oft tat.

Sie konnte froh sein, dass er sie gefunden hatte, aber das war auch das einzige Glück. Die fehlende Erinnerung an ihre Identität war jedenfalls keins.

Der Sheriff setzte sie in seinen Wagen, und als er sie losließ, strich sein Arm unter ihren Brüsten entlang, woraufhin sie innerlich zusammenzuckte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

Er hielt in der Bewegung inne und sah ihr in die Augen. Sie nickte und atmete den markanten Duft ein, den sein Aftershave verbreitete. Etwas in seinem Blick vermittelte ihr den Eindruck, dass dieser Mann seinen Job sehr ernst nahm.

„Sagen Sie mir, wenn Ihnen irgendetwas bekannt vorkommt“, wies er sie an, nachdem er eingestiegen und losgefahren war.

Erneut nickte sie und sah aus dem Fenster. Sie erreichten ein Tal, in dem der Highway zu beiden Seiten von Pferde- und Viehweiden und Ranches gesäumt war. Eine Gebirgskette in der Ferne bildete dazu einen majestätischen Hintergrund. Wieder und wieder strengte sie ihren Verstand an. Lebte sie hier, oder war sie hergekommen, weil sie etwas zu erledigen hatte? Wollte sie Urlaub machen? War sie mit jemandem verabredet?

Da ihr keine Antwort in den Sinn kam, schloss sie die Augen und kämpfte gegen den Schwindel an.

„Bleiben Sie sitzen“, sagte Sheriff Riggs zu ihr, nachdem er in eine Einfahrt abgebogen war und den Wagen vor einem kleinen Praxisgebäude geparkt hatte. „Ich komme rum.“

„Oh, ich glaube, ich schaffe das allein.“ Sie öffnete die Tür und stieg langsam aus. Draußen schlug ihr warme Luft entgegen, und sie musste sich auf der Motorhaube abstützen. Dann war auch schon der Sheriff bei ihr und sah sie besorgt an.

„Hat sich der Schwindel gelegt?“

„Das hab ich nicht gesagt“, erwiderte sie und hatte erneut das Gefühl, dass sich alles um sie drehte. „Aber es ist besser geworden.“

Er legte einen Arm um ihre Taille und führte sie in die Praxis. Nachdem Dr. Quarles sie eine halbe Stunde lang gründlich untersucht hatte, rief er den Sheriff dazu.

„Mac, es sieht so aus, als ob die junge Dame unter einer retrograden Amnesie leidet“, sagte er. „Das heißt, sie erinnert sich an nichts, was sich vor dem Zwischenfall ereignet hat, durch den die Amnesie ausgelöst wurde. Ursache kann ein Schlag auf den Kopf sein oder auch extremer Stress. Die gute Nachricht ist, dass sie keine bleibenden Schäden davongetragen hat. Körperlich ist mit ihr alles in Ordnung, außer dass sie noch ein, zwei Tage unter Kopfschmerzen leiden wird. Sicherheitshalber sollte sie im Krankenhaus untersucht werden. Es sind zwar nur geringfügige Verletzungen, aber mir wäre wohler, wenn …“

„Wann kehrt meine Erinnerung zurück?“, unterbrach sie ihn.

Dr. Quarles schüttelte den Kopf, rückte seine Brille zurecht und sah sie mit gütigen braunen Augen ernst an.

„Das lässt sich unmöglich vorhersagen. Es kann Stunden, Tage oder Wochen dauern. Manchmal benötigt ein Patient Monate, ehe sein Gedächtnis zurückkehrt. Normalerweise werden zuerst ältere Erinnerungen wach. Aber ich muss Sie warnen, es könnte sein, dass Sie niemals dahinterkommen, was Ihre Amnesie ausgelöst hat. Unser Geist neigt dazu, Unangenehmes auszublenden.“

„Das heißt, ich erfahre vielleicht nie, was mir zugestoßen ist?“

„Richtig“, bestätigte der Arzt. „Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn die Kopfschmerzen nicht bald schwächer werden.“

„Aber … ich muss wissen, wer ich bin!“, warf sie aufgeregt ein. „Heute noch! Sie müssen doch irgendetwas unternehmen können!“

„Tut mir leid, da hilft nur Geduld.“

„Und … was soll ich jetzt machen? Wo soll ich hin?“, fragte sie und begann vor Panik am ganzen Leib zu zittern. Sie kannte niemanden – weder in Winchester County noch irgendwo anders. Sie wusste nicht, ob sie Verwandte hatte, und sosehr sie sich auch anstrengte, ihr wollte nicht mal ihr eigener Name einfallen.

Das alles war ein schrecklicher Albtraum.

„Wir haben zu Hause ein Zimmer frei“, begann Dr. Quarles, der ihre Verzweiflung natürlich bemerkt hatte. „Das gehörte unserer Tochter Katy, aber die ist längst erwachsen und verheiratet. Sie können gern vorläufig bei meiner Frau und mir bleiben.“

Ihr fehlten die Worte, als sie dieses großzügige Angebot hörte. Es berührte sie so sehr, dass sie nur ein ersticktes „Danke, vielen Dank“ herausbringen konnte.

„Dann hätten wir das schon mal geregelt. Ich rufe nur schnell meine Frau an, damit sie weiß, dass wir einen Gast haben.“

Sie sah zu Sheriff Riggs, dem Mann, der ihr sehr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Er schaute sie lange an, so als denke er über etwas nach, dann verzog er einen Mundwinkel, was ein wenig so aussah, als würde er lächeln.

„Warten Sie, John“, rief Riggs dem Arzt nach, bevor der das Sprechzimmer verlassen konnte. „Ich weiß was Besseres.“ Schließlich blickte er sie mit seinen dunklen Augen eindringlich an. „Sie sollte sich bei mir einquartieren.“

2. KAPITEL

Vielleicht fühlte er sich für sie verantwortlich, vielleicht lag es aber auch an der Art, wie sie ihn mit ihren unglaublich blauen Augen ansah. Auf jeden Fall wollte Mac seine „Jane Doe“, seine namenlose Unbekannte, nicht im Stich lassen. Ohne zu überlegen, hatte er daher die Einladung ausgesprochen.

Jane stand von der Liege auf und stellte sich vor ihn. „Sie wollen, dass ich bei Ihnen bleibe?“, fragte sie.

Er meinte, einen hoffnungsvollen Unterton herauszuhören. Deshalb war es notwendig, die Sache klarzustellen, dass er ihr nämlich nur seine Hilfe, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen anbot. Hätte er sie unter anderen Umständen kennengelernt, wäre das sicher anders, denn sie interessierte ihn auf eine Art, wie das schon lange nicht mehr der Fall gewesen war. Allerdings hatte er eine gescheiterte Ehe hinter sich, weshalb er das Thema Frauen mittlerweile abgeklärter und vor allem zynischer anging.

„Na ja, sehen Sie, es wird meine Nachforschungen vermutlich erleichtern, wenn Sie in meiner Nähe sind. Dr. Quarles wohnt dagegen über fünfzehn Meilen von hier entfernt. Das kommt doch hin, oder, Doc?“

Dr. Quarles nickte. „Doris und ich wohnen draußen auf dem Land.“

„Meine Schwester Lizzie lebt bei mir“, fuhr Mac fort. „Sie werden also nicht mit mir allein sein. Lizzie ist Lehrerin und hat den ganzen Tag nur mit Teenagern zu tun. Ihr wird es gefallen, mal wieder mit einem Erwachsenen reden zu können.“

„Doktor, ich finde auch, dass es so sinnvoller ist“, sagte sie. „Trotzdem danke für Ihr Angebot.“

Als Jane Doe dann lächelte, bildeten sich Grübchen in ihren Wangen, und Mac überlegte, dass er dieses Lächeln auf ihre Lippen gezaubert hatte, doch sofort ermahnte er sich. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, und die bestand nicht darin, sich von blauen Augen und einem kurvenreichen Körper fesseln zu lassen. Außerdem würde sie ohnehin bald ihre Erinnerung zurückerlangen. Vielleicht kam auch jemand und suchte nach ihr.

„Sind Sie mit der Untersuchung fertig?“, fragte er.

„Ja“, entgegnete der Arzt. „Ich habe ihr ein Schmerzmittel verschrieben. Falls der Schwindel anhält oder sonst etwas Ungewöhnliches ist, will ich sofort unterrichtet werden, verstanden?“

„Wird gemacht, Doc“, sagte Mac und wandte sich seinem neuen Hausgast zu. „Kommen Sie mit, Jane?“

„Jane?“

„Jane wie in Jane Doe“, erklärte er leise. „Sie wissen schon. Wie man halt Leute nennt, deren Identität man nicht kennt. Oder wäre Ihnen ein anderer Name lieber?“

„Ich denke, das macht keinen Unterschied“, sagte sie und legte den Kopf leicht schräg. „Am liebsten wäre es mir natürlich, Sie könnten mich so nennen, wie ich tatsächlich heiße“, meinte sie ein wenig traurig.

„Das werden wir hoffentlich bald wissen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Für den Moment ist Jane okay.“

„Gut, Jane, dann wollen wir uns mal auf den Weg machen.“ Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er eine Frau mit zu sich nach Hause nahm, um sie seiner jüngeren Schwester vorzustellen.

Man hätte meinen können, dass er derjenige war, der sich den Kopf an einem Stein blutig geschlagen hatte.

„Ich will Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten, Sheriff“, sagte Jane, als sie ihm in seiner gemütlichen Küche gegenübersaß. Er hatte ihr auf dem Weg zu seiner Wohnung die Polizeiwache von Winchester County gezeigt, die gleich an der Hauptstraße lag. Sein Haus befand sich in dem Wohnviertel dahinter. Während die Wache mit ihrer modernen Architektur Nüchternheit ausstrahlte, galt das nicht für sein Zuhause. Sie mochte sein Heim, sobald sie es betreten hatte. Es hatte eine warme, liebevolle und lebendige Ausstrahlung.

„Sagen Sie ruhig Mac zu mir“, bot er ihr an, und auf seinem Gesicht zeigte sich der Hauch eines Lächelns, während er ihr Kaffee und ein Truthahnsandwich servierte. „Außerdem ist das notwendig, weil ich Ihnen ein paar Fragen stellen möchte.“

„Danke.“

„Das gehört zu meinem Job.“

„Nein, ich meinte das Essen.“ Sie musste lachen. Der Mann nahm seine Arbeit offenbar ernst.

„Es ist nur ein belegtes Brot“, wehrte er ab. „Lizzie kann besser kochen als ich. Sie kommt irgendwann nach drei Uhr nach Hause.“

„Ich hoffe, es stört sie nicht, dass ich hier bin.“

„Ganz im Gegenteil. Es wird ihr sogar gefallen. So sehr, dass sie Sie womöglich um den Verstand redet. Meine Schwester unterhält sich für ihr Leben gern mit anderen Leuten, vor allem, wenn die den Mund halten und sie reden lassen.“

„Oh, verstehe“, sagte sie und beschloss, den viel zu ernsten Sheriff ein bisschen aufzuziehen. „Deshalb wollten Sie, dass ich mitkomme. Sie brauchen jemanden, der an Ihrer Stelle dasitzt und den Zuhörer mimt, wie?“

Anstatt das sofort abzustreiten, ging er zu ihrer Überraschung auf ihr Spiel ein. „Sie haben’s erfasst, wirklich scharfsinnig.“

Jane lächelte, wurde aber gleich wieder ernst. Ihre Situation war zu verzweifelt, um sich weiter geistreiche Bemerkungen zu überlegen. „Danke für das Sandwich“, sagte sie, biss davon ab und trank einen Schluck Kaffee dazu. „Was möchten Sie mich fragen?“

Mac kratzte sich am Kopf und beugte sich vor, als wollte er zum Reden ansetzen. Dabei verharrte sein Blick unwillkürlich für Sekunden auf ihren Brüsten, und ihr stockte der Atem. Die Luft wirkte mit einem Mal, als wäre sie elektrisch aufgeladen. Jane erkannte, dass ihm gefiel, was er sah. Trotz allem, was sie an diesem Tag durchgemacht hatte, empfand sie diese Erkenntnis als außerordentlich befriedigend. So albern das auch erscheinen mochte, sie konnte nicht leugnen, dass Sheriff Macon Riggs ein verdammt gut aussehender Mann war.

„Ich muss wissen, ob Sie allein da oben unterwegs waren“, begann er, „oder ob Ihnen jemand etwas antun wollte.“

Der Gedanke, sie könnte einem Überfall zum Opfer gefallen sein, war ihr bisher gar nicht gekommen, und selbst jetzt hatte er keine beunruhigende Wirkung auf sie. Sie durchforstete ihren Geist, da sie hoffte, auf irgendetwas Markantes zu stoßen. „Ich weiß nicht, ich kann mich an nichts erinnern. Meinen Sie, jemand hat mich absichtlich so dicht an der Klippe liegen lassen?“

„Möglich wäre es. Vielleicht ein eifersüchtiger Freund? Immerhin war dort oben weit und breit nichts zu finden, das Ihnen gehört. Kein Auto, keine Handtasche … einfach gar nichts.“

Sie zuckte hilflos und frustriert mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass ich auf der Straße liegend aufgewacht bin und als Erstes Sie gesehen habe. Ich kann mich genau daran erinnern, wie ich dachte, was für schöne Augen Sie haben.“

Der Sheriff schaute sie auf diese rätselhafte, unergründliche Weise an, die ihr durch und durch ging, und Jane nahm sich vor, Äußerungen wie diese künftig besser für sich zu behalten. Andererseits wusste sie nicht genug von sich, um zu entscheiden, wann sie den Mund halten sollte. Jede Bemerkung, auch die über Mac und sein Äußeres, konnte einen Hinweis auf ihre Identität liefern.

Die Überlegung, ob ihr Interesse an Sheriff Riggs nur etwas damit zu tun hatte, dass er ihr das Leben gerettet hatte, oder ob er ihr instinktiv als „ihr Typ“ aufgefallen war, behielt sie vorsorglich für sich. Gefielen ihr große, dunkelhaarige und todernst dreinblickende Männer? Männer mit markanten Gesichtszügen und verführerischen Augen?

Autor

Charlene Sands
<p>Alles begann damit, dass der Vater von Charlene Sands, ihr als Kind die schönsten, brillantesten und fantastischsten Geschichten erzählte. Er erfand Geschichten von plündernden Piraten, mächtigen Königen und Sagen von Helden und Rittern. In diesen Erzählungen war Charlene immer die Prinzessin, Königin oder Heldin um die gekämpft oder die gerettet...
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