Zwei wie Mond und Sonne

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Von der leichtlebigen Barkellnerin zur eleganten jungen Dame: Entschlossen bucht Ginger einen Kurs in einer Benimmschule. Wo sie sich Hals über Kopf in den korrekten Lehrer James verliebt! Er kennt die Spielregeln der Gesellschaft. Aber auch Ginger kann ihm einiges beibringen …


  • Erscheinungstag 06.06.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514408
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Miss O’Leary, welches Ziel wollen Sie denn als Schülerin der School of Etiquette erreichen“, sagte Larilla Davenport, die hinter ihrem Schreibtisch saß.

„Sehen Sie mich doch nur an“, platzte Ginger heraus, als sie aufstand.

Ihr pinkfarbenes tief ausgeschnittenes und sehr knappes Tanktop ließ den oberen Spitzenrand des Push-up-BHs im Leopardenmuster sehen. Quer über ihren großen Brüsten stand in Strassbuchstaben „Babe“ geschrieben. Der Rüschenminirock bedeckte knapp ihren Po. Die platinblonden Haare fielen in Beach Waves bis zur Taille. Stöckelschuhe mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen, viele billige Armreifen und viel Schminke komplettierten ihren üblichen Tageslook.

„Meine Liebe, wenn Sie nur daran interessiert wären, ihr Äußeres zu verändern, könnten Sie das Make-up abwaschen und ein paar neue Outfits kaufen. Also warum wollen Sie wirklich an meinem Kurs teilnehmen?“

Wegen gestern Abend und heute Morgen. Angefangen hatte es mit einem positiven Schwangerschaftstest. Ginger war noch mal in die Drogerie gerannt, um sich einen weiteren Test zu kaufen, den sie dann auf der Toilette im Busty’s durchgeführt hatte. Sie arbeitete als Kellnerin in dem Stripclub.

Wieder war das Testergebnis positiv. Sie war schwanger. Sie, Ginger O’Leary, würde Mutter werden. Der Gedanke war ihr während ihrer Schicht gestern Abend nicht mehr aus dem Kopf gegangen, während sie Gästen, die ihr anzügliche Blicke zugeworfen hatten, Bier, Schnaps und Nachos serviert hatte.

Im Alter von fünfzehn Jahren hatte sie ihre Jungfräulichkeit verloren. Das war vor neun Jahren gewesen, und seitdem hatte sie häufig Sex mit Männern gehabt. Sie war naiv, aber immer vorsichtig gewesen. In ihrem Schlafzimmer und im Auto hatte sie mehrere Schachteln mit Kondomen deponiert. Außerdem hatte sie immer ein paar Kondome in ihrer Handtasche dabei.

Diesmal jedoch war das Kondom gerissen. Der Mann, mit dem sie da Sex hatte, hatte leise geflucht, seine Kleider geschnappt und war aus ihrer Wohnung gestürmt. Im letzten Jahr war er zweimal in der Woche ins Busty’s gekommen und hatte das Lokal jedes Mal mit einer anderen Kellnerin verlassen. Er gehörte zu den Männern mit Geld.

Die weibliche Belegschaft unterschied zwischen Männern mit und ohne Geld. Die mit sahen wie Gentlemen aus – Betonung auf aussehen – und gaben zehn Dollar Trinkgeld. Die ohne waren Mistkerle, die zum Beispiel sagten: Trinkgeld? Zieh dich aus. Dann gebe ich dir einen Dollar.

Jedenfalls war Alden Arlington, der Vater ihres Babys, gestern Abend nicht ins Busty’s gekommen. Aber Ginger hatte ihn heute Morgen gesehen, als er mit einer Frau ins Java Jamboree gegangen war.

Sie war ihm in das Café gefolgt, hatte ihn um ein Gespräch gebeten und gesagt, dass es sehr wichtig sei. Schließlich hatte seine Begleitung ihr einen bösen Blick zugeworfen und war an die Theke gegangen, um Milchkaffees und Scones zu bestellen.

Ginger hatte sich auf den Platz der Frau gesetzt und geflüstert: „Ich dachte, du solltest wissen, dass ich schwanger bin. Ich habe es gestern herausgefunden.“

„Äh, Glückwunsch?“

Meine Güte, Alden sah gut aus. Diese blonden Haare und grünen Augen. Der teure Anzug. Er sah aus wie der junge Brad Pitt, was ihn natürlich nicht automatisch zu einem netten Mann machte. Nach dem Vorfall mit dem Kondom hatte er gut zwei Wochen lang keinen Fuß ins Busty’s gesetzt. Dann war er wieder zweimal wöchentlich dort aufgetaucht, hatte sie ignoriert und das Lokal mit anderen Frauen verlassen.

Egal. Sie hatte sich keine Hoffnungen gemacht, dass er mit ihr zusammen sein würde. Aber er musste sie nicht wie den letzten Dreck behandeln. „Es ist dein Kind.“

Er lachte. „Sicher. Wahrscheinlich schläfst du in einer Woche mit mehr Männern, als im Moment hier sind.“

Ginger schnappte nach Luft, was sie selbst überraschte. Die Leute sagten eine Menge Unverschämtheiten zu ihr. Aber sie schlief sich nicht durch die Betten. Sie hatte Alden gemocht und gehofft, dass er sie bemerken würde. Sie hatte davon geträumt, dass er sich in sie verlieben würde, bevor er sein wahres Gesicht gezeigt hatte.

„Finde einen anderen Idioten, dem du es anhängen kannst“, fügte er hinzu.

Seine Begleiterin kam mit den Milchkaffees und den Scones zum Tisch zurück, setzte sich neben ihn und starrte Ginger mit Eiseskälte an. „Sie sagen, mein Bruder ist der Vater des Babys? Ein DNA-Test wird beweisen, dass Sie lügen. Und für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass Sie es nicht tun, erwartet Sie ein Kampf ums Sorgerecht. Denn Sie sind als Mutter nicht geeignet.“

„Was soll das heißen?“ Sie stützte die Hände in die Hüften.

„Sehen Sie sich doch an.“

„Das Kind ist nicht von mir. Also verschwende nicht deine Energie an diese Schlampe“, sagte Alden zu seiner Schwester.

Ginger griff nach einem Scone und warf ihn Alden an den Kopf. „Geh zum Teufel!“

„Das ist ein tätlicher Angriff.“ Seine Schwester zeigte mit dem Finger auf Ginger. „Wir können Sie anzeigen.“

Sie verfluchte sich für ihr Temperament und bekam Angst. Schnell verließ sie das Café.

„Meine Güte!“, sagte Larilla Davenport.

Ginger wurde aus ihren Gedanken gerissen, und ihr war klar, dass sie ihre Erinnerungen laut ausgesprochen hatte. Das hatte sie eigentlich nicht vorgehabt. Aber eines war sicher, was sie anging: Sie sagte die Wahrheit.

Sie sah die ältere Frau fest an. „Ich will eine gute Mutter für dieses Baby sein. Das ist mein Ziel. Ich muss mich verändern. Nicht nur mein Aussehen. Alles an mir. Wie ich rede, wie mich verhalte, wie ich denke. Ich muss jemand werden, den man nicht Schlampe nennt. Jemand, der nicht aus Wut Leuten Milchbrötchen an den Kopf wirft. Denn Alden könnte mir das Baby wegnehmen.“ Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

„Ich muss eine Frau werden, der man ihr Baby nicht wegnehmen kann“, fuhr sie fort. „Und wenn ich die Hoffnung nicht verlieren will, einen guten Mann und Vater für mein Baby zu finden, muss ich mich in die Art Frau verwandeln, die gute Männer ihren Eltern vorstellen.“

Madame Davenport starrte sie einen Moment lang an. Dann gab sie etwas in das Tablet ein, das auf dem Schreibtisch lag. „Verstehe. Wie haben Sie von meiner School of Etiquette erfahren?“

„Meine Chefin im Busty’s ist eine Wahnsinnslady. Sie hat es aus dem Nichts nach oben geschafft. Ich habe sie gefragt, wie sie das gemacht hat. Coco hat gesagt, dass sie vor ein paar Jahren all ihr Erspartes investiert hat, um bei einem Kurs der School of Etiquette in Wedlock Creek teilzunehmen, wo man lernt, sich anzuziehen, sich zu benehmen, das Richtige zu sagen – all das. Also habe ich gekündigt und bin von Jackson aus hergefahren.“

„Ah, Coco“, meinte sie lächelnd. „Ich erinnere mich an sie. Ich habe ihren Mumm bewundert.“

„Das Problem ist, dass ich mir den dreiwöchigen Kurs nicht leisten kann.“ Sie besaß nicht mehr als zweihundertzwölf Dollar.

Ginger sah sich in dem Büro mit den Antiquitäten und den Ölgemälden um. Das schöne Haus im Queen-Anne-Stil war wie ein Schloss eingerichtet. Sicherlich brauchte Madame Davenport eine weitere Reinigungskraft oder eine Küchenhilfe. „Als Gegenleistung für den Kurs mache jeden Job. Alles. Ich schrubbe sämtliche Toiletten, bis sie blitzen.“

Larilla klappte das Tablet zu. „Meine Liebe, Sie werden nicht schrubben, sondern bekommen ein Stipendium und werden sich in die Person verwandeln, die Sie sein wollen. Sie sind hiermit in dem dreiwöchigen Kurs eingeschrieben, der morgen beginnt.“

James Gallagher las die Textnachricht seiner Patentante und stöhnte. Er hatte früher öfter in der School of Etiquette ausgeholfen, damit Larilla besser einschätzen konnte, wie sich ihre Schülerinnen gegenüber dem anderen Geschlecht verhielten und ihre neu erworbenen Fähigkeiten im Gespräch anwendeten.

Larilla hatte eine Liste mit Männern jeden Alters, die gern in der Schule aushalfen. Aber all ihre Favoriten schienen heute nicht zur Verfügung stehen.

Das letzte Mal hatte er im vergangenen Jahr die Begutachtung einer Schülerin übernommen. Damals hatte er zugesehen, wie Ava Guthrie sich von einem „Mädchen vom Land“, wie sie sich bezeichnet hatte, in eine „Lady“ verwandelt hatte – und er hatte ihr bei der letzten Beurteilung Bestnoten gegeben.

Ava hatte sich ihn geangelt. Als achtundzwanzigjähriger „wohlerzogener Geschäftsmann“ gehörte er, wie man in einem lächerlichen Artikel in der Lokalzeitung hatte lesen können, zu den Männern, die in Wedlock Creek ein „heißer Fang“ waren. Seine Geschwister liebten es, sich deswegen über ihn lustig zu machen.

Letztes Jahr hatte er sogar daran gedacht, sich von dieser Junggesellenliste streichen zu lassen, weil er die Richtige gefunden hatte. Aber Ava hatte ihn zum Narren gehalten. Nachdem sie bekommen hatte, was sie wollte – die Art Frau zu werden, die einen Mann wie ihn anzog –, hatte ihm die Betrügerin einen schweren Schlag versetzt und die Stadt verlassen.

Sie war in dem glänzenden neuen Cabrio davongedüst, das er ihr gekauft hatte. Nach diesem Fiasko hatte seine Patentante netterweise aufgehört, ihn weiter um Hilfe zu bitten.

Seine Eltern und Großeltern waren lange tot, und Larilla war die einzige Verwandte, die ihm mütterlicherseits geblieben war. Aber er hatte noch fünf Halbgeschwister, die er seit dem Tod seines Vaters und seiner Stiefmutter vor sieben Jahren großgezogen hatte. Larilla war immer sein Fels in der Brandung gewesen. Wenn sie ihn um einen Gefallen bat, sagte er bestimmt nicht Nein, denn er verdankte ihr viel.

Außerdem würde er in genau fünf Wochen in Paris sein – der Auftakt zu seiner lange ersehnten Weltreise während der Sommermonate – und dann Larilla nicht mehr behilflich sein können. Also antwortete er seiner Patentante, dass er gleich vorbeikommen würde.

Wunderbar! Wir sind im Esszimmer.

Larilla machte sich anfangs immer bei einem privaten Abendessen ein Bild von den Tischmanieren ihrer neuen Schülerinnen. Zweimal täglich gab sie Gruppenkurse und traf sich darüber hinaus während des Tages jeweils mit ein paar Schülerinnen zu individuellen Unterrichtsterminen.

Das Haus seiner Patentante war nur ein paar Autominuten von dem großen Haus entfernt, das sein Vater vor zweiundzwanzig Jahren nach der Heirat mit seiner Stiefmutter gekauft hatte. James ging von seinem Zimmer im umgebauten Dachgeschoss nach unten.

Seine Halbgeschwister waren alle nicht da. Die Fünflinge waren jetzt einundzwanzig Jahre alt, und die beiden Brüder hatten aus beruflichen Gründen die Stadt verlassen. Zwei seiner Schwestern arbeiteten als Larillas Assistentinnen und wollten zu deren großer Freude alles über das Metier lernen. Dann gab es noch Josie, die ihm allerdings ziemliches Kopfzerbrechen bereitete.

James konnte nicht glauben, dass sieben Jahre vergangen waren. Oder dass er es tatsächlich geschafft hatte, seine damals dreizehnjährigen Geschwister zu Erwachsenen zu erziehen, die ihr eigenes Leben führten.

Dafür hatte er sein Leben hintangestellt. Aber in ein paar Wochen würde er zu seiner großen Reise aufbrechen. Er würde Pizza in Italien, Käse in Frankreich, Paella in Spanien und Sushi in Japan essen. Er würde die ganze Welt sehen und konnte es nicht erwarten.

Er fuhr zu Larilla. Ihre Perserkatze Esme lag zusammengerollt auf einem gepolsterten Schaukelstuhl, der auf der umlaufenden Veranda stand. In dem prachtvoll ausgestatteten Haus, in dem die School of Etiquette untergebracht war, ging er ins Esszimmer.

Larilla saß mit einer platinblonden Frau am Tisch, die wie eine Komparsin aus dem Film „Die Waffen der Frauen“ aussah – viel Haut, viel Haar und viel Make-up. Als er das Zimmer betrat, stieß sie einen bewundernden Pfiff aus und nahm ihn ausgiebig von oben bis unten in Augenschein. Seine Patentante tippte etwas in das Tablet, das sie immer bei sich hatte.

„Das gehört wahrscheinlich zu den Dingen, die ich nicht mehr tun sollte“, sagte die Blondine zu Larilla. „Das ist nicht ladylike oder so, richtig?“

„Meine Liebe, Männer pfeifen Frauen seit Menschengedenken hinterher. Als ich Ende vierzig war, ging ein Mann in der Main Street an mir vorbei und sagte: ‚He, heißer Feger.‘ Das hat er anschließend sehr bereut.“

„Was haben Sie getan?“

„Ich habe ihn gut fünfzehn Minuten mitten auf dem Bürgersteig damit gelangweilt, warum es unpassend ist, Bemerkungen darüber zu machen, wie jemand aussieht. Außer vielleicht zu erwähnen, dass jemand heute reizend aussieht. Jemanden zu Tode zu langweilen, ist ein effektives Abschreckungsmittel.“

Seine Patentante drehte sich ihm zu. „James, ich freue mich, dir meine neueste Schülerin Ginger O’Leary vorzustellen. Ginger, mein Patensohn James Gallagher.“

„Mann, sind Ihre Augen blau“, sagte Ginger zu ihm. „Männer haben auch die besten Wimpern, habe ich recht? Um da mitzuhalten, muss ich mir alle zwei Wochen eine neue Mascara kaufen. Lol!“

„Lol?“ Ah, sie meint LOL, Laughing Out Loud, also laut lachen. „Sie lachen über ihren eigenen Witz? Larilla, notiere diesen Verstoß der schlimmsten Art.“ Ginger wirkte einen Moment lang verschreckt. Dann starrte sie ihn an, um zu sehen, ob er scherzte.

„Oh, wenn das mein schlimmstes Vergehen ist, dann ist ja alles in Ordnung“, meinte sie, als sie sicher war, dass er sie auf den Arm genommen hatte.

„Danke sehr, James“, sagte Larilla lächelnd. „Ich habe alles, was ich brauche. Und Ginger, ich erwarte Sie Punkt neun Uhr morgen früh zu unserer ersten Unterrichtsstunde.“

Er bemerkte, dass Ginger die Hände auf ihren Bauch legte und die Augen aufriss. „Geht es Ihnen nicht gut? Ist Ihnen das Abendessen nicht bekommen?“

„Machen Sie Witze? Filet mignon mit Ofenkartoffeln bekommt mir immer – als wenn ich das jemals vorher gegessen hätte.“

„Was ist dann los?“

„Ich habe gerade wieder dieses Ziehen im Bauch gespürt. Laut Dr. Google ist das normal, wenn man schwanger ist.“

„Schwanger?“ Er starrte erst sie und dann Larilla an.

„Ginger ist in anderen Umständen. Der Geburtstermin wird im Dezember sein.“

„Wenn ich richtig gerechnet habe“, fügte Ginger hinzu. „Ich war nie gut in Mathe.“

„Was hat der Arzt gesagt?“, fragte er.

„Welcher Arzt? Ich habe gerade erst vor zwei Tagen herausgefunden, dass ich schwanger bin.“

„Ich werde mich umhören, welcher Gynäkologe zu empfehlen ist“, meinte Larilla. „Sie müssen sich untersuchen lassen.“

Wenigstens war James jetzt klar, warum seine Patentante ihn um Hilfe bei der Beurteilung einer Schülerin gebeten hatte, obwohl er wegen des Fiaskos, das er mit Ava erlebt hatte, immer noch verbittert war.

Ginger würde wahrscheinlich drei Kurse benötigen, bevor sie die Abschlussprüfung bestand. Sie war nicht nur alles andere als sein Typ, sie war auch noch schwanger. Und er würde bald die Stadt verlassen und die Welt bereisen, um der Vaterrolle, die er in den letzten Jahren übernommen hatte, zu entfliehen. Sich noch mal Verantwortung dieser Art aufzuhalsen, war das Letzte, was er wollte.

Das darf doch nicht wahr sein. Ginger betrachtete den Stapel mit Hausaufgaben, die Madame Davenport den neuen Schülerinnen am Ende des Gruppenunterrichts zugeteilt hatte. Weil sie Hausaufgaben hasste, hatte sie es geradeso geschafft, ihren Highschoolabschluss zu machen – obwohl sie in Geschichte immer beste Noten bekommen hatte.

Sie musste einen einseitigen Aufsatz darüber schreiben, warum die Themen Geld, Sex, Politik, Religion und Aussehen beim ersten Treffen tabu waren und die Gründe dafür erläutern. Laut Madame durfte man jemandem ein Kompliment machen. Doch man sollte sich nicht kritisch über die Figur oder Kleidung äußern.

Aber zunächst stand eine Einkaufstour mit Madame auf dem Programm, die wollte, dass die Schülerinnen so aussahen wie die Personen, die sie werden wollten. Ginger wollte wie eine Mutter aussehen. Aber wusste sie überhaupt, wie Mütter aussahen? Keine ihrer Freundinnen in Jackson hatte Kinder. Weil sie im Busty’s bis in die frühen Morgenstunden gearbeitet und tagsüber geschlafen hatte, war sie auch keinen Müttern begegnet.

Madame hatte jedoch gesagt, Ginger würde einfach verschiedene Outfits anprobieren, bis sie ihren persönlichen Look gefunden hätte. Da bei der eleganten älteren Frau alles so kinderleicht klang, verehrte Ginger sie schon jetzt.

Einige Minuten vor dem vereinbarten Termin um ein Uhr verließ sie ihr schönes Zimmer in Madames Haus und ging die Treppe hinunter. Aber ihre Lehrerin ließ auf sich warten und erschien auch nicht, als es schon einige Minuten nach ein Uhr war. Obwohl Pünktlichkeit Priorität hatte – ein neues Wort, das Ginger am Morgen im Einzelunterricht gelernt hatte.

Dann ging plötzlich die Haustür auf – und da war er. James Gallagher. Was für ein heißer Prachtkerl! Heute trug er keinen Anzug, sondern ein langärmeliges Hemd sowie dunkle Jeans. Sie konnte den Blick kaum von seinen muskulösen Oberarmen abwenden. Du meine Güte, war er gut gebaut.

Sieh nach oben, Ginger, sagte sie sich und kam in den Genuss dieser blauen Augen mit den dunklen Wimpern. Dichte Augenbrauen und die klassische Nase machten sein Gesicht noch markanter. Und diese Lippen. Oh, diese Lippen!

Man kann jemandem ein Kompliment machen. Doch man sollte sich nicht kritisch über die Figur oder Kleidung äußern. „Sie sehen gut aus, Gallagher.“ Offenbar war er überrascht. Denn er lachte leise.

Na, komm schon. Der Mann wusste bestimmt, dass er superheiß war. Andererseits war er auch zugeknöpft, und solche Typen neigten dazu, tatsächlich nicht zu wissen, dass sie aussahen wie Liam Hemsworth.

„Hat sich Larilla bei Ihnen gemeldet?“, fragte er. „Sie hat mir eine Textnachricht geschickt. Sie fühlt sich nicht wohl und hat mich deshalb gebeten, Sie auf der Einkaufstour zu begleiten. Normalerweise würden meine Schwestern für Larilla einspringen. Aber sie sind bis heute Abend nicht in der Stadt. Sie besuchen meinen Bruder, der auf einer Ranch arbeitet.“

Sie hob eine Augenbraue. „Haben Sie denn eine Ahnung vom ‚Mom‘-Look?“

„Ich habe Larilla früher oft ausgeholfen und kenne jeden Look.“

„Na, dann. Lassen Sie uns gehen, heißer Typ.“

James öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt. Sie gingen in Richtung Main Street, und Ginger nahm seinen frischen, würzigen und sehr männlichen Duft wahr.

Nachdem sie gestern in Madame Davenports Schule aufgenommen worden war, hatte sie etwa eine Stunde lang Wedlock Creek erkundet. Sie hätte sich gern länger umgesehen. Aber sie war die Blicke der anderen schnell leid geworden. Ja, Leute, das sind Brüste! hatte sie rufen wollen. In Jackson war sie nicht so aufgefallen wie hier in der Kleinstadt.

„Larilla sagt, nach dem, was Sie sich zum Ziel gesetzt haben, brauchen Sie Outfits, mit denen Sie vom Spielplatz direkt zum Elternabend gehen können. Das ist ein ziemlicher Unterschied zu Ihrem derzeitigen Look.“

„Richtig.“ Sie sah an sich hinunter. Silbermetallisch glänzende Leggings, eine in der Taille gegürtete Tunika, die kaum ihren Po bedeckte und viel Dekolleté zeigte, sowie Riemchensandalen. Jeder ihrer Fußnägel war in einer anderen Farbe lackiert.

„Obwohl mir gestern, als ich einen Bummel durch die Stadt gemacht habe, ein kleines Mädchen gesagt hat, dass ihr meine Fußnägel gefallen“, fügte sie hinzu. „Also lasse ich die Fußnägel vielleicht so, wie sie sind.“ Sie hob den Fuß hoch und wackelte mit den Zehen. „Haben Sie Kinder?“

„Ich?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Ma’am. Alles, was mit Ehe und Kindern zu tun hat, kommt für mich frühestens in zehn Jahren infrage, wenn ich endlich alles gemacht habe, was ich die letzten sieben Jahre tun wollte.“

„Was haben Sie stattdessen getan?“

„Ich habe meine verwaisten Halbgeschwister großgezogen. Die Fünflinge waren dreizehn Jahre alt, als ich sie unter meine Fittiche genommen habe. Ich war einundzwanzig und hatte gerade das College abgeschlossen.“

Das hatte Ginger nicht erwartet. Sie dachte, er würde antworten, dass er sich die Hörner abgestoßen hatte. Nein, sie glaubte nicht, dass alle Männer Schürzenjäger waren. Aber sie hatte einfach noch nie einen Mann getroffen, der es nicht war. Andererseits gab es in ihrem bisherigen Umfeld nicht gerade niveauvolle Männer.

„Moment mal. Haben Sie Fünflinge gesagt? In dem Alter müssen bei Ihren Halbgeschwistern die Hormone verrückt gespielt haben. Das war bestimmt nicht einfach.“

James lachte. „Stimmt. Allein sie mit Anti-Pickel-Lotion zu versorgen, hat mich dem Bankrott nahegebracht.“

Ihr gefiel sein Lachen. „Da hatte ich wohl Glück. Ich hatte noch nie einen Pickel.“

„Keinen einzigen?“

„Nein, ich habe die fantastische Haut meiner Mutter und Großmutter geerbt. Sie sind beide tot. Unfassbar, dass meine Mom nie mein Baby kennenlernen wird – und umgekehrt, wissen Sie?“

Er warf ihr einen Blick zu. „Ich bin sicher, das geht mir genauso, wenn ich in zehn Jahren oder so schließlich ein Kind haben werde.“

„Die Sache mit den zehn Jahren lässt Sie nicht los, nicht wahr? Ist Ihnen jemals zu Ohren gekommen, dass es auch anders kommen kann?“

„Ja, und daher werde ich einfach dafür sorgen, dass mir nichts dazwischenkommt.“

„Kondome können reißen.“ Sie senkte den Blick.

James betrachtete sie und nickte. „Im Leben läuft nicht immer alles glatt. Das ist das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß.“

Sie schüttelte die Gedanken an Alden und Kondome ab. „Es ist seltsam, dass meine Mutter nicht mehr da ist. Ich würde dasselbe über meinen Vater sagen. Aber ich habe ihn nie kennengelernt. Seltsam ist auch, einen Dad für mein Baby zu finden, ohne zu wissen, was einen guten Dad ausmacht. Das weiß ich nur aus dem Fernsehen.“

„Einen Dad finden?“

„Das ist ein Grund, weswegen ich am Kurs bei Ihrer Patentante teilnehme. Um so auszusehen, dass ich auf einen guten Mann und Vater für mein Baby anziehend wirke.“

Er starrte Ginger einen Moment lang konsterniert an.

„Warum sehen Sie mich so an? Ich werde nach einem Mann wie Ihnen Ausschau halten. Nach einem guten Mann.“

Autor

Melissa Senate
<p>Melissa Senate schreibt auch unter dem Pseudonym Meg Maxwell, und ihre Romane wurden bereits in mehr als 25 Ländern veröffentlicht. Melissa lebt mit ihrem Teenager-Sohn, ihrem süßen Schäfermischling Flash und der spitzbübischen Schmusekatze Cleo an der Küste von Maine im Norden der USA. Besuchen Sie ihre Webseite MelissaSenate.com.</p>
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