Das Kind der Liebe

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An die Kraft der Liebe kann Mallory Powell, die Tochter von Grace DeWildes älterem Bruder Leland, nicht glauben. Doch eine einzige sensationelle Nacht auf einem Schweigeseminar verändert ihr ganzes Leben. In den Armen eines völlig Fremden erlebt sie Lust, Ekstase und totale Hingabe. Als sie sich später wiedersehen, weiß Mallory, dass sie sein Baby erwartet. Wie wird Liam O'Neill auf diese Nachricht reagieren?


  • Erscheinungstag 07.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774998
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mallory Powells gesamte Zukunft hing davon ab, ob sie jetzt die Tür öffnete oder nicht.

Regenwolken ballten sich über ihr zusammen, tauchten die Stadt in ein düsteres Grau. Feiner Nieselregen ließ die eisige Februarluft noch kälter erscheinen. Autoreifen zischten auf dem nassen Asphalt, und Passanten zogen ihre Mäntel enger um sich, um Feuchtigkeit und Kälte abzuwehren.

Die Tür wurde durch ein Überdach geschützt. Das Gebäude selbst war unauffällig, ein stuckverziertes Haus in der Golden Gate Street, nur ein paar Häuserblocks von der Universität entfernt. Niemand würde erraten, was sich darin befand, und genau das war der Grund, warum Mallory hierhergekommen war.

Sie vertraute ihrem Hausarzt und achtete ihn, hätte ihm ihr Leben anvertraut. Aber in dieser Angelegenheit konnte sie nicht zu ihm gehen. Wenn eine Frau in einer klatschsüchtigen Stadt wie San Francisco einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte, mussten gewisse medizinische Probleme mit Diskretion behandelt werden. Besonders, wenn diese Frau die Tochter von Leland Powell war, einem der reichsten Finanziers der Stadt, und zudem die Verlobte von Robert Benedict – einem ehrgeizigen Manager in der Firma ihres Vaters. Außerdem war ihr Gesicht nicht wenigen Einwohnern bekannt, da sie wöchentlich in einer beliebten Talkshow ihre Kochkunst demonstrierte. Eine Frau in einer solchen Position marschierte nicht einfach in eine Arztpraxis und sagte: „Hi. Ich möchte abtreiben lassen.“

Mallory seufzte und starrte hinaus in den Regen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, aber das hatte wohl weniger mit dem feuchten Wetter als mit dem zu tun, was auf sie wartete.

Sie presste die Hände auf ihren flachen Bauch. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass dort drinnen Leben heranwuchs, etwas, was sie nie geplant hatte, ein Streich, den ihr das Schicksal spielte.

Aber es war leider so. Nicht nur der Schwangerschaftstest zu Haus hatte es bewiesen, sondern es hatten sich auch ihre Brüste in den letzten zwei Wochen verändert, sie wurden fester und spannten …

Sie schloss die Augen, als sie die nächste Gänsehaut bekam. Zwei Monate, nachdem sie das Schweigeseminar verlassen hatte, war die Erinnerung an den Mann immer noch unglaublich lebendig. Noch immer wusste sie, wie er sich anfühlte, erinnerte sich an seinen Duft, den Geschmack seiner Küsse. Sie sah seinen schlanken, muskulösen Körper, seine graugoldenen Augen vor sich, in denen für einen kurzen leidenschaftlichen Moment eine tiefe Traurigkeit zu sehen gewesen war. In diesen Augenblicken hatte sie erkannt, es ging nicht nur um Sex, nicht nur um Lust. Zwei Menschen retteten sich gegenseitig – oder anders gesagt, sie rannten vielleicht Hand in Hand auf ein Desaster zu.

Der Schwangerschaftstest hatte nur bewiesen, was sie in diesem Augenblick gefühlt hatte, in dieser einen einzigartigen Nacht, als sie und der Mann sich ineinander verloren hatten, in silbriges Mondlicht gebadet, voll verzweifeltem Vertrauen.

Mallory kannte nicht einmal seinen Namen.

Sie musste diese Schwangerschaft abbrechen. Es gab keinen anderen Ausweg. Jeder erwartete, dass sie Robert heiratete, und sie selbst wollte diese Hochzeit ebenfalls. Wie konnte sie vor den Traualtar treten, wenn sie das Kind eines anderen Mannes in sich trug?

Seit sie von ihrer Schwangerschaft wusste, hatte sie kaum noch mit ihrem Verlobten sprechen können. Gott sei Dank hatte sie ihn nicht sehen müssen. Sehr wahrscheinlich hätte sie es nicht ertragen, ihm ins Gesicht zu blicken.

Deswegen musste sie das Problem so schnell und diskret wie möglich lösen. Ihren Hausarzt konnte sie nicht darum bitten. Er war ein alter Freund ihres Vaters und hatte sie vor dreißig Jahren auf die Welt gebracht. Auch ihre Cousine Kate konnte sie nicht um Hilfe bitten, auch wenn sie wohl jede Abtreibungsklinik in der Region kannte, da sie in einem Krankenhaus in der Stadt arbeitete. Mallory hatte Kate sehr gern, aber in dieser Situation mochte sie sich ihr nicht anvertrauen.

Eine Freundin in der gleichen Situation hatte vor ein paar Jahren Dr. Gilman empfohlen. „Er nimmt eine Menge Geld dafür“, hatte Courtney Mallory gewarnt. „Aber er ist ein Musterbeispiel an Takt und Verschwiegenheit. Zu seinen Patienten sollen alle möglichen Bekanntheiten zählen … Schauspielerinnen, Politikerinnen, liebessüchtige Hausfrauen … Doch er ist verschwiegen wie ein Grab und hat bisher niemals den Namen einer Patientin preisgegeben. Er wird es auch in Zukunft nicht tun.“

Das war es, was Mallory brauchte: den verschwiegensten Gynäkologen von ganz Kalifornien. Nur zu gern würde sie bezahlen, was er verlangte, solange er den Mund hielt, was sie betraf.

Wieder griff sie nach der Tür. Der Knauf fühlte sich wie Eis an, und sie zog hastig ihre Hand zurück.

Es ist unglaublich, dachte sie. Mein Leben lang war ich ein Mensch, der Entscheidungen traf und sie durchführte.

Aber dennoch vermochte sie anscheinend die Tür nicht zu öffnen.

Tränen stiegen ihr plötzlich in die Augen, aber sie drängte sie zurück. Sie war zu wütend, um zu weinen. Wütend auf sich, weil sie zögerte, obwohl eine Abtreibung die einzige Lösung war. Wütend auf ihren Vater, weil er so viel von Robert hielt, dass sie seine Reaktion fürchtete, falls sie die Verlobung auflöste. Wütend auf Aunt Grace, die im Dezember darauf gedrängt hatte, dass sie, Mallory, endlich einmal ausspannte, ehe der Stress ihr schadete. Wütend auf den Mann, den Fremden, der sie mit einem einzigen durchdringenden Blick völlig durcheinanderbringen konnte, von dem eine einzige Berührung genügte, um ihr den Kopf zu verdrehen. Es war ihr völlig egal gewesen, wer er war, oder welche Folgen ihr Verhalten haben könnte.

Mallory schüttelte den Kopf. Es war weder die Schuld ihres Vaters, noch Roberts oder die von Aunt Grace. Sie selbst war mit offenen Augen in die Katastrophe marschiert. Nur sich selbst durfte sie die Schuld geben.

Noch einmal griff sie zum Türknauf, ein Frösteln überlief sie – und sie wandte sich ab. Sie konnte es einfach nicht tun. Selbst wenn es bedeutete, dass ihre Zukunft nicht den geplanten Weg nahm, sie den Respekt ihres Vaters verlor und die Chance, Robert zu heiraten …

Gott allein wusste, warum, aber als sie hinaus in den winterlichen Regen starrte, war sie absolut davon überzeugt, das Kind in sich zu verlieren, wäre noch viel schlimmer.

Sie stellte den Kragen ihres Mantels hoch und trat hinaus in den Nieselregen. Sie hatte ihren Wagen weiter unten in einer der Seitenstraßen geparkt. Und als sie die steile Straßen hinunterging, tat sie es mit mehr Vorsicht als sonst. Schließlich waren sie nun zu zweit.

Dieser Gedanke beunruhigte sie längst nicht so, wie es eigentlich sein sollte. Beunruhigend war vielmehr die Erkenntnis, dass sie nicht in Panik geriet. Ihr Leben zerbrach in tausend Scherben, und dennoch bedauerte sie es nicht, vor Dr. Gilmans Tür kehrtgemacht zu haben.

Aber ich werde es schon bald genug bereuen, dachte sie, als sie ihren grünen Saab aufschloss und sich hinters Steuer sinken ließ. Sie zog heftig die Tür ins Schloss und versuchte an nichts weiter zu denken als an die unmittelbare Zukunft.

Sie war schwanger. Sie wusste nicht, wer oder wo der Vater des Kindes war. Nicht einmal seine Stimme würde sie am Telefon erkennen. Sie hatten kein einziges Wort gewechselt, nicht einmal in jener Nacht. Ihre Körper hatten gesprochen.

Aber wenn sie ihn wiedersehen sollte, würde sie sein kantiges Kinn, seine leicht gebogene Nase und seine klaren Augen wiedererkennen, in denen sie Schmerz und Hoffnung hatte lesen können. Sie würde den Rhythmus seines Herzens erkennen, denn für einen ewigen Augenblick hatte sein Puls mit ihrem im Gleichklang geschlagen. Sie hatte es gehört. Sie hatte es gefühlt.

Und nun war er fort, für immer aus ihrem Leben verschwunden.

Wenn sie schlau wäre, würde sie versuchen, Robert ins Bett zu bekommen – möglichst heute noch. Sie würde ihn verführen und ihn ein paar Wochen später mit der Neuigkeit überraschen, dass er Vater werde.

Aber solche Winkelzüge verabscheute Mallory. Sie mochte leichtsinnig sein, rebellisch, oft starrsinnig, aber sie war stolz darauf, nach ihren Idealen zu leben. Sie würde Robert dieses Kind nicht unterschieben.

Sie musste es einfach abtreiben lassen. Es gab keinen anderen Weg, ihr Leben wieder in die alte Bahn zu lenken.

Mallory griff nach dem Autotelefon, holte den Zettel mit Dr. Gilmans Telefonnummer heraus und wählte. Eine junge Frau meldete sich.

„Guten Tag, hier spricht Mallory Powell. Ich habe um halb zehn einen Termin bei Dr. Gilman.“ Ihre Stimme bebte leicht. Ob die Sprechstundenhilfe es wohl mitbekam?

„Ja, Miss Powell.“

„Nun, ich …“ Sie schluckte. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Termin einhalten kann.“

„Ich verstehe.“ Die junge Frau klang ruhig, aber mitfühlend. „Sind Sie allein?“

„Sie meinen jetzt gerade?“

„Ja. Kann ich sprechen?“

Mallory sank gegen das Rückenpolster. „Ich spreche vom Autotelefon aus …“

„Ich frage, weil ich gern wissen würde, ob es Ihre Entscheidung oder die einer anderen Person ist. Setzt Sie jemand unter Druck? Ein Familienmitglied? Der Mann, von dem Sie das Kind erwarten?“

„Himmel, nein!“ Mallory lachte ein wenig schrill. „Niemand weiß davon. Er ganz sicher nicht.“ Ein unangenehmes Schwächegefühl breitete sich plötzlich in ihr aus. „Ich … ich sagte nicht, dass ich den Eingriff nicht vornehmen lassen will. Ich brauche einfach nur noch ein wenig mehr Zeit zum Nachdenken.“

„Das verstehe ich. Es ist eine wichtige Entscheidung, die man nicht in Eile treffen sollte. Sie sollten ganz sicher sein, dass Sie es auch bestimmt wollen, sonst wird Dr. Gilman die Behandlung ablehnen.“

„Ich weiß.“

„In welchem Monat sind Sie schätzungsweise?“

„Im zweiten.“

„Sie sollten nicht zu lange warten, Miss Powell. Nach einer bestimmten Zeit liegt die Entscheidung nicht mehr bei Ihnen. Dr. Gilman behandelt keine Frauen, die über den dritten Monat hinaus sind. Danach müssten Sie sich an jemand anderen wenden.“

„Ich bin sicher, so lange wird es nicht dauern.“ Zumindest hoffte sie es. Sie hoffte aus ganzem Herzen, dass sie innerhalb der nächsten Tage den Mut aufbringen würde, das zu tun, was getan werden musste.

Sie schaffte es nur im Augenblick noch nicht.

Mallory versprach, sich zu melden, sobald ihre Entscheidung endgültig war, und verabschiedete sich. Als sie auflegte, stöhnte sie leise auf. Solange sie dieses beginnende Leben in ihrem Uterus hatte, würde sie Robert oder ihrem Vater nicht gegenübertreten können. Und auch die Pläne für die Hochzeit erschienen ihr auf einmal absurd. Sie konnte einfach nicht in das Geschäft ihrer Tante gehen und ein Brautkleid in Auftrag geben. Bevor sie nicht ihre Vergangenheit geordnet hatte, konnte sie mit ihrer Zukunft nicht weitermachen.

Dinge aufzuschieben, war nicht ihre Art. Aber … sie wollte einfach nur ein besseres Gefühl bei ihrer Entscheidung haben.

Sie brauchte einen Drink. Aber es war zu früh am Tag, und selbst wenn es später wäre, schwangere Frauen sollten keinen Alkohol zu sich nehmen. Solange sie das Unaufschiebbare verschob, würde sie sich eben entsprechend verhalten.

Mallory fuhr ostwärts, Richtung Union Square. Ihr Restaurant war montags geschlossen, also hatte sie den ganzen Tag Zeit, sich einen Plan auszudenken, wie sie aus dieser Klemme wieder herauskam.

Ihr Restaurant lag im Erdgeschoss eines Gebäudes am Union Square, in einer der exklusivsten Einkaufsgegenden der Stadt. Das Restaurant bot zwar keinen Ausblick auf den Union Square, aber das spielte keine Rolle. Ihre Gäste kamen wegen des Essens und der Atmosphäre dort.

Sie bog von der kleinen Seitenstraße, in der sich das Restaurant befand, auf ihren Privatparkplatz ein, obwohl sie nicht vorhatte, es zu betreten. Aber es war unmöglich, in der Nähe einen Parkplatz zu finden. Nachdem sie den Wagen abgeschlossen hatte, zog sie ihren Regenmantel enger um sich, hängte sich die Tasche über die Schulter und eilte die schmale Gasse weiter zur Powell Street.

Diese Straße war nach einem ihrer Vorfahren benannt. Die Powells waren im letzten Jahrhundert während des Goldrausches nach Kalifornien gekommen und hatten ihr Vermögen damit gemacht, den Goldsuchern Lebensmittel zu verkaufen. Nicht sehr viel später begannen sie Restaurants und Gasthäuser zu bauen, und wurden dann im Immobilien- und Grundstücksgeschäft tätig. Während der Weltwirtschaftskrise in den zwanziger Jahren verloren sie den größten Teils ihres Vermögens. Aber nach dem Tod von Mallorys Mutter widmete sich ihr Vater energisch der Aufgabe, die Firma wiederaufzubauen. Powell Enterprises war nun in vielen Bereichen der Wirtschaft tätig.

Mallorys Vater neckte sie des Öfteren damit, wieder auf die Stufe ihrer Vorfahren zurückgefallen zu sein, da sie zum ursprünglichen Broterwerb der Familie zurückgekehrt war – dem Verkauf von Essbarem. Aber Mallory war Köchin geworden, weil sie gern mit Lebensmitteln arbeitete, kochte, experimentierte, kreativ war. Und weil ihre glücklichsten Kindheitserinnerungen aus jener Zeit stammten, als sie Emma, der Haushälterin der Familie, in der Küche Gesellschaft leisten durfte. Emma hatte sie damals unter ihre Fittiche genommen. Mallory wusste, ihr Vater hätte sie gern in der Firma gesehen, aber Schreibtischarbeit und der Umgang mit Geld und Zahlenkolonnen hatten sie nie interessiert. Sie hatte angenommen, eine Ehe mit Robert Benedict würde die Enttäuschung ihres Vater wiedergutmachen können.

Vorausgesetzt, sie würde mit ihrem kleinen Problem fertig werden, ehe Robert davon Wind bekam und die geplante Hochzeit platzen ließ.

Eine Ehe mit ihm würde eine sichere Sache sein. Er war smart, gutaussehend, höflich und besaß eine gute Ausbildung. Außerdem war er der ideale Schwiegersohn für ihren Vater. Mallory war nicht eigentlich in ihn verliebt, aber das war schon in Ordnung, da er ebenfalls nicht in sie verliebt war. Sie kamen jedoch gut miteinander aus, respektierten einander und verkehrten in denselben gesellschaftlichen Kreisen. Robert beschwerte sich auch nicht, dass sie beruflich sehr eingespannt war. Auch erwartete er nicht von ihr, dass sie nach der Heirat zu Haus blieb, und ebenso wenig, dass sie später einmal Powell Enterprises übernahm. Mallory schien ihm so zu gefallen, wie sie war. Alle würden glücklich über eine Bindung der beiden sein, und dann würde ihr Vater sie ihr Restaurant in Ruhe führen lassen.

Robert zu heiraten, schien die Antwort auf all ihre Fragen zu sein. Und jetzt stand sie vor einem Problem, mit dem sie im Traum nicht gerechnet hätte.

Sie schlenderte an ihrem Restaurant vorbei und warf einen Blick auf das Spiegelbild in der Scheibe. Sie sah nicht schwanger aus. Noch immer wirkte sie schmal, ihre langen Beine wurden noch durch die schwarze Jeans unterstrichen. Ihr Gesicht war blass, aber im Februar waren nur diejenigen Einwohner von San Francisco nicht blass, die in die Sonne Hawaiis flüchten konnten.

Sie ging weiter die Straße hinunter, kam an Boutiquen vorbei, Souvenirläden und einer Kunstgalerie. Eine der weltberühmten Kabelstraßenbahnen San Franciscos ratterte an ihr vorbei, fast leer, da kaum Touristen in der Stadt waren. Am Ende des Häuserblocks erreichte sie eine Kombination aus Buchhandlung und Café. Hierher kam sie regelmäßig, um bei einem Milchkaffee ihre Zeitung zu lesen.

Tische mit kunstvoll arrangierten Büchern befanden sich am Eingang des Geschäfts, und sie musste sich zwischen ihnen ihren Weg suchen, um zu der kleinen, holzgetäfelten Kaffeetheke am Ende zu gelangen.

Sie zog ihren Regenmantel aus, schüttelte ihr Haar und seufzte müde auf. Auf dem Tisch zur Linken befanden sich eine Reihe Bücher, die sich mit der menschlichen Psyche befassten: Liebe dich selbst!, Einhundert Wege, sich etwas Gutes zu tun, Wie heile ich mein Innerstes. Sie musste lächeln und überlegte, ob sie die Bücher auf dem Tisch durchstöbern sollte, bevor sie wieder ging. Vielleicht finde ich eins, das mir beibringt, wie ich trotz meines Dilemmas meine innere Ruhe wiederfinde, dachte sie mit Galgenhumor.

Als sie ein paar Schritte weiterging, fiel ihr ein Buch in einer Buchpyramide auf einem der anderen Tische ins Auge. Der Ungeborene. Unter dem Titel stand der Name des Autors: Liam O’Neill.

Mallory hatte noch niemals etwas von ihm gehört. Sie hätte das Buch nicht einmal bemerkt, wenn sein Titel nicht gerade für sie von Bedeutung gewesen. Es war offensichtlich ein Horrorroman, und sie las niemals solche Romane.

So ging sie weiter, auf die Kaffeetheke zu. Gelächter erklang hinter ihr, und sie fuhr herum. Sie bemerkte ein junges Paar, das sich gerade einen Comic gemeinsam anschaute. Als sie sich wieder zur Theke umdrehte, zuckte sie noch heftiger zusammen.

Von der Rückseite der sorgfältig aufgebauten Buchpyramide, Schicht um Schicht, starrten sie die Fotos des Buchautors von Der Ungeborene an. Sie kannte seine Augen. Sie kannte sein Haar, zu dunkel, um noch blond zu sein, aber zu hell für Braun, zu lang, um modisch zu sein, aber es passte zu ihm. Seine Nase, mit dem leichten Bogen nahe der Wurzel, und sein Kinn, markant, passend zu seiner Nase. Sein Mund, ein Lächeln andeutend, und seine traurigen, stolzen Augen.

Oh Gott! dachte sie. Das ist er. Der Fremde.

Der Vater ihres Babys.

Liam O’Neill rammte die Schneide der Axt tief in den Holzblock. Er hatte bereits mehr Holz geschlagen, als er für den Rest des Winters brauchen würde. Sehr wahrscheinlich reichte es auch noch bis zum Ende dieses Jahrhunderts, aber das spielte keine Rolle.

Viel wichtiger war, dass er schwitzte und seine Lungen pfiffen und er seine Rückenmuskeln deutlich fühlte. Viel wichtiger war, dass er genügend Holz gespalten hatte, um die Dämonen für einen weiteren Tag fernzuhalten.

Er riss ein Halstuch aus seiner Jeanstasche und wischte sich das Gesicht damit ab. Über die Wipfel der windzerzausten Pinien und Redwoods auf seinem Grundstück schob sich weißgrau der Nebel heran. Liam war jetzt heiß, aber wenn er noch länger im Freien blieb, würde er bald zu frieren anfangen.

Er nahm das Flanellhemd von der Schuppentür, zog es über und begann die Holzscheite drinnen aufzustapeln. Was übrigblieb, nahm er auf den Arm und brachte es in den Kasten auf der hinteren Veranda. Dann betrat er die Küche, seine derben Schuhe klangen hohl auf dem rohen Holzfußboden.

Er hatte die Hütte über einem aufgegebenen Steinkeller erbaut. Ein Zimmermann aus dem Dorf hatte ihm geholfen, manchmal mit Hammer und Nägeln, aber in erster Linie mit seinen fachmännischen Ratschlägen.

„Du solltest den Flur ein wenig breiter machen, sonst bekommst du noch Platzangst“, hatte er ihm geraten. „Und schlage die Nägel dichter nebeneinander ein, das Haus wird dadurch stabiler. Dreifachverglasung mag vielleicht übertrieben erscheinen, aber du wirst eine Menge Heizkosten sparen.“

Liam hatte die Mehrausgabe nichts ausgemacht. Ihn interessierte nur die Arbeit. Er hatte arbeiten wollen, ohne Pause. Er hatte verhindern wollen, dass sich die Gedanken in seinem Kopf drehten. Es trieb ihn, körperlich arbeiten, etwas zu schaffen, das Bestand hatte.

Beinahe ein ganzes Jahr hatte er gebraucht, um das Haus fertigzustellen. In den Nächten hatte er mit den Dämonen gerungen.

Für eine selbstgebaute Hütte war sein Heim erstaunlich gut gelungen. Sein nächster Nachbar wohnte rund einen halben Kilometer entfernt an der Straße, und da ein ausgedehntes Waldstück dazwischenlag, brauchte Liam keine Gardinen. Wann immer sich der Küstennebel lichtete, fiel strahlend die Sonne durch die Fenster und wärmte zusammen mit dem Holzofen die Räume. Liam hatte noch nie den Petroleumofen benutzen müssen, den er zur Sicherheit angeschafft hatte.

Er wusch sich die Hände in der Spüle und füllte sich Kaffee in den schweren Steingutbecher. Wenn er ihn getrunken hatte, wollte er den langen, unbefestigten Weg hinunter zum Briefkasten laufen, um die zwei Zeitungen zu holen, die er abonniert hatte. Seit er in die Wildnis des nördlichen Marin County gezogen war, bezog er die Lokalzeitung. Als einen ersten zögernden Versucht der Rückkehr in die reale Welt hatte er vor einem Monat eine Zeitung bestellt, die in San Francisco erschien.

Früher einmal war er versessen auf Neuigkeiten gewesen. Zu seiner Zeit in Berkeley hatte er jeden Artikel gelesen und die Meinung vertreten, Menschen wären interessanter als jede erfundene Geschichte.

Er versuchte, allmählich wieder an diesen Punkt zu gelangen. Fünf Jahre reichten – zumindest waren alle, die er kannte, dieser Meinung. Aber seelische Wunden heilten langsam. Er kam sich vor wie ein Krüppel, der erst von neuem lernen musste, sich vom Boden zu erheben, die ersten Schritte zu machen, das Gleichgewicht zu halten.

Noch immer stolperte er, aber zum ersten Mal konnte er sich vorstellen, wieder zu gehen.

Die Woche in dem Schweigeseminar war der Auslöser gewesen. Liam starrte durchs Küchenfenster hinaus auf das braune Gras vor seiner Hütte. Belebend stieg ihm der Kaffeeduft in die Nase. Vor dieser Woche hatte er den Duft überhaupt nicht wahrgenommen. Fünf lange Jahre war er wie ein lebender Toter herumgelaufen. Und wenn ihm die wenigen Freunde, die er nicht vergrault hatte, nicht geraten hätten, am Schweigeseminar teilzunehmen, wäre es weiterhin dabei geblieben.

Aber aus irgendeinem Grund war er hingegangen. Nicht in seinen wildesten Träumen hätte er sich vorstellen können, eine Woche in einem ehemaligen Aschram in Sonoma zu verbringen, für diese Zeit ein Schweigegelübde abzulegen, sich der Erforschung seiner Seele zu widmen.

Dennoch hatte er es getan, weil nichts anderes geholfen hatte und er der emotionalen Starre müde war. Er konnte nicht sicher sagen, dass ihn der klare Himmel, die gezackten Küstenberge und der kräftige Geruch der Wälder um den Aschram herum gestärkt hatten. Es lag wohl mehr daran, sich nicht ständig die gutgemeinten Ratschläge von Leuten anhören zu müssen, was ihm helfen könnte. Aber was ihm wirklich geholfen hatte, war …

Diese Frau.

Mallory Powell.

Jetzt, zwei Monate danach, musste er immer noch an sie denken. Ständig. Wie besessen. Er erinnerte sich, wie sich die Luft aufzuladen schien, wenn sie den Raum betrat, ihre tänzerische Art, sich zu bewegen, die schlanken Glieder, das mädchenhafte Gesicht. Sie war keine wirkliche Schönheit. Vielleicht fanden manche sie nicht einmal hübsch. Aber sie war aufregend, die Augen grün und grau wie der Pazifik im Dunst, das Haar von der Farbe des Himmels in einer mondlosen Nacht. Sie duftete nach Jasmin. Sie leuchtete von innen heraus, wie eine Perle. Wo auch immer sie sich im Aschram aufhielt, dort wollte auch er sein.

Am letzten Abend war er ihr gefolgt. Er wollte mit ihr reden, aber sie nahm das Schweigegelübde ernst. So hatten sie stattdessen miteinander geschlafen. Keine der Regeln verbot dies.

Er wusste nicht zu sagen, was sie mit ihm gemacht hatte, aber irgendetwas war mit ihm geschehen. Etwas hatte seine Sinne geschärft, ihn zu vollem Bewusstsein zurückgebracht, seine Gefühle wieder freigelegt. Etwas, das ihn bei dem Gedanken an diese wortlose Nacht fast verrückt vor Sehnsucht werden ließ, diese Nacht, in der er nur das Zirpen der Grillen, das Rauschen des Windes und dieses süße, erstickte Keuchen vernahm, wenn ihr Körper sich unter seinem aufbäumte.

Noch vor Sonnenaufgang hatte sie den Aschram verlassen, und an der Rezeption hatte man sich geweigert, ihm ihren Namen oder sonst etwas über sie zu sagen. Er hatte keine Ahnung gehabt, ob er sie jemals wiedersehen würde. Aber noch immer verspürte er die Sehnsucht, dort zu sein, wo sie war.

Und dank eines Fotos, das letzte Woche in der Zeitung aus San Francisco gestanden hatte, würde er sie vielleicht doch noch einmal wiedersehen.

Das Telefon klingelte. Er wandte sich von der Spüle ab und griff nach dem Hörer. „Hallo?“

„Liam? Ich bin es, Hazel. Ich habe dich doch nicht geweckt, oder?“

Hazel war seine Agentin in New York. Sie war ein As in ihrem Fach, und ganz sicher kannte sie die Zeitdifferenz zwischen der West- und der Ostküste.

„Es ist neun Uhr“, sagte er. „Ich bin seit Stunden auf.“

„Ich bringe es immer durcheinander“, tat sie unbedarft. Er lächelte. Es gab nichts, das Hazel durcheinanderbringen konnte. „Was macht das neue Buch?“

„Es geht voran.“ Liam wusste, sie rief nicht an, um sich über den Fortgang seines neuen Buchs zu unterhalten. Er sprach niemals über ein Buch, an dem er arbeitete.

Er nippte an seinem Kaffee und wartete darauf, dass Hazel erklärte, warum sie ihn angerufen hatte.

„Ich habe gerade einen Anruf von Creighton bekommen“, berichtete sie. Chreighton Daggett war Liams Verleger. „Er sagt, Der Ungeborene verkauft sich phänomenal. Sie sind schon dabei, den zweiten Druck in Angriff zu nehmen.“

„Die erste Auflage war zu niedrig“, sagte er.

„Die erste Auflage lag um fünfzigtausend Exemplare höher als dein letztes Buch. Dieses hier fliegt nur so von den Regalen.“

Der Ungeborene war sein dritter Horrorroman. Der erste war eine Abscheulichkeit gewesen, ein Exzess grotesker Emotionen, so schrecklich, dass er ihn niemandem zu zeigen gewagt hatte, außer einem alten Kollegen aus Berkeley. Sein Freund hatte das Manuskript mit nach Haus genommen und zwei Wochen später gestanden, es der Mutter eines früheren Studienfreundes, Hazel Dupree, geschickt zu haben, die zufällig Literaturagentin in New York war.

Damals hatte es Liam nicht interessiert. Ihn hatte nichts interessiert.

Aber er schrieb weiter, denn entweder schrieb er oder er verlor den Verstand. Und das zweite Buch war besser geworden – und das dritte – Der Ungeborene – noch besser.

„Die Sache ist folgende“, rückte Hazel nun mit dem wahren Grund ihres Anrufes heraus. „Creighton sagt, die Verleger würden sich sehr freuen, wenn du wenigstens ein Minimum an Werbung für das Buch machen könntest.“

„Es fliegt doch nur so von den Regalen“, erinnerte er sie. „Wozu also noch Werbung durch mich?“

„Nichts Großes“, versicherte ihm Hazel. „Nur ein paar Zeitungsinterviews vielleicht. Eine Fernsehshow oder …“

„Nein.“

„Liam, überleg es dir noch einmal, okay? Du bist dabei, eine Berühmtheit zu werden.“

„Das interessiert mich einen …“ Er fing sich gerade noch. „Ich gebe nichts darauf, eine Berühmtheit zu werden.“

„Und ich weiß, wie wichtig dir dein Privatleben ist. Aber diesmal geht es um große Dinge, Liam. Der Verleger möchte alles tun, um dein Buch noch besser zu verkaufen. Und dazu bist du unter anderem notwendig.“

„Ich habe das Buch geschrieben. Das sollte genug sein.“

„In der heutigen Zeit ist das leider nicht mehr so. Nur einen einzigen Fernsehauftritt. Bei einem Lokalsender in San Francisco. Denk darüber nach, ja? Und wenn es dich nicht umbringt, vielleicht könntest du dich auch noch zu einem zweiten Fernsehspot in Los Angeles durchringen.“

„Nein.“

„Der Verleger würde alles vorher regeln. Man würde dir keine unangenehmen Fragen stellen. Nur oberflächliches Zeug. Du wirst keine Frage beantworten müssen, die du nicht beantworten willst. Hilf nur dabei, die Verkaufszahlen hochzubringen. San Francisco ist eine freundliche Stadt. Sie werden dich nicht beißen.“

„Nein.“

„Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, was für ein dickschädeliger Bastard du bist?“

Er musste lächeln. Schon eine Menge Leute hatten ihn so bezeichnet. Besonders Jennifer. Wie sehr vermisste er es, so von ihr genannt zu werden …

Und er würde nicht in irgendeiner dieser künstlich fröhlichen Fernsehshows auftreten und sich über sie ausfragen lassen oder über seine Vergangenheit, oder warum er solche traurigen Romane schrieb, die einem einen eisigen Schauer über den Rücken jagten.

„Nein, Hazel. Sag Creighton, meine Antwort ist nein!“

„Er wird nicht gerade glücklich darüber sein.“

„Es ist nicht mein Job, ihn glücklich zu machen. Es ist mein Job, Bücher zu schreiben, die nur so von den Regalen fliegen. Und es ist dein Job, ihm zu sagen, dass ich nein gesagt habe.“

„In Ordnung. Ich sage es ihm. Was ich alles für dich tue …“, murmelte sie und lachte dann. Beide wussten, was Liam von ihr verlangte, war nicht sonderlich viel.

Er verabschiedete sich und legte auf, trank einen Schluck Kaffee und dachte an San Francisco. Er dachte an die Zeitung von der letzten Woche, in der er zufällig das Foto entdeckt hatte. Liam füllte seinen Becher nochmals und verließ die Küche, um in den Raum zu gehen, in dem er seine Bücher schrieb. Es war ein kleiner, schmaler Raum mit einem Schreibtisch, einem Computer, einem Materialschrank. An den Wänden standen Bücherregale mit Büchern, die weitaus besser geschrieben waren als seine eigenen. Auf dem Schreibtisch lag immer noch der Artikel mit dem Foto, den er letzte Woche ausgeschnitten hatte.

Der Artikel befasste sich mit einer Veranstaltung, bei der Spenden für das San Francisco Ballett gesammelt worden waren. Die Schwarzweißfotografie zeigte Männer im Frack und Frauen in Designerkleidern, kunstvoll zu Gruppen arrangiert, die ihr Bestes gaben so zu tun, als würden sie sich amüsieren. Der Verwaltungsleiter einer großen Klinik mit seiner Frau Caterina. Der Präsident einer Universität und seine Frau Suzanne. Der Finanzmakler Niles Madison, mit Frau Pamela und ihrer Tochter Caroline. Mallory Powell, Besitzerin von Mallory’s am Union Square, mit ihrem Verlobten Robert Benedict.

Er stellte den Becher ab, nahm den Ausschnitt und starrte das Bild an, so wie er es jeden Tag getan hatte, seit er es in der Zeitung entdeckt hatte. Es zeigte eine schlanke, elegante Frau mit losen schwarzen Haaren, mit einem eher steifen Lächeln. Sie trug eines dieser schwarzen Kleider, die wie Dessous aussahen, gehalten von schmalen Spaghettiträgern auf den blassen Schultern. Ihre Augen blickten scharf, als würden sie mehr sehen, als sie zugab. Ihre schlanken Finger ruhten auf dem Arm eines Mannes, der wie ein Dressman aussah – Robert Bendedict.

Liam fluchte leise vor sich hin. Er hatte sie auf Anhieb erkannt, als er das Bild sah. Die ganze letzte Woche hatte er es sich immer und immer wieder angeschaut und überlegt, was er tun könnte. Sie war die Frau aus dem Schweigeseminar, die Frau, die ihn gerettet, die mit ihm geschlafen hatte, die ihm außer dem Klang ihrer Stimme in einer wundervollen Nacht nichts verweigert hatte. Die Frau, die am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang fort gewesen war, als hätte sie ihm nicht gegenübertreten mögen. Die Frau, die davongelaufen war, ohne ihm ihren Namen zu nennen.

Mallory Powell. Mallory Powell, Besitzerin von Mallory’s am Union Square – und ihr Verlobter.

Mit dem Artikel in der Hand kehrte er in die Küche zurück, nahm den Hörer ab und wählte Hazels Nummer. Ihre Sekretärin nahm ab, und er verlangte, Hazel zu sprechen. Sein Blick blieb auf dem Foto haften, dem Foto jener Frau, die das Leben in ihm wiedererweckt hatte.

Die Frau und ihr Verlobter.

„Liam?“, erklang Hazels verwunderte Stimme.

„Sag Creighton, ich werde es tun.“

„Was tun?“

„Ich werde nach San Francisco kommen“, sagte Liam. „Sag ihm, ich komme.“

2. KAPITEL

„Okay, Reuben, was haben Sie Schönes?“, fragte Mallory.

Reuben Cortes öffnete die Hecktüren seines Lieferwagens und strahlte sie an. „Ich habe Sachen, die Sie im Februar niemals erwarten würden“, meinte er mit einem Grinsen. Er griff in den Wagen und holte einen kleinen Karton mit frischen Portobellopilzen. „Hier, wie gewünscht.“

Portobellopilze waren eins der wichtigsten Gerichte auf Mallorys Speisekarte. Reuben versorgte sie regelmäßig damit, ebenso wie mit anderen Lebensmitteln, und manchmal überraschte er sie mit Leckerbissen, die es eigentlich zurzeit gar nicht gab, und die sie dann ihren Gästen als etwas Besonderes anbieten konnte. Mallory wusste nie, was sie für den jeweiligen Tag an Zutaten zur Verfügung haben würde. Und dies hielt ihre Kreativität lebendig.

Aber heute fühlte sie sich absolut nicht lebendig. Den größten Teil der Nacht hatte sie wachgelegen. Um sich von ihrem Dilemma abzulenken, hatte sie dummerweise in Der Ungeborene gelesen, dem Roman von Liam O’Neill. Sie hätte es niemals kaufen, niemals lesen sollen. Es war so angsteinflößend, dass sie vermutete, der Autor musste seelisch ziemlich aus dem Gleichgewicht sein.

Und sie trug das Kind dieses Mannes in sich.

Ihr Verstand riet ihr, die Schwangerschaft so schnell wie möglich abbrechen zu lassen. Aber ihr Gefühl, dem sie möglichst nicht viel Aufmerksamkeit zukommen ließ, sagte ihr, dass Liam eine Art Genie sein musste, dem Buch nach – abgesehen davon, dass er der sexuell aufregendste Mann war, den sie je kennengelernt hatte. Und sie wollte sein Baby behalten, gegen jede Logik und gesunden Menschenverstand.

„Und hier habe ich noch Römischen Salat“, brachte sie Reubens Stimme wieder in die Gegenwart zurück. Er drückte ihr einen Karton in die Hände. Mallory reichte ihn an Burt, ihren Küchenchef, weiter.

„Wo ist denn meine Überraschung?“, fragte sie und legte Enthusiasmus in ihre Stimme. Reuben war ihr bester Lieferant, mit einer Spürnase für außergewöhnliche Genüsse. So wollte sie seine Gefühle nicht verletzen, indem sie sich weniger interessiert zeigte als er.

„Geduld, Geduld.“ Er lud Karotten, Petersilie und Schalotten aus. Mallory hakte sie auf ihrer Liste ab. Zwiebeln. Neue Kartoffeln. Paprika aus Mittelamerika. Knoblauch aus San José. Das waren die Gemüse, mit denen sie im Winter normalerweise arbeitete.

Reuben legte eine Pause ein, als hätte er nun nichts mehr. Mallory spielte das Spiel mit so gut sie konnte. „Okay, Reuben, das war es dann wohl für heute.“

„Vergessen Sie dies hier nicht!“ Seine dunklen Augen strahlten sie an. Er griff tiefer in seinen Wagen hinein und holte einen kleinen Holzkasten mit Tomaten heraus. Nicht mit Treibhaustomaten – rosafarbene Kugeln und hart wie Tennisbälle –, sondern rote, sonnengereifte Früchte, so frisch, dass den grünen Stengeln noch der unverwechselbare Duft der Tomatenpflanze entströmte.

„Himmel, wo haben Sie die denn aufgetrieben?“ Der Anblick solch köstlich aussehender Tomaten im Februar riss sie aus ihrer gedämpften Stimmung.

„Fragen Sie nicht. Ich musste meine Schwester verkaufen, um sie zu ergattern.“

„Sie sind ja wahnsinnig! Mehr haben Sie nicht davon?“ Sie schätzte, dass es ungefähr drei Dutzend Tomaten waren.

„Nicht so raffgierig, Verehrteste. Vor Dankbarkeit, dass ich Sie Ihnen besorgt habe, sollten Sie den Boden anbeten, auf dem ich wandele!“

„Sie haben recht. Das sollte ich.“ Sie gab Reuben einen Kuss auf die Wange. „Sie sind wirklich ein Schatz. Ich werde versuchen, Ihre Schwester zurückzukaufen.“

„Den Gefallen brauchen Sie mir nicht zu tun.“ Er grinste verschmitzt und schloss den Rolladen seines Wagens. „Also, dann bis morgen.“

Als sie mit den Tomaten die Küche betrat, starrte Burt sie ehrfürchtig an. „Mein Gott, wen mussten Sie denn dafür umbringen?“

„Niemanden. Reuben hat seine Schwester verkauft“, antwortete Mallory und stellte den Kasten auf den Tresen. Sie lächelte schwach.

„Er hätte auch noch seine Mutter verkaufen sollen“, bemerkte Burt, der die Küche unter sich hatte und Mallory den Rücken freihielt, damit sie jeden Tag aus den angelieferten Lebensmitteln ein einzigartiges Gericht zaubern konnte. „Es sind nicht genügend Tomaten, um etwas Anständiges daraus machen zu können.“

„Ich bin sicher, uns fällt schon etwas ein“, sagte sie.

„Eine Sauce?“

Die beiden Lehrlinge buhten laut. Mallory lachte. Es wäre wirklich eine Sünde, frische Tomaten für eine Sauce zu pürieren.

„Sie haben nicht einmal genug, um sie in Salaten zu nutzen“, meinte Bert.

„Wie wäre es denn, wenn wir sie in Achtel schneiden und damit jedes Entree garnieren?“, schlug sie vor.

„Seht ihr!“, rief Burt den anderen in der Küche zu. „Deswegen heißt dieses Restaurant auch Mallory’s und nicht Burt’s. Sie ist einfach brillant, meine Damen und Herren!“

Normalerweise amüsierte Mallory sich über Burts Neckereien. Aber im Moment fühlte sie sich einfach zu müde, zu ausgelaugt dafür. Und das kräftige Rot der Tomaten stellte auch noch etwas mit ihrem Magen an.

Mallory litt an morgendlicher Übelkeit.

Sie biss die Zähne zusammen und verschwand mit einem weiteren falschen Lächeln blitzschnell aus der Küche. Ein kurzer Flur führte zu ihrem Privatbüro und der Personaltoilette, wohin sie auf direktem Weg eilte. Sie schloss die Tür hinter sich zu.

Die Übelkeit begann abzuebben. Der Schwindel in ihrem Kopf gab sich, und ihre Knie hörten auf zu zittern. Sie lehnte sich gegen das Waschbecken. Sie war kalkweiß im Gesicht, und graue Schatten lagen unter ihren Augen. Das Haar hing seltsam leblos herunter und betonte noch das schmaler gewordene Gesicht. Nahmen Frauen in der Schwangerschaft normalerweise nicht zu? Mallory hatte in den letzten zwei Tagen ein Kilo abgenommen. Kein Wunder bei ihrem Mangel an Appetit.

Wenn der Anblick köstlicher Tomaten Übelkeit bei ihr auslöste, dann musste etwas getan werden. Schnell. Jetzt.

Seufzend füllte sie einen Pappbecher mit kaltem Wasser und trank es in kurzen, kontrollierten Zügen. Als sie sicher war, das Wasser bei sich behalten zu können, holte sie tief Luft und verließ die Toilette. In der Tür zu ihrem Büro stand Robert Benedict.

Autor

Judith Arnold
Judith Arnold fing mit dem Erzählen von Geschichten an, lange bevor sie schreiben konnte. Sie war vier Jahre alt, als ihre Schwester ihr einen Stift in die Hand drückte und ihr das Alphabet beibrachte. Das war der Beginn, und sie schreibt noch immer. Seit 1983 ihre erste Romance veröffentlicht wurde,...
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