Suche nach dem Glück

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Für Tessa wird ein Traum wahr: Der attraktive Milliardär Nick Ramirez, in den sie schon lange heimlich verliebt ist, bittet sie, seine Frau zu werden. Es gibt nur eine Antwort: Ja! Auch wenn Nick nicht von Liebe spricht, sind ihre Gefühle stark genug, um eine glückliche Ehe zu führen. Glaubt sie - bis eine gehässige Bemerkung der intriganten Nadia tiefe Zweifel in Tessa weckt: Angeblich will Nick sie nur heiraten, um eine Bedingung im Testament seines Vaters zu erfüllen …


  • Erscheinungstag 26.09.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774875
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Gabriel DeWilde stürmte in das Büro seines Vaters und schlug die Tür hinter sich zu. „Was, zum Teufel, soll das bedeuten?“ Er warf ihm den Brief des Anwalts auf den Schreibtisch. „Wenn du das für einen Witz hältst … Ich finde es nicht komisch!“

Jeffrey DeWilde schaute weiter aus dem Fenster, offenbar fasziniert vom Anblick der grauen Schieferdächer im Frühlingsregen. „Es ist kein Witz“, sagte er schließlich. „Grace hat mich verlassen.“

Es klang nur gelinde bedauernd, als beschwere er sich lediglich beim Frühstück, dass die Lieblingsmarmelade ausgegangen sei. Gabriel fuhr sich mit der Hand durchs lange, hellbraune Haar und schritt im Zimmer auf und ab. Ihm war, als befände er sich anstatt im vertrauten väterlichen Büro im freien Fall eines fremden Universums.

„Verlassen?“, wiederholte er. Das schlichte Wort war ihm in Verbindung mit seiner Mutter unverständlich. „Sie kann dich doch nicht verlassen haben. Ihr seid schließlich seit zweiunddreißig Jahren verheiratet!“

„Aber sie hat es getan!“ Jeffreys entschiedene Erwiderung hallte durch den stillen, mit Eichenholz getäfelten Raum. „Freitagnacht ist sie in ein Hotel gezogen. Ich weiß nicht, in welches.“

Gabriel versuchte kopfschüttelnd, seinen Realitätssinn zurückzugewinnen. „Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Du und Mutter, ihr schient immer die ideale Ehe zu führen. Keiner von euch hat uns auch nur den kleinsten Hinweis gegeben, dass ihr Probleme habt.“

Jeffrey drehte sich immer noch nicht um. „Einige Dinge sind zu schmerzlich, um sie zu bereden, auch nicht mit den eigenen Kindern. Außerdem hat es vielleicht Hinweise gegeben, wenn du bereit gewesen wärst, auf sie zu achten.“

„Nein, es gab keine. Wir hatten keine Ahnung …“ Gabriel brach ab. Plötzlich erinnerte er sich an einen Sonntagmorgen, letzten Monat. Er war unerwartet nach Kemberly, dem Haus seiner Eltern in Hampshire, gekommen. Seine Mutter war allein gewesen und hatte verweinte Augen gehabt, die sie mit einer Pollenallergie erklärte. Er hatte ihr glauben wollen und nicht weiter nachgeforscht. Rückblickend verwünschte er seine Blindheit. Er ließ den Frust über sich an seinem Vater aus.

„Ihr könnt nicht erwarten, dass eure Kinder Gedanken lesen. Verdammt, Dad, du hättest uns vorwarnen müssen!“

„Was hätte ich sagen sollen? Ich war mir nicht sicher, wie … sich die Situation … klären würde.“

„Du hättest irgendetwas sagen sollen, ehe Mutter wegging und der Familienanwalt uns mitteilt, dass ihr beide euch getrennt habt! Ramsbothams Brief liest sich wie eine Verlautbarung des Buckingham Palace, dass wieder eine königliche Ehe gescheitert sei. Wir sind schließlich eure Kinder und keine Firmenangestellten. Was glaubst du, wie Kate und Megan sich fühlen, wenn sie eine Kopie dieses Briefes erhalten? Sie sind meilenweit weg und können nicht mal eben vorbeikommen und mit dir reden.“

„Tut mir leid“, entschuldigte Jeffrey sich knapp. „Am Ende ging alles sehr rasch. Ich habe gestern Abend noch versucht, dich anzurufen, aber du warst aus, und ich war vielleicht sogar froh darüber. Ich konnte auch Megan in Paris nicht erreichen, aber du weißt, ich war nie gut darin, emotionale Dinge zu erklären. Das war immer Sache deiner Mutter. Sie macht so etwas bedeutend besser als ich. Ich verlasse mich in dieser Hinsicht völlig auf sie …“

Jeffrey stand plötzlich auf, schob die schweren Vorhänge ganz beiseite und dann in ihre ursprüngliche Position zurück. Schließlich setzte er sich wieder mit dem Rücken zu Gabriel und blickte von neuem auf die verregnete Bond Street.

Er räusperte sich, begann zu sprechen, brach ab und begann erneut. „Grace ist nach San Francisco zurückgekehrt. Sie ist gestern Morgen abgereist. Also wird sie inzwischen dort sein und sich eingerichtet haben, wo immer sie zu bleiben gedenkt. Ich bin mir sicher, dass sie bald Kontakt zu dir aufnimmt, Gabriel. Schließlich will sie sich von mir scheiden lassen und nicht von ihren Kindern. Du weißt, wie sehr sie euch alle liebt.“

Scheidung! Grundgütiger Himmel, dachten seine Eltern wirklich an Scheidung und nicht nur an eine vorübergehende Trennung? Je mehr sein Vater erklärte, desto weniger verstand Gabriel. Diese ganze Unterhaltung wäre lächerlich, ja geradezu komisch – wenn sie nicht so traurig wäre.

Gabe wusste, dass seine Eltern einst glücklich miteinander gewesen waren. Kinder spürten so etwas. Sie hatten sich nicht nur gemocht und respektiert, sondern tiefe Liebe füreinander empfunden. All seine Kindheitserinnerungen waren von dieser Gewissheit durchdrungen. Wo war die Liebe geblieben? Wenn Jeffrey und Grace es nicht schafften, ihre Ehe aufrechtzuerhalten, dann fragte Gabe sich, ob es überhaupt ein Paar schaffen konnte.

„Wie kannst du zulassen, dass Mutter sich von dir scheiden lässt? Kannst du nicht dagegen angehen? Sicher könnt ihr eure Probleme irgendwie bereinigen, worin sie auch bestehen mögen. Großer Gott, nach zweiunddreißig Jahren muss es doch noch eine gemeinsame Basis geben. Ihr liebt euch doch!“

Jeffrey blieb stumm und regungslos.

„Dad, sieh mich an, um Himmels willen! Ich möchte verstehen, was passiert ist. Ihr zwei wart doch immer so glücklich.“

„Offenbar nicht glücklich genug, um deine Mutter zu bewegen, hier in England zu bleiben.“

„Aber warum ist sie eigentlich nach San Francisco gereist? Was hat sie dort bloß vor?“

„Ich weiß es nicht. San Francisco ist schließlich ihre Heimatstadt, und Kate lebt dort.“

„Kate wird nur dortbleiben, bis sie ihr Studium abgeschlossen hat. Mutters Heimat ist hier in London, bei dir. Sie hat hier ihre Arbeit, ihre Freunde. Ihr ganzes Leben hat sich hier abgespielt. Warum tut sie dir – uns – nur das an? Wie konnte sie einfach so … abhauen?“

Jeffrey schwang schließlich den Sessel herum und sah seinen Sohn an. Man hätte das schmale, aristokratische Gesicht für ausdruckslos halten können. Gabriel wusste es besser. In den braunen Augen seines Vaters blitzte für gewöhnlich Humor auf, verbunden mit einem wehmütigen Verständnis für die Torheiten der Welt und die, die er selbst beging. Heute war sein Blick kalt und leer, der Mund verkniffen. Was immer auch der Grund für das überraschende plötzliche Zerbrechen der Ehe gewesen war, Gabe fühlte, dass sein Vater es nicht gewollt hatte. Er war erschüttert von Graces plötzlicher Abreise. Jeffrey wirkte vielleicht kühl und gefasst, doch Gabriel vermutete, dass er innerlich aufgewühlt war und sich nur mühsam beherrschte.

„An einer Ehe sind immer zwei Menschen beteiligt“, sagte Jeffrey mit derselben unnatürlichen Ruhe. „Wenn sie zerbricht, kannst du darauf wetten, dass beide Partner dazu beigetragen haben.“

Gabriel fragte sich, ob er die Stimmung seines Vaters vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte. „Willst du mir sagen, dass es eine Entscheidung im gegenseitigen Einverständnis war? Wolltet ihr beide die Ehe beenden?“

„Ich bin sicher nicht schuldlos an allem, was geschehen ist. Aber Tatsache ist, dass deine Mutter offenbar meint, unsere Ehe sei von Anfang an ein Irrtum gewesen.“ Jeffrey holte tief Luft und seufzte: „Im Augenblick möchte sie, glaube ich, so weit wie möglich von mir und London entfernt sein.“

Gabriel entging nicht, dass sein Vater der eigentlichen Frage geschickt ausgewichen war. Zweifellos, weil er ein zu ehrenwerter Mann war, alle Schuld seiner Frau anzulasten. „Wenn sie zweiunddreißig Jahre gebraucht hat, zu erkennen, dass eure Verbindung ein Irrtum war, konnte sie dann nicht noch ein paar Monate länger warten, um zu sehen, ob sich euer Verhältnis wieder einrenkt?“

„Offenbar nicht.“

Gabriel wurde zornig auf seine Mutter. Er war ihr stets in tiefer Zuneigung verbunden gewesen. Er hatte ihre grenzenlose Kreativität bewundert und die Leichtigkeit, mit der sie die Dinge des Alltags bewältigte. Ihre plötzliche Abreise kam ihm wie ein persönlicher Verrat vor. Welche Gründe auch zur Trennung von seinem Vater geführt hatten, sie entschuldigten nicht, dass sie das Land verließ, ohne jemandem ein Wort zu sagen. Warum hatte sie ihn zum Abschied nicht angerufen? Warum hatte sie ihm nicht erklärt, weshalb sie all das verlassen musste, was sie ein Leben lang aufgebaut hatte?

In den letzten drei Jahren hatte Gabriel als einziges der drei DeWilde-Kinder in London gelebt und gearbeitet. Der Respekt für seine Mutter war gewachsen, als er sah, welche Arbeitslast sie auf sich nahm und wie einzigartig und unverzichtbar ihr Beitrag zur DeWilde’s-Organisation war. Durch ihr plötzliches Verschwinden fühlte er sich wie desorientiert. Die verlässlichen Grenzen des täglichen Lebens gerieten ins Wanken, wurden schwammig. Durch das Schweigen seiner Mutter fühlte er sich zurückgestoßen und eigenartig beraubt. Und wenn er sich schon beraubt fühlte, wie musste dann erst seinem Vater zumute sein …?

„Meine Mutter hat Verpflichtungen“, sagte er schroff. „Auch wenn sie sich entschlossen hat, Mann und Familie wegzuwerfen, gibt es ein Geschäft, an das sie denken muss. Sie erinnert sich hoffentlich, dass sie geschäftsführende Vizepräsidentin von DeWilde’s ist.“ Er nahm den Brief des Anwalts und deutete mit dem Finger auf einen der vielen obskuren Sätze. „Was heißt das, um Himmels willen? ‚Diverse finanzielle Angelegenheiten persönlicher und geschäftlicher Natur müssen zwischen Ihren Eltern noch ausgehandelt werden.‘ Erkläre mir das bitte!“

Jeffrey legte die Hände an den Fingerspitzen zusammen und betrachtete sie, als sei er sich nicht ganz sicher, dass sie ihm gehörten. „Grace sagt, dass sie kein Interesse mehr am zukünftigen Erfolg oder Misserfolg von DeWilde’s hat. Der Brief mit ihrer Rücktrittserklärung lag heute Morgen auf meinem Schreibtisch. Sie möchte sowohl die Verbindung zu unseren Geschäften wie zu mir abbrechen.“

Jeffreys Stimme klang unbewegt, doch Gabriel merkte, dass sein gelassen höflicher und scheinbar ruhiger Vater mühsam um die Fassung rang. Er war nicht nur persönlich betroffen von der plötzlichen Flucht seiner Frau, sondern war sich auch der möglicherweise ernsten geschäftlichen Konsequenzen bewusst. Aktienmarktanalytiker mochten vielleicht sein kaufmännisches Talent rühmen und seine Fähigkeit, Kosten zu senken bei gleichzeitiger Beibehaltung des hohen Servicestandards in allen DeWilde’s-Filialen. Doch jeder, der eng genug mit der täglichen Führung der fünf internationalen DeWilde’s-Geschäfte vertraut war, wusste, wie lebenswichtig Graces Beitrag zum Erfolg gewesen war. Sie galt im gesamten Unternehmen als kreativer Wirbelwind, der die stabile Säule aus Jeffreys Geschäftssinn umwehte. Sie hauchte den fakten- und zahlenorientierten Entscheidungen ihres Ehemannes Leben ein und gab ihnen Farbe.

Graces Verkaufsinstinkte waren beiderseits des Atlantiks unübertroffen. Sie hatte einen sechsten Sinn, der ihr Monate vor der Konkurrenz verriet, wie die Hochzeiten aussahen, die Bräute im nächsten Jahr planten. Außerdem schien sie mit einem siebenten Sinn gesegnet zu sein, der ihr exakt vorgab, wie Firmenprodukte anzubieten und zu vermarkten waren, um die Wunschvorstellungen jeder Braut für eine perfekte Hochzeit und glamourhafte Flitterwochen zu erfüllen. Mit tiefer Sorge erkannte Gabriel, dass der Fortgang seiner Mutter nicht nur die Ehe, sondern möglicherweise auch den andauernden Erfolg der DeWilde’s-Kette beenden könnte. Bei den derzeit weltweiten Turbulenzen im Einzelhandel wäre es ein denkbar ungünstiger Augenblick, wenn Aktienmarktanalytiker gerade jetzt den zukünftigen Erfolg des Unternehmens als Branchenführer in Frage stellen müssten.

„Wie willst du das mit der Managementgruppe handhaben?“ Gabriel sah auf seine Uhr. „In vier Stunden öffnet das Geschäft in New York. Aber jemand muss auf der Stelle Ryder Blake in Sydney benachrichtigen. Und wir müssen auch mit Paris sprechen. Oder hat Megan die Sache da drüben im Griff? Und Monaco? Mit wem hast du sonst noch hier in London gesprochen? Wie viele Leute wissen schon, dass Mom fort ist?“

„Niemand.“

Gabriel lag eine Verwünschung auf der Zunge. Die Abreise seiner Mutter musste seinen Vater völlig aus der Bahn geworfen haben. Normalerweise hätte der Weggang eines leitenden Angestellten Jeffrey veranlasst, das ganze Wochenende herumzutelefonieren, damit alle Manager über die Situation auf dem Laufenden waren. Er hätte längst Taktiken und Strategien mit ihnen abgesprochen, damit am Montagmorgen alles wie gewohnt weiterliefe. Gabriel erkannte erst allmählich das ganze Ausmaß des Problems, dem sie sich stellen mussten. Grace zu verlieren war schon schlimm genug, aber DeWilde’s konnte es sich keinesfalls leisten, auch noch auf Jeffreys Beitrag zu verzichten, schon gar nicht, da große Expansions- und Renovierungspläne anstanden.

Er atmete tief durch und fuhr fort: „Falls niemand von Mutters Rücktritt weiß, solltest du sofort eine Versammlung der Geschäftsleitung einberufen. Du musst Moms Aufgaben an andere delegieren. Vier Geschäftsleiter erstatteten ihr direkt Bericht hier in London, außerdem war sie für alle fünf Geschäfte Marketingberaterin.“ Es war lächerlich, seinen Vater an diese grundlegenden Dinge zu erinnern, doch im Moment schien Jeffrey jede Hilfe gebrauchen zu können. „Sollen die Geschäftsleiter vorerst dir Bericht erstatten? Falls nicht, wie willst du die Aufgaben verteilen?“

„Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Wir müssen das doch nicht heute entscheiden, oder? Im Augenblick müssen alle nur wissen, dass Grace das Unternehmen verlassen hat.“

„Dad, entschuldige, aber so einfach ist das nicht, und das weißt du auch.“ Gabriels erster Schreck über die Ereignisse legte sich allmählich, und er kam zu dem Schluss, dass er seinem Vater am ehesten half, indem er dafür sorgte, dass Graces Ausscheiden so wenig negative Auswirkungen wie möglich auf die Geschäfte hatte. „Mutters verrückte Entscheidung beeinträchtigt nicht nur die Familie, sondern auch die Firma. Wenn die Nachricht über ihr Ausscheiden auf dem falschen Weg an die Öffentlichkeit dringt, kann sich das lähmend auf das Unternehmen auswirken, von unserem Aktienkurs ganz zu schweigen. Abgesehen von diesen Problemen müssen wir die interne Ankündigung mit Fingerspitzengefühl machen, oder es gibt eine Menge verunsicherter Angestellter.“

„Grace ist fort“, sagte Jeffrey eisig. „Wie könnten wir diese Tatsache deiner Meinung nach positiv darstellen?“

„Keine Ahnung, aber vielleicht kann jemand aus der Managementgruppe dazu etwas Konstruktives beitragen. Zumindest sollten wir dafür sorgen, dass sich die Neuigkeit nicht gerüchteweise verbreitet. Du musst deine PR-Berater anrufen und so was wie Schadensbegrenzung in die Wege leiten. Sie sollen eine nüchterne Mitteilung über Graces Ausscheiden erarbeiten mit dem sachlichen Hinweis, dass Mitarbeiter bereitständen, um ihre Aufgaben zu übernehmen. Und dann wappne dich vor dem Sturm an Telefonaten, der losbricht, sobald die Pressemitteilung die Finanzmärkte erreicht.“

Nach einer kurzen Pause fügte Gabriel hinzu: „Außerdem musst du entscheiden, wer die internationalen Marketingfunktionen übernehmen soll. Die Londoner Angelegenheiten kann ich erledigen, aber ich habe keine nennenswerte internationale Erfahrung. Adams Fähigkeiten im Marketingbereich sind gut, aber er hat nicht Mutters natürliche …“

„Ich kann es aber nicht!“ Jeffrey stand bleich auf und hielt sich am Schreibtisch fest. „Tut mir leid, Gabe. Ich dachte, ich könnte heute wie immer im Büro arbeiten, aber ich schaffe es nicht. Ich muss eine Weile hier raus. Bitte kümmere dich um alles!“ Er schritt zur Tür hinaus, vorbei am Schreibtisch seiner Sekretärin Monica und ignorierte deren erstaunten Blick und die Bitte, doch einen Augenblick zu warten oder wenigstens einen Schirm mitzunehmen …

„Will er wirklich bei dem Regen nach draußen?“, fragte sie und tippte mit dem Bleistift auf ihre Tastatur, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Hoffentlich hat er nicht vergessen, dass Sir Walter Kenyon in zwanzig Minuten kommt …“

„Hat er vermutlich“, sagte Gabriel. „Es ist vielleicht besser, Sie versuchen, den Termin mit Sir Walter auf nächste Woche zu verschieben.“

Monica tätigte den Anruf, verzog das Gesicht und legte auf. „Tut mir leid, Gabriel, Sir Walter ist bereits vor einer Viertelstunde losgegangen, und man kann ihn nicht mehr erreichen.“

„Verdammt! Wissen Sie, ob sonst noch jemand aus der Firma an dem Treffen teilnehmen sollte?“

Monica blickte auf ihren Tischkalender. „Rupert Finlay.“

„Das ergibt Sinn. Rupert ist unser Hauptbuchhalter und Sir Walter ist Bankier. Dann soll Rupert die Sache allein übernehmen. Er weiß vermutlich, worum es bei dem Treffen gehen sollte. Rufen Sie ihn an und warnen Sie ihn vor, dass er das Ding allein schaukeln muss.“

Gabe wollte gehen, doch Monica rief ihn zurück. Normalerweise das Muster einer umsichtigen, diskreten Chefsekretärin, konnte sie ihre persönliche Besorgnis nicht verhehlen. „Ich hoffe, Sie denken nicht, dass ich mich in Privatangelegenheiten einmische, Gabriel, aber Ihr Vater war in den letzten Wochen sehr verändert. Stimmt etwas nicht?“

Es war demütigend, dass Jeffreys Sekretärin etwas bemerkt hatte, das ihm entgangen war. Er hatte sich die letzten beiden Monate entschieden zu sehr mit seinen Privatangelegenheiten beschäftigt. Während er mit Julia Dutton ausgegangen war und sich zu überzeugen versucht hatte, er habe endlich die ideale Ehefrau gefunden, war unter seinen Augen die Ehe seiner Eltern zerbrochen.

Es hatte keinen Sinn, die Wahrheit vor Monica zu verbergen. „Meine Eltern haben sich getrennt. Grace hat England schon verlassen und ist nach San Francisco zurückgekehrt. Sie hat dort Familie.“ Er sagte das sehr sachlich, als seien Geschwister und etliche Cousins ein ausreichender Grund, einen Ehemann und eine steile Karriere in Englands berühmtestem und erfolgreichstem Warenhaus aufzugeben. „Und natürlich lebt Kate in Stanford und beendet dort ihre Zeit als Assistenzärztin.“

„Ich verstehe nicht.“ Monica errötete vor Bestürzung. „Kommt Grace denn nicht zurück?“

„Nein, im Augenblick plant sie keine Rückkehr.“

„Oh nein! Es tut mir so leid. Ich hätte mir das nie träumen lassen … Armer Jeffrey.“ Sie straffte sich merklich und wappnete sich vor einer unsicheren Zukunft. „Nun, das wird heute ein schwieriger Tag für uns alle werden. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich muss die leitenden Angestellten informieren, dass Grace fort ist. Würden Sie sie benachrichtigen, dass wir uns in einer halben Stunde im Konferenzzimmer treffen?“

Monica blickte auf ihre Schreibtischuhr. „Das wäre um halb zehn. Bis dahin sind alle versammelt. Ich informiere sie sofort und mache ihnen klar, dass die Anwesenheit zwingend ist.“

„Danke.“ Gabe rannte fast in sein Büro zurück. Um acht heute Morgen hatte er noch geglaubt, sein größtes Problem sei es, die Beziehung zu Julia Dutton zu lösen, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Jetzt, eine Stunde später, war das nur noch eine Kleinigkeit, verglichen mit der Trennung seiner Eltern.

Er drückte seine Bürotür auf und überlegte, dass er sich zu Julia vielleicht hingezogen gefühlt hatte, weil sie mit ihrer Ruhe und Häuslichkeit das genaue Gegenteil seiner quirligen, energiegeladenen Mutter war. Aber warum hatte er die Nähe eines ruhigen Menschen gesucht? Hatte er unbewusst die Anspannung seiner Mutter und die wachsende Spannung zwischen den Eltern wahrgenommen?

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und arbeitete emsig daran, die Aufgaben seiner Mutter, zumindest vorläufig, an andere zu delegieren.

Gelinde gesagt, war dies nicht der schönste Montag seines Lebens, und er hoffte inständig, dass der Vorrat an unerfreulichen Überraschungen nun erschöpft war …

2. KAPITEL

Als sie erkannte, dass der Regen nicht nachlassen würde, investierte Lianne Beecham ihr Essensgeld für die Woche in eine Taxifahrt. Schließlich würde sie bald eine erwerbstätige Frau mit einem guten Job und einem regelmäßigen Einkommen sein. Sobald das Gehalt für den ersten Monat auf ihrem Bankkonto lag, wäre sie reich oder zumindest flüssig, was man in den letzten Monaten nicht hatte behaupten können. Für freischaffende Designer war es in London ebenso schwer wie in New York, hatte sie entdeckt, und sie war es herzlich leid, ein hungernder Künstler zu sein.

Nach dem Gewinn des Garnet Award im letzten Dezember hatte sie gehofft, dass Provisionen und ehrliche Arbeit nachfolgen würden. Stattdessen waren ihre Modeschmuckentwürfe in einigen wichtigen Zeitungen gelobt worden. Natürlich freute sie sich darüber, allerdings wäre es ihr lieber gewesen, wenn dem Lob einige Schecks beigelegen hätten. Schließlich musste auch eine angeblich hochtalentierte Designerin wie sie gelegentlich essen und ihren Anteil zur Miete beisteuern. Wenn Julia Dutton, ihre Mitbewohnerin, nicht so eine mitfühlende Freundin gewesen wäre, hätte sie vermutlich nicht lange genug in London bleiben können, einen Job an Land zu ziehen.

Doch ihrem Leben – und erst recht ihrem Konto – standen wunderbare Veränderungen bevor. Lianne zahlte den Taxifahrer und gab ihm ein so großzügiges Trinkgeld, dass er tatsächlich lächelte. Sie nahm ihre Unterlagen aus dem Wagen und blickte ungeachtet des niederprasselnden Regens auf den imposanten Eingang des Brautausstattungsgeschäftes. Ihr Herz schlug schneller, und ihr wurde warm trotz des kühlen Frühlingswindes. Wenn sie daran dachte, dass sie hinter diesen eleganten blauen Türen und Queen-Anne-Fenstern arbeiten würde, hätte sie vor Freude tanzen mögen.

Lianne rannte schließlich zur Tür und trat ein. Sie schob die Kapuze ihres Regenmantels zurück und ließ das Wasser von den Ärmeln in den Metallrost tropfen, der in den Marmorboden eingelassen war. Den Mantel aufknöpfend, trat sie durch die zweite schwere Tür und warf einen kurzen Blick in den Spiegel am Kosmetiktresen im Eingangsbereich. Oje, ihr Haar hatte sich in der feuchten Luft wieder zu Löckchen gekringelt. Zu Ehren ihres neuen Jobs hatte sie es heute Morgen zu einem lockeren Chignon geschlungen. Doch etliche vorwitzige Strähnen rahmten bereits wieder als braune Löckchen ihr Gesicht. Sei’s drum, an ihrem ersten Arbeitstag gab es Wichtigeres zu bedenken als ihre Frisur.

Lianne wollte durch die Verkaufsräume zu den Verwaltungsbüros gehen. Obwohl Grace DeWilde sie bei einem ihrer ersten Treffen ausgiebig herumgeführt hatte, wollte sie die Atmosphäre der Ausstellungsräume schnuppern, um ein Gefühl dafür zu bekommen, mit welchen Kunden sie es hier zu tun hatte und wie deren Wunschvorstellungen aussahen, wenn sie durch die vergoldeten Eingangstüren die edwardianische Pracht des Erdgeschosses betraten. Aus ihrer eigenen kurzen Erfahrung als zukünftige Braut vor fünf Jahren war sich Lianne sicher, dass Bräute mehr als andere Kunden mit ihren Kleidern und Schleiern vor allem Träume einkauften.

Sie blickte sich um und nahm einen feinen Duft nach Lavendel und Sandelholz wahr. Der überwältigende Eindruck von gediegener, traditioneller Eleganz wäre in den meisten Geschäften fehl am Platze gewesen. Doch DeWilde’s hatte bewiesen, dass britische Frauen es sogar an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert genossen, ihre Hochzeit in einer Umgebung zu planen, die Solidität und unaufdringliche Eleganz ausstrahlte. Eine Frau, die in den dreißiger Jahren bei DeWilde’s ihre Brautausstattung gekauft hatte, konnte heute mit ihrer Enkelin wiederkommen und sich auf angenehme Weise bewusst sein, dass sie im selben Geschäft war.

Die Kundinnen von einst kamen tatsächlich zurück und brachten neue Generationen von Bräuten mit. In einer sich ständig wandelnden Welt schien man diese Oase der Tradition zu schätzen.

Lianne verstand jedoch, warum Grace trotz des Erfolges der Firma einige Veränderungen einführen wollte. Im neuen Jahrhundert würde die Zahl der traditionellen Hochzeiten vermutlich abnehmen. Darauf musste man sich einstellen und das Angebot entsprechend ändern. So herrlich die handgearbeiteten Mahagonitresen waren, sie eigneten sich nicht für eine moderne Warenpräsentation. Die Beleuchtung musste dringend auf den neuesten Stand gebracht werden, und der Raum war insgesamt nicht bestmöglich ausgenutzt. Lianne stimmte völlig mit Grace überein, dass das berühmte Erdgeschoss zurückhaltend modernisiert werden sollte, ohne seine Schönheit und den architektonischen Gesamteindruck zu zerstören.

Dennoch, Veränderungen waren nicht leicht durchzusetzen. Lianne lächelte vor sich hin und war froh, dass nicht sie die Kämpfe mit den Erzkonservativen in den höheren Managementrängen austragen musste.

In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg hatte DeWilde’s schrittweise sein Warenangebot vergrößert, bis sie alles anboten, was die Braut für Hochzeit und Flitterwochen brauchte. In den letzten zwanzig Jahren hatten sie ihre Gewinne hauptsächlich mit Hochzeitskleidern, Wäsche und hochmodischer Garderobe für die Flitterwochen gemacht. Gleichgültig, ob man die ersten Tage des Ehelebens an einem tropischen Strand oder auf Eisschollen in Alaska verbrachte, DeWilde’s hatte die benötigte Kleidung. Trotz dieser Hauptausrichtung auf Bekleidung hatte das Geschäft seinen ursprünglichen Ruf als Juwelierladen bewahrt. Generationen junger Frauen hatten Herzklopfen bekommen, wenn ihre Auserwählten das berühmte dunkelblaue Lederkästchen hervorzogen, in dem ein Ring auf blauem Samt steckte und dessen mit pfirsichfarbenem Satin ausgeschlagener Deckel in Goldlettern den Namen DeWilde’s trug.

Heutzutage suchten die Paare den Ring zwar meistens zusammen aus, aber die Tradition des echten Lederkästchens mit Samtauskleidung war geblieben. Es war jener Hauch von Luxus, der DeWilde’s vor seinen Konkurrenten auf einem heiß umkämpften Markt die Führung eingebracht hatte.

Lianne verweilte einen Augenblick vor einer Auslage herrlich gearbeiteter Verlobungs- und Trauringe. Obwohl ihr Interesse mehr im Bereich des Modeschmucks lag, der eher ein Ableger der Modebranche als der Juwelierkunst war, bezog sie ihre Inspirationen häufig von Schmuckstücken der viktorianischen Zeit, besonders von jenen vom Hofe der indischen Maharadschas. Sie entdeckte auch eine Abteilung mit antikem Schmuck für solche Paare, die der Nostalgie den Vorzug gaben. Ein Ring fiel ihr besonders ins Auge. Er hatte ein aufwendiges florales Design mit kleinen Diamanten im Herzen jeder Blüte. Das Gold hatte einen rötlichen Ton, eine intensivere Farbe, als gegenwärtig modern war.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Madam?“

„Nein, danke.“ Lianne lächelte dem förmlich gekleideten Mann hinter dem Tresen freundlich zu. „Ich schaue mich nur um, aber einige dieser alten Verlobungsringe sind so hübsch, dass ich mich frage, ob die Ehe vielleicht doch keine so üble Sache ist. Das florale Muster ist besonders schön.“

Er erwiderte das Lächeln. „Es ist wirklich schön, obwohl die Diamanten kleiner sind, als wir sie gewöhnlich benutzen. Meine Frau sagt immer, dass eine Menge Diamanten nötig sind, um zu kompensieren, dass sie das Bad mit einem Mann teilt.“

„Ich bin mir sicher, sie hat recht. Sie haben eine kluge Frau.“

„Mit vielen Diamanten“, stimmte der Verkäufer mit gespielter Ernsthaftigkeit zu.

Lianne ging lachend davon. Sie bahnte sich einen Weg durch die ersten Kunden des Tages und blieb vor dem Prunkstück und Wahrzeichen des Londoner DeWilde’s-Geschäftes stehen. Auf einem Sockel ausgestellt prangte eine herrliche Tiara aus der berühmten Juwelenkollektion der Familie DeWilde. Geschützt durch ein Oktagon aus kugelsicherem Glas, funkelte die Tiara auf einem Kissen aus mitternachtsblauem Samt. Unter einem kleinen Scheinwerfer – und einem Dutzend elektronischer Sicherungen – schlangen sich opulente Stränge aus Diamanten und Perlen ineinander. Eine Hinweistafel erklärte, dass die Herkunft der Tiara nie eindeutig geklärt worden sei. Angeblich sei sie jedoch von der Kaiserin Eugenie von Frankreich zur Hochzeit mit Louis-Napoleon im Jahre 1853 getragen worden. Die Kaiserin hatte später ihren Gatten um viele Jahre überlebt und war erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in England gestorben. Es war also durchaus glaubwürdig, dass ihre Erben irgendwann aus Geldnot die Tiara verkauft hatten und sie schließlich in die Hände der berühmtesten Juweliersfamilie Englands gelangt war.

Lianne betrachtete das einzigartige Stück eine Weile. Die Verarbeitung war tadellos und die Mischung von Diamanten und Perlen herrlich. Trotzdem war Lianne leicht enttäuscht. Ihr war, als würde dieses wunderbare und unbezahlbare Stück seinem Ruf nicht ganz gerecht.

Lianne wandte sich schließlich ab und blickte auf die Uhr. Viertel vor elf. Zeit, sich nach oben in die Verwaltung zu begeben. Keinesfalls wollte sie an ihrem ersten Tag zu spät kommen. Grace DeWilde hatte vorgeschlagen, sie solle um elf Uhr erscheinen, eine Stunde nach Öffnung des Geschäftes.

„Am Montagmorgen habe ich immer entsetzlich viel zu tun“, hatte Grace mit ihrer rauen Stimme erklärt, die ein interessanter Kontrast zu ihrer eleganten Erscheinung und dem klassisch guten Aussehen darstellte. „Der Mai ist ein hektischer Monat für uns. Im Juni stehen viele Hochzeiten an, und die Bräute sind ständig in Sorge, dass ihre Kleider nicht rechtzeitig fertig werden.

In der Geschäftsleitung werden natürlich bereits die großen Einkaufsentscheidungen für das kommende Jahr getroffen. Für gewöhnlich bin ich schon um halb neun an meinem Schreibtisch, aber lassen Sie mir einige Stunden Zeit, um die übers Wochenende eingegangenen Faxe zu erledigen. Dann stehe ich Ihnen für den Rest des Morgens ganz zur Verfügung!“

„Ich würde Sie gern herumführen und persönlich mit allen bekannt machen“, hatte sie hinzugefügt. „Alle Mitarbeiter haben schon von meinen Renovierungsplänen für das Erdgeschoss und den Brautsalon in der ersten Etage gehört, den ich im Boutiquestil einrichten will. Man wird allgemein begeistert sein, dass ich ein Talent wie Sie als erste hauseigene Designerin eingestellt habe. Nach dem Lunch führe ich Sie zur Personalabteilung, dort wird man sich um den Papierkram kümmern.“

Lianne konnte es kaum erwarten. Sogar das lästige Ausfüllen von Personalpapieren erschien ihr angenehm, erhielt ihr neuer Job doch dadurch Brief und Siegel. In der Damentoilette richtete sie sich vor dem Spiegel kurz das Haar und machte sich auf den Weg zu Grace DeWilde.

Die Lifttüren öffneten sich, und vor ihr lag eine freundliche, in Beige und Moosgrün dekorierte Lobby. Lianne ging auf den langen Empfangstresen zu. Die Sekretärin dahinter lächelte ihr nervös entgegen.

„Hallo, kann ich Ihnen helfen?“

Die junge Frau wirkte verunsichert. Lianne erwiderte das Lächeln freundlich. Vielleicht war die Angestellte ja auch neu auf ihrem Posten. „Ich möchte zu Grace DeWilde. Würden Sie ihr mitteilen, dass ich da bin? Mein Name ist Lianne Beecham.“

Wenn Lianne gesagt hätte: Dies ist ein Überfall! hätte die junge Sekretärin nicht erschrockener reagieren können. „Mrs. … Mrs. DeWilde?“, stammelte sie. „Sie wollen zu Mrs. DeWilde?“

„Ja, richtig.“ Lianne versuchte es mit einem erneuten Lächeln, doch die Empfangssekretärin war zu aufgeregt, es zu erwidern. „Wenn Sie zu beschäftigt sind, zeigen Sie mir doch einfach, in welcher Richtung ihr Büro liegt“, schlug sie vor. „Ich meine mich zu erinnern, dass ich am Ende des Flures nach links gehen muss.“

Die Vorstellung, dass Lianne in Grace DeWildes inneres Heiligtum eindringen könnte, riss die junge Sekretärin aus ihrer Lethargie. „Oh nein! Ich muss zuerst anrufen. Jemand muss Sie … begleiten. Wenn Sie sich also bitte setzen würden, Miss …“

„Beecham“, half Lianne ihr geduldig aus. „Lianne Beecham.“

„Ja, danke, Miss Beecham. Bitte, setzen Sie sich einen Augenblick. Ich teile Mrs. DeWildes Assistentin mit, dass Sie hier sind.“

Bei ihren vorherigen Besuchen hatte Grace DeWilde, dieser menschliche Dynamo, sie persönlich in Empfang genommen. Lianne hatte insgeheim gehofft, Grace werde auch diesmal vor ihr stehen, wenn sich die Lifttür öffnete. Töricht, natürlich. Grace war viel zu beschäftigt, um in der Lobby auf eine relativ unbedeutende neue Angestellte zu warten.

Die Sekretärin schien die richtige Person nicht auftreiben zu können. Lianne wurde ungeduldig. Sie konnte es nicht erwarten, endlich mit ihrer Arbeit zu beginnen. Seit sie sich mit Grace einig geworden war, hatte sie zwölf Stunden täglich gearbeitet. Sie wollte endlich, dass man ihren Ideen zustimmte. Sie wollte wissen, wo ihr Büro war, wer die Boutique entwarf, in der ihre Brautkronen ausgestellt wurden, und wann ihre ersten Entwürfe in Produktion gehen konnten. Neun Tage waren seit ihrem letzten Gespräch mit Grace vergangen, und ihre Geduld ging zu Ende. Trotzdem saß sie sittsam in einem der Sessel, lehnte ihre Mustermappe an den kleinen Tisch und blätterte ein Magazin durch.

Die Empfangssekretärin beendete ihr leises Gespräch, vermutlich mit Grace DeWildes Assistentin, und blickte zu Lianne hinüber. Ihre Verunsicherung wich einer Haltung distanzierter Höflichkeit. „Mrs. DeWildes persönliche Assistentin wird jeden Augenblick bei Ihnen sein, Miss Beecham. Wir entschuldigen uns für die Verzögerung.“

Lianne fand diese Förmlichkeit erstaunlich und beunruhigend. Grace hatte ihr gesagt, dass es in der Firma nach britischen Maßstäben ziemlich zwanglos zugehe. Bei ihrem zweiten Treffen hatte sie bereits darum gebeten, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Die junge Sekretärin hielt sich offenbar an andere Richtlinien. Lianne stand auf und ging nervös hin und her.

Eine hübsche Frau mittleren Alters im grauen Schneiderkostüm erschien am Empfang. „Guten Morgen“, grüßte sie Lianne. Ihr Lächeln war höflich, doch ihre Körpersprache verriet dieselbe sonderbare Wachsamkeit wie die der Sekretärin. „Ich bin Fredda Halston, Mrs. DeWildes Assistentin.“ Ihre Stimme klang rau, und sie musste sich räuspern. Lianne hatte den verrückten Eindruck, sie unterdrücke Tränen. „Tut mir leid, dass wir Sie warten ließen. Mrs. DeWilde hat in ihrem Terminkalender nicht notiert, dass Sie kommen würden.“

„Ist Grace nicht im Büro?“, fragte Lianne. „Ich weiß, sie erwartet mich. Sie hat den Termin selbst festgelegt.“

Freddas Lächeln wirkte zunehmend angestrengt und schwand schließlich ganz. „Hat sie das? Tut mir leid, aber Mrs. DeWilde ist heute nicht erreichbar.“

Seltsam, dachte Lianne und versuchte, den nervösen Druck im Magen zu ignorieren. „Macht nichts! Ich bin da und kann es kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen. Ich kann mich auch heute Nachmittag mit Grace treffen.“

„Arbeit?“, wiederholte Fredda. „An was sollen Sie denn arbeiten?“

„Brautkronen“, erwiderte Lianne und nahm sichtlich ungeduldig ihre Mustermappe auf. „Grace hat mir erklärt, dass sie um diese Jahreszeit viel zu tun hat. Also, wenn Sie mir jetzt bitte mein Büro zeigen, richte ich mich ein, und Grace kann mich später mit allen im Haus bekannt machen. Und vielleicht können Sie mir dann noch den Weg zur Personalabteilung zeigen, damit zwischenzeitlich meine Papiere ausgefertigt werden können, ehe Grace kommt.“

Fredda Halston und die Sekretärin tauschten einen entsetzten Blick. Fredda räusperte sich und sagte: „Miss Beecham, es ist mir sehr peinlich, aber gehe ich recht in der Annahme, dass Sie heute hier bei uns eine Arbeit aufnehmen möchten?“

Bei Lianne schrillten alle Alarmglocken. „Grace DeWilde hat mir vor über einer Woche diesen Job angeboten. Mein Arbeitsvertrag sollte heute unterschriftsbereit im Personalbüro liegen. Ich dachte, Sie als ihre Assistentin wären unterrichtet.“

Fredda Halston errötete leicht. „Tut mir leid. Ich fürchte, da hat es eine Verwechslung gegeben.“

„Soll das heißen, Grace hat ihr Angebot, ich solle als hauseigene Designerin hier arbeiten, zurückgezogen?“

„Hauseigene Designerin?“ Graces Assistentin tat fast, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt. „Ach herrjeh, ich wusste nicht …“ Sie brach ab und fuhr fort: „Miss Beecham, dies ist sicher nicht der richtige Ort, etwas zu besprechen. Warum kommen Sie nicht mit in mein Büro. Da kann ich Ihnen wenigstens einen Kaffee anbieten.“

Eine Tasse Kaffee war nur ein kümmerlicher Ersatz für ein eigenes Büro und eine feste Anstellung. Trotzdem folgte Lianne Fredda Halston. Was war geschehen? Wo steckte Grace DeWilde? Sie hatte einen sehr freundlichen, zuverlässigen Eindruck gemacht. Lianne konnte sich nicht vorstellen, dass Grace ihr leichtfertig einen Job anbot, dann einen Rückzieher machte und es schließlich ihrer Assistentin überließ, mit den daraus folgenden Problemen fertig zu werden. Oder sollte sie Grace so falsch eingeschätzt haben?

Fredda Halston führte sie in ein kleines, freundliches Büro. Ein Computer summte auf dem Tisch, die Regale waren vollgestopft mit Musterbüchern, Katalogen und Fotos von Bräuten, zurückreichend bis in die dreißiger Jahre. Offenbar waren alle von DeWilde’s ausgestattet worden. „Wie mögen Sie Ihren Kaffee, Miss Beecham? Milch und Zucker? Schwarz?“

Autor

Jasmine Cresswell
Geboren in England, pendelt Jasmine Cresswell nun zwischen ihrem Winterdomizilen in Sarasota, Florida, und ihrem Sommersitz in Evergreen, Colorado. Sie schreibt seit 1975 und hat seitdem mehr als fünfzig Romane mit einer Gesamtauflage von neun Millionen Exemplaren veröffentlicht.
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