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Hannah hat ein Problem. Sie kann ihr Millionenerbe nur antreten, wenn sie innerhalb von sechs Monaten schwanger wird! Ist der sexy Weltenbummler Yeager Novak der richtige Kandidat? Dazu muss sie ihn erst von dem größten Abenteuer überzeugen: Liebe und Familie!


  • Erscheinungstag 05.03.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716158
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Weder die klaffenden Risse in Yeager Novaks Hemd und Hose noch der große Blutfleck bereiteten Hannah Robinson Kopfzerbrechen. Er hatte ihr schon Schlimmeres präsentiert. Viel beunruhigender fand sie, dass ihn die sechs Stiche nicht kümmerten, die seine Haut oberhalb seiner seidenen Boxershorts zusammenhielten. Dass er mit seiner Kleidung achtlos umging, war sie gewohnt. Der beste Klient der noblen New Yorker Herrenschneiderei, in der sie angestellt war, verdiente seinen Lebensunterhalt damit, bei haarsträubenden Abenteuern dem Tod von der Schippe zu springen – und für seine Kunden ähnlich gefährliche Aktivitäten zu arrangieren. Nach jeder Reise brachte er seine ramponierte Garderobe zu Hannah, damit sie rettete, was zu retten war, oder er gab ein neues Kleidungsstück in Auftrag.

Gerade kniete sie wieder einmal zu seinen Füßen, ein Maßband in der Hand. Aus dieser Position heraus wirkte er geradezu riesig. Selbst wenn sie neben ihm stand, war er noch ein gutes Stück größer als sie.

„Nie wieder komme ich einem Stier so nahe“, brummte er kopfschüttelnd und schob sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn, während er missmutig die ramponierten Kleidungsstücke auf dem Boden betrachtete.

Es fiel Hannah schwer, sich vom Anblick seiner saphirblauen Augen loszureißen. Verlegen schob sie die Brille, die sie nur zum Nähen benötigte, auf der Nase zurecht. „Das haben Sie vergangenes Jahr nach dem Lauf mit den Stieren in Pamplona auch schon gesagt.“

„Tatsächlich?“

„Es war Ihr erster Besuch bei Cathcart und Quinn. Ihr damaliger Schneider hatte sich geweigert, seine Kreationen zum wiederholten Mal zu reparieren. Sind Sie damals nicht vor einem Stier in eine Taverne geflohen, sodass er nicht mehr Schaden anrichten konnte als ein Hosenbein zu zerfetzen?“

„Jetzt fällt es mir wieder ein! Dort habe ich Jimena kennengelernt. Sie hat mich zum Umkleiden ins Hotel begleitet – und ist für mehrere Stunden geblieben.“ Grinsend schwelgte er in Erinnerungen. „Ich hätte dem Stier ein Dankschreiben schicken sollen.“

Obwohl sie ihn schon seit einem Jahr kannte, hatte Hanna sich noch nicht an die freimütige Art gewöhnt, mit der er über sein Sexleben plauderte. Es war vermutlich ebenso abenteuerlich wie sein Beruf. Manchmal schien er Probleme zu haben, beides auseinanderzuhalten.

„Oder einen Abschiedsbrief an Jimena“, bemerkte sie trocken.

Lachend schüttelte er den Kopf. „Keine Sorge, Jimena ist auf ihre Kosten gekommen.“

Das glaube ich gern, schoss es Hannah durch den Kopf, während sie seinen durchtrainierten Torso bewunderte. Sein athletischer Körper beflügelte gewiss die Fantasie so mancher Frau – nicht nur ihre. Dabei war er von Narben übersät. Gleich neben der frischen Naht befand sich eine gezackte rosafarbene Linie. Den wulstartigen Bogen ein Stück weiter links hatte er einem weiteren tollkühnen Abenteuer zu verdanken. Hannah kannte jede seiner Narben. Sie hatte seinen Körper oft genug ausgemessen, um ihm neue Kleidungsstücke zu schneidern, und er hatte keinerlei Hemmungen, sich zu dem Zweck vor ihr zu entkleiden.

„Meinen Sie, Sie können Hemd und Hose retten?“

„Die Hose wird wieder so gut wie neu, das Hemd ist jedoch ruiniert. Aber keine Sorge, Mr. Novak. Ich nähe Ihnen ein neues aus dem gleichen Stoff, mit demselben Schnitt.“

Missmutig schnaubte er. „Wie oft habe ich Sie gebeten, mich Yeager zu nennen?“

„Genauso oft, wie ich Ihnen erklärt habe, dass die förmliche Anrede bei Cathcart und Quinn zur Firmenpolitik gehört.“ Obendrein verlangten ihre Arbeitgeber von den Angestellten, dass sie bei der Arbeit überaus hässliche Kittel trugen und das Haar streng aus dem Gesicht zurückbanden. „Seit Sie bei uns Stammkunde sind, habe ich mir angewöhnt, von jedem Kleidungsstück, das ich für Sie anfertige, das Schnittmuster aufzubewahren und Stoff für ein zweites Exemplar zurückzulegen.“

„Dafür liebe ich Sie!“

Sein strahlendes Lächeln verschlug ihr den Atem. Ohne Nachzudenken erwiderte sie es. „Ich weiß.“

Yeager gestand ihr ständig seine Liebe, und er meinte es immer ernst. Jedes Kleidungsstück, das sie für ihn nähte, saß wie angegossen. Zudem rettete sie zuverlässig seine Lieblingskleidungsstücke, die so gut wie ruiniert waren. Sie war in der Lage, Blut-, Öl-, Gras- und jede Menge sonstiger Flecken absonderlichster Herkunft daraus zu entfernen. Ausnahmen gab es nur selten.

Hannah erwiderte seine Zuneigung. Sie liebte ihn auf dieselbe Art, wie man Cannelloni liebt, Regenbögen und Sonnenuntergänge – schöne, köstliche, exquisite Dinge eben.

Es bereitete ihr auch keine Gewissensbisse, als sie begann, seinen Körper erneut auszumessen. Zwar kannte sie seine Maße längst auswendig, doch weshalb sich des Vergnügens berauben? Derzeit hatte sie keinen Freund – seit acht Monaten nicht –, und von ihren bisherigen Liebhabern ließ sich ohnehin keiner mit dem abenteuerlustigen Adonis vergleichen.

„Waren Sie jemals in Spanien?“, fragte er gerade.

„Zählt es, dass ich eine Weile in Spanish Harlem gelebt habe?“ Sie kritzelte seine Maße auf ihren Handrücken und schlang das Maßband anschließend um seine Taille.

Er lachte leise. „Sie sollten wirklich einmal hinfahren. Es ist ein großartiges Land und gehört zu meinen fünf Lieblingszielen.“

Hannahs Top Fünf waren Queens, Manhattan, Brooklyn, die Bronx und Staten Island. Mehr von der Welt als diese fünf Stadtteile New Yorks kannte sie nicht. Fünfzehn ihrer ersten achtzehn Lebensjahre hatte sie in staatlicher Obhut verbracht. In dieser Zeit war sie viel herumgereicht worden, ohne dabei jedoch über die Grenzen von New York City hinauszukommen. Derzeit fehlte ihr das nötige Geld zum Reisen. Was nicht für Miete und Lebensunterhalt draufging, diente dazu, die kleine Online-Schneiderei zu finanzieren, die sie von ihrem Apartment in Sunnyside aus betrieb. Reisen würde sie sich erst leisten können, wenn sie in der New Yorker Modeszene Fuß gefasst hatte.

„Welches sind Ihre anderen vier Lieblingsziele?“, fragte sie neugierig.

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Neuseeland, Slowenien, Chile und Island. Wenn Sie mir dieselbe Frage allerdings morgen stellen, fällt die Antwort vermutlich ganz anders aus.“

Hannah notierte das letzte Maß auf ihrem Handrücken, steckte den Kuli wieder an seinen Platz in dem Dutt, den sie zur Arbeit trug, und stand auf. „Fertig. Sie können sich anziehen.“ Wie schade!

„Danke für Ihre Mühe.“ Mit einer Geste deutete er auf die Kleidungsstücke am Boden.

„Gerne. Sie könnten die Ausgaben für Ihre Garderobe deutlich reduzieren, wenn Sie längere Zeit in New York blieben.“

„Mehr als ein paar Wochen am selben Ort ertrage ich nicht, und ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich ein Abenteurer bin.“

Das erwartete Hannah ohnehin nicht von ihm. Sie konnte ihn sich beim besten Willen nicht hinter einem Schreibtisch vorstellen oder an einem Fließband. Das wäre fast, als müsste Superman als Parkwächter arbeiten. „Ich bitte Sie lediglich, vorsichtig zu sein.“

Entgeistert fuhr er zusammen. „So etwas hören abenteuerlustige Menschen wie ich nicht gerne.“

Im Gegensatz zu ihm hatte Hannah Vorsicht zu ihrem obersten Prinzip erhoben. Ängstlich war sie zwar nicht, eine Waise konnte sich Furcht nicht leisten. Niemals würde sie jedoch das ruhige, sichere Leben gefährden, das sie sich in den vergangenen zehn Jahren, seit sie auf eigenen Beinen stand, aufgebaut hatte. Sicherheit, Stabilität und Berechenbarkeit hatte sie in ihrer Jugend nicht erlebt, umso teurer waren sie ihr nun.

„Sie können die Hose und das neue Hemd in einer Woche abholen.“

Yeager schlüpfte in ein graues Leinenhemd, das ebenfalls von Hannah stammte. „Gerade rechtzeitig für meine Reise nach Gansbaai – das liegt in Südafrika“, erklärte er, ehe sie fragen konnte. „Ich gehe zwischen weißen Haien tauchen – in einem Käfig.“

„Natürlich. Da der riesige Stier es nicht geschafft hat, Sie aufzuspießen, geben Sie einem weißen Hai die Chance, Sie in Stücke zu reißen. Das nenne ich konsequent.“

„Anschließend fahre ich mit Freunden nach Nunavut, wo wir Mount Thor besteigen“, fuhr er grinsend fort.

„Ich würde gern Ihren Pass sehen. Er muss so dick sein wie ein Roman.“

„So dick wie Harry Potter und der Orden des Phönix.“

Die Geschichten, die er von seinen Abenteuern zu berichten wusste, waren gewiss ebenso spannend, mutmaßte Hannah. „Viel Vergnügen“, wünschte sie ihm. „Ich bleibe zu Hause und sortiere meine Schnittmuster und Garnrollen.“

„Und da behaupten Sie, ich lebte gefährlich!“ Er griff gerade nach seiner Hose, ebenfalls von ihrer Hand genäht, als es an der Ladentür klingelte.

„Entschuldigen Sie mich bitte. Ihr Abholschein liegt an der Kasse für Sie bereit, sobald Sie fertig sind.“

Kaum war Hannah fort, hatte Yeager sich in Gedanken bereits anderen, wichtigeren Dingen zugewandt. Seine Firma veranstaltete Abenteuerurlaube für anspruchsvolle, reiche Kunden. Die Organisation erforderte manchmal mehrjährige Vorarbeiten. Zahllose Details mussten berücksichtigt werden: Kultur und Politik eines Landes, Sicherheits- und klimatische Aspekte, Bestechungsgelder … Die Liste war endlos. Zudem probierte er sämtliche Angebote vorab persönlich aus, um sicherzustellen, dass kein Risiko für Leib und Leben bestand. Kein allzu großes Risiko.

Als er in den Verkaufsraum trat, füllte Hannah gerade den Abholschein für ihn aus. Einige blonde Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst. Sie schienen ihrem zurückhaltenden Wesen entfliehen zu wollen. Eine so reservierte Person wie Hannah – ihren Nachnamen kannte er nicht – war ihm noch nie begegnet.

Sie blickte auf. Zum wiederholten Mal bewunderte er ihre betörend schönen Augen. Sie waren von einem außergewöhnlichen Farbton zwischen grau und silbern, wie er ihn nie zuvor gesehen hatte. Darüber hinaus war Hannah in keinerlei Hinsicht bemerkenswert. Ihre Figur vermochte er nicht zu erkennen, sie verbarg sie unter dem formlosen Kittel. Make-up trug sie seines Erachtens keines. Sie war hübsch wie das Mädchen von nebenan – sofern man auf diesen Typ stand. Was er nicht tat. Dennoch unterhielt er sich gern mit ihr. Sie war klug, schlagfertig und amüsant. Und wie gut sie ihn aussehen ließ in den Klamotten, die sie ihm nähte! Von Mode verstand er zwar nichts, doch er erkannte Qualitätsarbeit, wenn er sie sah. Und die lieferte Hannah zuverlässig.

„Heute in einer Woche.“ Sie riss den Schein vom Block ab und reichte ihn Yeager.

„Danke. Könnten Sie bis dahin noch ein zweites Hemd anfertigen? Für den Notfall? Es wären hundert Dollar extra für Sie drin.“

Versonnen knabberte sie an ihrer Unterlippe, was überraschend sexy aussah. „Ich darf kein Trinkgeld annehmen.“

„Stellen Sie sich nicht so an! Ich sehe hier weder Leo noch Monty.“

„Mr. Cathcart ist gerade auf Einkaufstour in London, und Mr. Quinn ist beim Lunch.“

„Sie werden also nie davon erfahren.“

Sie seufzte schwer, wohl in dem Bewusstsein, gleich gegen die Vorschriften zu verstoßen. Vermutlich konnte sie das Geld gut gebrauchen.

Wofür wohl?, fragte er sich unwillkürlich.

„Tut mir leid, es geht nicht. Wir sind mit der Arbeit im Hintertreffen. Ich kann Ihnen jedoch eine ausgezeichnete Schneiderin empfehlen, die freiberuflich zu Hause arbeitet.“

Yeager schüttelte den Kopf. „Kommt nicht infrage. Ich vertraue nur Ihnen.“

„Ich garantiere Ihnen, dass Ihnen ihre Arbeit gefallen wird. Ich kenne sie sehr, sehr gut. Man könnte behaupten, wir wären vom selben Schlag – wenn Sie verstehen …“

Erst als sie ihm zuzwinkerte, verstand Yeager. Sie meinte sich selbst.

„Ausgezeichnet!“

„Googeln Sie im Internet nach der Schneiderei Sunnyside, schicken Sie eine E-Mail hin, in der Sie ein Hemd für nächste Woche bestellen, zum selben Preis wie hier, und ich garantiere Ihnen, Sie werden das Gewünschte erhalten.“

Yeager zog umgehend sein Handy aus der Hosentasche und gab den Namen ein. Dass Hannah in Sunnyside wohnte, wunderte ihn nicht. Das Viertel war so etwas wie eine Kleinstadt mitten in New York.

„Da haben wir es.“

„Sie erhalten bestimmt noch heute Abend Antwort auf Ihre Mail.“

„Großartig. Danke.“

„Allerdings müssen Sie das Hemd bei mir … dort abholen. Es wird nicht ausgeliefert, hierher mitbringen kann ich es auch nicht.“

„Kein Problem.“

Er schickte die Mail ab, steckte sein Handy wieder ein, zückte sein Geld, zog fünf der zehn Zwanzigdollarnoten heraus, die er stets mit sich trug, und legte sie auf die Theke.

Hannah machte große Augen, steckte die Scheine jedoch diskret ein. „Sie müssen erst beim Abholen bezahlen.“

„Ich vertraue Ihnen.“

„Danke.“

„Nein, ich habe zu danken. Es ist großartig, doppelten Ersatz für mein Lieblingshemd zu bekommen. Ich werde zwar keinen Hai heranlassen, womöglich lerne ich jedoch eine neue Jimena kennen …“

Hannah nickte zwar, doch er bezweifelte, dass sie sich vorstellen konnte, wovon er sprach. Die zugeknöpfte Schneiderin hatte gewiss noch keinen feurigen Liebhaber gehabt, trotz ihrer schönen Augen und obwohl es wahnsinnig sexy aussah, wenn sie an ihrer Unterlippe knabberte. Vermutlich verabredete sie sich ausschließlich mit biederen, netten Männern. Mit Langweilern!

„Bis nächste Woche“, verabschiedete er sich.

„Einen schönen Tag, Mr. Novak. Und denken Sie dran, nach rechts und links zu sehen, bevor sie die Straße überqueren!“

Eine Woche später, an dem Tag, an dem Yeager das neue Hemd bei ihr abholen sollte, sortierte Hannah im Hinterzimmer von Cathcart und Quinn Stoffreste. Es war kurz vor Feierabend, sie war allein und sollte in wenigen Minuten das Geschäft abschließen. Plötzlich klingelte es, als die Ladentür sich öffnete.

Sie ging nach vorn, wo an der Kasse ein ihr unbekannter Mann wartete. Er trug einen eleganten Maßanzug, wie sie mit geschultem Blick erkannte. Er lächelte routiniert.

„Guten Abend“, grüßte Hannah. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Hannah Robinson?“ Offenbar bemerkte er ihre Verwunderung darüber, dass er ihren Namen kannte, denn er fuhr rasch fort: „Ich bin Gus Fiver, Anwalt in der Kanzlei Tarrant, Fiver und Twigg, Fachanwälte in Erbschaftsangelegenheiten.“

Verblüfft blinzelte Hannah. Sie hatte kein Testament gemacht und wusste auch von niemandem, der sie in seinem als Erbin einsetzen würde. Mit drei Jahren war sie nach dem Tod ihrer Mutter, ihrer einzigen Verwandten, in die Obhut des Staates gekommen. In den zahlreichen Pflegefamilien, in denen sie gelebt hatte, hatte sie zwar keine allzu schlimmen Erfahrungen gemacht, allerdings auch niemanden kennengelernt, der sie in seinem letzten Willen bedenken würde. Wieso und woher kannte ein Nachlassanwalt ihren Namen und wusste, wo sie arbeitete?

„Die bin ich“, bestätigte sie vorsichtig.

Der Mann lächelte erfreut, was ihn gleich viel jünger und freundlicher aussehen ließ.

Hannah entspannte sich ein wenig. „Würden Sie mir verraten, woher Sie mich kennen?“

„Meine Kanzlei sucht Sie bereits seit Anfang des Jahres, einer unserer Klienten hält schon wesentlich länger Ausschau nach Ihnen.“

„Na ja. Schwer zu finden bin ich eigentlich nicht.“

„Sie haben den größten Teil Ihrer Kindheit im Pflegesystem verbracht, nicht wahr?“

Das war nur ihren engsten Freunden bekannt. Überrascht nickte Hannah.

„Damals waren Sie drei Jahre alt, es war nach dem Tor Ihrer Mutter Mary Robinson.“

Hannahs Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Woher wusste der Anwalt so genau Bescheid? „Ja.“

„Haben Sie noch Erinnerungen an die Jahre davor?“

„Worum geht es eigentlich?“

„Bitte haben Sie noch einen Moment Geduld mit mir.“

Hannah war prinzipiell vorsichtig und öffnete sich Menschen erst nach längerer Bekanntschaft. Eine innere Stimme riet ihr jedoch, Gus Fiver zu vertrauen. Bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls. „Ich erinnere mich an wenig. Meine Mutter war Buchhalterin in einer Schweißerei auf Staten Island. Dort haben wir bis zu ihrem Tod gelebt, so hat man es mir jedenfalls erzählt. Danach wurde ihr Besitz verkauft und der Erlös für mich angelegt. Mit achtzehn durfte ich darüber verfügen.“ Es war nicht viel gewesen, hatte ihr jedoch ein entspanntes Ausscheiden aus der Staatsobhut ermöglicht, wofür sie dankbar war.

„Haben Sie die Augenfarbe von Ihrer Mutter geerbt?“, wollte Mr. Fiver wissen. „Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, die Farbe ist außergewöhnlich.“

Kommentare über ihre Augen war Hannah gewohnt, selbst Fremde sprachen sie darauf an. „Meine Mutter hatte blaue Augen.“

„Sie wissen noch, wie sie aussah?“

„Eine der Sozialarbeiterinnen war so freundlich, ein Foto meiner Mutter zu rahmen und mir mitzugeben, ehe ich an die erste Pflegefamilie übergeben wurde. Es ist mir gelungen, es über die Jahre nicht zu verlieren.“

„Haben Sie es zufällig bei sich?“ Mr. Fiver war sichtlich hellhörig geworden.

„Es steckt in meinem Portemonnaie.“ Sobald sie alt genug für einen eigenen Geldbeutel gewesen war, hatte sie das Foto hineingetan, um das einzige Erinnerungsstück an ihre Mutter stets bei sich tragen zu können.

„Darf ich es sehen?“

Sie zögerte. Das ging ihr zu weit. Allerdings drängte es sie zu erfahren, worauf der Anwalt abzielte. Sie holte ihre Handtasche unter der Theke hervor, zog das Bild aus dem Portemonnaie und reichte es ihm.

Es war ein Ausschnitt aus einem Studiofoto und zeigte das Porträt ihrer Mutter. Daneben sah man gerade noch die Schulter einer weiteren Person.

„Und Ihr Vater?“

„Den kenne ich nicht. Auf meiner Geburtsurkunde ist ein Robert Williams als Vater eingetragen. Wissen Sie, wie viele Robert Williams es allein in New York gibt? Er wurde nie gefunden.“

Mr. Fiver gab ihr das Foto zurück. „Meine Kanzlei ist darauf spezialisiert, Erben aufzuspüren, deren Aufenthaltsort oder Identität unbekannt ist. Wir glauben, dass Sie die Alleinerbin eines Mannes sind, dessen Nachlass wir seit seinem Tod vor wenigen Wochen verwalten.“

„Unmöglich! Wenn ich eine Familie hätte, hätte der Staat sie doch schon vor fünfundzwanzig Jahren aufgespürt.“

Der Anwalt zog einen Ordner aus seiner Aktentasche, legte ihn auf die Theke, schlug ihn auf und blätterte darin herum, bis er ein Foto fand, das er Hannah zeigte. Es war das vollständige Bild, dessen Ausschnitt sie ihr Leben lang mit sich herumgetragen hatte. Ein blonder Mann mit silbergrauen Augen saß neben ihrer Mutter, die erstaunlicherweise ein Baby auf dem Schoß hielt, das ebenso blondes Haar und silbergraue Augen hatte wie der Mann.

Verdutzt sah Hannah Mr. Fiver an.

„Auf dem Bild sehen Sie Stephen und Alicia Linden aus Scarsdale, New York“, erklärte er gelassen. „Das Baby ist die Tochter der beiden, Amanda. Nicht lange, nachdem das Foto aufgenommen wurde, verschwanden Mrs. Linden und Amanda spurlos.“

In Hannahs Kopf ging es drunter und drüber. Wie kam Gus Fiver an dieses Foto? War das Baby auf dem Schoß ihrer Mutter etwa sie selbst? Und der Mann, war das ihr Vater? „Wie bitte?“

„Stephen Linden war bei der Arbeit, als Alicia die zehn Monate alte Amanda nahm und ihn verließ, mit nichts als den Kleidern, die sie am Leib trugen.“ Er hielt einen Moment inne, schien sich die nächsten Worte sorgfältig zurechtzulegen. „Stephen Linden war, wie es scheint, ein schwieriger Mann. Er soll seine Frau … misshandelt haben. Alicia hatte Angst um ihr Leben und um das ihrer Tochter. Die Familie ihres Ehemannes war sehr einflussreich. Alicia musste befürchten, dass man sie an der Trennung von ihrem Mann hindern würde. Sie wandte sich an eine Organisation, die misshandelten Frauen zur Flucht verhalf, zu einer neuen Identität und gefälschten Papieren, und die ihnen für den Anfang kleine Geldbeträge zur Verfügung stellte. Alicia und Amanda Linden fingen ein neues Leben an, auf Staten Island, als Mary und Hannah Robinson.“

Hannah hörte, was der Anwalt sagte, verstand aber kein Wort. „Ich … Es tut mir leid, aber das … Sie behaupten, ich wäre nicht die Person, die ich zu sein glaube? Dass ich eine Familie habe, ein anderes Leben hätte führen sollen? Das ist …“

Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke. „Mein Vater? Lebt er noch?“

„Er starb vor fast zwanzig Jahren, tut mir leid. Unser Klient war Ihr Großvater väterlicherseits.“ Er hielt kurz inne. „Chandler Linden.“

Für einen Moment stockte Hannah der Atem. Wie jeder New Yorker kannte sie den Namen Chandler Linden. Seine Vorfahren hatten die Stadt quasi erbaut, zum Zeitpunkt seines Todes hatte er noch weite Teile davon besessen.

„Chandler Linden war Milliardär“, stammelte sie verwirrt.

Mr. Fiver nickte. „Das war er. Vielleicht möchten Sie das Geschäft lieber abschließen, Ms. Robinson? Es gibt viel zu besprechen.“

Autor

Elizabeth Bevarly
<p>Elizabeth Bevarly stammt aus Louisville, Kentucky, und machte dort auch an der Universität 1983 mit summa cum laude ihren Abschluss in Englisch. Obwohl sie niemals etwas anderes als Romanschriftstellerin werden wollte, jobbte sie in Kinos, Restaurants, Boutiquen und Kaufhäusern, bis ihre Karriere als Autorin so richtig in Schwung kam. Sie...
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