Workaholics küsst man nicht

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Clara ist fassungslos: Ihr kleiner Sohn Hank erbt ein Vermögen - denn sein Vater war ein Millionär! Bei einem Familientreffen in New Yorks Park Avenue lernt sie dessen Zwillingsbruder kennen. Grant Dunbarton ist ein Workaholic, aber auch verdammt sexy …


  • Erscheinungstag 05.03.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716127
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Clara Easton tupfte gerade eine letzte Beere aus Zuckerguss auf einen Weihnachts-Cupcake, als die Türglocke ihrer kleinen Konditorei Bread & Buttercream ging. Sie hoffte, es war das letzte Mal an diesem Tag. Nicht, dass sie nicht dankbar für jeden Kunden gewesen wäre, aber jetzt, unmittelbar nach Thanksgiving und knapp einen Monat vor Weihnachten, hatte die Konditorei Hochkonjunktur. Ganz abgesehen davon, dass sie Hank bei seiner Babysitterin abholen musste. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Herrje! In genau einer halben Stunde musste sie dort sein. Wo war der Tag nur geblieben?

Mit etwas Glück war es eine Kundin, die nur noch eine Kleinigkeit für das Wochenende brauchte. So nach dem Motto: Was auch immer Sie noch dahaben – ich nehme es. Aber es war keine Kundin, wie Tilly, die Verkäuferin, Clara hastig erklärte, als sie in die Backstube kam. Ein Mann wollte „Miss Easton“ sprechen. Ein Mann im Anzug. Mit einer Aktentasche.

Das war ziemlich erstaunlich, denn niemand auf Tybee Island an der Atlantikküste Georgias nannte sie je anders als Clara. Und nur wenige ihrer Kunden waren männlich. Schon gar nicht verkehrten hier irgendwelche Anzugtypen. Den Hauptumsatz verdankte die kleine Konditorei Müttern und Bräuten. Unter den Umständen war Clara einigermaßen neugierig. Sie eilte in den Laden, ohne zuerst ihre Schürze abzubinden. In letzter Sekunde schob sie sich ein paar widerspenstige schwarze Locken unter das weiße Tuch, das sie sich in Piratenmanier gebunden hatte, um ihr Haar zu bändigen.

Der Mann hätte mit seinem Aussehen gut zur Surfer-Szene der Insel gepasst, aber er kam eindeutig nicht von hier. Der Anzug war zu perfekt geschnitten, das Haar zu gestylt. Er wirkte völlig fehl am Platz in dem kleinen Café mit seinen weißen schmiedeeisernen Sitzmöbeln und den großen gerahmten Cupcake-Fotos.

„Hi“, begrüßte Clara ihn. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Miss Easton?“ Er sah sie fragend an.

„Clara“, korrigierte sie ihn automatisch. „Miss Easton“ klang nach einer alten Jungfer aus dem neunzehnten Jahrhundert, die eine Pension für junge Mädchen betrieb, die abends um neun Uhr zu Hause sein mussten, um ihren guten Ruf zu wahren.

„Miss Easton“, wiederholte der Mann. „Ich bin August Fiver von der Kanzlei Tarrant, Fiver und Twigg.“

Er reichte ihr eine Visitenkarte mit seinem Namen und einer Adresse in New York City. Er war der Senior der Kanzlei und zuständig für Erbschaftsangelegenheiten. Das alles half Clara nicht weiter. Sie kannte niemanden, der gestorben war. Ihre Familie bestand nur aus ihr und ihrem Sohn, und allen ihren Freunden ging es gut.

„Erbschaftsangelegenheiten?“

Er nickte. „Unsere Kanzlei wird beauftragt, wenn es darum geht, verschollene Erben für Nachlässe zu finden.“

Sie wusste nach wie vor nicht, was das alles mit ihr zu tun haben sollte. Was auch immer ihre Erzeuger ihr hinterlassen haben könnten, war entweder gestohlen oder ergaunert. Sie wollte weder mit diesen Menschen noch mit ihrem Erbe etwas zu tun haben.

Ihre Verwirrung schien offensichtlich. „Es geht um Ihren Sohn Henry“, erklärte August Fiver. „Ich bin hier im Auftrag seiner Großmutter väterlicherseits, Francesca Dunbarton.“ Seine Lippen verzogen sich zum Hauch eines Lächelns. „Die Dunbartons von der Park Avenue.“

Clara vergaß für einen Moment, den Mund zu schließen. Im Sommer vor vier Jahren hatte sie fast einen Monat mit Hanks Vater verbracht. Sie hatte ihn in der Konditorei kennengelernt, als sie hinter dem Tresen arbeitete. Brent war charmant, witzig und sexy gewesen. Er hatte den Blick eines Poeten, die Lippen eines Gottes und einen Körper, der jeder Statue eines römischen Museums zur Ehre gereicht hätte. Er wohnte in einem Zelt, spielte Gitarre und las ihr im Schein eines Feuers etwas vor. Eines Morgens war er einfach verschwunden. Weitergezogen zu irgendeinem neuen Ziel.

Clara war erstaunt, aber nicht am Boden zerstört gewesen. Sie hatte ihn nicht geliebt, und sie hatte Pläne für die Zukunft, in denen er keine Rolle spielte. Sie hatten bewusst keine Nachnamen getauscht, so sicher waren sie sich beide gewesen, dass ihre Beziehung nur auf Zeit war. Ein paar Wochen lang hatten sie ihren Spaß gehabt, aber wie alles Gute war es zu Ende gegangen.

Nicht ganz. Als Clara feststellte, dass sie schwanger war, fühlte sie sich verpflichtet, Brent zu kontaktieren und es ihn wissen zu lassen. Sie hatte immer noch seine Nummer in ihrem Handy gespeichert. Aber weder erhielt sie eine Reaktion auf ihre SMS noch auf die Nachrichten, die sie ihm auf die Mailbox sprach. Irgendwann war die Nummer abgemeldet gewesen.

Es war nicht leicht gewesen, das Kind allein aufzuziehen. Es war immer noch nicht leicht, aber Clara hatte es geschafft. Sie und Hank gegen den Rest der Welt. Und das sollte ihr nur recht sein.

„Ich wusste nicht, dass Brent Geld hatte“, sagte sie. „Er war nicht … Wir waren nicht … Der Sommer war …“ Sie gab den Versuch auf, etwas zu beschreiben, das unbeschreiblich war. „Es überrascht mich, dass er seiner Mutter von Hank erzählt hat. Es tut mir leid, dass Mrs. Dunbarton gestorben ist, ohne ihren Enkel kennengelernt zu haben.“

August Fiver räusperte sich. „Mrs. Dunbarton lebt, und es geht ihr gut. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass der Erblasser Brent Dunbarton ist.“

Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Minuten verschlug es Clara die Sprache. Sie war wie benommen. Wusste nicht, wie sie zu der Nachricht stehen sollte. Es war alles schon so lange her.

„Da Ihr Sohn der alleinige Erbe ist, fällt der gesamte Besitz an ihn. Es ist keine unbeträchtliche Summe.“

Keine unbeträchtliche Summe? Was war darunter zu verstehen?

„Hundertzweiundvierzig Millionen“, sagte August Fiver vorsichtig.

Clara traute ihren Ohren nicht. Da musste sie etwas falsch verstanden haben. Hundertzweiundvierzig Millionen was? Legosteine? Spielfiguren?

„Dollar“, ergänzte Fiver. „Der Besitz von Mr. Dunbarton – also das Erbe Ihres Sohnes – beläuft sich auf hundertzweiundvierzig Millionen Dollar. Die Großmutter Ihres Sohnes freut sich darauf, Sie beide kennenzulernen. Das gilt auch für Brents Zwillingsbruder Grant. Ich habe den Auftrag, Sie und Henry so schnell wie möglich nach New York zu bringen. Können Sie morgen reisefertig sein?“

1. KAPITEL

Clara war noch nie weiter als bis Knoxville, Tennessee, gekommen. Was sie von New York City wusste, hatte sie aus dem Fernsehen oder aus dem Kino. Nichts davon hatte sie auf die Wolkenkratzer vorbereitet und auf den dichten Verkehr in den Straßenschluchten. Eine große Limousine holte sie, Hank und Gus – so sollte sie August Fiver nennen – vom Flughafen ab und brachte sie in die Park Avenue.

Am Ende hatte es vier Tage gedauert, bis sie Tybee Island verlassen konnten. Allein einen Tag brauchte sie, um alles für den Jungen zu packen. Dann hatte sie auch noch einige Aufträge für die Konditorei, die sie nicht einfach liegen lassen konnte – Torten für eine Geburtstagsfeier, für eine Babyparty und für eine Hochzeit. Außerdem musste sie Hank in der Vorschule abmelden und einen Arbeitsplan für das Bread & Buttercream erstellen, damit alles ohne sie weiterlaufen konnte. Glücklicherweise war die Woche nach Thanksgiving noch halbwegs ruhig, bevor dann die hektische Weihnachtszeit losging.

Als sie jetzt aus dem Fenster sah, konnte sie ihren Augen kaum trauen. Die City war einfach … toll. Sie hasste es, einen so nichtssagenden Ausdruck für etwas derart Überwältigendes zu wählen, aber ihr fiel nichts Passenderes ein.

„Mama, das ist toll!“

Clara lächelte ihren Sohn an. „Toll“ war so ungefähr das einzige Adjektiv, das man hörte, wenn man einen Dreijährigen hatte. Vielleicht fiel ihr deswegen kein anderes Wort mehr ein.

Hank saß im Kindersitz zwischen seiner Mutter und Gus auf dem Rücksitz. Er beugte sich vor, um mehr von der vorübergleitenden Stadt zu sehen, die ihn ebenso zu faszinieren schien wie Clara. Er hatte ihre grünen Augen und das schwarze Haar geerbt, aber im Gesicht war er ein Abbild seines Vaters, dem er auch seiner ganzen Veranlagung nach ähnelte: Er war unglaublich neugierig, sehr entspannt und leicht zum Lachen zu bringen.

Clara war froh darüber, dass Hank in dieser Hinsicht anders war als sie. Sie war ein ernstes kleines Mädchen gewesen. Spiel und Spaß hatte es in ihrer Kindheit selten gegeben, und sie hatte früh gelernt, nicht zu viele Fragen zu stellen, weil es die Erwachsenen nervte. So war das Leben eines Mündels des Staates Georgia nun einmal, das von einer Pflegefamilie zum Kinderheim und weiter zur nächsten Familie wanderte. Daher war sie fest entschlossen, ihrem Sohn feste Wurzeln zu geben. Sie konnte nur hoffen, dass dieses Erbe nicht alles durcheinanderbrachte.

Der Wagen hielt vor einem Gebäude, das wohl ein Dutzend Stockwerke haben mochte. Die Fassade war mit goldenen Kränzen für die Weihnachtszeit geschmückt. Mit weißen Lichtern dekorierte Pflanzen säumten den Eingang, an dem ein rot livrierter Empfangsportier sie erwartete. So lebten also Menschen, wenn sie ein Firmenimperium beherrschten, das seit zweihundert Jahren in der Familie war. Gus hatte ihr erzählt, dass die Dunbartons ihre Wurzeln bis nach England zurückverfolgen konnten. Dort waren sie entfernt mit einem Herzog verwandt. Rein theoretisch konnte Hank also Anspruch auf den englischen Thron erheben – vorausgesetzt, die Pest kam und ließ mehrere tausend Menschen sterben, die in der Thronfolge noch vor ihm standen.

Die Lobby des Gebäudes war ebenso beeindruckend wie das Äußere. Alles polierter Marmor und glänzendes Mahagoni, weihnachtlich geschmückt mit Immergrün und roten Samtschleifen. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage. Auch hier im Penthouse war alles mit Weihnachtssternen geschmückt. Clara legte einen Arm um Hanks Schultern und drückte ihn an sich. Gus schien ihre Anspannung zu bemerken. Er lächelte ihr beruhigend zu, während er die Klingel drückte. Clara musterte ihren Sohn ein letztes Mal, um sich zu vergewissern, dass er präsentabel war. Natürlich hatte sich ein Schuhband gelöst.

„Mr. Fiver“, hörte sie jemanden förmlich sagen.

Wahrscheinlich ein Butler, überlegte sie, während sie Hank eine Schleife band. Der Mann klang wie jemand, der gutes Geld dafür erhielt, cool und distanziert zu wirken.

„Mr. Dunbarton“, erwiderte Gus.

Oh. Wohl doch nicht der Butler, sondern Brents Bruder. Sie erinnerte sich nicht mehr genau an Brents Stimme, aber sie war sicher, dass sie nicht annähernd so ernst geklungen hatte.

Clara richtete sich auf, um ihren Gastgeber zu begrüßen, und … ihr stockte der Atem. Hanks Vater schien aus dem Grab wiederauferstanden und wirkte so ernst wie der Tod persönlich.

Oder doch nicht. Bei genauerem Hinsehen sah Clara wenig von Brent in den blauen Augen seines Bruders und dem kurz geschnittenen dunklen Haar. In Brents Augen hatte stets ein Lachen geblitzt, und sein Haar war lang genug gewesen, um im Wind des Ozeans zu fliegen. Die markanten Wangenknochen, das scharfe Kinn und die elegante Nase waren dieselben, aber in seinem Fall nicht vom Salz des Meeres und der Wärme der Sonne poliert. Und die Lippen … Oh, die Lippen. Brents Lippen waren stets zu einem amüsierten Lächeln verzogen gewesen, voll und schön – die Art von Lippen, die Frauen dahinschmelzen ließ. Diese Version hier war zusammengepresst und streng, eindeutig nicht zum Lächeln geneigt. Und wo Brent nichts außer T-Shirts und schlabberigen Shorts getragen hatte, trug sein Bruder eine elegante dunkelgraue Hose, ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und dazu eine schwarze Weste.

Es war also nicht Brent, wiederauferstanden von den Toten. Sondern sein sehr lebendiger Zwillingsbruder. Das Spiegelbild eines Mannes, der für einen Monat im Sommer ihr Leben entspannt und glücklich gemacht hatte. Eines Mannes, der ihr das Geschenk eines Sohnes zurückgelassen hatte, welcher dafür sorgte, dass ihr dieses Glück erhalten blieb.

Das Spiegelbild eines Mannes, der ihm so gar nicht ähnlich war.

Sie war nicht so, wie er erwartet hatte.

Andererseits: Grant Dunbarton wusste selbst nicht, wie er sich die Mutter von Brents Sohn eigentlich vorgestellt hatte. Sein Bruder war völlig wahllos gewesen, was Frauen anbetraf. Und nicht nur bei Frauen – bei allem. Frauen, Autos, Kleidung. Freunde, Familie, Gesellschaft. Versprechen, Verpflichtung, Verantwortung. Was auch immer es war – es dauerte nur so lange, wie Brent sich dafür interessierte. Und das war selten mehr als ein paar Tage. Dann sprang sein Interesse auf anderes über. Er war der typische Peter Pan – der Junge, der nicht erwachsen werden wollte.

In einem Punkt musste Grant sich allerdings korrigieren. Brent war sich treu geblieben, wenn es um seine Frauen ging. Es waren alles richtige Schönheiten, und Clara Easton war keine Ausnahme. Sie hatte pechschwarze Locken sowie volle rote Lippen. Die Augen waren von einem hellen, faszinierenden Grün. Und sie war groß. Bestimmt an die einen Meter achtzig in den Stiefeln mit den hohen Absätzen.

Sie hätte wie eine Amazone wirken können, aber sie hatte einen Arm beschützend um ihren Sohn gelegt – auf eine Art, die verriet, dass sie sich unwohl fühlte. Grant fand das nicht überraschend. Ihre Eltern waren Kriminelle, sie war bei verschiedenen Pflegefamilien und in Heimen aufgewachsen. Es kam wohl eher selten vor, dass eine Frau mit diesem Background entdeckte, dass sie ein Kind von einem Mann aus den angesehensten Kreisen der Staaten hatte, vergleichbar dem englischen Adel.

Die Dunbartons der Park Avenue waren eine Familie, die im selben Atemzug genannt wurde mit den Hancocks, den Astors, den Vanderbilts und den Rockefellers. Grant bewunderte sie für ihren Versuch, selbstsicher zu wirken.

Und dann war da der Junge. Er würde ein Problem sein. Abgesehen von seinem Haar und der Augenfarbe – beides unverkennbar ein Erbe seiner Mutter – war er ein absolutes Spiegelbild seines Vaters, wie er in dem Alter gewesen war. Grant konnte nur hoffen, dass seine Mutter keinen Zusammenbruch hatte, wenn sie Henry Easton sah. Sie war am Boden zerstört gewesen, als sie die Nachricht vom Tode ihres Sohnes bekam – er war im Frühling an der Küste Sri Lankas ertrunken. Erst im vergangenen Monat hatte sie sich dazu aufraffen können, seine Sachen durchzugehen. Dabei war sie auf sein Testament gestoßen, von dessen Existenz niemand etwas geahnt hatte. Die Nachricht, dass er einen Sohn hatte, hatte sie erneut zusammenbrechen lassen.

Dieses Mal wurde die Trauer jedoch bald von Freude verdrängt. Es gab noch ein Andenken an Brent. In Georgia. Grant hatte befürchtet, dass sie einen Vaterschaftstest brauchen würden, um sicher sein zu können, dass seine Mutter sich keiner falschen Hoffnung hingab, aber die unverkennbare Ähnlichkeit des Jungen mit Brent – und damit auch mit Grant – machte ihn überflüssig.

„Ms. Easton.“ Er legte so viel Wärme wie möglich in seinen Ton, auch wenn Wärme nicht eben seine Stärke war. Brent hatte bei der Verteilung der Gene im Mutterleib alles abbekommen, was für Freundlichkeit und Umgänglichkeit sprach. Das war Grant nur recht, denn damit blieben ihm die Gene der Tüchtigkeit. Die brachten einen Menschen im Leben wesentlich weiter. „Es ist schön, Sie endlich kennenzulernen. Und dich auch“, setzte er, an Henry gewandt, hinzu.

„Ganz meinerseits, Mr. Dunbarton.“ Clara hatte eine tiefe, raue Stimme, die so bezaubernd war wie der Rest von ihr.

Sie hatte einen leichten südlichen Dialekteinschlag. Grant hätte erwartet, das unangenehm zu empfinden, aber stattdessen fand er es irgendwie … sexy.

Sie gab ihrem Sohn einen leichten Stoß. „Sag Hallo zu Mr. Dunbarton.“

„Hallo, Mr. Dunbarton“, wiederholte der Junge gehorsam.

Grant bemühte sich um ein Lächeln. „Du brauchst mich nicht ‚Mr. Dunbarton‘ zu nennen. Ich bin …“

Er wollte Onkel Grant sagen, aber er brachte es nicht über die Lippen. Onkel waren leutselige, entspannte Wesen, die schreckliche Witze erzählten und Münzen hinter den Ohren hervorzauberten. Onkel trugen karierte Pullover und brachten ein Six-Pack Bier mit zum Thanksgiving-Essen. Onkel brachten ihren Neffen die Dinge bei, die sie von ihren Vätern nicht lernten – zum Beispiel, wo man am besten seine Playboy – Hefte versteckte. Nein, Grant war für die Rolle des Onkels nicht geeignet.

„Sag einfach Grant zu mir“, schloss er, um mit Blick auf Clara hinzuzusetzen: „Du auch. Wir sind ja jetzt Familie.“

„Danke … Grant.“ Ihr Unbehagen war spürbar. Die Art, wie sie seinen Namen sagte – mit diesem südlichen Akzent – war einfach heiß.

Sie sah ihren Sohn an. Aber Henry schwieg und schaute Grant nur mit den faszinierend grünen Augen seiner Mutter an.

„Kommt herein“, bat Grant alle drei.

August Fiver folgte seiner Einladung, aber Clara zögerte. Sie war sich eindeutig nicht sicher, was für einen Empfang sie zu erwarten hatte. Ihr Arm lag immer noch um die Schultern ihres Sohnes.

„Bitte.“ Grant versuchte es noch einmal. Er machte eine einladende Handbewegung. „Willkommen in New York!“

Clara schien immer noch nicht sicher, aber der unerschrockene Henry trat einen Schritt vor, ohne den Blick dabei von Grant zu lassen. Dann machte er einen zweiten, schon größeren Schritt. Dann einen dritten, mit dem er sich aus dem Griff seiner Mutter löste. Für einen Moment wirkte es so, als wolle sie ihn zurückhalten. Sie blieb stehen, wo sie stand.

„Meine Mutter freut sich darauf, euch kennenzulernen.“ Grant hoffte, dass die Erwähnung einer anderen Frau Clara entspannen ließ, aber das Gegenteil trat ein: Sie wirkte wie in Panik.

„Ist alles in Ordnung, Ms. Easton?“

Henry war Fiver inzwischen durch die Tür gefolgt. Alle drei sahen Clara erwartungsvoll an. Für einen Moment fürchtete Grant, sie könne sich ihren Sohn schnappen und die Flucht ergreifen, aber dann erwachte sie endlich aus ihrer Erstarrung und kam herein. Wieder war Grant beeindruckt von ihrem Versuch, selbstsicherer zu wirken, als sie war.

Es war wirklich merkwürdig, aber irgendwie hatte er das Gefühl, Clara Easton beschützen zu müssen. Wieso? Nach allem, was er erfahren hatte, war sie sehr wohl in der Lage, allein auf sich achtzugeben. Abgesehen davon kannte er sie ja kaum. Und er würde sie nach dieser ersten Begegnung auch nicht sehr viel besser kennenlernen.

Natürlich würden sich ihre Wege in Zukunft gelegentlich kreuzen, da seine Mutter den kleinen Henry bestimmt so oft wie möglich sehen wollte. Das schloss Clara natürlich mit ein. Aber Grant hatte weder Zeit noch Lust, Onkel Grant zu spielen – auch ohne den Titel des Onkels. Er und Brent mochten sich in ihrem Äußeren sehr ähnlich gewesen sein, aber in allem anderen waren sie doch sehr verschieden voneinander. Brent war immer der charmante, fröhliche Zwilling gewesen, während Grant eher nüchtern und zurückhaltend war. Brent schloss spontan Freundschaften, während Grants wenige Freunde ihn kaum wirklich kannten. Für Brent war das Leben eine einzige große Party gewesen, während es für Grant Arbeit war. Brent liebte die Welt. Grant …

Clara Easton ging an ihm vorbei. Ein Hauch von etwas Würzigem und Süßem streifte ihn. Er erkannte Zimt. Und Ingwer. Sie duftete nach Weihnachten. Nach dem Weihnachten seiner Kindheit. Das war die Zeit gewesen, bevor sein Vater starb. Die Zeit, als die Dunbartons noch glücklich gewesen waren. Heute unterschied sich der Weihnachtstag von allen anderen nur dadurch, dass er arbeitsfrei war.

Wow! Er hatte schon lange nicht mehr an das alte Weihnachten gedacht. Erinnerungen an diese Zeit schmerzten. Sie ließen ihn an einen Zustand denken, den er nie wieder erreichen würde. Damals war er einfach nur glücklich gewesen und die Zukunft voller Verheißungen …

Verheißungen, die nie eingetreten waren. Er erinnerte sich nur sehr ungern daran. Aus irgendeinem Grund hatte er heute nichts gegen Clara Easton und den Zimt-Ingwer-Duft, den sie mitbrachte, einzuwenden. Unwillkürlich wünschte er, wie sein Bruder zu sein: charmant und fröhlich. Ein Mensch, für den das Leben eine Party war und der jeden Menschen liebte.

Ein Mann, der Clara Easton keine Angst machte.

Während Clara Grant Dunbarton in das Innere des Penthouses folgte, sagte sie sich selbst, dass es absurd war, sich eingeschüchtert zu fühlen. Es war einfach nur ein Apartment. Ein großes, elegantes Apartment an einer der teuersten Straßen der Welt. Gefüllt mit Kunstgegenständen und Antiquitäten, deren Wert wahrscheinlich das jährliche Bruttoinlandseinkommen mancher kleiner Staaten überstieg.

Unwillkürlich verglich sie es mit ihrer Wohnung über der Konditorei. Ihre Möbel waren auch alt, aber nicht halb so wertvoll, und ihre Originalkunstwerke stammten aus der Hand eines Dreijährigen. Wenn man dann noch das Chaos dazurechnete, das von besagtem Dreijährigen ausging, der überall sein Spielzeug verstreute, war klar, wer die schönere Wohnung hatte. Sie konnte nur hoffen, dass Hank das nicht auch bemerkte. Nicht sehr wahrscheinlich, so wie er sich hier mit offenem Mund und großen Augen umsah.

„Seit wann lebt ihr schon hier?“, fragte sie Grant – weniger, weil es sie interessierte, sondern weil sie den Drang verspürte, das Schweigen irgendwie zu durchbrechen.

Grant verlangsamte den Schritt, bis sie neben ihm stand. Es war irgendwie absurd. Wenn sie nach oben schaute, sah sie sein Gesicht. Wenn sie nach unten schaute, sah sie es ebenfalls. Es war unglaublich, wie sehr er Brent ähnelte. Und auch unglaublich, welche Gefühle er in ihr auslöste. Gefühle, die hier nichts verloren hatten.

„Brent und ich sind hier aufgewachsen“, sagte er. „Die Wohnung ist schon seit drei Generationen im Besitz der Familie.“

„Wow!“ Clara war beeindruckt. „Ich bin in Macon aufgewachsen, aber seit dem College-Abschluss lebe ich auf Tybee Island.“

„Ich weiß.“ Er nickte. „Du hast die Carson High School mit einer fast perfekten Durchschnittsnote abgeschlossen und hast dann nach drei Jahren am College of Coastal Georgia deinen Abschluss in Business Administration gemacht. Nicht schlecht. Vor allem, wenn man bedenkt, dass du die ganze Zeit drei Jobs gleichzeitig gehabt hast.“

Clara sagte sich, sie sollte eigentlich nicht überrascht sein. Familien wie die Dunbartons öffneten sich nicht einfach so. „Wie ich sehe, hast du Erkundigungen eingezogen.“

Er nickte. „Ich bin sicher, das kannst du verstehen.“

Das konnte sie tatsächlich. Man tat alles, um seine Familie zu beschützen. Hätte August Fiver ihr nicht schon jede Menge Informationen über die Dunbartons geliefert, hätte sie auch zuerst einmal Informationen eingeholt, bevor sie sie mit ihrem Sohn zusammengebracht hätte.

Grant führte sie in einen kleineren Raum, der ganz in hellen Tönen gehalten war und dominiert wurde von dick gepolsterten Stühlen, einem verschnörkelten Tisch und Gemälden herrlicher Landschaften. Ein sehr femininer Raum.

Wie auf ein Stichwort hin trat in diesem Moment eine Frau ein. Das musste Grants Mutter sein. Francesca. Sie schien Mitte fünfzig zu sein und hatte kurzes, dunkles Haar, in dem sich die ersten Silberfäden zeigten. Ihre Augen waren so blau wie die ihrer Söhne. Sie war fast so groß wie Clara, aber schlanker. Sie trug fließende Haremshosen und eine Tunika in gedämpften Farben. An jedem Ohrläppchen blitzte ein kleiner Diamant, und Silberreifen schmückten ihre Handgelenke. Sie schenkte Clara ein warmes Lächeln, bevor ihr Blick auf Hank fiel. Spontan füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Doch dann glitt ein Lächeln über ihre Züge, und sie ging mit ausgebreiteten Armen auf den Kleinen zu. Hank wich zurück und drückte sich so vehement gegen Clara, dass sie ins Stolpern geriet. Grant stützte sie spontan, indem er die Hände auf ihre Schultern legte. Für einen Moment gaukelte der Verstand ihr vor, es sei Brent, der sie hielt, und sie war kurz davor, sich umzudrehen und ihm dankbar einen Kuss auf die Lippen zu hauchen.

Falls das Unterbewusstsein sie auch weiterhin so täuschte, konnte es eine sehr lange, anstrengende Woche werden.

„Danke.“ Sie konnte nur hoffen, dass er ihr nicht anmerkte, wie sehr sie das alles berührte.

Als er sie nicht gleich losließ, drehte sie sich herum und sah ihn fragend an. Er ließ eine Hand herabsinken, nicht aber die zweite. Einen Moment lang sahen sie sich einfach nur an. Clara war überwältigt von seiner Ähnlichkeit mit Brent, und davon, welche unerwünschten Reaktionen diese Tatsache in ihrem Körper auslöste. Plötzlich lächelte Grant. Brents Lächeln.

„Ich weiß gar nicht, wo ich den Kopf habe“, bemerkte er. „Ich hätte dir gleich den Mantel abnehmen sollen.“

Automatisch begann Clara, ihren Mantel aufzuknöpfen. Plötzlich hielt sie inne. Es fühlte sich nicht so an, als öffne sie den Mantel für einen Mann, der höflich darum gebeten hatte. Es war, als lege sie gleich alles ab, um Brent zu lieben.

Autor

Elizabeth Bevarly
<p>Elizabeth Bevarly stammt aus Louisville, Kentucky, und machte dort auch an der Universität 1983 mit summa cum laude ihren Abschluss in Englisch. Obwohl sie niemals etwas anderes als Romanschriftstellerin werden wollte, jobbte sie in Kinos, Restaurants, Boutiquen und Kaufhäusern, bis ihre Karriere als Autorin so richtig in Schwung kam. Sie...
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