Bei jedem Kuss von dir

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Ein skrupelloser Herzensbrecher soll Saul Crighton sein. Tullah ist entschlossen, seinem leidenschaftlichen Werben zu widerstehen. Leichter gesagt als getan: Denn sie arbeitet nicht nur für den charmanten Unternehmer, sondern begehrt ihn wie keinen Mann je zuvor ...


  • Erscheinungstag 15.12.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769642
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Joss war gerade auf dem Heimweg von einem Besuch bei seiner Großtante Ruth, als er die Frau erblickte. Sie stand auf dem alten Dorffriedhof und las interessiert eine der verwitterten Inschriften. Eine Fülle von glänzenden, blonden Locken verhüllte ihr Gesicht. Als ein kleiner Zweig unter seinen Füßen knackte, blickte sie auf, und er starrte sie mit unverhohlener Bewunderung an.

Sie war groß. Viel größer als er. Mindestens einen Meter achtzig, schätzte er.

„Und noch ein paar Zentimeter mehr“, verkündete sie belustigt, als ihr bewusst wurde, dass er ihre Größe einzuschätzen versuchte. „Viel zu groß für eine Frau.“

„Ich finde dich nicht zu groß“, entgegnete Joss galant. Er straffte mannhaft die kindlich schmalen Schultern und blickte ihr in die Augen.

Ihre Augen waren bestimmt von dem dunkelsten Blau, das es überhaupt gab. Nie zuvor hatte er solche Augen gesehen. Nie zuvor hatte er eine Frau wie sie gesehen.

Sie musterte ihn ernst, bevor sie den Mund zu einem bezaubernden Lächeln verzog. „Das ist sehr nett von dir, aber ich weiß, was du wirklich denkst … dass es für eine so große Frau wie mich schwer ist, einen Mann zu finden, zu dem ich aufblicken kann. Tja, nun, da hast du völlig recht, und falls du zufällig einen kennst …“

„Ich kenne sogar mehr als einen“, warf er hastig ein. Schon wollte er sie beschützen. Schon hatte er entschieden, dass niemand sie kritisieren oder anders als makellos betrachten durfte, nicht einmal sie selbst.

Sie zögerte. Sie wollte ihn nicht verletzen, doch gleichzeitig fürchtete sie, dass jegliche Bekanntschaft sie von dem Zweck ihres Aufenthaltes ablenken könnte. Als relativ unbekanntes Städtchen wurde Haslewich im Gegensatz zu Chester zwar nicht in offiziellen Reiseführern erwähnt, aber sie war trotzdem entschlossen, es zu besichtigen. Bisher hatte sie weder die Burg noch das Salzbergwerk gesehen, das kürzlich als Touristenattraktion eröffnet worden war, geschweige denn die übrigen historischen Bauten der Stadt. Eigentlich hatte sie bisher nur den Friedhof besichtigt.

„Ich habe zwei Cousins“, erklärte Joss. „Na ja, eigentlich sind sie keine richtigen Cousins. Sie sind Cousins zweiten oder vielleicht sogar dritten Grades. Tante Ruth weiß es bestimmt. Jedenfalls ist James einsneunzig, und Luke ist sogar noch größer. Und dann sind da noch Alistair und Niall und Kit und Saul, aber der ist schon ziemlich alt …“

„Du meine Güte! Ich bin sehr beeindruckt“, unterbrach sie ihn sanft.

„Ich kann sie dir ja vorstellen“, bot Joss eifrig an. „Das heißt, wenn du noch ein bisschen hier bleibst …?“

„Nun ja, das hängt davon ab … Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Bobby. Das ist die Kurzform für Roberta“, teilte sie ihm mit, während sie sich widerstrebend eingestand, dass sie eigentlich gar keine Zeit für derartige Bekanntschaften hatte. Doch er war so reizend und bestimmt nicht älter als elf. In zehn oder fünfzehn Jahren würde er einen überwältigenden Charme entwickelt haben. Zerstreut fragte sie sich, wie seine Cousins wohl sein mochten.

„Bobby … Das gefällt mir“, versicherte er.

Sie verbarg ein Lächeln über seine eifrige Miene, die ihr verriet, dass er auf jeden anderen Namen ebenso begeistert reagiert hätte.

„Ich bin Joss“, fügte er hinzu. „Joss Crighton.“

Joss Crighton. Nun, das änderte die Situation völlig. Sie senkte die Lider, um das abrupt gesteigerte Interesse in ihren Augen zu verbergen. „Nun dann, Joss Crighton, ich schlage vor, dass wir uns eine Gaststätte suchen und uns ein bisschen besser kennen lernen. Und du kannst mir mehr über deine Cousins erzählen. Sind sie auch Crightons?“, fragte sie nebenhin.

„Ja, aber … na ja, das ist eine lange Geschichte.“

„Ich kann es kaum erwarten, sie zu hören. Lange Geschichten mag ich am liebsten“, versicherte sie ihm feierlich.

Als sie sich in Bewegung setzten und er sich bemühte, mit ihrem langbeinigen, graziösen Gang Schritt zu halten, konnte er nicht umhin, ihr verstohlen bewundernde Seitenblicke zu schenken.

Sie trug einen kamelhaarfarbenen Mantel über einer cremefarbenen Hose und einer Bluse in demselben Farbton. Das üppige, blonde Haar fiel ihr in dichten Locken über die Schultern. Voller Stolz blickte er um sich, als er sie über den Marktplatz und dann in eine der hübschen, schmalen Straßen geleitete.

„Du meine Güte! Ist das wirklich echt?“, fragte sie, als sie an einer Reihe von Fachwerkhäusern vorbeikamen, die sich gegenseitig stützten.

„Ja. Sie wurden zur Zeit von Elizabeth I. gebaut“, erläuterte Joss wichtigtuerisch. „Das Gerüst ist aus Holzbalken gemacht, und die Zwischenräume sind mit Flechtwerk ausgefüllt“, erläuterte er eifrig.

„Aha. Das ist ja interessant“, murmelte Bobby und verschwieg, dass sie britische Geschichte studiert hatte, bevor sie ihre Talente auf eine modernere und finanziell einträglichere Branche gerichtet hatte.

„Wir haben hier eigentlich kein richtiges Restaurant“, teilte Joss ihr mit. „Aber es gibt ein … ein Lokal gleich um die Ecke.“

Bobby verbarg ihre Belustigung. Bestimmt wollte er sie zu McDonald’s führen. Doch kurz darauf stellte sie fest, dass sie sich geirrt hatte. Sie zögerte, als er ihre Aufmerksamkeit auf eine sehr gepflegt wirkende Weinstube lenkte. Nachdenklich blickte sie zu dem Schild über der Tür, welches darauf hinwies, dass kein Alkohol an Personen unter achtzehn Jahren ausgeschenkt wurde. Dann musterte sie sein eindeutig minderjähriges Gesicht. Sie wollte seine Würde nicht verletzen, aber ebenso wenig das Risiko eingehen, hinausgeworfen zu werden, weil er sich nicht in Begleitung eines Erziehungsberechtigten befand.

„Ich darf da rein, wenn ich keinen Alkohol trinke. Ich kenne die Besitzer“, erklärte er, während er die Tür für sie öffnete. Gleichzeitig rechnete er insgeheim nach, was er von seinem restlichen Taschengeld erstehen konnte und hoffte, dass ihm Minnie Kredit gewähren würde.

Minnies Bruder Guy betrieb zusammen mit Joss’ Mutter ein Antiquitätengeschäft. Sie erkannte ihn sofort, als er die Weinstube betrat, und zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als sie seine Begleiterin erblickte. „Ja, Joss, was kann ich für dich tun?“

„Ich … wir möchten beide etwas zu trinken und zu essen“, teilte er ihr entschieden mit, fügte dann aber etwas unsicher hinzu: „Kann ich gleich mal kurz mit dir sprechen?“

Minnie Cooke durchschaute die Situation sofort und lächelte. „Sucht euch doch einen Tisch. Ich schicke gleich jemanden zu euch wegen der Bestellung.“ Dann, als Bobby zu einem Tisch ging, flüsterte sie Joss zu: „Über die Rechnung können wir später reden.“

Wer immer diese Amerikanerin in Joss’ Begleitung auch sein mag, dachte Minnie, sie ist eine auffallend schöne Frau. Vermutlich handelte es sich um einen Gast der Familie und eine entfernte Verwandte. Olivia, Joss’ Cousine, war nämlich mit einem Amerikaner verheiratet.

„Jade, bediene bitte Tisch vier“, trug sie einer ihrer vielen Nichten auf.

„Ich nehme ein Soda mit Zitrone und Eis“, verkündete Bobby, als die Kellnerin die Bestellung aufnahm. „Zu essen möchte ich nichts.“

Joss strahlte sie über den Tisch hinweg an. „Ich nehme dasselbe.“

„Also, und jetzt zu deinen Cousins“, hakte sie nach, sobald die Getränke serviert waren. Sie stützte einen Ellbogen auf den Tisch, lehnte das Kinn in die Hand und lächelte ihn an.

Er war offenbar völlig fasziniert. Schuldbewusst nagte Bobby an der Unterlippe. Joss war noch so jung und verletzlich, und sie hätte die Bekanntschaft mit ihm nicht ausnutzen sollen. Doch sie war mit einem bestimmten Ziel nach Haslewich gekommen, und sie durfte sich nicht davon abbringen lassen.

Entschieden verdrängte sie ihre unliebsamen Gedanken und scherzte: „Wenn deine Cousins so groß sind, dann sind sie bestimmt Sportskanonen.“

„Nein“, entgegnete Joss ernsthaft.

Er vermochte den Blick nicht von ihr zu lösen. Noch nie hatte er jemanden wie sie gesehen. Bestimmt gab es sonst niemanden wie sie. Sie war einzigartig, wundervoll, vollkommen und ganz anders als seine Schwestern oder die anderen Mädchen, die er kannte. Natürlich war sie um einiges älter. Um wie viel, vermochte er nicht zu schätzen, aber bestimmt war sie schon über zwanzig.

„Luke und James sind beide Anwälte“, teilte er ihr mit.

„Mir wäre es lieber, wenn sie Sportskanonen wären“, gestand sie ein und rümpfte die Nase.

„Na ja, das sind sie irgendwie auch“, versicherte Joss. „James hat Rugby in der Schulmannschaft gespielt, und Luke auch, und er war außerdem ein Oxford Blue. Das ist eine Rudermannschaft.“

Bobby verbarg ein Lächeln. „Und du bist sicher, dass sie wirklich so groß sind, wie du gesagt hast?“, hakte sie mit gespieltem Ernst nach.

Joss nickte eifrig.

„Und sie sind wirklich deine Cousins?“

„Dritten Grades, glaube ich.“

„Dritten Grades. Aha. Du solltest mir lieber erklären, was das bedeutet“, hakte Bobby nach.

„Ich weiß nicht genau, was es bedeutet. Aber am Anfang war da Urgroßvater Josiah. Er ist mit seiner Frau aus Chester gekommen und hat hier in Haslewich eine neue Kanzlei eröffnet, weil er in Chester Streit mit seinem Vater und seinen Brüdern hatte. Deswegen sind die Crightons hier in Haslewich getrennt von den Crightons in Chester, aber wir sind trotzdem verwandt. Luke und James und ihre Schwestern Alison und Rachel und auch Alistair und Niall und Kit gehören alle zum Chester-Zweig. Lukes Vater Henry und sein Bruder Laurence sind auch Anwälte. Jedenfalls waren sie das. Jetzt sind sie beide im Ruhestand. Luke ist ein Queen’s Council, das heißt Kronanwalt. Gramps will, dass Max es auch wird, aber ich glaube nicht …“

„Moment mal.“ Bobby lachte. „Wer sind Gramps und Max?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist alles viel zu verwirrend für mich.“

„Das wäre es nicht, wenn du sie kennen lernen würdest“, versicherte er ihr.

„Sie kennen lernen?“ Bobbys tiefblaue Augen weiteten sich vor Neugier. „Na ja, das wäre vielleicht eine gute Idee, aber …“

„Wir … meine Schwestern geben dieses Wochenende eine Party zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Sie sind nämlich Zwillinge“, verkündete er eifrig. „Sie findet im Grosvenor statt. Das ist ein Hotel in Chester. Du kannst ja kommen und sie alle kennen lernen.“

Bobby runzelte die Stirn. „Tja, Joss, das ist zwar sehr nett von dir, aber ich glaube nicht …“

„Du kannst ja als meine Freundin kommen. Ich darf Freunde mitbringen.“

Sie bezweifelte, dass seine Eltern bei Erteilung dieser Erlaubnis an eine sechsundzwanzig Jahre alte Frau gedacht hatten, die sie nicht kannten. Doch Joss blickte sie erwartungsvoll an, mit einer Mischung aus Flehen und Hoffnung in den Augen, und sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu enttäuschen.

Sie gab vor, seinen Vorschlag abzuwägen. „Und du meinst, ich würde dort deine großen Cousins kennen lernen?“

Er nickte.

„Und glaubst du auch, dass er mich mögen würde, dieser Luke? Das ist doch der größere von den beiden, oder?“

„Na ja, er …“ Joss errötete und wandte den Blick ab.

„Was ist? Mag er keine Blondinen?“

„Oh, doch“, versicherte Joss hastig.

„Aha. Er mag Blondinen, aber keine großen Blondinen, stimmt’s? Er mag nur winzige Frauen, die zu der Größe seines Gehirns passen. Der Ärmste! Er kann wohl nichts dafür, dass er einen so schlechten Geschmack hat. Dann werde ich mich wohl auf James konzentrieren müssen, oder?“ Sie lächelte. „Schon gut. Wenn man so groß ist wie ich, lernt man, nicht wählerisch zu sein.“

„James ist sehr nett“, versicherte Joss.

„Aber Luke ist die Nummer eins, stimmt’s?“

Joss zögerte einen Moment, bevor er erklärte: „James ist irgendwie lässiger. Luke merkt immer alles, selbst wenn man glaubt, dass es nicht so ist, und dann …“

„Lässt er es dich wissen, stimmt’s?“, vermutete Bobby. „Ich nehme an, er ist ein dominierender Typ, der immer das Sagen haben will.“ Sie runzelte die zierliche Nase, und ein leicht zynisches Lächeln spielte um ihre Lippen. „Ich glaube, von den beiden würde ich immer James vorziehen.“

„Nein, das würdest du nicht. Die Mädchen mögen Luke“, erklärte er und fügte hinzu: „Olivia, das ist meine richtige Cousine, und sie ist mit einem Amerikaner verheiratet. Jedenfalls sagt sie, dass Luke ein ganz toller Hecht ist und dass es bei seiner Ausstrahlung kein Wunder ist, dass er sich die Frauen aussuchen kann. Aber wenn du mit mir zu der Geburtstagsparty kommst, kannst du beide kennen lernen“, verkündete er dann.

Bobby zögerte. Ihre angeborene Güte und Aufrichtigkeit kämpften gegen die Entschlossenheit, die sie Tausende von Meilen hierher geführt hatte. Eigentlich war es unfair, Joss zu benutzen, der so selbstlos und unschuldig war, und möglicherweise eine sehr verzwickte Situation hervorzurufen. Doch seine Einladung bot ihr auf einmal ganz unverhoffte Möglichkeiten. Es war wie ein sehr großzügiges Geschenk des Schicksals, das sie nicht ignorieren konnte.

„Du kommst doch, oder?“, drängte er.

„Na ja, ich würde gern, aber bist du sicher, dass deine Eltern …“

„Mum hat gesagt, dass ich jemanden mitbringen darf, und es gibt ein Büfett und deshalb genug zu essen und …“

Joss plapperte aufgeregt weiter, während Bobby aufmerksam lauschte und dabei ein Lächeln verbarg. Er war wirklich noch sehr kindlich.

„Und diese Party findet in einem Hotel in Chester statt?“

„Ja, im Grosvenor. So gegen acht Uhr. Und es gefällt dir bestimmt“, versicherte Joss.

„Gut. Ich weiß, wo das ist.“ Sie sah keinen Grund, ihm zu verraten, dass sie in eben diesem Hotel abgestiegen war, auch wenn die kleine Täuschung ihrem Naturell widersprach und Gewissensbisse auslöste.

Beide hatten ihre Gläser geleert. Joss suchte verstohlen in seinen Taschen. Mit etwas Glück hatte er gerade genug Geld bei sich, um die Getränke zu bezahlen.

„Bis Samstag also“, sagte Bobby, als sie sich vor der Weinstube verabschiedeten.

„Bis Samstag.“ Besorgt hakte er nach: „Du kommst doch wirklich, oder?“

„Darauf kannst du wetten“, versprach sie.

Nachdenklich spazierte Bobby zurück zu ihrem Leihwagen. Das Schicksal schien ihr hold zu sein. Sie beschleunigte den Schritt, während sie zur Uhr blickte und ausrechnete, wie spät es wohl zu Hause war. Sie hatte noch einen Anruf zu tätigen.

„James, hast du einen Moment Zeit für mich?“

James blickte von seinem Schreibtisch auf und sah seinen älteren Bruder das Büro betreten. In der Begleitung jedes anderen hätte er die verstohlene Aufmerksamkeit und Bewunderung der Frauen erregt, die ihn erblickten. Er war gut ein Meter achtzig groß und besaß den athletischen, breitschultrigen Körper eines Rugby-Spielers. Dichtes braunes Haar, das ihm in die Stirn fiel, und ein warmherziges Lächeln unterstrichen sein jungenhaftes gutes Aussehen. Er wirkte jünger als seine zweiunddreißig Jahre. Er war der Typ Mann, von dem die Frauen instinktiv ahnten, dass er gut zu Tieren, Kindern und alten Damen war, und unausweichlich wollten sie ihn bemuttern.

Keine Frau, die bei Verstand und unter vierzig war – und einige derjenigen, die älter waren – verspürte hingegen den geringsten Drang, Luke zu bemuttern.

„Warum kommt mir wohl als Erstes, wenn ich an Luke denke, das Wort Lust in den Sinn?“, hatte Olivia sich einmal bei James erkundigt.

Er hatte nur den Kopf geschüttelt.

Luke maß über einen Meter neunzig, besaß ungewöhnlich breite Schultern und das klassische Profil der Crightons mit der ausgeprägten Nase und dem markanten Kinn, welches James irgendwie vorenthalten geblieben war. Dazu gesellten sich dunkelbraune, fast schwarze Haare und rauchgraue Augen. Somit übte er auf Frauen eine Wirkung aus, die nur mit dem Verzehr von unverhofft starkem Alkohol zu vergleichen war. Zuerst kam der Schock über die unerwartet starke Wirkung auf das Nervensystem, gefolgt von einer Mischung aus Schwindelgefühl und Hochstimmung, gepaart mit einer gefährlichen Abnahme des logischen Denkens und der Selbstbeherrschung.

Und der Jammer daran war, dass Luke seine Wirkung auf das weibliche Geschlecht genau wie die betroffenen Frauen verächtlich abtat, anstatt sich daran zu freuen.

„Ich möchte mit dir über den Fall Marshall reden, bevor ich nach Brüssel fahre“, verkündete er.

„Du hast doch nicht vergessen, dass wir dieses Wochenende die Feier im Grosvenor haben, oder?“, hakte James nach.

Luke schüttelte den Kopf und hockte sich auf die Schreibtischkante. Beide waren qualifizierte Anwälte und arbeiteten in denselben Amtszimmern wie zuvor ihr Vater und Onkel. Doch Luke war höher gestellt und im vergangenen Jahr als einer der Jüngsten im Lande zum Kronanwalt ernannt worden. Sein Vater hatte keine Zeit verloren, mit dieser Tatsache gegenüber seinem Cousin Ben Crighton aus Haslewich zu prahlen.

Henry und Ben waren eine Generation entfernt von dem ursprünglichen Streit, der die Familie Crighton gespalten hatte. Trotzdem setzten sie die Rivalität innerhalb der Familie fort, die ihre Väter begonnen hatten – sehr zu Lukes Missbehagen.

Er hatte sich um Wichtigeres zu kümmern, als seinen Cousin Max zu übertreffen. Außerdem verspürte er keinerlei Drang, den Konkurrenzkampf fortzuführen,

„Nein, das habe ich nicht vergessen“, erwiderte er, „obwohl ich nicht gerade sagen kann, dass ich mich darauf freue.“

„Tja, nun … es wird bestimmt nicht langweilig“, bemerkte James. „Max kommt mit seiner Frau aus London.“

„Hm.“

„Er ist in jeder Hinsicht recht erfolgreich“, fuhr James fort. „Allerdings hat er sich auch eine gute Ausgangsposition verschafft. Es wäre schwer, bessere Amtsräume zu finden …“

„Er hat sie sich verschafft?“, unterbrach Luke trocken. „Ich dachte, er hätte seinen plötzlichen Aufstieg in die höheren Ränge und die angesehenste Kanzlei von London eher seinem Schwiegervater zu verdanken.“

„Du hast ihn nie richtig gemocht, oder?“

„Nein, allerdings nicht“, gestand Luke ein. „Es fällt mir schwer, ihn mir als Jons Sohn vorzustellen. Wenn David sein Vater wäre …“

„Das ist eine seltsame Sache, stimmt’s?“, warf James ein. „Dass David nach seinem Herzanfall einfach verschwunden ist.“

„Ich wage zu behaupten, dass er seine Gründe hatte.“ Luke hatte gewisse Gerüchte gehört, die allerdings nie bestätigt worden waren. Doch er vermutete, dass Jon trotz der mühsamen, ausgiebigen Suche nach seinem Zwillingsbruder beinahe erleichtert war, ihn nicht gefunden zu haben.

Luke hielt Jon für den besseren Menschen, auch wenn deren Vater stets eine deutliche Vorliebe für David zeigte. Und nun wurden Jons und Jennys Töchter achtzehn.

Es erweckte in ihm das Gefühl, alt zu sein. Er war praktisch doppelt so alt. Wie seine Großtante Alice ihm bei ihrer letzten Begegnung streitsüchtig mitgeteilt hatte, näherte er sich einem Alter, in dem er Gefahr lief, nicht mehr als begehrenswerter Junggeselle, sondern als unangenehmer Menschenfeind betrachtet zu werden.

Er wusste, dass er allgemein als reserviert und geringschätzig galt, dass er in dem Ruf stand, zu arrogant, zu selbstsicher und zu abweisend gegenüber den Frauen zu sein, die ihm nachstellten, dass er unfähig war, sich zu verlieben.

Doch dem war nicht so. Er hatte sich einmal verliebt, und zwar sehr heftig. Doch die Frau war mit einem anderen die Ehe eingegangen, was sie angeblich bitter bereute. Das hatte sie ihm anvertraut, als sie ihn vor kurzem aufgesucht und mit Tränen in den Augen gebeten hatte, ihr einen guten Scheidungsanwalt zu besorgen.

„Hast du dir auch gut überlegt, was du damit aufgibst?“, hatte er gefragt.

„Natürlich habe ich das. Glaubst du etwa, dass sein Reichtum, sein Titel mir irgendetwas bedeutet, wenn ich so unglücklich bin?“

„Du hast ihn schließlich geheiratet“ entgegnete er.

„Ja. Mit achtzehn habe ich geglaubt, ihn zu lieben. Mit achtzehn kann man sich alles einreden. Er war so …“

„So reich.“

Sie warf ihm einen verletzten Blick zu. „Ich habe nicht nachgedacht. Er hat mir den Kopf verdreht. Du hättest mich nicht gehen lassen sollen, Luke.“

„Wenn ich mich recht erinnere, blieb mir kaum eine andere Wahl. Du hast mir gesagt, dass du ihn liebst und mich nicht.“

„Das war gelogen. Ich habe dich geliebt, sehr sogar, aber …“

„Aber ihn hast du mehr geliebt“, warf er zynisch ein.

„Ja“, gestand sie ihm unter Tränen. „Zumindest habe ich es damals geglaubt. Bitte, hilf mir. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.“

„Geh zu diesem Mann hier. Er ist ein erstklassiger Scheidungsanwalt.“ Luke hatte einen Namen und eine Adresse auf einen Zettel gekritzelt und ihn ihr gereicht, ohne sie anzublicken.

Das lag nun sechs Wochen zurück. Er hatte seitdem nichts von ihr gehört, aber er dachte unablässig an sie, erinnerte sich an damals …

Sie war achtzehn und ganz Frau gewesen. Sie hatte ihn geneckt, gereizt, verführt. Es war seine erste Erfahrung mit der Intensität emotioneller und körperlicher Liebe. Und auch seine letzte. Nie wieder wollte er einer Frau gestatten, ihm anzutun, was er ihretwegen erlitten hatte. Der Kummer, die Selbstverachtung, die intensiven Gefühle, die zur Verletzung seines Stolzes und zur Demütigung geführt hatten, als sie ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. Keine Frau war es wert, dass er so etwas noch einmal durchmachte.

Er hatte den Ausdruck in Fenellas Augen gesehen und erraten, was in ihr vorging. Ihr Mann stellte trotz seines Titels und seines Reichtums, oder vielleicht gerade deshalb, nicht den Mann dar, den eine Frau sich zum Liebhaber wünschte. Er war übergewichtig, langweilig, von sich selbst eingenommen, ein Traditionalist, der offen aussprach, dass eine Frau seiner Meinung nach ins Haus gehörte. Außerdem ging er inzwischen auf die Fünfzig zu.

Es ist wohl nicht verwunderlich, dachte Luke zynisch, dass Fenella ihm eine großzügige Abfindung und die Chance vorzieht, sich einen reizvolleren Mann zu suchen. Doch dieser Mann war ganz gewiss nicht er.

„Es ist ein perfekter Zugang zu der Familie, Sam“, sagte Bobby in den Hörer. Sie hatte den Anruf bei ihrer Zwillingsschwester bewusst auf einen Zeitpunkt verlegt, zu dem niemand sonst in der Nähe war und sie belauschen konnte. „Ich konnte es kaum glauben, als er sich mir als Joss Crighton vorgestellt hat.“

„Und wie alt ist das Kind?“, wollte Samantha wissen.

„Ich weiß nicht genau. Zehn oder vielleicht elf, schätze ich. Er ist sehr niedlich, mit großen, braunen Augen und dichten, dunklen Haaren.“

„Klingt großartig.“

Bobby lachte. „Oh ja, das ist er.“

Autor

Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
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