Die Verlockung des dunklen Rächers

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London, 1740: Zwei Jahre hat er seine Braut nicht gesehen, nun ist sie plötzlich zurück! Aus reinem Ehrgefühl hatte Godric St. John die verzweifelte Lady Margaret geheiratet, um sie vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren. Doch sofort nach der Hochzeit floh sie auf seinen Landsitz. Was führt die schöne Adelige jetzt wieder nach Saint House? Will sie ihm nach all der Zeit tatsächlich eine Ehefrau sein? So heiß seine Sehnsucht nach Margarets Küssen auch brennt: Er darf sie nicht zu nah an sich heranlassen! Denn inzwischen führt Godric ein finsteres Doppelleben, von dem weder seine Gattin noch der Rest von London je etwas erfahren darf …


  • Erscheinungstag 24.08.2018
  • Bandnummer 106
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779832
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine liebe Älteste, Emma.

Ich bin so stolz auf dich.

DANKSAGUNG

Wieder einmal bin ich all jenen Menschen zu Dank verpflichtet, die dafür gesorgt haben, dass Sie dieses Buch in Händen halten: meiner wunderbaren Agentin Susannah Taylor, meiner unglaublich geduldigen Lektorin Amy Pierpont und meiner großartigen Korrektorin Carrie Andrews (für alle Fehler – vor allem solche, die Augenfarben betreffen – bin ich selbst verantwortlich). Außerdem zu erwähnen: Amys Assistentin (und selbst Lektorin!) Lauren Plude ist immer auf dem Laufenden; Diane Luger hat ein fantastisches Cover gestaltet, und die PR-Profis Nick Small und Joan Schulhafer sorgen durch ihren unermüdlichen Einsatz dafür, dass meine Bücher auch tatsächlich gelesen werden.

Ich danke euch allen.

1. KAPITEL

Hast du schon einmal vom Wilden Jäger gehört?

Aus: Die Legende vom Wilden Jäger

London, England, März 1740

In der Nacht, in der Godric St. John seine Frau zum ersten Mal seit ihrer Heirat vor zwei Jahren sah, zielte sie mit einer Pistole auf seinen Kopf. Lady Margaret stand auf der schmutzigen St. Giles Street neben ihrer Kutsche; ihre glänzenden, schwarzen Locken flossen aus der Samtkapuze ihres Umhangs. Ihre Schultern waren gerade; sie hielt die Pistole mit beide Händen fest und ihre hübschen Augen glänzten mörderisch. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt Godric bewundernd den Atem an.

Im nächsten Augenblick drückte Lady Margaret den Abzug.

BUMM!

Der Knall war ohrenbetäubend, der Schuss aber glücklicherweise nicht tödlich. Seine Frau war offenbar eine furchtbar schlechte Schützin. Das beruhigte Godric allerdings nicht so sehr, wie es sollte, weil sich Lady Margaret sofort umdrehte und eine zweite Pistole aus ihrer Kutsche holte.

Selbst der schlechteste Schütze konnte hin und wieder einen Glückstreffer landen.

Doch Godric blieb keine Gelegenheit, über die Chancen seiner Frau, ihn heute Abend umzubringen, weiter nachzudenken. Er war zu sehr damit beschäftigt, diese undankbare Person vor dem halben Dutzend Straßenräubern zu retten, die Lady Margarets Kutsche hier – in der gefährlichsten Ecke Londons – angehalten hatten.

Godric duckte sich unter der enormen Faust, die nach seinem Kopf schlug, weg und trat dem Halunken in den Magen. Der Mann grunzte, ging aber nicht zu Boden, wahrscheinlich, weil er schwer wie ein Brauereipferd war. Stattdessen begann der Räuber entgegen dem Uhrzeigersinn um Godric herumzugehen, während seine Kumpane – es waren vier und alle ebenso wohlgenährt – näher rückten.

Godric kniff die Augen zusammen und hob seine Degen, einen langen in seiner rechten Hand, einen kurzen in seiner linken für die Abwehr und den Nahkampf und …

Herr im Himmel, Lady Margaret feuerte mit der zweiten Pistole auf ihn!

Der Schuss hallte durch die Nacht. Godric spürte ein Ziehen an seinem kurzen Umhang, als die Bleikugel durch die Wolle drang.

Lady Margaret fluchte und bewies dabei ein erstaunlich breites Vokabular.

Der Straßenräuber, der Godric am nächsten war, grinste und enthüllte dabei einen Zahn von der Farbe alter Pisse. „Mag dich nich besonders, wa?“

Das traf es nicht so ganz. Lady Margaret versuchte, den Geist von St. Giles umzubringen. Dummerweise wusste sie nicht, dass der Geist von St. Giles zufälligerweise ihr Ehemann war. Die schwarze Ledermaske auf Godrics Gesicht verbarg seine Identität äußerst effektiv.

Einen Moment lang schien ganz St. Giles den Atem anzuhalten. Der sechste Räuber stand – seine beiden Pistolen auf Lady Margarets Kutscher und die beiden Diener gerichtet – ganz still da. Drinnen in der Kutsche sprach eine Frau in leisem, dringenden Tonfall. Sie versuchte, Lady Margaret offenbar dazu zu überreden, sich in Sicherheit zu bringen. Die Lady selbst starrte von ihrem Platz neben der Kutsche zu Godric herüber. Offenbar war ihr nicht bewusst, dass sie ermordet – oder noch Schlimmeres – werden konnte, wenn Godric sie nicht vor den Räubern rettete. Hoch über all dem schaute ein bleicher Mond auf die baufälligen Backsteinhäuser, das zerborstene Kopfsteinpflaster und das Schild des einzigen Krämerladens, das jämmerlich im Wind quietschte. Godric stürzte sich auf den Straßenräuber, der immer noch grinste.

Lady Margaret mochte eine dumme Nuss sein, weil sie hier war, und der Straßenräuber nichts weiter als ein tumber, brutaler Mann, der nicht anders konnte als anzugreifen, wenn ihm eine arglose Beute über den Weg lief. Aber das war unwichtig. Godric war der Geist von St. Giles, Beschützer der Schwachen, selbst ein gefürchteter Jäger, Herr von St. Giles und der Nacht und – verdammt noch mal! – der Mann von Lady Margaret.

Also stach Godric schnell und von unten zu und spießte den Straßenräuber auf, bevor noch das Grinsen auf dessen Gesicht Zeit zum Verschwinden hatte. Der Mann ächzte und stürzte nieder, während Godric einem anderen Banditen, der hinter ihm auftauchte, den Ellbogen ins Gesicht stieß. Die Nase des Mannes brach mit einem knirschenden Geräusch.

Godric riss seinen Degen aus der Wunde, wobei überall Blut herumspritzte, wirbelte herum und hieb nach dem dritten Mann. Sein Degen riss eine breite Wunde quer über die Wange des Mannes. Der Straßenräuber taumelte schreiend zurück und hielt sich die Hände vors Gesicht.

Die übrigen zwei Männer zögerten, was bei einem Straßenkampf fast immer verhängnisvoll ist.

Godric griff sie an; der Degen in seiner rechten Hand pfiff durch die Luft, als er nach einem der beiden Straßenräuber hieb. Der Schlag ging daneben, doch er traf mit dem kurzen Degen in seiner linken den Schenkel des fünften Straßenräubers. Der Mann schrie gellend. Beide Räuber wichen zurück, drehten sich dann um und flohen.

Godric richtete sich auf. Seine Brust hob und senkte sich rasch, während er nach Luft rang und sich umsah. Der einzige Räuber, der noch aufrecht stand, war der mit den Pistolen.

Der Kutscher, ein untersetzter Mann in mittleren Jahren mit einem derben, geröteten Gesicht, sah den Räuber an, verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und zog eine Pistole unter dem Sitz hervor.

Der letzte Räuber wandte sich um und lief davon, ohne einen Laut von sich zu geben.

„Schieß auf ihn!“, herrschte Lady Margaret den Kutscher an. Ihre Stimme zitterte, doch Godric hatte das Gefühl, eher vor Wut denn aus Angst.

„Mylady?“ Der Kutscher sah seine Herrin verwirrt an, weil von den Straßenräubern inzwischen nichts mehr zu sehen war.

Aber Godric wusste sehr genau, dass sie nicht den Mord an einem Straßenräuber befahl, und plötzlich erwachte etwas in ihm, von dem er geglaubt hatte, es sei seit Jahren tot.

Seine Nasenflügel blähten sich, als er über den Körper des Mannes stieg, den er ihretwegen umgebracht hatte. „Nicht notwendig, sich bei mir zu bedanken.“

Er sprach flüsternd, damit sie seine Stimme nicht erkannte, doch sie schien ihn problemlos zu hören.

Das blutdurstige Miststück bleckte die Zähne und zischte: „Das hatte ich auch nicht vor.“

„Nicht?“ Er lächelte grimmig. „Nicht einmal einen Kuss als Glücksbringer?“

Ihr Blick wanderte zu seinem Mund, den die Halbmaske unbedeckt ließ. Ihre Oberlippe kräuselte sich verächtlich. „Eher würde ich eine Schlange umarmen.“

Oh, wie hübsch! Sein Lächeln wurde breiter. „Angst vor mir, Süße?“

Er betrachtete sie fasziniert, als sie den Mund öffnete, um ihm mit Sicherheit etwas Ungehöriges an den Kopf zu werfen. Doch sie wurde unterbrochen, bevor sie etwas sagen konnte.

„Vielen Dank!“, rief eine weibliche Stimme aus der Kutsche.

Lady Margaret machte ein finsteres Gesicht und drehte sich um. Offenbar war sie nah genug dran, um die Sprecherin im Dunkeln zu sehen, auch wenn Godric nicht dazu in der Lage war. „Danke ihm nicht! Er ist ein Mörder!“

„Uns hat er nicht ermordet“, sagte die Frau in der Kutsche betont gelassen. „Außerdem ist es zu spät. Ich habe mich bei ihm für uns beide bedankt. Also steig in die Kutsche und lass uns diesen grässlichen Ort verlassen, bevor er seine Meinung ändert!“

Lady Margarets Gesichtsausdruck erinnerte Godric an den eines Kindes, dem man eine Süßigkeit verwehrt.

„Sie hat recht, wissen Sie“, flüsterte er ihr zu. „Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, genau hier ist schon so mancher feine Pinkel von Straßenräubern belästigt worden.“

„Megs!“, zischte die Frau in der Kutsche.

Lady Margarets Blick hätte Holz durchbohren können. „Ich werde Sie wiederfinden und wenn es so weit ist, habe ich vor, Sie umzubringen.“

Sie meinte es verdammt ernst; ihr stures kleines Kinn hatte sie gereckt.

Er zog seinen großen, weichen Hut ab und verbeugte sich spöttisch. „Ich freue mich darauf, in deinen Armen sterben zu können, Süße.“

Bei seiner mehrdeutigen Bemerkung kniff sie die Augen zusammen. Doch ihre Begleiterin forderte sie abermals auf, endlich zu kommen. Lady Margaret warf ihm einen letzten verächtlichen Blick zu, bevor sie den Kopf einzog und in ihre Kutsche stieg.

Der Kutscher trieb die Pferde an und das Fahrzeug rumpelte davon.

Und Godric St. John stellte zwei Dinge fest: Seine wohlerzogene Frau hatte ihre Trauer offenbar überwunden, und er sollte sich so schnell wie möglich zu seinem Stadthaus aufmachen, bevor ihre Kutsche dort eintraf. Einen Moment lang blieb er stehen und betrachtete den Körper des Mannes, den er getötet hatte. Dunkles Blut suchte sich träge einen Weg zur Mitte der Straße. Die Augen des Mannes starrten gläsern in einen gleichgültigen Himmel. Godric horchte in sich hinein, um herauszufinden, ob er etwas empfand, und entdeckte dasselbe wie immer.

Nichts.

Er wandte sich um und huschte in eine schmale Allee. Erst jetzt, da er sich bewegte, fiel ihm auf, dass seine rechte Schulter schmerzte. Entweder hatte er sich bei dem Handgemenge verletzt oder es war einem der Straßenräuber gelungen, ihn zu treffen. Egal. Saint House lag am Fluss, nicht so schrecklich weit entfernt, und er hätte den normalen Weg durch die Straßen nehmen können. Trotzdem würde er schneller dort sein, wenn er über die Dächer ging.

Er war schon dabei, sich auf einen Schuppen zu schwingen, als er es hörte: schrille, helle Schreie, die von etwas weiter oben hinter der Kurve der Allee kamen. Verdammt! Dafür hatte er jetzt keine Zeit. Godric ließ sich zurück auf die Straße fallen und zog beide Degen.

Ein weiterer entsetzter Schrei.

Er lief um die Ecke.

Es waren zwei, auf die all dieser Krach zurückging. Eine davon war kaum älter als fünf. Zitternd stand sie in der Mitte der stinkenden Straße und schrie mit aller Kraft. Mehr konnte sie auch nicht tun, weil das andere Kind schon gefangen worden war. Es war ein bisschen älter und kämpfte mit der verzweifelten Wildheit einer Ratte, die man in die Ecke getrieben hat. Nützen tat es ihm wenig.

Der Mann, der das ältere Kind festhielt, war dreimal so groß und schlug dem Mädchen mühelos gegen den Kopf.

Das ältere Mädchen sackte auf dem Boden zusammen, während das kleinere zu der bewegungslosen Gestalt lief.

Der Mann beugte sich zu den Kindern hinab.

„He da!“, knurrte Godric.

Der Mann sah auf. „Was, zum …“

Mit einem Schwinger gegen seinen Kopf legte Godric ihn flach.

Er setzte den Degen an den nackten Hals des Mannes und beugte sich flüsternd vor: „Fühlt sich nicht besonders gut an, am spitzen Ende zu sein, was?“

Der Tölpel blickte mürrisch drein und rieb sich die eine Seite seines Kopfes. „Gibt keinen Grund. Ich hab ja wohl das Recht, mit meinen Mädchen zu tun, was ich will.“

„Wir sind nicht deine Mädchen!“

Aus den Augenwinkeln nahm Godric wahr, dass sich das ältere Mädel aufgesetzt hatte.

„Das ist nicht unser Vater!“

Blut tropfte ihr aus dem Mundwinkel; ihre Worte klangen undeutlich.

„Geht nach Hause!“, sagte Godric in Richtung der Mädchen. „Ich kümmere mich um diesen Grobian.“

„Wir haben kein Zuhause“, wimmerte das kleinere Kind.

Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, als die Ältere sie anstieß und zischte: „Sei still!“

Godric war müde und die Neuigkeit, dass die Kinder heimatlos waren, hatte ihn einen kurzen Moment abgelenkt. Jedenfalls sagte er sich das, als der auf dem Boden liegende Schurke ihm die Beine wegstieß.

Godric rollte sich auf dem Kopfsteinpflaster ab. Er sprang wieder auf die Füße, doch da rannte der Mann schon um die Ecke am Ende der Straße.

Godric seufzte und zuckte zusammen, als er sich aufrichtete. Er war auf seiner verletzten Schulter gelandet und die bedankte sich gerade für die rücksichtslose Behandlung.

Er sah die Mädchen an. „Dann kommt ihr wohl jetzt am besten mit mir.“

Das kleinere Mädchen begann, folgsam aufzustehen, doch das ältere zog es wieder nach unten. „Sei nicht dumm, Moll! Der ist auch so ein Kindesentführer wie der andere!“

Bei Kindesentführer hob Godric die Augenbrauen. Den Begriff hatte er schon seit geraumer Zeit nicht mehr gehört. Er schüttelte den Kopf. Er hatte jetzt keine Zeit, sich darum zu kümmern. Lady Margaret würde bald zu Hause eintreffen und wenn er nicht dort war, konnte das heikle Fragen aufwerfen.

„Kommt!“, sagte er und streckte die Hand in Richtung der Mädchen aus. „Ich bin kein Kindesentführer und kenne ein nettes, warmes Plätzchen, wo ihr die Nacht verbringen könnt.“ Und noch viele weitere Nächte.

Er fand, sein Tonfall sei einfühlsam genug gewesen, doch das ältere Mädchen verzog starrsinnig das Gesicht. „Wir gehen nicht mit Ihnen!“

Godric lächelte freundlich, bevor er sich das eine Kind mit einer raschen Bewegung über die Schultern warf und das andere unter den Arm klemmte. „Oh doch, das werdet ihr!“

So einfach war es natürlich nicht. Die Ältere stieß für ein Mädchen in zarten Jahren erstaunlich wilde Flüche aus, während das Jüngere in Tränen ausbrach. Außerdem wanden sich die beiden wie Wildkatzen.

Fünf Minuten später war er in Sichtweite des Heims für unglückselige Säuglinge und Findelkinder angelangt und hätte die beiden Mädchen beinahe fallen gelassen.

„Au!“ Er schluckte eine derbere Bemerkung herunter und packte das ältere Mädchen fester, die gefährlich nahe daran war, ihn zu entmannen.

Grimmig stapfte Godric zur Hintertür des Waisenhauses von St. Giles und trat so lange dagegen, bis es hinter dem Küchenfenster hell wurde.

Die Tür schwang auf und es erschien ein hochgewachsener Mann in zerknittertem Hemd und Hosen.

Winter Makepeace, der Leiter des Heims, ließ beim Anblick des Geistes von St. Giles, der auf seiner Türschwelle stand und zwei strampelnde, heulende Mädchen trug, eine Augenbraue in die Höhe schnellen.

Godric hatte für Erklärungen keine Zeit.

„Hier!“ Er stellte die Kinder ohne viel Federlesens auf den Küchenfliesen ab und sah den amüsierten Leiter an. „Ich empfehle beherztes Zupacken. Sie sind schlüpfriger als geölte Aale.“

Damit knallte er die Tür des Heims zu, drehte sich um und sprintete zu seinem Stadthaus.

Lady Margaret St. John begann in dem Moment zu zittern, als ihre Kutsche St. Giles verließ. Der Geist war so groß gewesen und so erschreckend tödlich, wenn er sich bewegte. Als er vor ihr aufgetaucht war, die blutigen Degen in den großen, lederumschlossenen Händen und mit funkelnden Augen hinter der grotesken Maske, hatte sie nichts weiter tun können, als sich zu sagen, sie solle ruhig bleiben.

Megs atmete tief durch. Seit zwei Jahren hasste sie diesen Mann, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich – als sie ihm endlich begegnete – so … so … so lebendig fühlen würde.

Sie betrachtete die schweren Pistolen auf ihrem Schoß und schaute dann ihre liebe Freundin und Schwägerin, Sarah St. John, an, die ihr in der Kutsche gegenübersaß. „Es tut mir leid. Das war …“

„Eine idiotische Idee?“ Sarah hob eine ihrer braunen Augenbrauen. Die Farbe ihres wie aus dem Ei gepellten Haars war irgend etwas zwischen mausbraun und hellblond und Sarah trug es am Hinterkopf zu einem gesitteten und höchst manierlichen Knoten zusammengesteckt.

Im Gegensatz dazu hatte sich Megs’ dunkles, lockiges Haar schon vor einigen Stunden von seinen Nadeln verabschiedet und wogte ihr nun wie die Tentakel eines Seeungeheuers ums Gesicht herum.

Megs runzelte die Stirn. „Nun, ich weiß nicht, ob idiotisch der richtige …“

„Wirr?“, schlug Sarah kurz angebunden vor. „Saudumm? Wahnsinnig? Blöd? Schlecht beraten?“

„Obwohl all diese Adjektive nur teilweise passen“, wandte Megs schnell ein, bevor Sarah – das Vokabular ihrer Freundin war wirklich umfangreich – ihre Liste fortsetzen konnte, „glaube ich, dass schlecht beraten noch am zutreffendsten ist. Es tut mir wirklich leid, dass ich dein Leben in Gefahr gebracht habe.“

„Und deins.“

Megs blinzelte. „Was?“

Sarah beugte sich so weit vor, dass das Laternenlicht der Kutsche ihr Gesicht beleuchtete. Normalerweise war ihre Miene die einer behütet aufgewachsenen, jungfräulichen Dame, die – sie war jetzt immerhin fünfundzwanzig – nur durch einen gewissen spöttischen Humor, der aus ihren sanften braunen Augen sprach, relativiert wurde. Jetzt aber hätte sie genauso gut eine Amazonenkriegerin sein können.

Dein Leben, Megs“, wiederholte Sarah. „Du hast nicht nur mein Leben und das der Diener aufs Spiel gesetzt, sondern auch dein Leben. Was könnte so wichtig sein, dass man riskiert, sich um diese Zeit nach St. Giles hineinzuwagen?“

Meg wich dem Blick ihrer engsten Freundin aus. Etwa ein Jahr, nachdem Megs und Godric geheiratet hatten, war Sarah auf den Besitz der St. Johns in Cheshire gezogen, um bei ihrer Familie zu leben. Sarah kannte daher den Grund für die übereilte Hochzeit nicht.

Megs schüttelte den Kopf und sah aus dem Kutschenfenster. „Es tut mir leid. Ich wollte nur nachsehen, ob …“

Als sie ihren Satz nicht zu Ende brachte, rutschte Sarah unruhig hin und her. „Was sehen?“

Wo Robert ermordet worden ist. Der Gedanke reichte, damit sich Megs Herz vor Schmerz zusammenkrampfte. Sie hatte den Kutscher Tom angewiesen, nach St. Giles zu fahren, weil sie gehofft hatte, eine Spur von Robert zu finden. Natürlich gab es keine. Er war seit Langem tot. Längst für sie verloren. Doch sie hatte noch einen anderen Grund, sich in St. Giles umzusehen: um mehr über Roberts Mörder zu erfahren, den Geist von St. Giles. Und in der Hinsicht hatte sie immerhin Glück gehabt. Der Geist war erschienen. Heute Abend war sie nicht richtig darauf vorbereitet gewesen; beim nächsten Mal würde sie es sein.

Das nächste Mal würde sie ihn nicht davonkommen lassen.

Beim nächsten Mal würde sie dem Geist von St. Giles ein Loch ins schwarze Herz schießen.

„Megs?“ Das leise Gemurmel ihrer Freundin unterbrach ihre blutrünstigen Gedanken.

Megs schüttelte den Kopf und lächelte ihre Freundin strahlend an – vielleicht ein bisschen zu strahlend. „Lass gut sein.“

„Was …?“

„Um Himmels willen, sind wir schon da?“ Megs Themenwechsel war alles andere als subtil, doch die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt, als hätten sie ihr Ziel endlich erreicht.

Megs spähte aus dem Fenster. Die Straße war dunkel.

Megs runzelte die Stirn. „Vielleicht aber auch nicht.“

Sarah verschränkte die Arme. „Was siehst du?“

„Wir sind in einer schmalen, kurvenreichen Straße und dort hinten steht ein großes, dunkles Haus. Es sieht sehr … ähm …“

„Altertümlich?“

Megs warf ihrer Begleiterin einen Blick zu. „Ja.“

Sarah nickte einmal. „Dann ist es Saint House. Es ist uralt, wusstest du das nicht? Hast du Saint House nicht gesehen, nachdem du meinen Bruder geheiratet hast?“

„Nein.“ Megs tat so, als beanspruchte sie der trübe Ausblick aus dem Fenster. „Das Hochzeitsfrühstück hat im Haus meines Bruders stattgefunden, und eine Woche später habe ich London verlassen.“ Und zwischendurch hatte sie krank im Haus ihrer Mutter gelegen. Megs verbannte die traurigen Erinnerungen aus ihrem Kopf. „Wie alt ist Saint House?“

„Mittelalterlich und – so weit ich mich erinnere – im Winter ziemlich zugig.“

„Oh!“

„Außerdem liegt es nicht gerade im schicksten Teil von London“, verkündete Sarah fröhlich. „Direkt am Flussufer. Aber so etwas bekommst du, wenn deine Familie mit Wilhelm dem Eroberer übergesetzt hat: ein altehrwürdiges Gebäude ohne eine Spur von Modernität oder Komfort.“

„Ich bin sicher, es ist sehr bekannt“, sagte Megan und versuchte loyal zu sein. Immerhin war sie jetzt eine St. John.

„Oh ja“, meinte Sarah trocken. „Saint House wird in mehr als einer Geschichte erwähnt. Das wird dich ganz sicher trösten, wenn dir nachts die Zehen abfrieren.“

„Wenn es so grässlich ist, warum bist du dann mit nach London gekommen?“, fragte Megs.

„Um mir die Sehenswürdigkeiten anzuschauen und einzukaufen natürlich.“ Angesichts der düsteren Beschreibung von Saint House klang Sarah sehr vergnügt. „Es ist Ewigkeiten her, seit ich das letzte Mal in London war.“

In diesem Moment kam die Kutsche zum Stehen, und Sarah begann ihren Handarbeitskorb und ihre Umschlagtücher einzusammeln. Oliver, der jüngere der beiden Diener, die Megs mitgenommen hatte, öffnete die Kutschentür. Als Teil seiner Livree trug er eine weiße Perücke, die seine roten Augenbrauen allerdings nicht verbergen konnte.

„Hätte nie gedacht, dass wir das lebend überstehen“, sagte Oliver, während er die Treppe ausklappte. „War ne enge Sache mit diesen Straßenräubern, wenn ich das sagen darf, Mylady.“

„Sie und Johnny waren sehr tapfer“, entgegnete Megs, während sie aus der Kutsche stieg. Sie sah den Kutscher an. „Und Sie ebenfalls, Tom.“

Der Kutscher murmelte etwas und zog die breiten Schultern hoch. „Sie und Miss St. John sollten besser hineingehen. Drinnen ist es sicher.“

„Das werde ich.“ Megs wandte sich in Richtung Haus und sah erst jetzt die zweite Kutsche davor stehen.

Sarah trat neben Megs. „Sieht ganz so aus, als wäre deine Großtante Elvina vor uns angekommen.“

„Allerdings“, erwiderte Megs langsam. „Aber warum steht ihre Kutsche noch draußen?“

Als Antwort öffnete sich die Tür der zweiten Kutsche.

„Margaret!“ Unter einer Wolke weicher grauer Locken, in die rosafarbene Bänder geflochten waren, sah man das besorgte Gesicht von Großtante Elvina hervorschauen. Ihre Stimme war übermäßig laut und hallte von den Mauern der umliegenden Gebäude wider. Großtante Elvina war fast taub. „Margaret, der leidige Butler will uns nicht hineinlassen. Wir sitzen schon ewig hier im Hof, und Ihre Hoheit ist inzwischen ziemlich unruhig.“

Ein unterdrücktes Jaulen aus dem Inneren der Kutsche unterstrich ihre Aussage.

Megs drehte sich zum Haus ihres Mannes. Keinerlei Licht wies darauf hin, dass das Haus bewohnt war. Aber es lag auf der Hand, dass irgendjemand zu Hause war, wenn der Butler vorhin auf Großtante Elvina reagiert hatte. Megs marschierte zur Tür, hob den großen Eisenring, der als Klopfer diente, und ließ ihn mit einem scharfen Wumm fallen.

Dann trat sie zurück und schaute nach oben. Das Gebäude war ein Mischmasch verschiedener Baustile. Die ersten beiden Geschosse – vielleicht Reste des allerersten Gebäudes – waren aus altem roten Backstein. Doch danach hatte ein späterer Besitzer drei weitere Geschosse aus hellerem, beigebraunem Backstein hinzufügen lassen. Kamine und Giebel sprossen hier und da aus der Dachlinie; ihre Anordnung schien keinerlei Konzept zu folgen. Auf beiden Seiten rahmten niedrige dunkle Seitenflügel das Hauptgebäude ein und schufen so einen Hof.

„Du hast Godric geschrieben, dass wir kommen“, murmelte Sarah.

Megs biss sich auf die Lippe. „Ah.“

Ein Licht, dass direkt rechts in einem der niedrigen Fenster erschien, rettete sie davor, zugeben zu müssen, dass sie ihren Ehemann nicht über ihre Ankunft informiert hatte. Die Tür öffnete sich mit einem unheilvollen Quietschen.

Ein einzelner Diener stand mit hängenden Schultern in der Eingangstür. Auf dem Kopf trug er eine zerschlissene Perücke, in der Hand einen Kerzenhalter.

Der Mann sog den Atem langsam und rasselnd ein. „Mr. St. John ist nicht …“

„Oh, vielen Dank“, sagte Meg, während sie direkt auf den Butler zuging.

Einen Moment lang fürchtete sie, der Mann würde sich nicht von der Stelle bewegen. Seine wässerigen Augen weiteten sich erstaunt, und er trat gerade so weit beiseite, dass sie an ihm vorbeigehen konnte.

Als sie drinnen war, wandte sie sich um und begann, ihre Handschuhe auszuziehen. „Ich bin Lady Margaret St. John, Mr. St. Johns Frau.“

Die struppigen Augenbrauen des Butlers schossen nach oben. „Frau.“

„Ja.“

Sie schenkte ihm ein Lächeln und einen Moment lang glotzte er nur. „Und Sie sind?“

Er richtete sich auf, und Megs fiel auf, dass ihn seine Haltung älter machte, als er wirklich war. Der Mann mochte in den späten Dreißigern sein. „Moulder, Mylady. Der Butler.“

„Großartig!“ Megs gab ihm ihre Handschuhe und schaute sich dabei in der Eingangshalle um. Nicht besonders beeindruckend. In der Balkendecke schien es eine regelrechte Spinnenstadt zu geben. Auf einem Tisch in der Nähe erspähte sie einen Leuchter. Sie nahm Moulder die Kerze ab und begann, die Kerzen darin anzuzünden. „Nun, Moulder, draußen wartet meine liebe Großtante in einer Kutsche – Sie können sie Miss Howard nennen – und Miss St. John ebenfalls, die älteste jüngere Schwester von Mr. St. John, falls das für Sie einen Sinn ergibt.“

Sarah lächelte breit, als sie dem verwirrten Butler ihre eigenen Handschuhe in die Hand drückte. „Ich bin seit Jahren nicht mehr in London gewesen. Sie müssen neu sein.“

Moulder öffnete den Mund. „Ich …“

„Wir haben außerdem drei Kammerzofen mitgebracht“, fuhr Megs fort und reichte dem Butler die Kerze zurück, während der den Mund wieder zuklappte. „Außerdem insgesamt vier Diener von meiner Großtante und mir und die beiden Kutscher. Großtante Elvina hat darauf bestanden, in ihrer eigenen Kutsche zu fahren, obwohl ich zugeben muss, dass ich ohnehin nicht gewusst hätte, wie wir alle in eine einzige Kutsche gepasst hätten.“

„Es hätte niemals geklappt“, sagte Sarah. „Und außerdem schnarcht deine Tante.“

Megs zuckte mit den Schultern. „Wohl wahr.“ Sie wandte sich wieder an den Butler. „Natürlich haben wir auch den Gärtner Higgins und den Stiefelputzer Charlie mitgebracht, weil er so nett ist und weil er der Neffe von Higgins ist und sehr an ihm hängt. Oh, und natürlich Ihre Hoheit, die heikler Natur ist und – wie es scheint – neuerdings nur klein gehackte, in Weißwein geschmorte Hühnerleber zu sich nimmt. So, haben Sie sich alles gemerkt?“

Moulder starrte sie entgeistert an. „Ah.“

„Wunderbar!“ Megs warf ihm ein weiteres Lächeln zu. „Wo ist mein Mann?“

Die Verwirrung des Butlers schien sich in Angst zu verwandeln. „Mr. St. John ist in der Bibliothek, Mylady, aber er ist …“

„Nein, nein!“ Megs wedelte beschwichtigend mit der Hand. „Sie müssen mir den Weg nicht zeigen. Ich bin sicher, Sarah und ich finden die Bibliothek auch allein. Besser ist, Sie kümmern sich um die Bedürfnisse meiner Tante und geben den Dienstboten etwas zu essen – und Ihrer Hoheit. Wissen Sie, es war wirklich eine lange Reise.“

Sie schnappte sich den Leuchter und marschierte die Treppe hinauf.

Sarah trottete neben ihr her und kicherte leise. „Glücklicherweise bist du in die richtige Richtung unterwegs. Die Bibliothek ist im zweiten Stock, wenn ich mich richtig erinnere. Die zweite Tür links.“

„Ah, gut“, murmelte Megs. Nachdem sie sich erst einmal ein Herz gefasst hatte, wäre es schwierig gewesen, jetzt einen Rückzieher zu machen. „Ich bin sicher, du freust dich ebenso sehr wie ich, deinen Bruder wiederzusehen.“

„Selbstverständlich“, meinte Sarah. „Aber ich werde nicht so dumm sein, deine Wiedervereinigung mit Godric zu ruinieren.“

Megs verharrte auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks. „Wie bitte?“

„Morgen früh ist immer noch genug Zeit, meinen Bruder zu sehen.“ Drei Stufen unter Meg stehend, lächelte Sarah freundlich. „Ich gehe und helfe Großtante Elvina.“

„Oh, aber …“

Megs schwacher Protest erreichte nur noch die Luft. Sarah war bereits leichtfüßig die Treppe hinuntergehuscht.

Genau. Bibliothek. Zweite Tür links.

Megs atmete tief durch und wandte sich zum düsteren Korridor. Zwei Jahre waren vergangen, seit sie ihren Mann zum letzten Mal gesehen hatte. Doch sie erinnerte sich an ihn als einen freundlichen Gentleman. Allerdings war sie ihm vor ihrer Hochzeit nicht allzu oft begegnet. Jedenfalls sah er nicht aus wie ein Oger. Bei der Trauung hatten seine grauen Augen freundlich gewirkt. Megs blinzelte nachdenklich, während sie den Korridor entlangging. Oder waren seine Augen blau? Nun, egal welche Augenfarbe er hatte, er hatte jedenfalls einen freundlichen Eindruck gemacht.

Das hatte sich in den vergangenen zwei Jahren doch sicher nicht geändert. Oder doch?

Megs griff nach dem Türknauf der Bibliothek und öffnete schnell die Tür, bevor irgendwelche Zweifel sie davon abhalten konnten.

Die Bibliothek war eine ziemliche Enttäuschung.

Dämmerig und eng wie der Korridor wurde das Zimmer nur von der glühenden Asche eines ersterbenden Feuers und einer einzigen Kerze neben einem alten, dick gepolsterten Armstuhl erleuchtet. Auf Zehenspitzen ging sie näher. Der Besitzer des altertümlichen Armstuhls sah ebenfalls …

Sah genauso altertümlich aus.

Er trug einen burgunderroten Morgenrock, der am Saum und den Ellbogen ausgefranst war. Die bestrumpften Füße steckten in schäbigen Hausschuhen und lagen gekreuzt auf einem gepolsterten Fußschemel, der so nah am Kamin stand, dass der Teil des Stoffes, der zum Kamin zeigte, angesengt war. Der Kopf hing ihm schlaff auf der Schulter und war lässig mit einem weichen, dunkelgrünen Turban bedeckt. Eine flotte, vergoldete Quaste hing dem Schlafenden über dem linken Auge. Eine halbmondförmige Brille saß ihm mitten auf der Stirn und hätte er nicht geschnarcht, so hätte sie meinen können, Godric St. John sei gestorben.

An Altersschwäche.

Megs blinzelte und richtete sich auf. Ihr Ehemann war doch sicher nicht so alt. Sie hatte eine ungefähre Ahnung, dass er ein wenig älter war als ihr Bruder Griffin, der ihre Hochzeit arrangiert hatte, und der war dreiunddreißig. Aber so sehr sie sich auch darum bemühte, ihr fiel einfach nicht ein, dass das Alter ihres Mann damals erwähnt worden war.

Es war die schwärzeste Stunde ihres Lebens gewesen, und sie konnte sich – vielleicht glücklicherweise – an vieles nicht mehr erinnern.

Ängstlich spähte Megs auf den schlafenden Mann hinunter. Er schnarchte zwar mit offenem Mund, doch er hatte dichte, schwarze Wimpern. Sie starrte ihn einen Moment lang an, seltsam gefangen von seinem Anblick.

Sie presste die Lippen zusammen. Es gab Männer, die erst sehr spät heirateten und dennoch imstande waren, etwas zu leisten. Der Duke of Frye hatte es im vergangenen Jahr hinbekommen, und er war schon ein gutes Stück älter als siebzig. Godric konnte die Sache dann sicher auch erledigen.

Durch den Gedanken aufgeheitert räusperte sich Megs. Leise natürlich, schließlich war er der Hauptgrund dafür, dass sie sich auf den weiten Weg nach London gemacht hatte, und es würde ihr nichts nützen, wenn ihr Mann einen Schlaganfall bekäme, bevor er seine Pflicht getan hatte.

Die natürlich darin bestand, sie zu schwängern.

Godric St. John veränderte sein Schnarchen in ein Schnauben, während er so tat, als würde er aufwachen. Er öffnete die Augen und sah seine Frau mit einem Runzeln zwischen den hübschen Augenbrauen auf ihn herabschauen. Bei ihrer Hochzeit hatte sie abgespannt und blass gewirkt und ihm nie direkt in die Augen gesehen, selbst als sie versprochen hatte, bei ihm zu bleiben, bis der Tod sie und ihn scheide. Wenige Stunden nach der Zeremonie war sie beim Hochzeitsfrühstück krank geworden und zu ihrer Mutter und Schwester geschafft worden. Ein Brief, der am nächsten Tag kam, hatte ihn darüber informiert, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte. Es war dieses Kind gewesen, das die überstürzte Hochzeit notwendig gemacht hatte.

Ironie des Schicksals.

Jetzt musterte sie ihn mit so offener, greifbarer Neugierde, dass er am liebsten nachgesehen hätte, ob sein Morgenmantel noch immer fest geschlossen war.

„Was?“, hob Godric an, als wäre er über ihre Anwesenheit überrascht.

Sofort setzte sie ein breites unschuldiges Lächeln auf, das ebenso gut Ich führe etwas im Schilde! hätte heißen können. „Oh, hallo!“

Hallo? Nach zweijähriger Abwesenheit? Hallo?

„Ah, Margaret, oder?“ Godric versuchte, ein Zusammenzucken zu unterdrücken. Er verhielt sich auch nicht besser als sie.

„Ja!“ Sie strahlte ihn an, als wäre er ein seniler alter Mann, der jählings einen Funken Verstand zeigte. „Ich komme, um dich zu besuchen!“

„Wirklich?“ Er setzte sich in seinem Stuhl etwas aufrechter hin. „Wie unerwartet.“

Sein Tonfall war vielleicht ein wenig zu trocken.

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu und drehte sich um, um ziellos durchs Zimmer zu wandern. „Ja, und ich habe deine Schwester Sarah mitgebracht.“ Sie atmete tief ein und beäugte eine kleine Radierung auf dem Kaminsims. Unmöglich, den Gegenstand des Bildes auszumachen angesichts der Dunkelheit im Raum. „Nun, natürlich weißt du, dass sie deine Schwester ist. Sie freut sich auf die Gelegenheit, einkaufen zu gehen und sich die Sehenswürdigkeiten anzusehen, ins Theater zu gehen oder vielleicht in die Oper oder sogar in einen der Vergnügungsparks, und … und …“

Sie nahm ein altes, ledergebundenes Buch in die Hand, Van Oostens Kommentare zu Catull, und wedelte unbestimmt damit. „Und …“

„Noch mehr einzukaufen, vielleicht?“ Godric hob die Augenbrauen. „Mag sein, dass ich Sarah seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe, aber ich kann mich daran erinnern, wie gern sie einkaufen geht.“

„Ziemlich gern.“ Sie wirkte ein wenig abgelenkt, während sie in den zerbröselnden Seiten des Buchs blätterte.

„Und du?“

„Was?“

„Warum bist du nach London gekommen?“, fragte er nach.

Der Van Oosten explodierte regelrecht zwischen ihren Händen.

„Oh!“ Sie ließ sich auf die Knie fallen und begann hektisch die brüchigen Seiten aufzusammeln. „Oh, das tut mir leid!“

Godric unterdrückte ein Seufzen, während er sie beobachtete. Die Hälfte der Seiten fiel auseinander, sobald sie sie aufhob. Diese besondere Ausgabe hatte bei Warwick and Sons fünf Guineen gekostet und war – so weit er wusste – die einzige, die es noch gab. „Ist nicht wichtig. Das Buch musste ohnehin neu gebunden werden.“

„Ach ja?“ Zweifelnd betrachtete sie die Seiten in ihren Händen, bevor sie sie ihm vorsichtig auf den Schoß legte. „Nun, da bin ich erleichtert.“

Sie hatte ihm das Gesicht zugewandt; ihre braunen Augen waren groß und sahen irgendwie bittend aus, und sie hatte vergessen, die Hände wegzunehmen. Sie lagen ruhig auf den Resten des Buches in seinem Schoß, aber etwas an ihrer Stellung – wie sie da neben ihm kniete – ließ ihn den Atem anhalten. Ein seltsames flüchtiges Gefühl tauchte in seiner Brust auf, während ein ziemlich schlichtes und weltliches Empfinden in seiner Leistengegend erwachte. Herr im Himmel! War das unangenehm!

Er räusperte sich. „Margaret?“

Sie blinzelte träge, fast verführerisch. Idiot! Sie musste müde sein. Deshalb sahen ihre Augenlider so schwer und träge aus. Was es überhaupt möglich, verführerisch zu blinzeln?

„Ja.“

„Wie lange willst du in London bleiben?“

„Oh!“ Sie senkte den Kopf und fummelte an dem zerstörten Buch herum. Wahrscheinlich hatte sie vor, die Seiten einzusammeln, aber alles, was sie dabei erreichte, war, sie noch weiter zerbröseln zu lassen. „Oh, ja nun, es gibt hier so viel zu tun, oder? Und … und ich habe viele enge, enge Freunde, die ich besuchen sollte.“

„Margaret!“

Sie sprang auf die Füße, in den Händen noch immer den hinteren Teil des kaputten Bucheinbands vom Van Oosten. „Es wäre einfach nicht gut, jemanden vor den Kopf zu stoßen.“ Sie strahlte irgendetwas über seiner rechten Schulter lächelnd an.

„Margaret.“

Sie gähnte herzhaft. „Vergib mir! Es tut mir leid, aber die Reise hat mich wirklich ermüdet. Oh, Daniels!“ Sie wandte sich offenbar erleichtert an die kleine Kammerzofe, die in der Tür erschienen war. „Ist mein Zimmer fertig?“

Das Mädchen knickste, während es neugierig die Bibliothek musterte. „Ja, Mylady! So fertig, wie es heute Abend sein kann. Sie würden kaum glauben, wie viele Spinnweben wir …“

„Ja, nun, ich bin sicher, es ist gut so.“ Lady Margaret wirbelte herum und nickte ihm zu. „Gute Nacht, ähm … Ehemann! Ich sehe dich morgen früh, oder?“

Und dann huschte sie aus dem Zimmer, in der Hand immer noch den Rückeneinband des armen Van Oosten.

Das Mädchen schloss die Tür hinter ihr.

Godric betrachtete die solide Eichentür der Bibliothek. Ohne Margarets lebhafte, funkelnde Gegenwart wirkte das Zimmer plötzlich leer wie ein Grab. Seltsam. Bisher hatte er die Bibliothek immer für einen angenehmen Aufenthaltsort gehalten.

Irritiert schüttelte Godric den Kopf. Was hatte sie vor? Warum war sie nach London gekommen?

Es war eine Vernunftheirat gewesen, jedenfalls von ihrer Seite aus. Sie hatte für das Kind in ihrem Bauch einen Namen gebraucht. Von Seiten Godrics war es eine Ehe, deren Zustandekommen auf Erpressung des Schweinehundes von Margarets Bruder Griffin zurückzuführen war. Godric war nicht der Vater des Kindes gewesen. Mit Lady Margaret hatte er vor dem Tag ihrer Hochzeit noch nie gesprochen. Danach hatte sie sich auf seinen vernachlässigten Landsitz zurückgezogen, während er in London wieder sein altes Leben aufgenommen hatte.

Ein Jahr lang hatte er – abgesehen von einigen Informationen aus zweiter Hand von seiner Stiefmutter oder einer seiner Halbschwestern – überhaupt nichts von ihr gehört. Dann war plötzlich wie aus dem Nichts ein Brief von Lady Margaret eingetroffen, in dem sie ihn fragte, ob es ihm etwas ausmache, wenn sie die alten, überwachsenen Weinreben zurückschneiden lasse. Die überwachsenen Weinreben? Er hatte Laurelwood Manor, das Haus auf seinem Besitz in Cheshire, seit den frühen Jahren der Ehe mit seiner geliebten Clara nicht mehr gesehen. Er hatte den Brief beantwortet und ihr freundlich, aber direkt mitgeteilt, dass sie mit den Weinreben und allem anderen im Garten tun und lassen könne, was sie wolle.

Damit hätte es beendet sein sollen, doch seine unbekannte Frau hatte ihm im vergangenen Jahr weiterhin ein oder zwei Mal im Monat geschrieben. Lange, mitteilsame Briefe über den Garten, über Sarah, die älteste seiner Halbschwestern, die zu Margaret gezogen war, über die Plackerei, die es bedeutete, das wirklich baufällige Haus reparieren und umgestalten zu lassen und über die unbedeutenden Streitereien und den Klatsch im nahegelegenen Dorf. Er hatte nicht genau gewusst, wie er auf dieses Durcheinander an Informationen hatte antworten sollen, also hatte er es meistens sein lassen. Aber im Laufe der Monate hatte er sich an ihre Schreiben seltsamerweise gewöhnt. Mehr noch, wenn er einen ihrer Briefe neben seinem Morgenkaffee fand, hatte ihm das ein Gefühl von Leichtigkeit gegeben. Wenn ihr Brief einen Tag oder zwei Tage später kam, war er ungeduldig geworden.

Nun. Er lebte schließlich schon seit Jahren einsam und allein.

Doch die kleine Freude eines Briefes war der entfernte Schrei einer Dame, die in sein Revier eindrang.

„So was hab ich noch nie gesehen“, murmelte Moulder, als er die Bibliothek betrat und die Tür hinter sich schloss. „Die ganze Truppe könnte ebenso gut ein reisender Jahrmarkt sein.“

„Über wen reden Sie?“, fragte Godric, während er aufstand und den Morgenrock auszog.

Darunter trug er noch immer das Kostüm des Geistes. Es war eine knappe Angelegenheit gewesen. Beide Kutschen hatten vor seinem Haus gehalten, als er immer noch auf der Hinterseite herumschlich. Godric hatte gehört, wie Moulder die Eindringlinge selbst dann noch aufzuhalten versucht hatte, als Godric die versteckte Treppe von seinem Arbeitszimmer zur Bibliothek hinaufgelaufen war. Saint House war so alt, dass es unzählige geheime Durchgänge und Verstecke enthielt, ein Segen für seine Aktivitäten als Geist. Er hatte die Bibliothek erreicht, sich die Stiefel heruntergerissen, seine Degen, den Umhang und die Maske hinter eines der Bücherregale geschleudert und sich gerade den weichen Turban aufgesetzt und den Morgenrock zugebunden, als er hörte, wie sich der Türknauf drehte.

Es war knapp gewesen, verdammt knapp.

„Mylady und die Leute, die sie mitgebracht hat.“ Moulder wedelte mit beiden Händen, als wollte er eine Menschenmenge beschreiben.

Godric hob eine Augenbraue. „Ladys reisen gewöhnlich mit Zofen und solchen Leuten.“

„Geht nicht um solche Leute“, murmelte Moulder, während er Godric aus dem Hemd des Geists half. Zusätzlich zu seinen nicht näher beschriebenen Pflichten, diente Moulder als Kammerdiener, wenn er als solcher gebraucht wurde. „Es gibt einen Gärtner und einen Stiefelputzer und einen eigenartigen Hund, der Lady Margarets Großtante gehört, und die ist auch da.“

Godric kniff die Augen zusammen und verarbeitete das Gehörte. „Der Hund oder die Tante?“

„Beide.“ Moulder schüttelte das Hemd des Geistes aus und prüfte es auf Risse und Schmutz. Ein listiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, bevor er Godric unschuldig ansah. „Is trotzdem sehr traurig.“

„Was?“, fragte er, während er die Gamaschen des Geists auszog und seine Nachtkleidung anlegte.

„Werden nicht zu jeder nächtlichen Stunde draußen herumscharwenzeln können, oder?“, sagte Moulder, während er Hemd und Gamaschen zusammenlegte. Bekümmert schüttelte er den Kopf. „Traurig, traurig, aber so ist es nun mal. Ihre Tage als Geist sind vorbei, fürchte ich, wo doch ihre Frau gekommen ist, um mit Ihnen zusammenzuleben.“

„Ich fürchte, Sie haben recht.“ Er nahm den albernen Turban ab und fuhr sich über das kurz geschorene Haar. „Jedenfalls, wenn Lady Margaret endgültig mit mir zusammenleben würde.“

Moulder machte ein zweifelndes Gesicht. „Sie hat auf jeden Fall genug Leute und Gepäck mitgebracht, um sich hier niederzulassen.“

„Unwichtig. Ich habe nicht vor, mein Leben als Geist von St. Giles aufzugeben.“ Godric schlenderte zur Tür. „Und das bedeutet, dass meine Frau und ihr gesamter Anhang spätestens nächste Woche wieder abgereist sein werden.“

Und wenn sie weg war, versprach sich Godric, würde er damit fortfahren, die Armen von St. Giles zu retten, und vergessen, dass Lady Margaret sein einsames Leben jemals unterbrochen hatte.

2. KAPITEL

Nun hört gut zu:

Der Wilde Jäger ist die rechte Hand des Teufels.

Er durchstreift die Welt auf einem großen schwarzen Pferd auf der Suche nach sündhaften Toten und solchen, die ohne Beichte gestorben sind.

Und wenn der Wilde Jäger sie findet, zerrt er ihre Seelen in die Hölle.

Kleine Kobolde begleiten ihn, nackt, blutrot und hässlich.

Sie heißen Verzweiflung, Trauer und Verlust.

Der Wilde Jäger selbst ist schwarz wie die Nacht und sein Herz – jedenfalls das, was davon übrig ist – ist nichts weiter als ein Stück harter Kohle.

Aus: Die Legende vom Wilden Jäger

Am nächsten Morgen erwachte Godric vom Klang weiblicher Stimmen im Zimmer nebenan. Er lag im Bett, blinzelte einen Augenblick lang und dachte darüber nach, wie seltsam es war, aus dieser Richtung geschäftiges Treiben zu hören.

Er hatte natürlich im alten Schlafzimmer des Hausherrn geschlafen und die frühere Herrin des Hauses hatte den damit verbundenen Raum gehabt. Aber Clara hatte die Zimmer nur in den ersten ein oder zwei Jahren ihrer Ehe benutzt. Danach hatte die Krankheit, die ihren Körper bald auffressen sollte, alles zu bestimmen begonnen. Die Ärzte hatten Clara völlige Ruhe verordnet. Also war sie in das Kinderzimmer im darüberliegenden Stock gezogen. Dort hatte sie neun lange Jahre gelitten, bevor sie gestorben war.

Godric schüttelte den Kopf, stieg aus dem Bett und setzte die nackten Füße auf den kalten Boden. Solch klägliche Gedanken würden Clara nicht zurückbringen. Falls sie es gekonnt hätten, wäre sie Tausende Male in den Jahren seit ihrem Tod auf der Stelle zum Leben erwacht und ohne ihre schrecklichen Schmerzen umhergetanzt.

Er zog sich rasch an, ein einfacher brauner Anzug und eine graue Perücke, und verließ sein Zimmer, während die weiblichen Stimmen noch immer undeutlich hinter der Tür schwatzten. Die Erkenntnis, dass Lady Margaret so nah bei ihm geschlafen hatte, sandte ihm einen Schauer der Erregung durch den Körper. Es war durchaus nicht so, dass er vor solchen Zeichen des Lebens weglief, aber es war nur natürlich, dass die Anwesenheit anderer – weiblicher anderer – in seinem düsteren alten Haus für ihn ungewohnt war.

Godric ging die Treppe zum Untergeschoss hinunter. Normalerweise frühstückte er im Kaffeehaus, erstens, um die neusten Nachrichten zu hören, und zweitens, weil die Mahlzeiten in seinem eigenen Haus unvorhersehbar waren. Heute aber straffte er die Schultern und wagte sich in das selten genutzte Speisezimmer im hinteren Teil des Hauses.

Nur, um es belegt zu finden.

„Sarah.“

Eine befremdliche Sekunde lang hatte er sie nicht erkannt, diese selbstbeherrschte Dame, die ein gesetztes taubengraues Kostüm trug. Wie viele Jahre war es her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte?

Als sie ihren Namen hörte, drehte sie sich um und ihr ruhiges Gesicht leuchtete erfreut auf. Ihm wurde warm ums Herz und das erwischte ihn auf dem falschen Fuß. Sie hatten nie besonders viel Zeit miteinander verbracht – er war ein ganzes Dutzend Jahre älter als sie – und er hatte nicht einmal geahnt, wie sehr er sie vermisst hatte.

Aber offenbar war es so.

„Godric!“

Sie stand auf und kam um den langen, ramponierten Tisch herum, an dem sie gesessen hatte. Sie umarmte ihn schnell und fest. Die Berührung ging ihm erschreckend nahe. Er war schon so lange allein.

Sie trat zurück, bevor er die Umarmung erwidern konnte, und warf ihm einen beunruhigend wissenden Blick zu. „Wie geht es dir?“

„Gut.“ Er zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Nach drei Jahren war er an die besorgten Blicke und freundlichen Verhöre – vor allem von Frauen – gewöhnt. Trotzdem fühlte er sich dabei dummerweise immer noch unbehaglich. „Hast du schon gegessen?“

„Bisher habe ich noch nichts Essbares zu sehen bekommen“, bemerkte sie trocken. „Dein Diener Moulder hat mir ein Frühstück versprochen und ist dann verschwunden. Das war vor fast einer halben Stunde.“

„Ah.“ Er wünschte, er könnte so tun, als überraschte ihn das, war sich aber nicht einmal sicher, ob etwas Essbares im Haus vorhanden war. „Hm. Vielleicht hat er sich zu einem Gasthaus aufgemacht oder …“

Moulder platzte herein; er trug ein schwer beladenes Tablett. „Bitte sehr!“

Er knallte das Tablett in die Mitte des Tisches und trat stolz zurück.

Godric musterte das Tablett. In der Mitte stand eine Teekanne samt einer Tasse. Daneben lag ungefähr ein halbes Dutzend halb verbrannter Scheiben Toast, dazu ein Topf mit Butter und fünf Eier auf einem Teller. Hoffentlich gekochte.

Godric zog eine Augenbraue in die Höhe. „Der Koch ist … ähm unpässlich, nehme ich an.“

Moulder machte ein schnaubendes Geräusch. „Der Koch ist gegangen. Und mit ihm dieser hübsche Käseleib, das silberne Salzfässchen und die Hälfte des Geschirrs. Die Tatsache, dass wir so viele Gäste haben, hat ihn vergangenen Abend offenbar nicht besonders glücklich gemacht.“

„Ich muss sagen, mich hat seine Art, mit einem Braten umzugehen, ebenso wenig glücklich gemacht.“

„Er war auch mit Ihren Weinvorräten äußerst vertraut, wenn ich das sagen darf, Sir“, entgegnete Moulder. „Ich sehe mal nach, ob ich noch Teetassen finde.“

„Danke, Moulder.“ Godric wartete, bis der Butler den Raum verlassen hatte, bevor er sich wieder an seine Schwester wandte. „Ich entschuldige mich für den schlechten Zustand meines Haushalts.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte Sarah, während sie sich hinsetzte. „Wir sind ohne Ankündigung hier hereingeschneit.“

Sie griff nach der Teekanne.

„Hm“, machte Godric, während er sich auf einem Platz seiner Schwester gegenüber niederließ. „Darüber habe ich mich gewundert.“

„Ich bin davon ausgegangen, Margaret hätte dir geschrieben.“ Sarah zog fragend eine Augenbraue hoch und sah ihn an.

Er schüttelte nur den Kopf und nahm sich eine Scheibe Toast.

„Ich frage mich, warum sie dir nichts von unserer Ankunft geschrieben hat“, sagte sie leise, während sie ihren Toast butterte. „Wir haben die Reise schon vor Wochen geplant. Glaubst du, sie hat sich Sorgen gemacht, dass du ihr den Besuch verwehren könntest?“

Er hätte sich fast an seinem Toast verschluckt. „Das hätte ich nie getan. Wie kommst du darauf?“

Sie zuckte elegant mit den Schultern. „Ihr lebt seit eurer Hochzeit getrennt. Du schreibst weder ihr noch mir kaum. Oder, wenn ich schon dabei bin, auch Mama, Charlotte oder Jane.“

Godric presste die Lippen zusammen. Er hatte ein herzliches Verhältnis zu seiner Stiefmutter und seinen jüngeren Halbschwestern, aber sie standen ihm nicht besonders nahe. „Es war keine Liebesheirat.“

„Offenbar.“ Sarah knabberte vorsichtig an ihrem Toast. „Mama macht sich deinetwegen Sorgen, weißt du? Ich auch.“

Ohne zu antworten schenkte er ihr Tee nach. Was sollte er sagen? Oh, mir geht es gut. Ich habe meine große Liebe verloren, wisst ihr, aber dafür ist der Schmerz erträglich. So zu tun, als ginge es ihm prima, als wäre das Aufstehen für ihn jeden Tag keine Qual, wurde ermüdend. Warum fragten sie ihn überhaupt? Sahen sie denn nicht, dass er so gebrochen war, dass nichts ihn wieder heil machen konnte?

„Godric?“ Ihre Stimme klang sanft.

Er räusperte sich, während er Sarah die Teetasse quer über den Tisch zuschob. „Wie geht es meiner Stiefmutter und meinen Schwestern?“

Sie machte ein Gesicht, als wollte sie ihn weiter drängen. Doch schließlich trank sie stattdessen einen Schluck Tee. „Mama geht es gut. Sie steckt mitten in den Vorbereitungen für Janes Debüt. Sie wollen bei Mamas Busenfreundin, Lady Hartford, im Herbst die Saison verbringen.“

„Ah.“ Godric war erleichtert, dass seine Stiefmutter nicht vorhatte, in Saint House zu wohnen. Auf die Erleichterung folgte aber umgehend ein Schuldgefühl. Er hätte eigentlich wissen sollen, dass seine jüngste Schwester inzwischen alt genug war, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Herrje! Die Jane, an die er sich erinnerte, war ein sommersprossiges Schulmädchen, das mit einem Reifen und einem Stock herumrannte. „Und wie geht es Charlotte?“

Sarah richtete den Blick gen Himmel. „Wickelt alle jungen Männer von Upper Hornsfield um den Finger!“

„Gibt es in Upper Hornsfield geeignete junge Männer?“

„Natürlich nicht so viele wie in Lower Hornsfield. Aber zwischen dem neuen Kaplan und den Söhnen des ansässigen Gutsbesitzers hat sie einen hübschen Zirkel junger Männer um sich versammelt. Ich weiß nicht, ob ihr wirklich klar ist, dass ihr sehnsüchtige männliche Blicke folgen, wo immer sie auch hingeht.“

Der Gedanke, dass die kleine Charlotte, die er zum letzten Mal gesehen hatte, als sie mit Jane hitzig um ein Stück Feigenkuchen gestritten hatte, eine ländliche Femme fatale geworden war, ließ Godric lächeln.

In diesem Moment öffnete sich die Esszimmertür und er blickte auf.

Direkt in die Augen seiner Frau, die gelassen im Eingang stand, als wäre sie Boudicca und bereit, ein armseliges, argloses römisches Feldlager zu stürmen.

Megs blieb auf der Türschwelle zum Esszimmer stehen und atmete tief durch. Godric sah heute irgendwie anders aus als der Mann, an den sie sich vom vergangenen Abend her erinnerte. Vielleicht lag es einfach am Tageslicht. Oder es konnte auch die Tatsache sein, dass er ordentlich angezogen war und einen gut geschnittenen, wenn auch abgetragenen nussbraunen Anzug trug.

Oder vielleicht war es auch das kleine Lächeln. Es ebnete die Sorgenfalten auf seiner Stirn und um die grauen Augen und lenkte die Aufmerksamkeit auf seinen großen, vollen Mund, der von zwei tiefen Grübchen flankiert war. Einen Augenblick lang ließ sie den Blick auf diesem Mund ruhen und fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn dieser Mund ihren Mund berührte …

„Guten Morgen!“ Er erhob sich höflich.

Sie blinzelte und blickte rasch auf. Vergangene Nacht hatte sie beschlossen – logischerweise! – mit ihrer Verführung bis zum Morgen zu warten. Wer würde schon nach zweijähriger Abwesenheit sofort ins Bett eines fremden Mannes hüpfen? Jetzt aber war es Morgen und deshalb …

Richtig! Den Ehemann verführen.

Ihr Schweigen hatte sein Lächeln ganz und gar verschwinden lassen; seine Augen waren zusammengekniffen, während er auf ihre Antwort wartete. Alles in allem sah er eindrucksvoll aus.

Baby.

Megs straffte die Schultern. „Guten Morgen!“

Sie lächelte vielleicht etwas zu breit, als sie versuchte, ihren Aussetzer vergessen zu machen.

Sarah, die sich bei Megs Eintreten umgedreht hatte, ließ eine Augenbraue in die Höhe schnellen.

Godric umrundete den Tisch und zog ihr einen Stuhl neben Sarah heraus. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“

Das Zimmer war feucht und staubig gewesen und hatte nach Schimmel gerochen. „Ja, sehr gut.“

Er sah sie zweifelnd an.

Sie ging auf ihn zu und dann um den Tisch herum zu dem Stuhl, der neben seinem verlassenen stand.

„Ich möchte hier sitzen, wenn es dir nichts ausmacht“, sagte sie mit rauer Stimme und senkte die Lider so, dass es hoffentlich verführerisch wirkte. „Neben dir.“

Er neigte mit unergründlichem Blick den Kopf zur Seite. „Bist du erkältet?“

Verflixt! Es war schon lange her, seit sie geflirtet hatte. Megs warf ihrer Schwägerin einen irritierten Blick zu und unterdrückte das Verlangen, ihr die Zunge herauszustrecken. Sarah verschluckte sich fast an ihrem Tee.

„Wie du willst.“ Plötzlich stand Godric neben ihr und beim Klang seiner krächzenden Stimme so nah an ihrem Ohr wäre sie beinahe zusammengezuckt. Bei Gott, der Mann konnte sich wirklich leise bewegen!

„Danke.“ Sie sank auf den Stuhl und war sich dabei seiner Anwesenheit hinter ihr wohl bewusst. Groß und einschüchternd ragte er hinter ihr auf. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück.

Megs biss sich auf die Unterlippe und betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sollte sie sich unter dem Tisch an seinem Bein reiben? Aber seine Miene wirkte so unglaublich … ernst. Es war ein bisschen so, als wollte man mit dem Erzbischof von Canterbury tändeln.

Und dann sah sie das Frühstück und vergaß ihren jämmerlichen Verführungsversuch sofort.

Mit schmalen Augen betrachtete Megs den Teller in der Mitte des Tischs. Darauf lagen ein paar Stücke verbrannten Toasts und einige hart gekochte Eier. Sie blickte sich im Esszimmer um, sah aber keinerlei Anzeichen weiterer Lebensmittel.

„Möchtest du etwas Toast?“, murmelte ihr Sarah von gegenüber zu.

„Oh, vielen Dank!“ Megs riss fragend die Augen auf.

„Wie es scheint, hat der Koch die Fliege gemacht, wie Oliver sagen würde.“ Sarah zuckte kaum wahrnehmbar mit den Schultern, während sie Megs den Teller hinschob. „Ich glaube, Moulder sucht gerade nach einer weiteren Tasse für den Tee, aber in der Zwischenzeit kannst du gerne einen Schluck von mir nehmen.“

„Ähm …“ Megs kam um eine Antwort herum, weil die Esszimmertür aufflog.

„Meine Lieben!“ Großtante Elvina betrat das Zimmer. „Ihr werdet nicht glauben, in welch fürchterlichem Raum ich vergangene Nacht geschlafen habe! Ihre Hoheit konnte den Staub nicht ertragen und hat die ganze Nacht schrecklich gekeucht.“

Bei Großtante Elvinas Erscheinen hatte sich Godric erhoben. Jetzt räusperte er sich. „Ihre Hoheit?“

Ein kleiner, aber außerordentlich runder, beigefarbener Mops watschelte herein, sah Großtante Elvina flüchtig an, ließ sich auf den Teppich fallen und rollte sich auf die Seite. Dort lag er und keuchte heftig, der geschwollene Bauch hob und senkte sich.

Der Hang zum Drama war bei Ihrer Hoheit ebenso ausgeprägt wie bei ihrer Herrin.

„Das ist Ihre Hoheit“, beeilte sich Megs ihrem Ehemann zu erklären und fügte – möglicherweise unnötig – hinzu: „Sie ist ein bisschen eigen.“

„Allerdings“, murmelte Godric. „Ist er … ähm … geht es Ihrer Hoheit gut? Sie sieht etwas besorgt aus.“

„Möpse sehen immer besorgt aus“, verkündete Großtante Elvina laut. Ihre Schwerhörigkeit war unberechenbar. „Sie ist sicher mit einer Schüssel warmer Milch mit einem Löffel Sherry darin zufrieden.“

Godric blinzelte. „Ah! Ich muss mich entschuldigen, aber ich glaube, wir haben keine Milch. Und was den Sherry angeht …“

„Keins von beiden“, sagte Moulder mit mürrischer Genugtuung, während er hinter Großtante Elvina das Zimmer betrat. In den Armen hatte er eine Sammlung nicht zusammenpassender Teetassen.

„Genau“, meinte Godric rasch. „Aber vielleicht, wenn ich früher von eurer Ankunft gewusst hätte …“

„Kein Grund, sich zu entschuldigen“, sagte Megs rasch.

Er drehte sich zu ihr und starrte sie an. Jetzt sah sie die dünnen Linien, die sich von seinen Augenwinkeln her ausbreiteten. Wirklich faszinierend, was absurd war. Was sollte an Krähenfüßen faszinierend sein?

Megs schüttelte sich innerlich und fuhr fort: „Im Grunde genommen fehlt deinem Haus seit einiger Zeit eine weibliche Hand, die alles erledigt. Wenn wir erst einmal einen neuen Koch und ein paar Küchenmädchen eingestellt haben …“

„Und eine Haushälterin und Dienstmädchen“, warf Sarah ein.

„Von einigen Dienern gar nicht zu reden“, fügte Großtante Elvina hinzu. „Große, starke.“

„Nun, wir haben Oliver und Johnny mitgebracht und du dazu zwei Diener“, sagte Megs nachdrücklich.

„Man kann nicht von ihnen erwarten, dass sie all die schweren Dinge heben, die bewegt werden müssen, um das Haus zu säubern“, gab Großtante Elvina stirnrunzelnd zu bedenken. „Hast du die Geschosse oben gesehen?“

„Ähm …“ Megs hatte sich die oberen Stockwerke tatsächlich noch nicht angesehen, aber wenn der Zustand der Zimmer, in denen sie vergangene Nacht geschlafen hatten, ein Anhaltspunkt war … „Am besten, wir heuern mindestens ein halbes Dutzend Burschen zum Saubermachen an.“

„Ich weiß nicht, ob ich eine ganze Armee brauche, um Saint House zu unterhalten“, sagte ihr Ehemann trocken. „Vor allem, nachdem ihr wieder gefahren seid. Und ich nehme an, das wird schon bald sein.“

„Wie bitte?“, bellte Großtante Elvina und hielt sich die Hand horchend ans Ohr.

Megs hielt einen Finger in die Höhe, um sich bemerkbar zu machen. Ihr war etwas eingefallen. Sie wandte sich an Moulder: „Sie haben doch sicher einige Leute, die Ihnen helfen, den Haushalt zu führen?“

„Es gab da ein paar starker Kerle und Mädchen, aber die sind schon vor einiger Zeit einer nach dem anderen gegangen. Neue Bedienstete haben wir nicht eingestellt.“ Moulder blickte nach oben, als spräche er mit den Spinnen, die in den Spinnennetzen lauerten, die von der Decke hingen. „Wir hatten da ein Mädchen, das Tilly hieß. Aber sie ist vor einem Monat schwanger geworden. Meine Schuld war es nicht.“

Alle Blicke richteten sich auf Godric.

Er verzog das Gesicht in leichter Verzweiflung. „Meine ebenfalls nicht.“

Gott sei Dank! Megs sah wieder zu Moulder, wobei sie sich des finster dreinblickenden Ehemanns neben ihr wohl bewusst war.

Der Butler zuckte mit den Schultern. „Kurz darauf ist Tilly auf und davon gegangen. Ich glaube, sie war hinter dem Lehrling des Fleischers her. Vielleicht ist er der Vater. Oder es könnte auch der Kesselflicker gewesen sein, der an die Küchentür geklopft hat.“

Einen Augenblick schwiegen alle und dachten über den Vater von Tillys Baby nach.

Dann räusperte sich Godric. „Wie lange genau dachten Sie in London zu bleiben, Lady Margaret?“

Megs lächelte strahlend, obwohl sie ihren vollständigen Namen noch nie gemocht hatte – vor allem dann, wenn er mit rauer Stimme, die dazu unheilvoll klang, so gedehnt ausgesprochen wurde. Sie wollte die Frage nicht beantworten. „Oh, ich mache nicht gern Pläne. Es macht viel mehr Spaß, den Dingen ihren Lauf zu lassen, findest du nicht auch?“

„Eigentlich nicht.“

Lieber Himmel, war der Mann beharrlich! Sie wandte sich hastig an Moulder. „Dann machen Sie alles im Haus allein?“

Moulders dicke, zottige Augenbrauen trafen sich und bescherten ihm unzählige Falten auf der Stirn und um die Triefaugen. Er war das Inbild eines Märtyrers. „Das mache ich, Mylady! Sie haben ja keine Ahnung! Es macht fürchterlich viel Arbeit, ein Haus wie dies hier in Ordnung zu halten. Meine Gesundheit ist viel zu angeschlagen dafür!“

Godric murmelte etwas. Die einzigen Wörter, die Megs davon verstand, waren „dick auftragen“.

Sie achtete nicht auf ihren Mann. „Ich muss mich wirklich bei Ihnen bedanken, Moulder, dass Sie so treu für Mr. St. John sorgen, obwohl es so viel Mühe macht.“

Moulder errötete. „Ach, das ist doch nichts, Mylady.“

Autor

Elizabeth Hoyt
Elizabeth Hoyt zählt zu den US-amerikanischen Bestseller-Autoren der New York Times für historische Romane. Ihren ersten Roman der Princess-Trilogie „Die Schöne mit der Maske“ veröffentlichte sie im Jahr 2006, seitdem folgten zwölf weitere Romane. Gern versetzt die erfolgreiche Schriftstellerin ihre Romanfiguren in das georgianische Zeitalter. Nachdem ihre beiden Kinder zum...
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