Duke des dunklen Verlangens

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Ein Schuss hallt durch die Nacht! Zitternd lässt Lady Iris Jordan die Waffe sinken – und erkennt ihren Fehler zu spät: Sie hat Raphael de Chartres, Duke of Dyemore, angeschossen. Dabei hat er sie soeben aus den Fängen der grausamen „Lords of Chaos“ befreit! In rasender Fahrt bringt seine Kutsche sie beide zu seinem Anwesen. Wo der verletzte Duke, der den Geheimbund zerschlagen will, Iris ein skandalöses Angebot macht: Er kann sie nur beschützen, wenn sie ihn noch in dieser Nacht heiratet! Soll Iris wirklich die Duchess dieses geheimnisvollen Mannes werden, um den sich dunkle Gerüchte ranken … und der ihr im Fieberwahn einen heißen Kuss raubt?


  • Erscheinungstag 28.01.2022
  • Bandnummer 137
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511124
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch ist für Dich.

Falls Du die anderen elf Bücher der Maiden-Lane-Reihe schon gelesen hast, dann vielen Dank für Deine Treue und dafür, dass Du mich auf der Odyssee durch das georgianische London begleitest. Ich hoffe, Dir gefallen die Menschen, die Anblicke und Geräusche und,

vor allem, die Leidenschaft.

Falls Du noch keines meiner Bücher gelesen hast:

Ach herrje. Setz Dich, schenk Dir eine Tasse Tee ein und lass mich Dir eine Geschichte erzählen …

DANKSAGUNG

Ein Buch zu veröffentlichen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die Ideen, die Charaktere und der erste Entwurf der Geschichte stammen natürlich von mir, aber danach habe ich eine Menge Hilfe. Also vielen Dank an meine Lektorin Amy Pierpont, die bei meinen Vorschlägen nie eine Miene verzieht – nicht einmal bei dem mit dem psychotischen Lord – und die immer zur richtigen Zeit geduldig, freundlich und verständnisvoll ist. Danke an meine Beta-Leserin Susannah Taylor, die mich sowohl angefeuert als auch – und vielleicht noch wichtiger – darauf hingewiesen hat, was im ersten Manuskript überhaupt nicht nach ihrem Geschmack war. Danke an meine Agentin Robin Rue, die mir immer kurze E-Mails schickt, wenn sie seit einer Weile nichts mehr von mir gehört hat, einfach nur, um zu fragen, wie es mir so geht. Danke an meine Assistentin Mel Jolly, die mich davor bewahrt, den Verstand zu verlieren, OMG. Danke an meine Korrektorin S. B. Kleinman, dafür, dass sie mich davor bewahrt, mich zu blamieren. Danke an die Mitglieder des Designteams Alan Ayers und Elizabeth Turner, die viel Arbeit in die Cover meiner Bücher stecken (besonders in dieses). Danke an die Redaktion und die Verkaufsabteilung und auch an alle anderen, die bei Grand Central Publishing arbeiten und die ich immer nur bei gehetzten Cocktailpartys in New York sehe.

Ihr alle habt dieses Buch nicht nur lesenswert, sondern viel besser gemacht, als ich es allein hätte schaffen können.

Und ein ganz besonderer Dank an meine Facebook-Freundin Galia B., die mir dabei geholfen hat, Tansy ihren Namen zu geben!

1. KAPITEL

Es war einmal vor langer Zeit ein armer Steinmetz …

Aus: „Der Felsenkönig“

April 1742

Im Vergleich dazu, wie außerordentlich langweilig ihr Leben bisher verlaufen war, konnte der Tod, der Iris Daniels – Lady Jordan – nun bevorstand, als ziemlich schillernd gelten.

Fackeln brannten auf langen Pflöcken, die man in die Erde getrieben hatte. Ihr flackerndes Licht ließ die Schatten in dieser mondlosen Nacht tanzen und über die maskierten Männer wabern, die in einem Kreis um sie herumstanden.

Die nackten maskierten Männer.

Und es waren keine biederen schwarzen Masken, o nein, die Männer hatten sich als bizarre Tiere verkleidet. Iris sah eine Krähe, einen Dachs, eine Maus und einen Bären mit haarigem Bauch und krummem rotem Geschlecht.

Iris kniete neben einem großen Felsblock, einem primitiven, umgestürzten Monolithen, den vor Jahrhunderten ein paar längst vergessene Menschen hergebracht haben mussten. Ihre zitternden Hände waren vor dem Körper gefesselt, das Haar hing ihr offen ums Gesicht, ihr Kleid war in einem schockierenden Zustand, und sie hatte den nagenden Verdacht, dass sie roch – das Ergebnis ihrer viertägigen Gefangenschaft, nachdem man sie entführt hatte.

Vor ihr standen drei Männer, die Meister dieser grässlichen Farce.

Der erste trug eine Fuchsmaske. Er war dürr, blass, und aus seiner Körperbehaarung zu schließen wohl ein Rotschopf. Ein kleiner Delfin war auf die Innenseite seines Unterarms tätowiert.

Der zweite trug eine Maske, die das Gesicht eines jungen Mannes mit Traubenreben im Haar zeigte – der Gott Dionysos, wenn sie sich nicht irrte. Seltsamerweise war diese Maskierung noch viel schrecklicher als die Tiergestalten. Er hatte eine Delfintätowierung am rechten Oberarm.

Der letzte von ihnen war ein Wolf und überragte die anderen beiden um gut einen Kopf. Seine Körperbehaarung war schwarz, und er strahlte eine ruhige Kraft aus. Auch er trug den Delfin, direkt auf dem Hüftknochen, was den Blick des Betrachters unweigerlich auf seine … ähm … männlichen Attribute lenkte.

Der Mann mit der Wolfsmaske musste sich jedenfalls für nichts schämen.

Ein Schauer lief Iris über den Rücken, und sie sah angewidert weg, wobei sie versehentlich dem höhnischen Blick des Wolfs begegnete.

Stolz hob sie das Kinn. Sie wusste, was dies für Männer waren. Sie gehörten zu den „Lords of Chaos“, einem abscheulichen Geheimbund, dessen aristokratischen Mitgliedern zwei Dinge gefielen: Macht sowie Vergewaltigung von Frauen und Kindern.

Iris schluckte schwer und rief sich in Erinnerung, dass sie eine Lady war – ihre Familie konnte ihren Stammbaum fast bis zur Zeit von William dem Eroberer zurückverfolgen – und dass sie als solche ihrem Namen und ihrer Ehre gerecht werden musste.

Diese … Kreaturen konnten sie töten – und Schlimmeres –, aber sie würden ihr nicht ihre Würde nehmen.

„Mylords!“, rief Dionysos und hob in einer theatralischen Geste die Arme, was nicht gerade von Stilsicherheit zeugte. Allerdings wandte er sich damit ja auch an ein Publikum aus nackten, maskierten Männern. „Mylords, ich heiße euch zu unser Frühlingsfeier willkommen. Heute Nacht werden wir ein ganz besonderes Opfer darbringen: die neue Duchess of Kyle!“

Die Männer brüllten wie geifernde Bestien.

Iris blinzelte. Die Duchess of …

Rasch blickte sie sich um.

Soweit sie es im makabren Fackelschein erkennen konnte, war sie das einzige infrage kommende Opfer hier, aber sie war ganz entschieden nicht die Duchess of Kyle.

Der Tumult legte sich allmählich wieder.

Iris räusperte sich. „Nein, das bin ich nicht.“

„Sei still“, zischte der Fuchs.

Aus zu Schlitzen verengten Augen sah sie ihn an. Vor vier Tagen hatte man sie auf dem Heimweg nach der Hochzeit der wahren Duchess of Kyle entführt. Man hatte sie gefesselt, ihr die Augen verbunden und sie auf den Boden einer Kutsche geworfen, wo sie geblieben war, während die Kutsche über furchige Straßen rumpelte. Nachdem sie hier angekommen waren, hatte man sie in eine winzige Steinhütte gestoßen, ohne einen Kamin oder eine andere Wärmequelle. Sie hatte nur ein paar Becher Wasser bekommen und war ausgehungert, und schließlich hatte sie auch noch einen Eimer benutzen müssen, um sich zu erleichtern.

Das alles hatte ihr viel zu viel Zeit gelassen, um über ihren Tod und über die Folter nachzudenken, die ihm wahrscheinlich vorausgehen würde.

Sie mochte allein und vollkommen verängstigt sein, aber sie würde sich den Plänen dieser Lords nicht kampflos ergeben. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte sie nichts zu verlieren, dafür aber vielleicht ihr Leben zu gewinnen.

Sie hob die Stimme und sagte klar und deutlich: „Ihr habt einen Fehler gemacht. Ich bin nicht die Duchess of Kyle.“

Der Wolf wandte sich an Dionysos und sprach zum ersten Mal. Seine Stimme klang tief und rauchig. „Ihre Männer haben die falsche Frau entführt.“

„Unsinn“, knurrte Dionysos ihn an. „Wir haben sie uns drei Tage nach ihrer Hochzeit mit Kyle geholt.“

„Ja, als ich nach der Hochzeit auf dem Heimweg zurück nach London war“, fauchte Iris. „Der Duke of Kyle hat eine junge Frau namens Alf geheiratet, nicht mich. Warum hätte ich den Duke sonst gleich nach der Hochzeit wieder verlassen sollen?“

Dionysos drehte sich zu dem Fuchs um, woraufhin dieser in sich zusammenschrumpfte. „Du hast mir gesagt, dass du mit eigenen Augen gesehen hast, wie sie Kyle geheiratet hat.“

Der Wolf stieß ein dunkles Lachen aus.

„Sie lügt!“, schrie der Fuchs und stürzte sich auf sie.

Der Wolf machte einen Satz nach vorn, packte den Fuchs, drehte ihm den Arm auf den Rücken und zwang ihn auf die Knie.

Iris starrte den Wolf an, und ein Zittern erfasste sie. Noch nie hatte sie gesehen, wie sich jemand so schnell bewegte.

Und mit solcher Brutalität.

Der Wolf beugte sich über seine Beute, beide Männer keuchten, ihre Körper waren schweißnass. Die Schnauze der Wolfsmaske drückte gegen den gebeugten Nacken des Fuchses. „Fass. Nichts. An. Das. Mir. Gehört.“

„Lassen Sie ihn los“, rief Dionysos scharf.

Der Wolf rührte sich nicht.

Dionysos ballte die Hände zu Fäusten. Gehorchen Sie mir.“

Schließlich wandte der Wolf sich vom Nacken des Fuchses ab und sah Dionysos an. „Sie haben die falsche Frau – ein fehlerhaftes Opfer, das der Feierlichkeit nicht würdig ist. Ich will sie haben.“

„Seien Sie vorsichtig“, erwiderte Dionysos leise. „Sie sind neu in unserem Bund.“

Der Wolf legte den Kopf schief. „So neu nun auch wieder nicht.“

„Vielleicht sagen wir lieber, Sie sind uns neu beigetreten“, antwortete Dionysos. „Sie kennen sich mit unseren Regeln noch nicht gut aus.“

„Ich weiß, dass ich als der Gastgeber das Recht habe, sie für mich zu beanspruchen“, knurrte der Wolf. „Sie ist für mich bestimmt.“

Dionysos neigte den Kopf, als würde er überlegen. „Nur mit meiner Erlaubnis.“

Plötzlich breitete der Wolf die Arme aus, wobei er den Fuchs losließ, und kam elegant auf die Füße. „Dann eben mit Ihrer Erlaubnis.“ Ein Hauch von Spott lag in seiner Stimme.

Das Licht der Fackeln schimmerte auf seiner muskulösen Brust und den starken Armen. Er strahlte eine natürliche Überlegenheit aus.

Warum sollte sich ein Mann mit einer so selbstverständlichen Macht diesem widerlichen Bund anschließen?

Den anderen Lords of Chaos schien der Gedanke nicht zu gefallen, dass ihnen ihre Hauptvergnügung für diesen Abend vor der Nase weggeschnappt werden sollte. Die Maskierten um sie murmelten und regten sich, ein rastloses Miasma der Gefahr, das in der Nachtluft hing.

Ein einziger Funke konnte sie in Brand setzen, begriff Iris.

„Nun?“, fragte der Wolf an Dionysos gewandt.

„Sie dürfen sie nicht gehen lassen“, sagte der Fuchs zu seinem Anführer, während auch er sich hochrappelte. Auf seiner blassen Haut bildeten sich bereits Blutergüsse. „Warum, zum Teufel, hören Sie ihm zu? Sie gehört uns. Wir nehmen uns von ihr, was wir wollen, und …“

Der Wolf schlug ihm seitlich gegen den Kopf. Es war ein entsetzlicher Hieb, der den Fuchs nach hinten warf.

„Sie gehört mir“, sagte der Wolf und sah wieder Dionysos an. „Führen Sie diese Lords nun an oder nicht?“

„Ich glaube, es gibt keinen Zweifel daran, dass ich die Lords anführe“, schnarrte Dionysos, doch das Raunen der Menge wurde lauter. „Ich glaube nicht, dass ich Ihnen dies beweisen muss, indem ich Ihnen die Frau gebe.“

Iris schluckte. Die Männer kämpften um sie wie wilde Hunde um einen Fleischfetzen. War es besser, wenn der Wolf sie für sich beanspruchte? Sie wusste es nicht.

Der Wolf stand zwischen Iris und Dionysos, und sie sah, wie sich die Muskeln an seinen Schenkeln spannten. Ob Dionysos wohl begriff, dass der Wolf zum Sprung ansetzte?

„Allerdings“, fuhr Dionysos fort, „kann ich sie Ihnen als einen Akt der … Großzügigkeit überlassen. Genießen Sie sie in jeder Ihnen passend erscheinenden Hinsicht, aber sorgen Sie dafür, dass ihr Herz nicht mehr schlägt, sobald die Sonne aufgeht.“

Iris keuchte bei diesem unverhohlenen Todesurteil. Dionysos hatte den Mord an ihr so beiläufig befohlen, wie er einen Käfer zertreten würde.

„Sie haben mein Wort“, entgegnete der Wolf, und voller Angst sah Iris ihn an.

Mein Gott, diese Männer waren Monster.

Dionysos neigte den Kopf. „Ihr Wort – und alle haben es gehört.“

Ein tiefes Grollen drang hinter der Wolfsmaske hervor. Er beute sich vor, packte Iris’ gefesselte Hände und riss sie hoch. Sie stolperte hinter ihm her, während er sich einen Weg durch die Menge der wütenden Maskierten bahnte. Die Männer stießen gegen sie, schubsten sie mit ihren nackten Armen und Ellbogen herum, bis der Wolf sie endlich ins Freie zerrte.

Sie war mit einer Kapuze über den Kopf hierhergebracht worden, weshalb sie nun erst erkannte, dass sie sich in den Ruinen einer Kirche oder Kathedrale befand. Felsen und eingestürzte Bogengänge ragten in die Dunkelheit, und mehr als einmal wäre sie beinahe über vollkommen überwucherten Schutt gefallen. Die Frühlingsnacht war kühl, nachdem sie sich von den Feuern entfernt hatten, doch der Mann hinter der Wolfsmaske, der nackt vor ihr herging, schien vollkommen unbeeinträchtigt von den Elementen zu sein. Er blieb nicht stehen, bis sie eine unbefestigte Straße und mehrere wartende Kutschen erreicht hatten.

Er ging zu einer davon, öffnete ohne weitere Umstände den Schlag und stieß sie hinein. „Warten Sie hier. Schreien Sie nicht und versuchen Sie nicht davonzulaufen. Was ich sonst tun muss, würde Ihnen nicht gefallen.“

Nach dieser rätselhaften Ankündigung schloss sich der Schlag wieder, und Iris saß vor Angst und Panik schwer atmend in der dunklen, leeren Kutsche.

Sofort versuchte sie, die Tür aufzudrücken, aber sie war verschlossen oder mit irgendetwas verbarrikadiert. Sie ließ sich nicht öffnen.

In der Ferne hörte Iris Männerstimmen. Rufe und Gebrüll. Mein Gott. Sie klangen wie ein Rudel tollwütiger Hunde. Was würde der Wolf ihr antun?

Sie brauchte eine Waffe. Etwas, irgendetwas, womit sie sich verteidigen konnte.

Hastig tastete sie die Tür ab: ein Knauf, aber er ließ sich nicht abreißen. Ein kleines Fenster, keine Vorhänge. Die Wände – nichts. Die Sitze waren mit Samt bezogen. Teuer. Manchmal in den besser gebauten Kutschen …

Sie zog an einem der Sitzpolster.

Es ließ sich hochklappen.

Darunter war ein kleiner Aufbewahrungsraum.

Sie tastete darin umher. Eine Felldecke. Sonst nichts.

Verdammt.

Sie hörte die knurrende Stimme direkt vor der Kutsche.

Verzweifelt warf sie sich auf den Sitz gegenüber und riss am Polster, steckte die Hand in den Hohlraum darunter.

Eine Pistole.

Sie lud durch und hoffte, dass eine Kugel darin war.

Dann wirbelte sie herum und zielte auf die Tür der Kutsche, genau in dem Moment, in dem sie aufschwang.

Der Wolf stand vor ihr, immer noch nackt, eine Laterne in der Hand. Sie sah, wie die Augen hinter der Maske zur Pistole huschten, die sie zwischen den gefesselten Händen hielt. Er drehte den Kopf und sagte etwas in einer unverständlichen Sprache zu jemandem draußen.

Iris fühlte, wie ihr der Atem rau durch die Brust strömte.

Der Wolf stieg in die Kutsche und schloss die Tür, wobei er weder auf sie noch auf die Pistole achtete, die auf ihn gerichtet war. Er hängte die Laterne an einen Haken und setzte sich ihr gegenüber.

Endlich sah er sie an. „Nehmen Sie die runter.“

Seine Stimme war ruhig. Leise.

Nur der Hauch einer Drohung schwang darin mit.

Sie wich in den hintersten Winkel zurück, so weit von ihm weg wie nur möglich. Dabei zielte sie weiter auf seine Brust. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie kaum etwas anderes hören konnte. „Nein.“

Mit einem Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung, und Iris geriet ins Wanken, fing sich dann jedoch wieder.

„S…sagen Sie ihnen, dass sie die Kutsche anhalten sollen“, verlangte sie, stotternd vor Angst trotz ihrer Entschlossenheit. „Lassen Sie mich gehen.“

„Damit die da draußen Sie vergewaltigen und umbringen können?“ Mit dem Kinn wies er in Richtung der Lords. „Nein.“

„Dann im nächsten Dorf.“

„Ich glaube nicht.“

Er machte eine Bewegung auf sie zu, und ihr blieb keine andere Wahl.

Sie schoss auf ihn.

Die Wucht des Treffers schleuderte ihn nach hinten auf den Sitz. Der Rückschlag riss ihr die Hände nach oben, und fast hätte die Pistole ihre Nase getroffen.

Iris richtete sich auf. Die Kugel war verschossen, aber sie konnte die Pistole immer noch als Knüppel benutzen.

Der Wolf lag quer über der Sitzbank, Blut lief aus einer klaffenden Wunde an seiner rechten Schulter. Die Maske war verrutscht.

Iris streckte die Hand aus und riss sie herunter.

Erschrocken schnappte sie nach Luft.

Das Gesicht dahinter musste einmal schön wie das eines Engels gewesen sein, doch nun war es grässlich entstellt. Eine brennend rote Narbe zog sich von knapp unterhalb des Haaransatzes über die rechte Seite seines Gesichts, durchtrennte die Braue, verschonte irgendwie das Auge selbst, grub dann jedoch eine Furche in seine Wange und streifte seine Oberlippe, was diese seltsam verzerrte. Die Narbe endete in einem Krater im Fleisch der strengen Kinnlinie des Mannes. Sein Haar war tintenschwarz, und obwohl er die Augen geschlossen hatte, wusste Iris, dass sie gefühllos und kristallgrau waren.

Weil sie den Mann vor ihr erkannte.

Er war Raphael de Chartres, der Duke of Dyemore, und als sie mit ihm getanzt hatte – ein Mal – vor drei Monaten bei einem Ball, da hatte sie gedacht, dass er aussah wie Hades.

Der Gott der Unterwelt.

Der Gott der Toten.

Sie hatte keinen Grund, ihre Meinung jetzt zu ändern.

Dann schnappte er nach Luft, öffnete die eiskalten Kristallaugen und starrte sie an. „Sie närrisches Weibsbild, ich versuche, Sie zu retten.“

Raphael verzog vor Schmerz das Gesicht und spürte, wie die Narbe an seiner Oberlippe zerrte, was seinen Mund zu einem grotesken Grinsen zwang.

Die Frau, die auf ihn geschossen hatte, starrte ihn an, aus Augen von der Farbe des Himmels über dem Moor kurz nach einem Sturm: blaugrau, nachdem die schwarzen Wolken vorbeigetrieben waren. Dieser besondere Blauton hatte zu den wenigen Dingen gehört, die seine Mutter in England schön gefunden hatte.

Worin Raphael ihr zustimmen musste.

Trotz der Furcht, die darin schimmerte, waren Lady Jordans blaugraue Augen schön.

„Was soll das heißen, Sie versuchen, mich zu retten?“ Noch immer hielt sie die Pistole erhoben wie einen Knüppel, den sie ihm über den Schädel ziehen würde, sobald er sich rührte. Blutrünstiges kleines Biest.

„Ich meine damit, dass ich nicht vorhabe, Sie zu vergewaltigen und zu töten.“ Jahre der Qual und der Racheträume, gefolgt von monatelanger Planung, um sich bei den Lords of Chaos einzuschleichen, nur um jetzt alles in sich zusammenstürzen zu sehen wegen eines Paars blaugrauer Augen. Er war ein Dummkopf. „Ich wollte Sie nur von der Orgie der Lords dort hinten verschwinden lassen. Seltsamerweise habe ich geglaubt, dass Sie dafür dankbar wären.“

Misstrauisch senkte sie ihre hübschen Brauen über den blaugrauen Augen. „Sie haben Dionysos versprochen, mich umzubringen.“

„Ich habe gelogen. Wenn ich Ihnen etwas hätte antun wollen, dann wären Sie jetzt verschnürt wie eine Weihnachtsgans, das versichere ich Ihnen. Möglicherweise ist Ihnen aufgefallen, dass Sie das nicht sind.“

„O mein Gott.“ Mit entsetzter Miene ließ sie die Pistole fallen und starrte seine blutige Schulter an. „Das ist schrecklich.“

„Ziemlich“, stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor.

Er blickte auf seine Schulter. Aufgerissenes Fleisch, aus dem in einem stetigen Rhythmus Blut gepumpt wurde. Das war nicht gut. Eigentlich hatte er sie noch in dieser Nacht sicher auf den Weg zurück nach London schicken wollen, bewacht von seinen Männern. Wenn Dionysos hörte, dass sie auf ihn geschossen hatte, dass er geschwächt war …

Er gab ein Grollen von sich und versuchte, sich in der schaukelnden Kutsche aufzusetzen, um sie zu mustern, diese Frau, der er bisher erst ein Mal begegnet war.

Sie hatten einander in einem Ballsaal getroffen, wo er sich mit einigen Mitgliedern der Lords of Chaos treffen wollte. In diesem Nest der Korruption, in dem es von seinen Feinden nur so wimmelte, war sie herausgestochen, rein und unschuldig. Er hatte sie ermahnt, diesen gefährlichen Ort zu verlassen, und als sie schließlich zu ihrer Kutsche zurückgegangen war, allein, da war er ihr nachgeschlichen, um dafür zu sorgen, dass sie auch sicher dort ankam.

Damit hätte es enden sollen, wenn er nicht herausgefunden hätte, dass sie mit dem Duke of Kyle so gut wie verlobt war, einem Mann, den man mit der gefährlichen Aufgabe betraut hatte, die Lords of Chaos zu Fall zu bringen. Raphael wusste, dass Lady Jordan in Gefahr sein würde, solange Kyle hinter den Lords her war. Weshalb er einen Großteil seiner Zeit damit zugebracht hatte, sich Sorgen um sie zu machen. Er war sogar so weit gegangen, ihr aufs Land zu Kyles Anwesen zu folgen.

Wo er gesehen hatte, wie sie Kyle heiratete – oder jedenfalls hatte er das gedacht.

An diesem Punkt hatte er sich gezwungen gesehen, die Sache zu beenden. Lady Jordans Schutz war nicht länger seine Angelegenheit, sondern die ihres Ehemanns. Er gab es zwar nur zähneknirschend zu, aber Kyle war der Aufgabe, seine Frau zu beschützen, mehr als gewachsen. Wenn er einen Funken von Verlangen verspürt haben sollte … tja, jedenfalls hatte er diesen tief in seinem Innern vergraben, wo er irgendwann durch Mangel an Luft und Licht eines natürlichen Todes gestorben wäre.

Nun allerdings …

Es war, als hätte sein Herz vorher stillgestanden, um nun mit einem Ruck wieder zu schlagen zu beginnen. „Sind Sie wirklich nicht die Duchess of Kyle?“

„Nein.“ Sie streckte die Hand nach ihm aus, und es verblüffte ihn, wie sanft ihre Berührung war. Sie hatte keinen Grund, so zartfühlend mit ihm umzugehen, nicht nach dem, was sie in dieser Nacht durchgemacht hatte. Trotzdem legte sie ihre kleinen Hände um seinen linken Arm – den unverletzten – und stützte ihn. Sanft dirigierte sie ihn auf den gegenüberliegenden Sitz.

„Ich habe gesehen, wie Sie Kyle geheiratet haben“, sagte er in gleichmütigem Tonfall.

Finster blickte sie ihn an. „Wie? Alf und Hugh haben im Herrenhaus geheiratet. Der König war dort, und ich versichere Ihnen, dass überall Wachen auf ihren Posten waren.“

„Ich habe gesehen, wie Kyle Sie später, während der Feier im Garten, geküsst hat“, beharrte er. „Und ich versichere Ihnen, dass es die Wachen jedenfalls versäumt haben, den Wald zu durchsuchen, von dem aus man einen ungehinderten Blick auf den Garten hat.“

„Es geschieht Ihnen nur recht, dass Sie die Sache falsch verstanden haben, immerhin haben Sie spioniert“, erwiderte sie scharf. „Ich erinnere mich nicht daran, dass Hugh mich geküsst hat, aber wenn er es getan hat, dann auf eine brüderliche Art. Wir sind Freunde. Was aber jetzt unwichtig ist. Was immer Sie gesehen zu haben glauben, ich bin nicht mit Hugh verheiratet.“

Er schloss für einen Moment die Augen und fragte sich, warum sie ihn auf den anderen Sitz geschoben hatte, als er spürte, wie sich eine Felldecke über seinen nackten Körper legte. Bisher hatte er nicht einmal gemerkt, dass er zitterte.

Ach, natürlich. Die Felldecke hatte sich unter dem Sitz befunden, auf dem er vorher gelegen hatte. „In London war allerdings allgemein bekannt, dass Sie den Duke of Kyle heiraten würden.“

„Wir haben die Klatschmäuler in dem Glauben gelassen, ich wäre die Braut, weil seine wahre Gemahlin weder Familie noch Namen hat.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn das herauskommt, gibt es einen Skandal. Ist das der Grund, warum Sie mich gerettet haben? Weil Sie dachten, ich wäre die Duchess?“

„Nein.“ Raphael öffnete die Augen und sah zu, wie sie ihr Schultertuch löste und dabei ein tiefes Dekolleté entblößte. Ihre Brüste wirkten so zart und verletzlich. Rasch wandte er den Blick ab. So etwas war nicht für jemand so Verdorbenen wie ihn bestimmt. „Ich hätte Sie auf jeden Fall gerettet, Duchess hin oder her.“

„Aber warum?“ Sie schlug die Felldecke von seiner Schulter zurück und presste das Tuch fest auf die Wunde.

Scharf sog er die Luft durch die Zähne und machte sich nicht die Mühe, ihre unsinnige Frage zu beantworten. Hielt sie ihn für ein Monster?

Allerdings hatte sie ihn gerade bei etwas gesehen, das im Grunde nicht weniger als ein dämonischer Ritus war.

„Sie müssen die Kutsche anhalten“, sagte sie. „Ich kann die Blutung nicht stoppen. Sie brauchen einen Arzt. Ich sollte …“

„Wir sind ganz in der Nähe meines Zuhauses“, fiel er ihr ins Wort. „Wir werden gleich da sein. Drücken Sie einfach weiter. Sie machen das gut, Lady Jordan. Sie versorgen Wunden fast genauso geschickt, wie Sie tanzen.“

Der Blick ihrer blaugrauen Augen flackerte zu ihm hinauf, sie wirkte überrascht. „Ich war nicht sicher, ob Sie mich vom Ball wiedererkannt haben.“

Ihr Gesicht war seinem sehr nah. Er war nackt, und ihre Brüste waren nur halb bedeckt. Ihm wurde schwindlig bei dieser Verlockung. Er konnte sie riechen, über den Geruch seines eigenen Bluts hinweg – ein schwacher Blumenduft.

Zum Glück kein Zedernholz.

„Sie vergisst man nicht so leicht“, murmelte er.

Sie runzelte die Stirn, als wüsste sie nicht recht, ob dies nun ein Kompliment oder eine Beleidigung war. „Haben Sie mich deshalb gerettet? Weil wir miteinander getanzt haben?“

„Nein.“ Ganz und gar nicht. Er hatte nicht gewusst, wen Dionysos an diesem Abend hatte opfern wollen. Er hatte nicht einmal gewusst, dass es überhaupt ein Opfer geben sollte. Obwohl es natürlich nicht ausgeschlossen gewesen war. Hätte er auch jede andere Frau gerettet?

Vielleicht.

In dem Moment jedoch, in dem er sie gesehen hatte, war ihm klar gewesen, dass er handeln musste. „Sie kommen mir merkwürdig geübt darin vor, sich um Schussverletzungen zu kümmern.“

„Mein verstorbener Ehemann James war Offizier in der königlichen Armee“, antwortete sie. „Ich bin ihm auf einen Feldzug auf den Kontinent gefolgt. Es gab Zeiten, in denen es sehr hilfreich war, Wunden versorgen zu können.“

Er schluckte und musterte sie unter halb gesenkten Lidern hervor. Er versuchte nachzudenken. Er konnte es sich nicht leisten, in dieser Gegend Schwäche zu zeigen. Genau aus diesem Grund hatte er seine eigenen Dienstboten aus Korsika mitgebracht. Die Lords of Chaos waren mächtig hier. Wenn Dionysos herausfand, dass er verwundet war, dann würde er in Gefahr sein – und sie auch. Dionysos wollte sie ohnehin tot sehen, und er erwartete, dass Raphael sie umbrachte.

Ihm kam ein verwegener Gedanke.

Sie war eine Verlockung – eine Verlockung, die auf seinen einen Schwachpunkt abzielte. Er war schon so lange allein. Eigentlich schon sein ganzes Leben. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, nach jemandem zu suchen. Licht in seine Dunkelheit zu lassen.

Doch nun war sie hier, in seiner Reichweite. Sie wieder gehen zu lassen, entzog sich seiner Kontrolle. Er war geschwächt, benommen, verloren. Und, Gott, er wollte sie für sich behalten.

Außerdem präsentierte sich ihm der perfekte Grund, sie zum Bleiben zu bewegen, praktisch auf dem Silbertablett.

„Das Blut hat mein Schultertuch schon durchweicht.“ Sie klang aufgebracht, aber nicht hysterisch. Sie war eine starke Frau – stärker, als ihm bewusst gewesen war, als er sie von der Orgie weggebracht hatte.

Er traf eine Entscheidung. „Sie müssen mich heiraten.“

Ihre schönen Augen weiteten sich vor Schreck. „Was? Nein! Ich werde nicht …“

Er umfasste ihr Handgelenk. Sie drückte das Tuch immer noch auf seine Wunde. Ihre Haut war weich und warm. „Dionysos hat mir aufgetragen, Sie zu töten. Wenn …“

Sie versuchte zurückzuweichen. „Das werden Sie nicht …“

Er hielt ihr zerbrechliches Handgelenk fest, fühlte das Schlagen ihres Herzens. Spürte diesen Moment mit allen Sinnen.

Packte die Gelegenheit.

„Hören Sie zu. Ich hatte vor, Sie noch heute Nacht sicher auf den Weg nach London zu schicken. Doch das kann ich jetzt mit dieser Verletzung nicht mehr. Um Sie zu beschützen, muss ich Sie heiraten, es ist der einzige Weg. Wenn Sie meine Duchess sind, dann haben Sie meinen Namen und mein Geld zum Schutz, wenn Dionysos’ Männer kommen, und glauben Sie mir, Lady Jordan, sie werden kommen. Sie müssen Sie zum Schweigen bringen, denn Sie wissen nun viel zu viel über die Lords of Chaos.“

Sie gab ein abfälliges Schnauben von sich. „Sie haben mich für die Duchess of Kyle gehalten, und das hat mich jedenfalls nicht beschützt.“

„Ich bin ein ganz anderer Duke als Kyle“, antwortete er schlicht und mit unumstößlicher Sicherheit. Er hob die andere Hand und löste die Fesseln um ihre Handgelenke. „Außerdem sind da noch meine Bediensteten.“

Stirnrunzelnd sah sie auf die gelösten Fesseln hinab, dann musterte sie ihn. „Wie sollten die verhindern können, dass ich ermordet werde?“

„Sie sind Korsen – tapfer und fast schon übertrieben treu, und ich habe mehr als zwei Dutzend von ihnen bei mir.“ Sein ganzes Leben war voller Wut, Trauer und Rachedurst gewesen. Bisher hatte er nicht einen Gedanken ans Heiraten verschwendet. Dies hier war eine Fantasterei. Geboren aus geistiger Umnachtung. Eine Abweichung von dem geraden Pfad, dem er stets folgte. Trotzdem konnte er einfach nicht widerstehen. „Meine Männer gehorchen nur mir. Wenn Sie meine Frau sind – meine Familie und meine Duchess –, dann werden meine Korsen Sie mit ihrem Leben beschützen. Falls ich aber an den Folgen Ihres Schusses sterben sollte und Sie mich nicht vorher geheiratet haben, dann werden Sie vermutlich mit weit weniger Wohlwollen betrachtet.“

Vor Empörung klappte ihr der Mund auf. „Sie wollen mich erpressen, damit ich Sie heirate? Sind Sie geistesgestört?“

Ja. Was vermutlich die Antwort auf beide Fragen ist. „Ich bin verwundet.“ Er ließ eine Braue in die Höhe schnellen. „Außerdem versuche ich, Ihr Leben zu retten. Vielleicht könnten Sie versuchen, ein wenig Dankbarkeit aufzubringen.“

Dankbarkeit? Ich …“

Glücklicherweise kam die Kutsche zum Stehen, bevor sie äußern konnte, was sie von diesem Vorschlag hielt.

Raphael hielt Lady Jordans Handgelenk noch immer fest, als die Tür geöffnet wurde und Ubertino vor ihnen stand, einer der Männer, denen er am meisten vertraute. Ubertino war fast vierzig, ein kleiner Mann mit einer Fassbrust. Sein ergrauendes Haar war im Nacken zu einem strengen Zopf geflochten. Der Korse riss die hellblauen Augen in dem braunen Gesicht auf, als er das Blut seines Herrn sah.

„Ich bin angeschossen worden“, erklärte Raphael. „Hol Valente und Bardo und sag Nicoletta, dass sie kommen soll.“

Ubertino wandte sich um und rief die Anweisungen auf Korsisch den anderen Männern hinter sich zu, dann stieg er in die Kutsche.

Misstrauisch wich Lady Jordan zurück.

„Sag Ivo, dass er die Dame ins Haus bringen soll“, trug Raphael ihm auf. Er traute es ihr durchaus zu, dass sie davonrannte, sobald sie aus der Kutsche war.

„Hat sie das getan, Euer Gnaden?“, brummte Ubertino auf Korsisch und bückte sich, um ihm aufzuhelfen.

Mit einem unterdrückten Stöhnen erhob Raphael sich. Er biss die Zähne zusammen. Er würde nicht ohnmächtig werden. „Es war nur ein Missverständnis. Vergiss es einfach.“

„Ich glaube, das wird schwierig“, entgegnete Ubertino.

Vorsichtig stiegen sie die zwei Stufen von der Kutsche hinunter.

Ihm war kalt. So kalt.

„Trotzdem befehle ich es dir.“ Raphael blieb stehen und sah seinen Diener an. In einem anderen Leben hätte er diesen Mann vielleicht als seinen ältesten Freund bezeichnet. „Du wirst sie beschützen, was immer auch passiert.“

Der Korse neigte den Kopf. „Wie Sie wünschen, Euer Gnaden.“

Valente und Bardo kamen aus dem Haus gerannt.

Valente, der Jüngere der beiden, begann auf Korsisch Fragen zu stellen, aber Ubertino schnitt ihm das Wort ab. „Hört auf u Duca.“

Raphael ballte die Hände zu Fäusten. Er würde nicht hier vor seinen Männern zusammenbrechen. „Geht zum Vikar ins Dorf. Ihr wisst, wo er wohnt? Bei der englischen Kirche?“

Beide Männer nickten.

„Weckt ihn auf und bringt ihn her.“ Er fühlte, wie ihm das Blut am Körper hinablief, seltsam warm auf seiner kalten Haut. „Lasst euch von nichts, was er sagt oder tut, von eurer Aufgabe abhalten. Beeilt euch.“

Valente und Bardo rannten zu den Ställen.

Sie sprachen beide nur ein paar Brocken Englisch, und der Vikar würde vielleicht glauben, sie wollten ihn ausrauben, oder Schlimmeres. Raphael sollte ihnen wohl lieber einen Brief mitgeben, in dem er alles erklärte.

Doch dafür war keine Zeit.

Hinter ihnen rief Lady Jordan empört: „Nimm die Hände von mir!“

Raphael hob die Stimme: „Ivo möchte Ihnen nur ins Haus helfen, Mylady!“

„Ich möchte aber nicht, dass man mir hilft!“

Als er sich umdrehte, funkelte sie ihn böse an, ihr blondes Haar schimmerte wie ein Heiligenschein im Laternenlicht der Kutsche. Sie war wirklich außergewöhnlich.

Eine Schande, dass er sie nicht tatsächlich zu seiner Frau machen konnte.

Ihr Blick ging an ihm vorbei zur Fassade des Gebäudes hinter ihm. Dann riss sie die Augen auf, und der Ausdruck darin erinnerte sehr an Entsetzen. „Das ist Ihr Zuhause?“

Auch er drehte sich um. Das Herrenhaus war alt. Ursprünglich war es ein befestigter Bergfried gewesen, der im Laufe der Jahrhunderte ausgebaut worden war. Erst von Mönchen und dann, nach der Auflösung der Klöster, von Generationen seiner Vorfahren. Hier hatte er den Großteil seiner Kindheit verbracht. Hier hatte seine Mutter ihren letzten Atem ausgehaucht. Dies war der Ort, von dem er gehofft hatte, ihn nie wiederzusehen.

Sein Mund zuckte. „Es mein Zuhause zu nennen, ist vielleicht etwas übertrieben.“

2. KAPITEL

Der Steinmetz lebte mit seinen beiden Töchtern in einer winzigen Hütte am Rande einer kargen Felsebene. Es war ein trostloser Ort, an dem nur wenige Gottesgeschöpfe lebten, doch der Steinmetz fand dort reichlich Steine, und da er nie ein anderes Handwerk gelernt hatte, blieb er dort …

Aus: „Der Felsenkönig“

Im flackernden Laternenlicht ragte das Bauwerk wie ein verfallender Riese vor Iris auf, düster und abweisend.

„Was für ein Ort ist das hier?“, flüsterte sie.

„Dyemore Abbey“, antwortete der Duke.

Sogar in diesem Moment war seine Stimme wie ein sinnliches Streichen über ihre Nervenenden. Seine Haut war blass und schweißnass, seine entsetzliche Narbe wand sich wie eine rote Schlange über die rechte Seite seines Gesichts.

„Kommen Sie“, sagte er und wandte sich dem Eingang zu.

Sie wollte dieses grausige Haus nicht mit ihm betreten. Sie traute ihm nicht, auch wenn er verwundet war. Er mochte sie vorerst vor Vergewaltigung und Mord gerettet haben, aber er hatte an der Orgie teilgenommen. Offensichtlich war er ein Mitglied der Lords of Chaos.

Darüber hinaus hatte Dionysos ihm befohlen, dafür zu sorgen, dass sie keine Geheimnisse mehr verraten konnte. Er hatte befohlen, sie zu töten.

Der finster dreinblickende Diener an ihrer Seite – Ivo – ließ ihr jedoch keine Wahl. Sein fester Griff um ihren Ellbogen zwang sie vorwärts und über die kiesbedeckte Auffahrt.

Nur hinter einem der Fenster brannte Licht – ein schwaches Glühen, das darum zu kämpfen schien, nicht unter den dunkelbraunen Steinen erstickt zu werden, aus denen Dyemore Abbey bestand. Das Anwesen musste vier oder fünf Stockwerke hoch sein. Die Fenster waren viereckig und lagen tief in der Fassade. Hinter dem monolithischen Turm in der Mitte erhoben sich schroffe Umrisse, als ragte dahinter eine Bergkette aus weiteren Gebäudeflügeln oder Ruinen auf.

Mithilfe seines Dieners erklomm der Duke die Eingangsstufen. Die Tür war hoch und bogenförmig, doch darüber bewachte ein dämonenartiger Wasserspeier den Türsturz und schien auf sie herabzublicken, den Mund zu einer breiten Grimasse verzogen.

Iris schauderte.

Ganz offensichtlich kümmerte es die Dukes of Dyemore wenig, ob sich ihre Gäste auf dem Herrensitz willkommen fühlten.

Die Tür öffnete sich, und eine füllige Frau setzte zu einem korsischen Redeschwall an.

Das musste Nicoletta sein. Sie war schon etwas älter – etwa Mitte fünfzig – und hatte ihr schwarzes Haar aus dem finster wirkenden Gesicht gekämmt und unter eine schlichte weiße Haube geschoben. In einer Hand hielt die Frau eine Kerze, und sie schien den Mann zu rügen, der dem Duke half. Der Diener, der seinem Herrn aus der Kutsche geholfen hatte, sagte etwas, woraufhin alle Korsen Iris ansahen.

Er hatte ihnen verraten, dass sie auf den Duke geschossen hatte, das spürte sie. Nicolettas schwarze Augen wurden schmal.

Ihr Blick war alles andere als freundlich.

Ein Schauer lief Iris über den Rücken, als sie sich daran erinnerte, was der Duke gesagt hatte. Seine Dienstboten würden sie vollkommen zu Recht für seine Verletzung verantwortlich machen. Konnte sie sich irgendwie erklären? Die meisten von ihnen schienen allerdings kein Englisch zu verstehen, und Korsisch sprach sie nicht.

Außerdem war es ja tatsächlich ihre Schuld. Was auch immer der Duke sonst noch sein mochte, er hatte sie vor den Lords of Chaos gerettet, und sie hatte es ihm mit einer Schusswunde gedankt.

Mein Gott. Plötzlich musste sie gegen Tränen ankämpfen. Ihre Nerven lagen blank von den Tagen voller Ungewissheit und Angst, und nun hatte sie einem anderen Menschen dies angetan, auch wenn sie sich nur hatte verteidigen wollen …

Iris schluckte und straffte die Schultern. Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Sie durfte keine Schwäche zeigen, solange sie nicht wusste, wer diese Menschen waren und ob sie ihr schaden wollten.

Dyemore sagte etwas auf Korsisch, und sofort wandten die Dienstboten den Blick von ihr ab und setzten sich wieder in Bewegung.

Sie führten sie ins Haus. Iris versuchte, ihre Befürchtungen hinunterzuschlucken, während sich die Korsen weiter in ihrer eigenen Sprache unterhielten und Ivos Griff um ihren Arm unverändert fest blieb. Die Eingangshalle war riesig – Marmorböden, Wandvertäfelungen aus geschnitztem Holz und eine hohe Decke, die vielleicht sogar bemalt war –, doch alles war kalt und dunkel. Das einzige Licht war die Kerze in der Hand der Magd.

Dyemore Abbey fühlte sich so … tot an.

Iris schüttelte diesen morbiden Gedanken ab, während sie der Prozession weiter in die Halle hineinfolgte. Am anderen Ende stiegen sie eine breite Treppe hinauf, über die man zu einem Absatz gelangte, von dem wiederum zwei weitere Treppen abgingen. Aus der Finsternis starrten sie Porträts von den Wänden an, als sie sich nach rechts wandten. Im nächsten Stockwerk angekommen, führte Nicoletta sie in einen großen Wohnraum, in dem es endlich warm war.

Neben dem Kamin, in dem ein Feuer brannte, das als einzige Lichtquelle in dem gewaltigen Raum diente, sank Dyemore in einen ausladenden Ohrensessel.

Einer seiner Männer schenkte ihm aus einer Kristallkaraffe ein Glas Wein ein.

„Mein Mangel an Gastfreundlichkeit tut mir leid“, sagte Dyemore, nachdem er einen kleinen Schluck getrunken hatte. „Die meisten meiner Korsen sind draußen und bewachen das Anwesen. Es ist von grundsätzlicher Wichtigkeit, dass Sie nicht im Haus umherstreifen. Einige der Räume sind aus gutem Grund verschlossen. Halten Sie sich von ihnen fern.“

Er hatte herablassend gesprochen, und er saß in seinem Sessel, als handelte es sich um einen Thron, aber sein Gesicht war ganz grau.

Sie wandte den Blick ab. Sie konnte ihn nicht ansehen, konnte sich dem, was sie getan hatte, nicht stellen. „Sie müssen sich hinlegen.“

„Nein“, hörte sie ihn erwidern. Seine tiefe Stimme klang ungerührt, als würden sie den Preis für Stoffbänder in der Bond Street diskutieren. „Der Vikar wird bald hier sein. Ich bleibe sitzen. Wir müssen meine Verletzung so lange wie möglich vor den Lords geheim halten.“

Bei diesen Worten fuhr sie herum. „Sie sind nackt unter diesem Fell, und Sie bluten. Wie wollen Sie so eine Wunde vor dem Vikar verbergen? Das ist doch lächerlich!“

Ungeduldig machte sie einen Schritt auf ihn zu, doch Ivo hielt sie auf.

„Lass mich los!“

Ungerührt blickte der Korse sie an.

Sie streckte die freie Hand nach Dyemore aus. „Sagen Sie es ihm.“

Einen Moment lang starrte er sie nur aus glasigen grauen Augen an, und sie fragte sich, ob er wohl allmählich die Besinnung verlor. Gott, wenn er jetzt ohnmächtig würde, dann wäre das eine Katastrophe. Seine Diener würden sich gegen sie wenden.

Dyemore sagte etwas auf Korsisch zu Ivo, der sie daraufhin losließ.

Sofort eilte sie durch den Raum und beugte sich über den Duke.

Nicoletta zischte abfällig.

Iris achtete nicht auf sie. „Fragen Sie Ihre Magd, ob sie Verbände hat, um die Blutung zu stillen, und tragen Sie Ihren Männern auf, einen Arzt aus dem Dorf zu holen, sofort.“

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Nicoletta den Raum verließ. Verstand sie Englisch?

„Nein.“ Dyemore blickte sie an, ruhig, kalt und gefühllos, obwohl er Schmerzen haben musste. „Kein Arzt. Ich traue niemandem im Dorf. Sie können die Wunde selbst verbinden, wenn es sein muss.“

„Oh, ich glaube, es muss sein“, gab sie säuerlich zurück. „Die Kugel steckt noch in Ihrer Schulter, sie muss entfernt werden.“

Langsam blinzelte er. „Dafür haben wir keine Zeit. Meine Männer werden bald mit dem Vikar zurück sein. Verbinden Sie die Wunde, damit sie nicht weiterblutet. Ubertino wird mir helfen mich anzuziehen.“

„Das ist doch verrückt“, murmelte Iris, aber sie tat, was er verlangte. Vielleicht stand sie unter einer Art Bann. Vielleicht hatte sie auch einfach während ihrer tagelangen Gefangenschaft in dieser grässlichen kleinen Hütte den Verstand verloren.

Vielleicht war das alles nur ein Traum, aus dem sie schon bald in ihrem langweiligen Schlafzimmer erwachen würde, sicher in der Londoner Stadtvilla ihres Bruders.

Leider war sie eine praktisch veranlagte Frau, die sich keinen Illusionen hingab, und sie wusste nur allzu gut, dass dies kein Traum war. Dies war ein echter Mensch, der da unter ihren Händen blutete, seine Haut war fest und viel zu kalt.

Seit James vor fünf Jahren gestorben war, hatte sie keinen Mann mehr so berührt.

Blinzelnd blickte sie auf ihre Finger hinab, vollgeschmiert mit Dyemores scharlachrotem Blut. Die Wunde in der Schulter war ein ausgefranstes, klaffendes Loch unter dem Schlüsselbein, aus dem immer noch Blut quoll. Der Knochen schien jedoch glücklicherweise unversehrt geblieben zu sein. Wenigstens das.

Nicoletta kehrte mit zwei weiteren Bediensteten zurück, die Kleider, Verbände und Wasserkrüge trugen.

Iris griff nach einem der Verbände, aber die Magd kam ihr zuvor.

„Gib es der Dame!“, rief Dyemore scharf. „Sie hat Erfahrung mit dem Versorgen von Wunden bei Soldaten.“

Die Korsin schürzte die Lippen, reichte Iris aber den Stoffstreifen.

„Danke“, murmelte Iris.

Sie konnte Nicoletta wohl kaum einen Vorwurf machen. Sie war dem Duke offenbar treu ergeben und traute der Frau, die auf ihn geschossen hatte, nicht zu, ihn angemessen zu versorgen.

Iris tauchte den Stoffstreifen in einen der Wasserkrüge und begann, das Blut abzuwischen. Dyemores Haut war deutlich dunkler als ihre eigene, glatt und kühl. Sie legte den schmutzigen Verband beiseite und faltete einen der sauberen zu einem dicken Polster zusammen, das sie auf die Wunde legte.

„Halt das bitte fest“, bat sie die rundliche Magd.

Wieder schürzte Nicoletta die Lippen, tat aber, worum sie gebeten wurde.

Iris wand lange Stoffstreifen fest um Dyemores Schulter und Brust.

Nachdem sie fertig war, trat sie einen Schritt zurück.

Dyemore saß aufrecht im Sessel, die Zähne zusammengebissen und mit schweißnasser Stirn.

Er begegnete ihrem Blick und sagte sanft: „Waschen Sie sich bitte die Hände, Mylady. Nicoletta wird Ihnen mit Ihrer Frisur helfen.“

Iris blinzelte. Sie war nicht sicher, ob sie die andere Frau in der Nähe ihres Haars haben wollte, aber sie folgte der Magd in die Ecke des Wohnraums. Zwei der Männer begleiteten sie, offensichtlich, um sie davon abzuhalten, hinauszurennen. Das war vollkommen verrückt – sie wurde für ihre Hochzeit mit Dyemore vorbereitet, einem Mann, den sie nicht kannte und dem sie immer noch nicht ganz traute.

Etwas verspätet wurde ihr bewusst, dass sie nicht einmal wusste, in welchem Teil Englands sie sich gerade befanden. Sie war in Nottinghamshire verschleppt worden, doch bis zu der Hütte, in der die Lords of Chaos sie gefangen gehalten hatten, war es eine mehrtägige Reise gewesen. Selbst wenn sie aus Dyemore Abbey zu fliehen versuchte, wüsste sie nicht einmal, in welche Richtung.

Oder zu wem.

Vielleicht konnte sie den Vikar dazu bringen, ihr zu helfen? Könnte sie ihm irgendwie zu verstehen geben, dass sie zu dieser Heirat gezwungen wurde? Allerdings stünde er dann allein gegen zwei Dutzend von Dyemores Korsen. Selbst wenn der Vikar der stärkste Mann der Welt wäre, würde er wohl trotzdem unterliegen.

Außerdem hatte Dyemore recht: Die Lords of Chaos würden hinter ihr her sein, wenn sie erfuhren, dass sie noch lebte. Sie würden sie jagen und wieder zu einer ihrer schrecklichen Orgien schleifen. Oder sie einfach gleich ermorden.

Dyemore war ihre einzige Sicherheit.

Ihre einzige Hoffnung.

Nicoletta kämmte gekonnt ihr zerzaustes Haar aus und band es zu einem schlichten Knoten. Sie war schnell und geschickt, und, was noch wichtiger war, sie ließ ihren Ärger nicht an Iris’ Frisur aus.

„Danke“, sagte sie leise zu der älteren Frau.

Nicoletta sah ihr in die Augen und nickte. Ihr weicher Mund war immer noch ärgerlich und abschätzig zusammengepresst, aber ihr Blick wurde ein wenig weicher.

Oder zumindest hoffte Iris das.

Einer der Diener kam hereingerannt. Er sagte etwas auf Korsisch.

Dyemore antwortete: „Dann schickt den Vikar herauf.“ Dann wandte er sich an Iris. „Kommen Sie her, Mylady.“

Sie schluckte. Würde sie bei diesem Wahnsinn wirklich mitmachen? Anders als einige andere Witwen hatte sie sich keinen geheimen Liebhaber genommen. Sie hatte, was vielleicht naiv gewesen war, auf einen Gentleman gewartet, der sie hoch genug schätzte, um sie zu seiner Frau zu machen. Mehr als das, sie wollte geachtet werden, wenn sie wieder mit einem Mann zusammen war.

Wenn sie wieder heiratete.

Sie wollte nicht noch eine kalte, lieblose Ehe.

Dies hier war ganz und gar nicht das, was sie im Sinn gehabt hatte.

Dyemore beobachtete sie, während sie zögerte. Er hatte sich eine weite Seidenjacke übergezogen, während sich Nicoletta um ihr Haar gekümmert hatte. Die Jacke war bis zum Hals zugeknöpft, was ihn streng und mürrisch wirken ließ. Auf den ersten Blick konnte er vielleicht als ein Gentleman durchgehen, der es sich zu Hause gemütlich gemacht hatte und der möglicherweise ein wenig angetrunken war.

Fordernd streckte er ihr die Hand entgegen. „Kommen Sie schon her. Der Vikar ist hier. Uns bleibt nicht viel Zeit.“

Eigentlich hätte er einen geschwächten Eindruck machen müssen, wie er da vor dem Feuer saß, mit blassem, kränklich wirkendem Gesicht, sein schwarzes, schulterlanges Haar an den Schläfen schweißnass. Er kam ihr vor wie der Tod, hier in seinem Haus der Finsternis.

Doch sein Blick war eisig grau und beherrscht.

Verzweifelt wünschte sie sich, sie wüsste, was er gerade dachte.

Er hatte sie gerettet. Was hatte sie schon für eine Wahl?

Iris durchquerte den Raum und legte ihre Hand in die von Hades.

Raphael ergriff Lady Jordans Hand, wobei ihm verschwommen der Gedanke durch den Kopf ging, dass sie aus seinem zerfallenden Anwesen fliehen würde, sobald er sie losließ. Dass sie ihn hier allein in seinem Haus des Todes und der Verzweiflung lassen würde.

Dass ihm ihr Licht wieder weggenommen werden würde.

Er blinzelte und richtete sich auf. Seine Schulter pochte, als hätte sich ein Tier in die Wunde gefressen und würde versuchen, sich bis zum Herzen durchzubeißen.

Doch das war nur eine Fantasie.

Er musste sich konzentrieren. Er musste sie behalten und beschützen, diese Frau mit den blaugrauen Augen und den lieblichen rosa Lippen.

Valente betrat den Wohnraum, hinter ihm folgte ein kleiner, dünner Mann, dem die kurz geschnittene Perücke schief auf dem kahl rasierten Kopf saß. Mit beiden Händen hielt der Mann ein schwarzes Buch umklammert. Er wirkte sowohl vollkommen verwirrt als auch furchtbar verängstigt.

Bardo, der den Vikar bei Weitem überragte, bildete den Schluss. „Er denkt, dass wir ihn umbringen wollen, Euer Gnaden.“

Raphael nickte. „Wie heißen Sie, Vikar?“

Der Mann, der entsetzt Raphaels Narbe angestarrt hatte, zuckte zusammen: „Ich … ähm, Jonathan Webberly, Sir, aber ich muss protestieren. Wer sind Sie, und was …“

„Ich bin Raphael de Chartres, der Duke of Dyemore.“ Für weitere Ausführungen hatte er keine Zeit. „Und ich habe nach Ihnen geschickt, damit Sie mich mit meiner Verlobten verheiraten können.“

Er zog Lady Jordan enger an sich, ohne darauf zu achten, wie sie sich verspannte.

Der Blick des Vikars schoss zu ihr. „Euer Gnaden … das ist … das ist sehr ungewöhnlich. Ich …“

„Können Sie uns rechtmäßig verheiraten oder nicht?“, knurrte Raphael.

„Ich … ja, natürlich wäre die Heirat rechtmäßig, Euer Gnaden. Ich bin durch die englische Kirche geweiht und muss eine Ehe nur beurkunden. Allerdings wäre dies höchst seltsam, vor allem für einen so wichtigen Mann wie Sie.“ Der Vikar leckte sich nervös über die Lippen und warf Lady Jordan wieder einen Blick zu. „Sicher möchten Sie doch das Aufgebot bestellen und Ihre Eheschließung in der Dorfkirche feiern.“

Lady Jordan schien sich bewegen zu wollen, doch Raphael schloss die Hand fester um ihre, um sie ruhig zu halten. „Muss ich denn das Aufgebot bestellen oder in einer Kirche heiraten, damit die Ehe rechtskräftig ist?“

„Nein, Euer Gnaden“, antwortete der Mann, wirkte dabei jedoch verunsichert. „Natürlich sieht die Kirche es nicht gern, wenn Ehen so übereilt geschlossen werden, aber rechtlich ist es nicht nötig, ein Aufgebot zu bestellen. Das heißt …“

„Dann wünsche ich keine weitere Verzögerung und verlange, dass Sie uns sofort verheiraten.“ Kalt sah er den Mann an, wobei er durchaus wusste, welche Wirkung sein entstelltes Gesicht hatte.

Mr. Webberly nickte fahrig und schlug sein Buch auf.

Raphael konzentrierte sich darauf, wach zu bleiben. Er ließ die Worte des Vikars über sich hinwegspülen und spürte die ganze Zeit über ihre Hand in seiner.

Sie war … anders als all die anderen Frauen, auf eine Weise, die er selbst noch nicht verstand. Sie war reiner, heller, goldener. Sie hatte eine urtümliche, fast primitive Wirkung auf ihn. Ihr Lied war in seine Adern gedrungen, in seine Lunge, in seine Leber, in sein Mark, bis er sie nicht mehr von seinem Körper trennen konnte.

Er brauchte sie.

Und nun heiratete er sie, Iris Daniels, Lady Jordan.

Es war falsch. Als würde sich ein Rotkehlchen an eine Aaskrähe binden.

Trotzdem würde er dieser Untat keinen Einhalt gebieten. Mehr noch, er würde jeden töten, der versuchte, dies zu verhindern.

Er wollte sie.

Gegen jede Vernunft. Gegen Ehre und guten Geschmack. Gegen seinen eigenen Schwur und die Dinge, die er in seinem Leben zu erledigen hatte. Vielleicht war dies Wahnsinn.

Oder die Bosheit seines Vaters.

Falls es tatsächlich so war, dann ergab er sich.

Der Vikar redete immer weiter, bis es Zeit für die Gelübde war. Raphael drehte sich zu Lady Jordan um, weil er sehen wollte, ob sie so spät noch protestieren würde. Vielleicht würde sie weinen und beteuern, dass sie in diese Ehe gezwungen wurde. Vielleicht würde sie Mr. Webberly anflehen, sie von diesem grässlichen Ort und von ihrem furchtbar entstellten baldigen Ehemann wegzubringen.

Doch wie konnte er vergessen, dass dies die Frau war, die ihn mit einer Pistole bedroht hatte? Die erst vor etwa einer Stunde auf ihn geschossen hatte?

Sie war mutig, daran gab es keinen Zweifel.

Lady Jordan legte ihren Schwur mit klarer, kühler Stimme ab.

Er antwortete in gefühllosem und festem Tonfall.

Der Vikar erklärte sie zu Mann und Frau und schloss sein schwarzes Buch. Dann sah er auf. Sein Blick fiel auf Raphaels verletzte Schulter, und seine Augen weiteten sich.

Raphael begriff, dass seine Jacke blutgetränkt war.

Er nickte Ubertino zu. „Bezahl ihn gut.“

Der Korse verbeugte sich, zog einen schweren Geldbeutel aus der Tasche und reichte ihn dem Vikar.

Die Augen des Engländers wurden groß. „Euer Gnaden, das ist viel mehr, als ich für eine schlichte Hochzeit sonst bekomme.“

„Meine Duchess und ich wissen es sehr zu schätzen, dass Sie sich diese Umstände gemacht haben“, antwortete Raphael glatt. „Außerdem erwarte ich in dieser Angelegenheit natürlich höchste Diskretion Ihrerseits, Mr. Webberly.“

Jede Befürchtung, er könnte vielleicht zu subtil gewesen sein, verflog, als der Vikar erbleichte. „Ich … ich … ja, natürlich, Euer Gnaden.“

„Gut. Ich schätze meine Zurückgezogenheit, und ich mag es ganz und gar nicht, wenn über mich geredet wird.“

Der Mann schluckte und wich einen Schritt zurück, wobei er sich das Buch und den Geldbeutel an die Brust drückte.

Raphael nickte ihm zu. „Meine Männer werden Sie sicher nach Hause bringen.“

„Danke, Euer Gnaden.“ Damit eilte der Vikar hinaus, Valente und Bardo auf den Fersen.

Raphael seufzte, ließ den Kopf gegen die Rückenlehne fallen und schloss die Augen.

Seine neue Duchess neben ihm schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Sie haben ihn halb zu Tode erschreckt. War das wirklich nötig?“

„Wenn den Lords of Chaos zu Ohren kommt, dass ich geschwächt bin, dann ist unser beider Leben in Gefahr. Deshalb, ja, es war ganz eindeutig nötig.“ Er öffnete die Augen wieder, was ihn einige Anstrengung kostete, und sah sie an. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, und ihre blassrosa Lippen waren nach unten gebogen. Ein Schmutzfleck zierte ihren Wangenknochen, und ihn überkam der lächerliche Drang, ihn fortzuwischen. „Ich glaube, ich werde mich jetzt zurückziehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Madam.“

Sie runzelte die zarte Stirn. „Nicht, bevor die Kugel aus Ihrer Schulter entfernt wurde.“

Seine Augenlider waren so schwer, dass er sie zufallen ließ. „Ich glaube nicht, dass eine solche Widerborstigkeit bei einer Ehefrau sonderlich wünschenswert ist.“

„Das hätten Sie sich wohl früher überlegen sollen“, entgegnete sie, doch ihre Stimme klang sanft.

„Hmpf.“

„Schicken Sie Ihre Männer einen Arzt holen.“

Wieder öffnete er die Augen, um sie finster anzublicken. „Sie haben doch gesagt, dass Sie Erfahrung mit Schusswunden haben.“

„Schon, aber ich habe noch nie eine Kugel entfernt.“ Angst zeichnete ihr Gesicht, trotzdem sah er dieses Leuchten unter der Erschöpfung.

Er winkte ab. „Ich vertraue Ihnen, und wir haben ohnehin keine andere Wahl. Wenn die Lords of Chaos herausfinden, dass ich verletzt bin, dann werden sie wie ein Rudel Wölfe über uns herfallen. Ich würde die Nacht nicht überleben – und Sie auch nicht.“

Er hörte sie schnauben, aber gleichzeitig schob sie die Hand unter seine Schulter, damit er aufstand. Dann waren seine Männer da, die ihn sehr viel wirkungsvoller stützen konnten. Er konnte gehen. Er würde sich nicht tragen lassen, verdammt noch mal. Nicht im Haus seines Vaters.

Die Treppe war schwierig, die Stufen wollten ihn zum Stolpern bringen, aber er schaffte es ins obere Stockwerk. Sie gingen an den Gemächern des Dukes vorbei und erreichten endlich die Räumlichkeiten der Duchess – die früher einmal seiner Mutter gehört hatten.

Er legte sich auf sein Bett, und die Dankbarkeit, die er dabei empfand, drohte ihn zu überwältigen.

„Ich brauche ein Messer und eine lange Pinzette oder eine spitze Zange, wenn Sie so etwas haben“, bat seine Frau höflich, fast entschuldigend.

„Sie vertrauen dieser Frau so weit, dass Sie ihr ein Messer in die Hand geben wollen, Euer Gnaden?“, grollte Ubertino auf Korsisch, obwohl Nicoletta schon aus dem Raum ging.

Mit großer Mühe schlug Raphael die Augen auf und blickte seine versammelten Männer der Reihe nach an. Dann sagte er auf Englisch: „Sie ist jetzt eure Herrin, eure Duchess. Ihr werdet sie respektieren. Habt ihr verstanden?“

Autor

Elizabeth Hoyt
Elizabeth Hoyt zählt zu den US-amerikanischen Bestseller-Autoren der New York Times für historische Romane. Ihren ersten Roman der Princess-Trilogie „Die Schöne mit der Maske“ veröffentlichte sie im Jahr 2006, seitdem folgten zwölf weitere Romane. Gern versetzt die erfolgreiche Schriftstellerin ihre Romanfiguren in das georgianische Zeitalter. Nachdem ihre beiden Kinder zum...
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