Gefährliche Verlockung für den Duke

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Im Auftrag des Königs soll der Duke of Kyle die berüchtigten Lords of Chaos vernichten. Informationen über die Geheimorganisation, die die Regierung zu unterwandern droht, verschafft ihm der Straßenjunge Alf. Doch dann wird Alf bei einem Überfall verletzt. Als der Duke ihn bei sich aufnimmt, um ihn gesund zu pflegen, macht er eine schockierende Entdeckung: Alf ist in Wirklichkeit eine Frau! Mit einem heißen Kuss weckt die wilde, feenhafte Schönheit sein Verlangen – so unwiderstehlich wie verboten! Wenn Alfs wahre Identität bekannt wird, gefährdet das nicht nur seine Mission, sondern vor allem auch ihrer beider Leben …


  • Erscheinungstag 24.09.2021
  • Bandnummer 134
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502375
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nun, einstmals gab es ein Weißes Königreich und ein Schwarzes Königreich, die seit Anbeginn der Zeit im Krieg miteinander lagen …

Aus: „Der Schwarze Prinz und der Goldene Falke“

Januar 1742

London, England

Hugh Fitzroy, der Duke of Kyle, wollte aus drei guten Gründen heute Nacht nicht sterben.

Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht, als er den Blick auf die Schläger richtete, die sich vor ihm in der kalten Gasse in der Nähe von Covent Garden aus den Schatten lösten. Er nahm die Flasche mit Wiener Wein, die er in der rechten Hand gehalten hatte, in die linke und zog seinen Degen. Er hatte früher an diesem Abend mit dem Habsburger Botschafter diniert, und der Wein war ein Geschenk.

Erstens war Kit, sein älterer Sohn – und offiziell der Earl of Staffin – erst sieben Jahre alt. Viel zu jung, um zu einer Waise zu werden und ein Herzogtum zu erben.

Neben Hugh stand ein Laternenjunge, der starr vor Angst war. Seine Laterne warf einen kleinen Lichtschein in die schmale Gasse. Die Augen des Jungen waren weit aufgerissen und ängstlich. Er konnte nicht älter als vierzehn sein. Hugh blickte über die Schulter. Einige Männer kamen vom Eingang zur Gasse auf sie zu. Er und der Laternenjunge saßen in der Falle.

Zweitens litt Peter, sein jüngerer Sohn, immer noch unter dem Tod seiner Mutter vor fünf Monaten. Was würde der Tod des Vaters so kurz nach dem der Mutter dem Jungen antun?

Vielleicht waren es nur gewöhnliche Straßenräuber. Allerdings war das unwahrscheinlich. Straßendiebe arbeiteten für gewöhnlich in kleinerer Anzahl, waren nicht so organisiert, und sie waren hinter Geld her, nicht hinter dem Tod von jemandem.

Also Attentäter.

Und drittens hatte Seine Majestät Hugh vor Kurzem einen wichtigen Auftrag erteilt: die Lords of Chaos zu vernichten. Im Großen und Ganzen erfüllte Hugh gerne seine Aufträge. Das brachte letztendlich das angenehme Gefühl mit sich, etwas abgeschlossen zu haben, wenn auch sonst nichts.

Also gut.

„Wenn du kannst, dann renn weg“, sagte Hugh zu dem Laternenjungen. „Sie sind hinter mir her, nicht hinter dir.“

Dann drehte er sich um und griff die Gruppe an, die am nächsten stand – die drei Männer hinter ihnen.

Ihr Anführer, ein riesiger Kerl, hob einen Knüppel.

Hugh schlitzte ihm den Hals auf. Der Anführer ging in einem scharlachroten Sprühnebel zu Boden. Aber der Nächste schlug Hugh bereits mit seinem Knüppel auf knochenbrecherische Weise auf die linke Schulter.

Hugh jonglierte mit der Weinflasche, fing sie wieder und trat dem Mann in die Eier. Der Mann krümmte sich und stolperte gegen den Dritten. Hugh schlug über den Kopf des Mannes hinweg in das Gesicht des dritten Manns.

Hinter Hugh ertönten rennende Schritte.

Er wirbelte herum, um das andere Ende der Gasse zu sehen und sich einem weiteren Angreifer zu stellen.

Er wehrte das auf ihn herabsausende Messer mit seinem Degen ab und durchbohrte die Hand, die das Messer hielt.

Ein lautes Aufbrüllen und das Messer fiel mit blutigen Spritzern klappernd auf die eisigen Pflastersteine.

Der Messermann senkte den Kopf und stürmte auf ihn los wie ein wütender Stier.

Hugh drückte seine beinahe zwei Meter so eng wie möglich an die schmutzige Wand der Gasse, streckte den Fuß aus und ließ den angreifenden Stier in die drei Männer, um die er sich schon gekümmert hatte, hineinstolpern.

Der Laternenjunge, der sich an die entgegengesetzte Wand gekauert hatte, nutzte die Möglichkeit, um sich durch den schmale Durchgang zwischen den Angreifern zu winden und lief davon.

Was sie alle in der Dunkelheit zurückließ, abgesehen vom Licht des Halbmonds.

Hugh grinste.

Er musste sich keine Sorgen machen, seine Kumpane in der Dunkelheit zu treffen.

Er eilte auf den nächsten Mann nach dem Stier zu. Seine Angreifer hatten eine nette Gasse gewählt. Es gab keinen Ausweg – außer den beiden Enden –, aber in dieser engen Gasse hatte er einen kleinen Vorteil: Ganz gleich, wie viele ihm gegenüberstanden, die Gasse war so schmal, dass ihn nur zwei gleichzeitig angreifen konnten. Der Rest steckte hinter den anderen fest und musste solange Däumchen drehen.

Er ging auf den Mann los und drängte ihn mit der Schulter beiseite. Dafür kassierte er einen Schlag auf den Kopf und sah Sterne. Hugh schüttelte den Kopf und rammte dem nächsten den Ellbogen ins Gesicht – und zwar fest – und trat den dritten in den Bauch. Plötzlich konnte er das Licht am Ende der Gasse sehen.

Hugh kannte Männer, die glaubten, ein Gentleman sollte niemals vor einem Kampf davonlaufen. Natürlich hatten viele dieser Männer nie in einem richtigen Kampf gekämpft.

Außerdem hatte er diese drei sehr guten Gründe.

Jetzt, da er darüber nachdachte, fiel ihm auch noch ein vierter Grund ein, warum er heute Nacht nicht sterben wollte.

Hugh rannte zum Ende der Gasse, die Flasche mit Wiener Wein hielt er in der linken Armbeuge, den Degen in der rechten Hand. Die Pflastersteine waren mit Eis bedeckt, und er hatte so viel Schwung, dass er in die erleuchtete Straße schlitterte.

Wo ein weiteres halbes Dutzend Männer ihn von der linken Seite her angriff.

Verdammter Mist.

Viertens hatte er seit über neun Monaten keine Frau mehr in seinem Bett gehabt, und es wäre ein besonders unfreundlicher Schlag des Schicksals, wenn er in solch einer Dürreperiode sterben müsste, verdammt.

Hugh wäre beinahe der verfluchte Wein entglitten, als er sich nach rechts wandte. Er konnte hören, wie die Männer, die er in der Gasse zurückgelassen hatte, aufholten, als er direkt in den übelsten Teil Londons hineinrannte: das Hurenviertel von St. Giles. Sie waren ihm dicht auf den Fersen, eine wahrhaftige Armee von Meuchelmördern. Die Straßen hier waren eng, schwach beleuchtet und schlecht gepflastert, wenn überhaupt. Wenn er wegen des Eises oder eines fehlenden Pflastersteins stürzte, würde er nie wieder aufstehen.

Er bog in eine kleinere Gasse ein und dann sofort wieder in eine andere.

Hinter ihm hörte er jemanden rufen. Himmel, wenn sie sich aufteilten, würden sie ihn wieder in die Enge treiben.

Er hatte nicht genug Vorsprung, selbst wenn ein Mann seiner Größe sich an einem Ort wie St. Giles hätte verstecken könnten. Hugh sah auf, als er einen kleinen Hof betrat. Die Gebäude auf allen vier Seiten lehnten sich nach innen. Über ihm war der Mond hinter Wolken verborgen, und es schien beinahe, als wäre dort die Silhouette eines Jungen, der von einem Dach auf das nächste sprang …

Was …

Verrückt war.

Denk nach. Wenn er im Kreis gehen könnte und auf dem Weg, auf dem er nach St. Giles gekommen war, wieder hinausgelangen könnte, könnte er sich aus ihrer Schlinge befreien.

Eine schmale Gasse.

Noch ein enger Hof.

Ah, Himmel.

Sie waren bereits hier und versperrten die beiden anderen Ausgänge.

Hugh wandte sich um, aber der Durchgang, durch den er gerade gekommen war, war voll von etwa einem Dutzend weiterer Männer.

Nun gut.

Er lehnte sich mit dem Rücken an die einzige Wand, die ihm noch blieb, und richtete sich auf.

Er wünschte wirklich, er hätte den Wein probieren können. Er mochte Wiener Wein.

Ein großer Mann mit einem zerlumpten braunen Mantel und einem dreckigen roten Halstuch trat vor. Hugh erwartete beinahe, dass er eine Art Rede halten würde, so von sich eingenommen sah er aus. Stattdessen zückte er ein Messer von der Länge des Unterarms eines Mannes, grinste und leckte über die Klinge.

Oh, um –

Hugh wartete nicht darauf, welche widerlichen Vorbereitungen der Messerlecker für diesen Anlass für angemessen hielt. Er machte einen Schritt nach vorn und zog dem Mann die Flasche mit dem exzellenten Wiener Wein über den Kopf.

Dann fielen sie über ihn her.

Er führte den Degen und spürte den Ruck in seinem Arm, als er auf Fleisch traf.

Er drehte sich und erwischte mit dem Degen das Gesicht eines anderen.

Taumelte, als zwei Männer ihn rammten.

Ein weiterer schlug ihn hart aufs Kinn.

Und dann hieb ihm jemand den Knüppel in die Kniekehlen.

Er sackte auf dem eisigen Boden auf die Knie und knurrte wie ein blutender, gehetzter Bär.

Er hob einen Arm, um seinen Kopf zu schützen …

Und …

Jemand fiel direkt vor ihm vom Himmel.

Stellte sich seinen Angreifern.

Schnellte herum und drehte sich.

Verteidigte ihn anmutig.

Mit zwei Degen.

Taumelnd erhob sich Hugh und blinzelte das Blut aus den Augen – wann war er von einer Klinge verletzt worden?

Und sah – einen Jungen? Nein, einen schlanken Mann mit einer grotesken Halbmaske, Narrenkostüm, einem Schlapphut und Stiefeln, der seine Angreifer erbittert bekämpfte. Hugh hatte gerade noch Zeit zu denken: verrückt, bevor sein Verteidiger gegen ihn geschleudert wurde.

Hugh fing den Mann auf und hatte einen weiteren Gedanken, der da lautete: Brüste?

Dann stellte er die Frau – ganz sicher eine Frau, wenn auch in Männerkleidung – auf die Füße und kämpfte mit ihr Rücken an Rücken, als ob ihr Leben davon abhinge.

Was der Fall war.

Es waren immer noch etwa acht Angreifer übrig, und obwohl sie ganz offenkundig nicht ausgebildet waren, schienen sie wild entschlossen zu sein. Hugh stieß mit seinem Degen zu und schlug und trat, während seine Retterin einen eleganten Todestanz mit ihren beiden Klingen aufführte. Als er seinen Degen in den Schädel eines der letzten Männer hieb, wechselten die übrig gebliebenen beiden einen Blick, hoben einen dritten hoch und ergriffen die Flucht.

Keuchend sah sich Hugh im Hof um. Überall lagen stöhnende Männer, die meisten noch am Leben, wenn auch im Moment nicht gefährlich.

Er musterte die maskierte Frau. Sie war klein und reichte ihm kaum bis an die Schulter. Wie kam es, dass sie ihn vor dem sicheren, unwürdigen Tod bewahrt hatte? Aber das hatte sie. Das hatte sie ganz sicher.

„Danke“, sagte er mit rauer Stimme. Er räusperte sich. „Ich …“

Sie grinste wie ein Aufblitzen von Quecksilber und legte ihm die linke Hand in den Nacken, um seinen Kopf zu sich hinunterzuziehen.

Und dann küsste sie ihn.

*

Alf drückte die Lippen auf Kyles schönen Mund und glaubte, das Herz würde ihr aus der Brust springen, weil sie so waghalsig war.

Dann stöhnte er – ein grollender Laut, den sie an ihren Fingerspitzen in seinem Nacken spürte – und versuchte, sie enger an sich zu ziehen. Sie duckte sich und sprang zurück, außer Reichweite, dann drehte sie sich um und rannte eine kleine Gasse entlang. Sie fand übereinandergestapelte Fässer und kletterte hinauf. Zog sich auf einen überhängenden Balkon und kletterte von dort auf das Dach. Sie beugte sich weit nach unten und schlich auf Zehenspitzen über die verrotteten Dachziegel, von denen einige gebrochen waren, bis sie beinahe den Rand des Dachs erreicht hatte, und legte sich dann flach hin, um über den Dachrand hinauszuspähen.

Er blickte immer noch die Gasse hinunter, in der sie verschwunden war, der blöde Mann.

Oh, er war ein großer Mann, ja das war Kyle. Breite Schultern, lange Beine. Ein Mund, der sie daran erinnerte, dass sie unter ihrer Männerkleidung eine Frau war. Er hatte seinen Hut und seine weiße Perücke irgendwo während seiner wahnsinnigen Flucht vor den Straßenräubern verloren. Er stand mit unbedecktem Kopf, zerrissenem Mantel und blutend da. Im Mondlicht hätte sie ihn fast versehentlich für einen Mann halten können, der nach St. Giles gehörte.

Aber das tat er nicht.

Endlich drehte er sich um und humpelte in Richtung Covent Garden. Sie erhob sich und folgte ihm – nur um sicherzugehen, dass er es aus St. Giles herausschaffte.

Das eine und einzige Mal, als sie Kyle zuvor getroffen hatte, war in ihrer täglichen Verkleidung als Alf gewesen, als dem Jungen, der seinen Lebensunterhalt mit Informationen verdiente. Nur, dass Kyle Informationen über den Duke of Montgomery hatte haben wollen, der Alf zu dieser Zeit beschäftigt hatte.

Sie schnaubte leise, während sie am Dachfirst entlanghuschte und Kyles kurzgeschorenen schwarzen Kopf im Auge behielt. Das war beleidigend gewesen –, dass er dachte, sie würde den Mann verraten, der sie bezahlte. Sie mochte keine Dame sein, aber sie hatte ihre Ehre. Sie hatte gewartet, bis er ihr ein Abendessen gezahlt und umrissen hatte, wofür er sie anheuern wollte – und dann hatte sie den Tisch direkt in seinen Schoß umgeworfen. Sie war aus der Taverne gerannt, aber nicht, bevor sie ihm eine lange Nase gedreht hatte.

Grinsend sprang sie von einem Dach zum anderen.

Das letzte Mal, als sie Kyle gesehen hatte, hatte er Kartoffeln und Soße auf seinem teuren Mantel und einen wütenden Ausdruck auf seinem gut aussehenden Gesicht gehabt.

Unten wurden seine Schritte schneller, als sie sich dem Rand von St. Giles näherten, und die Absätze seiner Stiefel hallten vom Straßenpflaster wider. Sie blieb stehen und lehnte sich an einen Kamin. Hier hatten die Ladenbesitzer mehr Laternen entzündet. Sie sah zu, wie Kyle die Straße überquerte und sich misstrauisch umblickte, wobei er den Degen immer noch in der Hand hielt.

Er brauchte sie nicht, um sicher nach Hause zu gelangen, in was für einem großen Haus er auch leben mochte. Er war ein Mann, der hervorragend auf sich selbst aufpassen konnte.

Dennoch kauerte sie sich hin, bis er in den Schatten verschwunden war.

Nun gut. Also war es an der Zeit, nach Hause in ihr eigenes kleines Nest zu gehen.

Sie wandte sich um und lief schnell und leichtfüßig über die Dachziegel.

Als sie noch ein Kind gewesen war und gerade begonnen hatte, zu lernen, wie man Gebäude erklomm, hatte sie London als ihren Wald betrachtet, St. Giles als ihren Hain und die Dächer als ihre Baumwipfel.

Um ehrlich zu sein, sie hatte noch nie einen Wald, einen Hain oder gar Baumwipfel gesehen. Sie war noch nie aus London herausgekommen, was das betraf. Sie war in ihrem Leben nie weiter als bis Wapping gekommen – wo ein leichter Hauch Meersalz in der Luft lag, der in der Nase kitzelte. Im Westen war sie immerhin schon in Tyburn gewesen, um zuzusehen, wie Charming Mickey O’Connor gehängt wurde. Nur, dass das zur Überraschung aller an jenem Tag nicht passiert war. Er hatte sich offenbar am Galgen in Luft aufgelöst und war zu einer Legende geworden, wie der erstaunliche Flusspirat, der er war. Aber wilde Vögel – freie Vögel – lebten angeblich in Wäldern und Hainen und Baumwipfeln.

Und sie hatte sich vorgestellt, ein Vogel zu sein, der frei herumflog, als sie noch ein Kind auf den Dächern gewesen war.

Manchmal tat sie das immer noch, sogar jetzt als lebensüberdrüssige Frau von einundzwanzig.

Wenn sie ein Vogel wäre, dann wären die Dächer ihr Heim, ihr Zuhause, da, wo sie sich am sichersten fühlte.

Unter ihr waren die dunklen Wälder, und sie wusste alles über die Wälder aus den Märchen, die ihr Freund Ned ihr erzählt hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. In den Märchen gab es in den Wäldern Hexen und Ghule und Trolle, die alle darauf warteten, einen aufzufressen.

In den Wäldern von St. Giles waren die Monster viel, viel schlimmer.

Heute Nacht hatte sie gegen die Monster gekämpft.

Sie flog über die Dächer von St. Giles. Ihre Füße, die in hohen Stiefeln steckten, waren schnell und sicher auf den Dachschindeln, und der Mond hing wie eine große Laterne über ihr, die ihr leuchtete, wenn sie als Geist von St. Giles auf Patrouille ging. Sie war der Scarlet Throat Gang gefolgt – einem widerlichen Haufen Straßenräuber, die für den richtigen Preis alles bis hin zum Mord tun würden – und sie hatte sich gefragt, warum sie in so großer Zahl draußen unterwegs waren, als sie begriffen hatte, dass sie Kyle jagten.

In ihrer täglichen Verkleidung als Alf hatte sie schlechte Erfahrungen mit den Scarlet Throats gemacht. In letzter Zeit hatten die Kerle angefangen, eine Abneigung gegen sie zu entwickeln, weil sie sich weigerte, ihnen beizutreten oder ihnen etwas zu zahlen, um „beschützt“ zu werden. Im Großen und Ganzen aber ließen sie sie in Ruhe – sie ging ihnen aus dem Weg, und sie taten so, als bemerkten sie sie nicht. Aber es schauderte sie beim Gedanken daran, was sie tun würden, sollten sie jemals ihr wahres Geschlecht herausfinden.

Es war eine Sache, wenn ein einzelner Junge sich ihnen widersetzte. Aber wenn eine Frau das tat?

Es gab Gerüchte, dass Mädchen schon für weniger auf dem Grund des Flusses geendet waren.

Aber als sie gesehen hatte, dass die Scarlet Throats sich Kyle an die Fersen geheftet hatten wie ein Rudel wilder Hunde, hatte sie nicht lange überlegt, ob sie ihm helfen sollte. Er war um sein Leben gerannt und hatte dabei gekämpft, hatte nicht aufgegeben, obwohl sie von Anfang an in der Überzahl gewesen waren.

Der Mann war unbeugsam, das musste man ihm lassen.

Und danach, als ihre Feinde stöhnend und geschlagen am Boden gelegen hatten, und ihr Herz vor lauter Freude über den Sieg und darüber, am Leben zu sein, so heftig geschlagen hatte, war es ihr nur natürlich erschienen, diese hübschen, hübschen Lippen zu den ihren hinabzuziehen und ihn zu küssen.

Sie hatte noch nie zuvor einen Mann geküsst.

Oh, es hatte ein paar gegeben, die versucht hatten, sie zu küssen – die es versucht hatten und erfolgreich gewesen waren –, als sie noch jünger und nicht so schnell gewesen war und noch nicht so geschickt in die weichen Teile eines Mannes treten konnte. Trotzdem hatte niemand mehr erreicht, als ihr seine widerliche Zunge in den Mund zu stecken. Sie war sogar, als sie noch klein gewesen war, sehr gut im Weglaufen gewesen.

Seit Jahren hatte niemand sie angefasst. Dafür hatte sie gesorgt.

Aber mit Kyle war anders gewesen – sie hatte ihn geküsst.

Sie sprang von einem Dach zum nächsten und landete leise auf den Zehen. Kyles Lippen waren fest gewesen, und er hatte herb geschmeckt wie Wein. Sie hatte gespürt, wie die Muskeln in seinem Nacken, seiner Brust und seinen Armen hart und fest geworden waren, als er sie packen wollte.

Aber sie hatte keine Angst gehabt.

Sie grinste den Mond und die Dächer und die Huren, die in der Gasse tief unter ihr nach Hause gingen, an.

Kyle zu küssen hatte sie dazu gebracht, sich wild und frei zu fühlen.

Wie über die Dächer von St. Giles zu fliegen.

Sie rannte und sprang erneut. Diesmal landete sie auf einem baufälligen, alten Fachwerkhaus. Es war so gut wie verfallen, das obere Stockwerk hing über den Hof wie ein uraltes Weib, das sich unter einem großen Bündel gebrauchter Kleidung krümmte. Sie schwang die Beine über die Dachkante, ließ einen ihrer Füße blind auf einen der Holzbalken an der Fassade des Hauses gleiten und kletterte in das Dachbodenfenster.

Wenn St. Giles ein dunkler Wald war, dann war das hier ihr geheimes Nest: Der halbe Dachboden dieses Gebäudes. Die einzige Tür zu diesem Raum war fest vernagelt, und man gelangte nur durch das Fenster herein.

Hier war sie sicher.

Niemand außer ihr kam hinaus oder hinein.

Alf seufzte und streckte die Arme über ihren Kopf, bevor sie Hut und Maske abnahm. Muskeln, von denen sie nicht einmal bemerkt hatte, dass sie verspannt waren, lockerten sich jetzt, da sie zu Hause war.

Zu Hause und in Sicherheit.

Ihr Nest war ein großes Zimmer – tatsächlich groß genug für eine ganze Familie – aber nur sie lebte hier. An einer Wand befand sich eine Reihe hölzerner Kleiderhaken, und sie hängte ihren Hut und die Maske dort auf. Gegenüber vom Fenster war ein Kamin aus Ziegelsteinen, in dem sie das Feuer sorgfältig mit Asche bestreut hatte. Sie ging hinüber und hockte sich vor die winzige Feuerstelle – halbmondförmig und nicht viel größer als ihr Kopf, der Backstein geschwärzt und bröckelnd. Aber so weit oben zog er recht gut, und das war das Einzige, was wichtig war. Mit einer abgebrochenen Eisenstange schürte sie die roten Augen der glühenden Kohle, legte etwas Stroh darauf und blies sachte, bis das Stroh rauchte und Feuer fing. Dann legte sie fünf Stück Kohle dazu, eines nach dem anderen. Als ihr kleines Feuer schön brannte, entzündete sie eine Kerze und stellte sie auf das grobe Regal über der Feuerstelle.

Die halb abgebrannte Kerze leuchtete fröhlich. Alf berührte mit der Fingerspitze den oberen Rand der Kerze und dann den kleinen runden Spiegel daneben. Der Spiegel reflektierte die winzige Flamme. Sie tippte auf ihre Zinntasse, einen gelben Keramikkrug, den sie vor Jahren gefunden hatte, und ihren Elfenbeinkamm. Ned hatte ihr den Kamm an dem Tag, bevor er verschwunden war, geschenkt, und er war ihr vielleicht wertvollster Besitz.

Dann nahm sie eine Flasche mit Öl und einen Lumpen vom Ende des Regals und setzte sich auf einen dreibeinigen Hocker neben dem Haufen Decken, die sie als Bett benutzte.

Ihr langer Degen war beinahe sauber. Sie strich mit dem geölten Tuch über die Klinge und neigte sie dann im Kerzenlicht, um sie auf Scharten zu überprüfen. Die beiden Klingen hatten sie den Großteil ihrer Ersparnisse gekostet, und sie sorgte dafür, dass sie stets sauber und rasiermesserscharf waren, denn sie waren ihr ganzer Stolz und in den dunklen Wäldern von St. Giles ihre wichtigsten Waffen als der Geist. Die Klinge des langen Degens sah gut aus, also steckte sie ihn wieder ins Futteral und legte ihn beiseite.

Ihre kurze Klinge war blutverschmiert. Leise summend bearbeitete sie sie mit dem Tuch. Der Lappen wurde rostrot, und die Klinge glänzte wie ein Spiegel.

Der Himmel vor ihrem Dachbodenfenster verfärbte sich hellrosa.

Sie hängte ihre Waffen in ihren Futteralen an die Reihe von Haken. Dann knöpfte sie ihre gepolsterte und wattierte Tunika auf, die mit schwarzen und roten Rauten gemustert war. Darunter kam ein schlichtes Männerhemd zum Vorschein, das sie ebenfalls auszog und beides aufhängte, während sie in der Luft des Wintermorgens zitterte. Ihre Stiefel stellte sie unter die Kleiderhaken. Ihre Beinlinge, die ebenfalls ein schwarz-rotes Rautenmuster hatten, hängte sie ordentlich neben das Hemd.

Nun trug sie nur noch ihre Leibwäsche für Jungen, dunkle Strümpfe und Strumpfbänder. Ihr schulterlanges Haar war zusammengebunden, aber sie löste es und strich mit den Fingern hindurch, um es zu ordnen. Sie band es mit einem Stück Lederschnur wieder zusammen und ließ ein paar Strähnen in ihr Gesicht hängen. Sie nahm ein langes Stück weichen Stoffs und wand es sich um die Brüste, band sie flach, aber nicht zu fest, weil es sonst schwierig war, zu atmen. Außerdem waren ihre Brüste ohnehin nicht besonders groß.

Sie zog das Hemd eines großen Mannes an, eine fleckige, braune Weste, ein zerschlissenes Paar Breeches und einen alten, schwarzen Gehrock darüber. Daraufhin steckte sie einen Dolch in die Tasche ihres Gehrocks, einen weiteren in die Tasche ihrer Weste und ein winziges Messer in einem dünnen Lederfutteral in ihren Schuh unter ihrem rechten Fuß. Sie drückte sich einen alten, breitkrempigen Hut auf den Kopf, und schon war sie Alf.

Ein Junge.

Denn das war, was sie war.

Nachts war sie der Geist von St. Giles. Sie beschützte die Menschen von St. Giles – ihre Leute, die in den großen, dunklen Wäldern lebten. Sie spürte die Monster auf – die Mörder und Vergewaltiger und Räuber. Und sie flog bei Mondlicht frei und über die Dächer der Stadt.

Tagsüber war sie Alf der Junge. Sie bestritt ihren Lebensunterhalt, indem sie mit Informationen handelte. Sie hörte zu und erfuhr Dinge, und wenn man wissen wollte, wer der Boss der Taschendiebe in Covent Garden war oder welche Dirnen den Tripper hatten oder auch, welcher Richter gekauft werden konnte und für wie viel, dann konnte sie es erzählen und würde das auch tun – für einen gewissen Preis.

Aber ob Geist oder Alf, es gab eines, was sie nicht war und auch nie sein würde, jedenfalls nicht in St. Giles: eine Frau.

Wann war der Geist von St. Giles zu einer Frau geworden?

Hugh zischte, als Jenkins, einer seiner ehemaligen Soldaten, einen Katgut-Faden durch den Schnitt in seiner Stirn zog.

Riley zuckte zusammen und bot ihm stumm die Flasche mit Brandy an.

Talbot räusperte sich und sagte: „Verzeihung, Sir, aber sind Sie sicher, dass der Geist von St. Giles eine Frau war?“

Hugh musterte den Hünen – er hatte einst als Grenadier gedient.

„Ja, ich bin sicher. Sie hatte Brüste.“

„Sie haben sie durchsucht, ja, Sir?“, fragte Riley höflich mit seinem irischen Akzent.

Talbot schnaubte.

Hugh drehte sich unwillkürlich um, um Riley einen tadelnden Blick zuzuwerfen – und Jenkins gab einen missbilligenden Laut von sich, weil deswegen der Faden sich spannte und Hugh ins Fleisch schnitt. Verdammt, das tat weh.

„Am besten halten Sie sich ruhig, Sir“, tadelte Jenkins ihn leise.

Alle drei Männer hatten zu einer bestimmten Zeit unter seinem Kommando gestanden, entweder in Indien oder auf dem Kontinent. Als Hugh den Brief erhalten hatte, in dem stand, dass seine Frau Katherine gestorben war, nachdem ihr Pferd sie im Hyde Park abgeworfen hatte, hatte er gewusst, dass sein Exil zu Ende war und dass er sein Offizierspatent verkaufen und zurückkehren konnte. Er hatte Riley, Jenkins und Talbot Stellungen angeboten, für den Fall, dass sie mit ihm nach England zurückkehren wollten.

Alle drei hatten sein Angebot angenommen, ohne lange darüber nachzudenken.

Jetzt lehnte Riley sich gegen die Tür des Hauptschlafzimmers von Kyle House. Er hatte die Arme verschränkt und ließ die Schultern hängen, wobei er mit seinen ewig traurigen Augen auf die Nadel starrte. Der schmale Mann war übermäßig tapfer, aber er hasste Operationen jeglicher Art. Neben ihm stand Talbot, der eine überragende Präsenz besaß, ein Mann mit breiter Brust und muskelbepackt, wie es die meisten Männer waren, die als Grenadiere dienten.

Jenkins schürzte die Lippen und hatte sein eines Auge auf den Stich gerichtet, den er gerade vornahm. Ein schwarzer Lederflicken, der ordentlich mit zwei Bändern um das silberfarbene Haupt des Mannes gebunden war, bedeckte das andere Auge. „Noch zwei, vielleicht drei Stiche, Sir.“

Hugh gab einen unwilligen Laut von sich und trank einen Schluck Brandy aus der Flasche, achtete dabei aber darauf, den Kopf nicht zu bewegen. Er saß auf der Kante seines Himmelbetts, umgeben von Kerzen, damit Jenkins gut sehen konnte, während er ihn zusammenflickte.

Der ehemalige Gefreite konnte eine Wunde mit größerer Präzision schließen als jeder ausgebildete Arzt. Jenkins konnte auch Zähne ziehen, jemanden zur Ader lassen, Fieber behandeln und, wie Hugh vermutete, sogar Gliedmaßen amputieren, obwohl er nie erlebt hatte, wie der ältere Mann Letzteres getan hatte. Jenkins sprach nicht viel, aber seine Hände waren sanft und sicher, sein faltiges Gesicht ruhig und intelligent.

Hugh zuckte beim nächsten Stich wieder zusammen und dachte an die Frau, die sich so anmutig und so effizient mit ihren Klingen bewegt hatte. „Ich dachte, unseren Informationen nach hat sich der Geist von St. Giles zur Ruhe gesetzt?“

Riley zuckte mit den Schultern. „Das hatten wir gehört, Sir. Der Geist ist seit mindestens einem Jahr nicht mehr gesehen worden. Natürlich gab es in der Vergangenheit mehr als nur einen Geist. Jenkins glaubt, zu einem gewissen Zeitpunkt waren es mindestens zwei, wenn nicht gar drei.“

Eine zögerliche Stimme ertönte aus einer Ecke des Raums. „Verzeihung, Mr. Riley, aber wer ist dieser Geist, von dem Sie reden?“

Bell hatte nichts gesagt, seit sie den Raum betreten hatten, und Hugh hatte den Jungen beinahe vergessen. Nun blickte er Bell an, der auf einem Hocker saß. Seine blauen Augen waren wachsam, aber seine Schultern fingen an, vor Müdigkeit hinabzuhängen. Der Junge war erst fünfzehn und der neueste von Hughs Männern, der nach dem Tod seines Vaters in Hughs Dienste getreten war.

Bell wurde rot, als er die Aufmerksamkeit der älteren Männer auf sich zog.

Hugh nickte dem Jungen zu, um ihm Mut zu machen. „Riley?“

Riley löste die Arme und zwinkerte Bell zu. „Der Geist von St. Giles ist eine Art Legende in London. Er kleidet sich wie ein Harlekin – gescheckte Beinlinge und Tunika und eine Halbmaske – und er kann auf die Dächer von London klettern und darauf tanzen. Manche behaupten, er sei nichts weiter als ein Kinderschreck. Andere flüstern, der Geist verteidige die Armen. Dass er dorthin geht, wohin sich die Soldaten und Richter nicht trauen und die Straßenräuber, Vergewaltiger und kleinen Diebe jagt, die die elendsten Bewohner von St. Giles ausbeuten.“

Verwirrt runzelte Bell die Stirn. „Also … ist er nicht echt, Sir?“

Hugh erinnerte sich an das weiche Fleisch. „Oh, er – oder besser sie – ist echt genug.“

„Genau das ist es!“, warf Talbot fasziniert ein. „Ich habe mit Leuten geredet, denen der Geist in den letzten Jahren geholfen hat, aber der Geist war noch nie zuvor eine Frau. Glauben Sie, sie könnte die Ehefrau eines der früheren Geister sein, Sir?“

Hugh beschloss, nicht näher darüber nachzudenken, warum ihm dieser Vorschlag nicht gefiel. „Wer sie auch war, sie ist eine verdammt gute Fechterin.“

„Viel wichtiger ist“, meinte Jenkins leise, während er einen neuen Stich platzierte, „wer hinter dem Angriff steckt. Wer will Sie tot sehen, Sir?“

„Glauben Sie, das war das Werk der Lords of Chaos?“, fragte Riley.

„Vielleicht.“ Hugh schnitt eine Grimasse, als Jenkins am Katgut-Faden zog. „Aber bevor man mir aufgelauert hat, war ich im Haus des Habsburger Botschafters. Es war eine große Dinnerparty und auch eine lange. Einmal bin ich zum Pinkeln gegangen. Ich bin zurück in die Eingangshalle gekommen, wo ich zufällig einen Teil eines Gesprächs belauschen konnte.“

„Zufällig, Sir?“, fragte Riley mit ausdruckslosem Gesicht.

„Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen“, erwiderte Hugh trocken. „Da waren zwei Männer, die sich in einer düsteren Ecke der Eingangshalle zusammengedrängt und Französisch gesprochen haben. Einen von ihnen habe ich erkannt, er kommt aus der russischen Botschaft. Niemand Offizielles, versteht ihr, aber er gehört ganz sicher zur russischen Delegation. Den anderen Mann kannte ich nicht, aber er sah aus wie ein Diener, vielleicht ein Kammerdiener. Der Russe hat dem Diener ein Stück Papier in die Hand gedrückt und ihm gesagt, er soll es schnell zum Preußen bringen.“

„Zum Preußen, Sir?“, fragte Jenkins leise. „Kein Name?“

„Kein Name“, entgegnete Hugh.

„Verdammter Mist.“ Talbot schüttelte beinahe bewundernd den Kopf. „Sie müssen zugeben, der Mann hat Mut, den Preußen im Haus des Habsburger Botschafters Geheimnisse zu übergeben.“

„Wenn der Russe das tatsächlich getan hat“, meinte Hugh vorsichtig, obwohl er selbst keine Zweifel daran hegte.

„Hat er Sie gesehen, Sir?“, fragte Riley.

„Oh ja“, antwortete Hugh grimmig. „Einer der anderen Gäste tauchte hinter mir auf und rief meinen Namen. Der betrunkene Idiot. Der Russe muss einfach mitbekommen haben, dass ich alles gehört hatte.“

„Dennoch, es wäre nur wenig Zeit geblieben, Attentäter zu finden und anzuheuern, um Sie auf ihrem Nachhauseweg vom Abendessen anzugreifen“, bemerkte Talbot.

„Wohl wahr.“ Hugh nickte. „Was uns wieder zu den Lords of Chaos zurückbringt.“

Jenkins neigte sich jetzt etwas näher. Sein braunes Auge aufmerksam auf Hughs Stirn gerichtet, schnitt er den Faden ab, bevor er sich zurücklehnte. „Fertig, Sir. Wollen Sie einen Verband?“

„Nicht nötig.“ Die Wunde hatte ohnehin beinahe aufgehört zu bluten. „Danke, Jenkins.“ Hugh ertappte Bell dabei, wie er versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. „Am besten geht ihr alle ins Bett. Wir werden morgen früh wieder zusammenkommen, nachdem wir uns eine Portion Schlaf gegönnt haben.“

„Sir.“ Riley richtete sich auf und nahm Habtachtstellung an.

Talbot nickte respektvoll. „Nacht, Sir.“

„Gute Nacht, Euer Gnaden“, sagte Bell.

Dann waren alle drei zur Tür hinaus.

Hugh nahm ein Tuch, feuchtete es an und wischte sich das restliche Blut vom Gesicht. Er zuckte zusammen, da die Bewegung ihn an seine blauen Flecken überall an seinen Rippen erinnerte.

Jenkins packte schweigend seine Operationswerkzeuge in eine abgenutzte schwarze Ledertasche.

Hugh blickte zum Fenster und sah überrascht, dass Licht durch den Spalt zwischen den Vorhängen hereinschien. War es so lange her, dass er von St. Giles nach Hause gestolpert war?

Er trat zum Fenster und riss den Vorhang auf.

Das Schlafzimmer lag zum hinteren Garten hinaus, der jetzt im Winter wie tot wirkte, aber es war tatsächlich hell draußen.

„Sonst noch etwas, Sir?“, fragte Jenkins hinter ihm.

„Nein“, antwortete Hugh, ohne sich umzudrehen. „Das wäre alles.“

„Sir.“ Die Tür öffnete und schloss sich.

Draußen trottete eine schmale Gestalt den Weg zwischen dem Haus und dem Tor, das zu den Stallungen führte, entlang. Einen Moment lang erstarrte Hugh, bevor er den Schuhputzjungen erkannte, der in der Küche arbeitete. Er spürte, wie sich seine Oberlippe angesichts seiner Torheit verzog. Der Geist von St. Giles würde wohl kaum seinen Garten heimsuchen, oder?

Er ließ den Vorhang fallen und verließ sein Schlafgemach.

Katherine hatte sein Stadthaus Kyle House genannt. Er hatte den Namen immer für großspurig gehalten, aber sie hatte darauf bestanden. Sie hatte gesagt, es sei der Name eines großen Hauses – eines dynastischen Hauses. Er war frisch verheiratet gewesen und hatte sie immer noch vergöttert, als er das Haus gekauft hatte, also hatte er zugestimmt, und der Name war geblieben, auch wenn ihre Ehe zerbrochen war.

Irgendwo in dieser Geschichte gab es eine Moral. Vielleicht, Häusern keine Namen zu geben. Oder, wahrscheinlicher, niemals zuzulassen, dass die Leidenschaft für eine Frau Vernunft, Selbsterhaltungstrieb und gesunden Menschenverstand hinwegfegte, denn dieser Pfad führte zur Zerstörung.

Zur Zerstörung von beinahe allem, was er liebgewonnen hatte und ihn zu einem Mann gemacht hatte.

Er kam im Gang an zwei Dienstmädchen vorbei, die Kohleeimer und Schaufeln trugen, und nickte geistesabwesend, als sie knicksten. Als er die Treppe erreichte, nahm er zwei Stufen auf einmal, bis er im dritten Stock war. Hier oben war es ruhig. Er schlich den Gang entlang, an den Zimmern der Kindermädchen vorbei, und öffnete die Tür zu dem Zimmer, das seine Söhne teilten.

Es war ein hübscher Raum. Hell und luftig. Katherine war eine gute Mutter gewesen. Er erinnerte sich daran, wie sie dieses Zimmer eingerichtet hatte. Wie sie die oberen Stockwerke geplant hatte, als sie Kit unter dem Herzen trug und alles wunderbar und neu und möglich erschienen war. Bevor sie sich laut gestritten hatten und sie hysterische Tränen vergossen hatte, bevor die Ernüchterung und die überraschte Erkenntnis gekommen waren, dass er einen riesigen und unwiderruflichen Fehler begangen hatte.

Und dass er seinem eigenen Urteilsvermögen nicht trauen konnte.

Denn er hatte wirklich einmal geglaubt, in Katherine verliebt zu sein.

Wie sonst hätte er die wilde, freudige Ekstase beschreiben sollen, als er sie umworben hatte? Die vollkommene, tiefsitzende Zufriedenheit, nachdem er sie zu seiner Frau gemacht hatte?

Aber kaum drei Jahre, nachdem er sie geheiratet hatte, war all diese große Leidenschaft zu Asche und verbittertem Hass geworden.

Oh, was für ein schönes, unbeständiges Ding die Liebe doch war. Eigentlich ganz so wie Katherine.

Hugh seufzte und betrat das Schlafzimmer der Jungen.

Dort standen zwei Gitterbetten, doch nur eines war belegt.

Peter, der gerade erst fünf Jahre alt geworden war, war immer noch anfällig für Albträume. Hugh war sich nicht sicher, ob sein Sohn sie schon vor Katherines Tod gehabt hatte, aber jetzt schreckte der Junge mehrere Male pro Woche in der Nacht voller Angst aus dem Schlaf. Er lag an seinen älteren Bruder gekuschelt, hatte sein rotes Gesicht an dessen Seite gedrückt, und von dem blonden Haar schaute nur ein Büschel unter Kits Arm hervor. Kit lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, sein Mund stand offen und sein schwarzes, lockiges Haar klebte ihm verschwitzt an den Schläfen.

Wenn die Attentäter von letzter Nacht erfolgreich gewesen wären, wären seine Jungen jetzt Waisen. Erschauernd verdrängte er den Gedanken und zwang sich, an die Lords of Chaos zu denken. Diese Männer hatten sich zu einer schrecklichen Geheimorganisation zusammengeschlossen, die sich in unregelmäßigen Abständen traf, um mit der schlimmsten Art Ausschweifungen zu feiern. Sobald ein Mann ihnen beitrat, war er für den Rest seines Lebens an die Lords gebunden. Die meisten Mitglieder kannten die anderen Mitglieder nicht, aber wenn sich ein Lord einem anderen zu erkennen gab, musste der zweite Lord dem ersten auf jede erdenkliche Weise helfen.

Hugh hatte guten Grund zu glauben, dass die Lords of Chaos die Regierung, die Kirche, die Armee und die Marine unterwandert hatten.

Darum wollte der König, dass sie aufgehalten wurden.

Als Hugh begonnen hatte, Untersuchungen über die Lords of Chaos anzustellen, hatte der Duke of Montgomery ihm vier Namen gegeben:

William Baines, Baron Chase

David Howzell, Viscount Dowling

Sir Aaron Crewe

Daniel Kendrick, der Earl of Exley

Vier Männer, die alle Adelige und Mitglieder der Geheimgesellschaft waren. In den zwei Monaten, die seither vergangen waren, hatte er diskrete Nachforschungen über die vier Männer betrieben und versucht, herauszufinden, wie die Lords organisiert waren, wer ihre Anführer waren und wann und wo sie sich trafen.

Er hatte nichts herausgefunden.

Nichts.

Also warum sollten sie versuchen, ihn umbringen zu lassen? Es erschien ihm wesentlich wahrscheinlicher, dass der Angriff heute Nacht auf politische Intrigen auf dem Kontinent zurückzuführen war. Kriege im Ausland, nicht eine widerwärtige Geheimgesellschaft hier in England, der die Unschuldigsten zum Opfer fielen.

Es gab keinen Grund, all das mit den Lords of Chaos in Verbindung zu bringen.

Und dennoch konnte er den Verdacht nicht verdrängen.

Hugh verzog das Gesicht und verließ leise das Schlafzimmer seiner Kinder.

Im Gang drehte er sich um und wandte sich wieder in Richtung Treppe, aber diesmal ging er in das Stockwerk über ihm – wo sich die Zimmer der Dienstboten befanden. Er schritt den langen Gang entlang, der auf beiden Seiten von Türen gesäumt war, kam an einem überraschten Küchenmädchen vorbei und klopfte dann an einer der Türen zur Linken, bevor er sie öffnete. Bell teilte sich das Zimmer mit zwei der jüngeren Diener. Die beiden Betten der Diener waren leer, denn sie waren um diese Zeit am Morgen bereits auf und gingen ihrer Arbeit nach, aber Bells zerzauster brauner Haarschopf spähte unter seiner Decke hervor.

Hugh zuckte bei diesem Anblick zusammen. Er weckte den Jungen nicht gerne so kurz, nachdem er ihn zu Bett geschickt hatte, aber das hier konnte nicht warten. Er berührte Bells Schulter.

Der Junge wachte sofort auf. „Euer Gnaden?“

„Ich habe eine Aufgabe für dich“, erklärte Hugh. „Ich möchte, dass du einen Informanten aus St. Giles für mich findest. Sein Name ist Alf.“

2. KAPITEL

Niemand konnte sich daran erinnern, warum das Weiße Königreich das Schwarze Königreich hasste, noch, warum das Schwarze Königreich auch nur die Erwähnung des Weißen Königreichs verabscheute. Die Anfänge des Krieges waren längst vergessen und in Blut ertränkt. Man wusste nur, dass der Krieg endlos war und ohne Gnade geführt wurde …

Aus: „Der Schwarze Prinz und der goldene Falke“

Eine Stunde später stolzierte Alf eine Straße in St. Giles entlang.

Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, das mit einer Bande Jungen umhergezogen war und ihr Geschlecht vor allen außer Ned versteckt hatte, hatte er ihr beigebracht, sich wie ein Junge zu benehmen. Geh breitbeinig und mit großen Schritten, hatte er ihr eingeschärft. Tu so, als gehörte dir die Straße. Sieh Fremden in die Augen wie ein harter Kerl. Sie werden dich vielleicht ohrfeigen, weil du so frech bist, aber sie werden dich nicht für ein Mädchen halten, und das ist das Wichtige. Denn dann bist du sicher.

Jetzt war es ihr zur zweiten Natur geworden, wie eine Haut, die sie morgens überstreifte: die Verkleidung als Alf, der Junge. Er war jünger als es ihrem wahren Alter entsprach – nur fünfzehn oder sechzehn –, und obwohl sie ihr ganzes Leben in St. Giles gelebt hatte, schien niemand zu bemerken, dass Alf, der Junge, in den letzten sechs Jahren nicht älter geworden war. Alf grinste in sich hinein. Aber andererseits war ein weiterer großspuriger Junge, der sich allein in St. Giles durchschlug, nichts, was großartig auffiel.

Sie bog in die Maiden Lane ein und zitterte ein wenig. Sie hatte ihren Mantel mit Lumpen ausgestopft und trug ein Paar fingerlose Handschuhe, aber ihr war trotz ihres Huts an den Ohren kalt. Vor ihr stach das Heim für Waisen und Findelkinder aus den umstehenden Gebäuden heraus, einfach deshalb, weil es sauber, gerade und neu war. Sie duckte sich in eine enge Gasse und hinter das Haus zur Küchentür, wo sie die Treppe hinaufging und klopfte.

Eine hübsche, blonde Frau mit einer Haube öffnete die Tür. Nell Jones, das oberste Dienstmädchen des Waisenhauses, betrachtete sie und schürzte die Lippen. „Guten Morgen, Alf. Ich würde dich hereinbitten, aber ich weiß, es hat keinen Sinn.“

Alf zuckte mit den Schultern. Sie wollte keine Wohltätigkeit, und wenn sie die Küche des Hauses betreten hätte, hätte man ihr Frühstück angeboten. Es hatte keinen Sinn, Menschen zu nahezukommen, hatte Ned ohne Ende wiederholt. Früher oder später wollten sie etwas von einem. Es war besser, die Dinge selbst zu erledigen, als sich auf jemand anders zu verlassen und enttäuscht zu werden. „Kann ich sie seh’n?“

„Natürlich.“

Noch bevor Nell geendet hatte, konnte Alf Hannah rennen hören.

„Ist es Alf?“ Der kleine Rotschopf spähte um Nells Röcke herum, und Alf konnte nichts gegen das Lächeln tun, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, als sie sie sah.

Hannah war jetzt sechs, hatte Sommersprossen im Gesicht und war rundlich, aber als Alf sie vor zwei Jahren das erste Mal gesehen hatte, war das kleine Mädchen dünn und verängstigt gewesen und hatte nicht gelächelt. Hannah war von den Mädchenfängern entführt worden – einer Bande, die kleine Mädchen ausbeutete, indem sie sie zwang, als Sklaven Strümpfe anzufertigen. Alf hatte sie mit der Hilfe des Geists von St. Giles gerettet und Hannah an den einzigen Ort in St. Giles gebracht, an dem Kinder sicher leben konnten – das Waisenhaus.

Seitdem hatte Alf es sich zur Gewohnheit gemacht, das Mädchen mehrmals die Woche zu besuchen. „Und, wie geht’s, Hannah?“

„Na los“, sagte Nell zu dem kleinen Mädchen. „Geh besser nach draußen, um mit ihm zu reden und lass die Kälte nicht herein.“

Hannah kam heraus auf die Treppe, begleitet von einem kleineren Mädchen, das dunkle Haare und den Daumen in den Mund gesteckt hatte. Beide Mädchen waren in Schultertücher gewickelt, um sie vor der Kälte zu schützen.

„Wer is’n das?“, fragte Alf und kauerte sich hin, um auf gleicher Höhe mit den Mädchen zu sein.

„Mary Hope“, antwortete Hannah. „Sie folgt mir überall hin, und sie sagt kaum was. Manchmal muss ich für sie reden.“

Mary Hope sah zu Hannah auf und grinste um ihren Daumen herum.

„Ah“, sagte Alf und versuchte, nicht zu lächeln. „Wie alt biste denn, Mary Hope?“

Mary hielt fünf Finger hoch.

„Nein, bist du nicht“, tadelte Hannah sie. „Dein Geburtstag ist erst in zwei Wochen, sagt Nell. Du bist erst vier.“

Aber die Berichtigung schien Mary nichts auszumachen. Sie nickte nur und lehnte sich an Hannah.

Das größere Mädchen seufzte schwer und schlang den Arm um Mary. „Mr. Makepeace bringt uns das Lesen bei. Na ja, er unterrichtet mich und die großen Jungen und Mädchen. Mary und die anderen Kleinen spielen hauptsächlich.“

„Was liest du denn?“, fragte Alf belustigt.

„Die Bibel“, erwiderte Hannah und klang dabei ein wenig niedergeschlagen. „Aber Nell liest uns manchmal aus der Zeitung vor, und sie hat gesagt, wenn wir gut lesen, dann können wir sie selber lesen –, obwohl“, fügte Hannah gewissenhaft hinzu, „sie sagt, es gibt Teile, die sind nicht für die Augen von kleinen Mädchen geeignet.“

„Aye, nun, dann lies fleißig weiter“, meinte Alf ernst. „Du wirst es brauchen, wenn du eine gute Stellung bekommen willst, verstanden?“

Hannah nickte ernst. „Ja, Alf.“

„Gutes Mädchen.“ Alf kramte in ihrer Tasche herum und zog einen glänzenden Shilling heraus. „Der ist für dich, weil du so brav lernst.“

Hannahs Gesicht fing an zu leuchten. „Danke!“

„Und auch einer für dich, Mary.“ Sie legte einen weiteren Shilling in Mary Hopes schmutzige kleine Hand. „Pass auf, dass du ihn nicht verlierst. Leg ihn irgendwohin, wo er sicher ist.“

„Werden wir“, versprach Hannah und schlang Alf ungeniert die Arme um den Hals.

Alf schloss die Augen. Das war etwas so Wunderbares, die Berührung dieses süßen, kleinen Mädchens, so vergänglich, so flüchtig. Eine Sekunde lang war sie kein Junge mehr, sondern eine Frau, die sich von ganzem Herzen danach sehnte, pummelige Ärmchen um ihren Hals zu spüren. Was hätte sie dafür gegeben, das immer zu haben! Sie spürte einen Hauch von einem feuchten Kuss, und dann trat Hannah zurück und hüpfte schon vor Aufregung, weil sie einen Shilling bekommen hatte.

Mary lehnte sich vor und presste ihre warme, feuchte Wange gegen Alfs.

Dann kicherten die Mädchen, während die Tür sich hinter ihnen öffnete. Nell scheuchte sie hinein, während Hannah für beide Mädchen ein „Auf Wiedersehen“ brüllte.

Die Tür schloss sich, und Alf war wieder allein in der Kälte.

Sie seufzte und stand langsam auf, dann wischte sie sich mit der behandschuhten Hand übers Gesicht. Manchmal dachte sie darüber nach, wie es wäre, wenn sie sich nicht jedes Mal von Hannah verabschieden müsste, wenn sie das Mädchen sah. Wenn sie mehr als nur ein paar Minuten in Eile miteinander verbringen könnten.

Aber das war nicht möglich. Nicht hier. Nicht jetzt.

Nicht mit dem Leben, das sie führte.

Alf schüttelte sich, straffte die Schultern und ging mit raschen Schritten den Weg zurück, den sie gekommen war.

St. Giles erwachte, als sie zurück in die Maiden Lane einbog. Träger und Hausierer machten sich auf den Weg in die besseren Stadtteile. Diejenigen, die bettelten und sangen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, schlurften vorbei wie eine ständig fortziehende Strömung, so zeitlos wie die der Themse selbst. Geld gab es in anderen Teilen Londons, nicht hier. Hier in St. Giles lebten und kopulierten die Armen, sie wuchsen hier auf und starben hier, aber hier verdienten sie nicht ihre Pennys.

Sie nickte Jim, dem Lumpensammler, zu, grüßte Tommy Ginger-Pate, den Anführer einer Bande von jugendlichen Straßenfegern, und blieb stehen, um der alten Mad Mag zu helfen, die ihren Korb mit Wedeln und Besen fallen gelassen hatte. Entweder verfluchte Mad Mag sie oder sie dankte ihr, als der Korb aufgehoben worden war. Es war schwer zu sagen, denn Mag hatte die meisten ihrer Zähne verloren und redete mit einem seltsamen ländlichen Dialekt, den hier niemand verstand.

Wie dem auch sei, Alf lächelte jedenfalls und ging ihres Wegs. Dabei pfiff sie vor sich hin. Sie bog in die Hogshead Lane ein, sprang über die stinkende, halbgefrorene Pfütze, die sich direkt hinter der Ecke befand, und kam dann zum One Horned Goat. Über ihrem Kopf schwankte das Holzschild, das eine garstig aussehende Ziege zeigte, die zwar keine Hörner auf dem Kopf hatte, dafür aber einen großen, hässlichen Penis zwischen den Beinen.

Sie öffnete die Tür zu dem Wirtshaus.

Drinnen war es ruhig. Die Menschen in St. Giles waren bereits wach und kümmerten sich um ihre täglichen Geschäfte oder schliefen den Rausch der letzten Nacht aus, je nachdem.

Archer, der Gastwirt, machte sich nicht die Mühe aufzusehen, als Alf eintrat. Er schenkte einen Humpen Dünnbier ein, spießte eine brutzelnde Wurst aus der Pfanne auf der Herdstelle auf und klatschte sie auf eine Scheibe Brot. Alf setzte sich gerade hin, als der Wirt das Ganze vor sie auf den Tisch stellte.

„Danke“, sagte Alf und schob dem Wirt fünf Pennys zu. Sie trank einen Schluck Bier. Das Bier im One Horned Goat war warm, säuerlich und gut verdünnt, und es gab in St. Giles nichts Besseres, um wach zu werden.

Archer grunzte, neigte den runden Kopf und wies mit seinen hervortretenden Augen in Richtung der Ecke des Raums. „Da is’n Junge, der sagt, er hat ’ne Nachricht für dich.“

Alf nahm einen Bissen von der schmackhaften Wurst und dem altbackenen Brot und kaute, während sie in die Ecke schaute. Breitbeinig saß dort ein Junge, das Gesicht trotzig und ein wenig ängstlich. Er wirkte wie dreizehn, vielleicht vierzehn. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Vielleicht war er neu in London. Er war definitiv neu in St. Giles.

Immer noch kauend stand sie auf, hielt den Krug in einer Hand, das Brot und die Wurst in der anderen und ging zu ihm hinüber.

Der Junge riss die Augen auf, als sie sich näherte.

Alf grinste ihn an. Sie zog mit dem Fuß einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber, dann trank sie einen Schluck Bier und betrachtete ihn, während sie schluckte.

„Alf.“

Der Junge starrte sie nur an. Er hatte große blaue Augen und lockiges braunes Haar. Er hatte versucht, es zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden, aber es hatte nicht ganz funktioniert. Hübsche Haarsträhnen lockten sich an seinen Schläfen und in seinem Nacken und an seinen Ohren. Ein Blick und sie wusste, dass er seine Locken hasste. Aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Im Moment waren seine Ohren und seine Nase und sein Kinn zu groß. Sie passten zu seinen Händen und Ellbogen und, soweit sie das beurteilen konnte, auch zu seinen Füßen – er war in dem Alter, in dem sein Wachstum völlig außer Kontrolle geraten war. Aber in ein paar Jahren, wenn er seine richtige Größe erreicht hatte? Dann, dann würde er sich Sorgen machen müssen.

Weil er dann gut aussehend sein würde.

Und in den dunklen Wäldern von St. Giles machte einen gut aussehend entweder zu einem Monster oder zu dem kleinen Jungen, der vom Weg abgekommen war.

Aber jetzt war er nur ein schlaksiger Junge, der sie immer noch anstarrte.

Sie starrte zurück und nahm einen großen Bissen ihres Brots und der Wurst und kaute langsam.

Mit offenem Mund.

Er runzelte die Stirn.

Sie schluckte und seufzte. „Haste ’nen Namen?“

Leuchtend rote Flecken erblühten auf seinem Gesicht. „Bell.“

Sie nickte. „Hab’ gehört, du hast ’ne Nachricht für mich.“

Bell lehnte sich über den Tisch, als hätte er königliche Geheimnisse weiterzugeben. „Mein Herr hat einen Auftrag für dich.“

„Wer?“

„Der Duke of Kyle“, erwiderte er und klang stolz.

„Ja?“

Sie biss erneut ab, dachte nach und passte verdammt genau auf, dass ihr Gesicht nichts verriet. Ein Duke. Sie hatte nicht gewusst, dass Kyle ein Duke war. Aber noch wichtiger, warum ließ er sie so kurz nach letzter Nacht zu sich rufen? Hatte er sie irgendwie unter ihrer Maske als Geist erkannt?

Sie spürte ein Zittern unter ihrer Haut, als sie fragte: „Was für’n Auftrag?“

Bell runzelte erneut die Stirn. „Hat er nicht gesagt. Du musst mitkommen, dann wird Seine Ganden es dir sagen.“

„Oh, Seine Gnaden, ja?“, wiederholte Alf und grinste.

Bell hatte ehrfürchtig geklungen, als er den Titel genannt hatte.

Sie hatte sowohl den Duke of Wakefield als auch den Duke of Montgomery getroffen. Ersterer war wie die Steinstatue eines Soldaten, ganz Stolz und steife Körperhaltung, als wäre das Blut in seinen Adern so kalt wie der Regen im Dezember. Zweiterer war verrückt und gefährlich und würde jemandem ebenso wahrscheinlich einen Dolch in die Eingeweide stoßen, wie jemandem eine Guinee in die Hand drücken. Und trotz allem waren sie nur Männer. Sie aßen, und sie kackten, und sie konnten wie jeder andere Mann getötet werden.

Dukes und Fäkaliensammler pissten im Stehen, soweit sie das beurteilen konnte. Der einzige Unterschied bestand darin, wo ihre Pisse landete.

Aber wenn dieser Duke es herausgefunden hatte – wenn er erkannt hatte, dass der Geist von St. Giles nicht nur eine Frau war, sondern auch Alf – dann konnte er sie damit in tödliche Gefahr bringen. Sie sollte den Jungen wegschicken. Aus dem One Horned Goat verschwinden und in St. Giles untertauchen. Sich versteckt halten, bis sie absolut sicher war, dass die Gefahr vorüber war.

Falls es eine Gefahr gab.

Denn das war das Problem, nicht wahr – sie konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Vielleicht ließ er sie nur rufen, um an Informationen zu gelangen. Weil er einen Auftrag für sie hatte.

Schließlich war er letzte Nacht in St. Giles angegriffen worden.

Und verdammt, sie war neugierig.

Alf kippte ihr Ale mit drei großen Schlucken hinunter, knallte ihren Bierkrug auf den Tisch und stand mit den Resten ihres Frühstücks in der Hand auf. „Dann lass uns gehen.“

Sie winkte Archer zum Abschied mit ihrem Brot zu, während Bell ihr eilig folgte.

Draußen war die Sonne noch nicht zum Vorschein gekommen, daher zog Alf den Gehrock enger um sich und steckte sich den Rest ihres Brots und der Wurst in den Mund. „Wo lang?“

Bell setzte einen Dreispitz auf und wandte sich, ohne ein Wort zu sagen, nach Westen.

Alf zuckte mit den Schultern und schob ihre zu Fäusten geballten Hände unter die Arme. Dabei hielt sie mit dem Jungen Schritt.

Er trug einen braunen Gehrock – schöner Stoff, kaum getragen –, und seine Schuhe waren auch frisch geputzt.

„Arbeitste schon lange für den Duke?“, fragte Alf.

Der Junge zog den Kopf ein und sah sie von der Seite an. Er hatte ihre Größe, war aber so spindeldürr wie ein Storch. „Zwei Wochen.“

„Ja?“ Sie sprangen über eine halbgefrorene, tote Ratte, die in der Gosse lag, die in der Mitte der Gasse verlief. „Wie haste die Stelle bekommen?“

Er runzelte die Stirn. „Du stellst viele Fragen.“

Sie grinste ihn an. „Das is’ das, was ich kann, oder?“

„Mein Pa stand unter seinem Befehl“, murmelte Bell. „In der Armee.“

„Stand.“

Bell sah zu Boden und ließ die Schultern sinken, als sie an zwei sich streitenden Metzgerlehrlingen vorbeigingen. „Pa ist im letzten Herbst an einem Fieber gestorben. Hat vor zwei Jahren sein Bein in Indien verloren, und seitdem ging’s ihm schlecht. Meine Ma ist gestorben, als ich zehn war, und ich hatte keine Familie, die mich aufnehmen konnte. Mein Pa meinte, der Duke würde sich um mich kümmern, wenn er es nich’ mehr könnte, also habe ich dem Duke geschrieben, und Seine Gnaden hat gesagt, ich kann nach London kommen und für ihn arbeiten. Und das hab’ ich getan.“

„Ah.“ Also war Kyle ein Mann, der sich um seine Leute kümmerte. „Woher kommste?“

„Sussex.“

„Und arbeitste gern für ihn?“

Autor

Elizabeth Hoyt
Elizabeth Hoyt zählt zu den US-amerikanischen Bestseller-Autoren der New York Times für historische Romane. Ihren ersten Roman der Princess-Trilogie „Die Schöne mit der Maske“ veröffentlichte sie im Jahr 2006, seitdem folgten zwölf weitere Romane. Gern versetzt die erfolgreiche Schriftstellerin ihre Romanfiguren in das georgianische Zeitalter. Nachdem ihre beiden Kinder zum...
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