Ozean des Verlangens

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Dieser Mann raubt ihr den Atem. Und doch muss Charlotte den Heiratsantrag des weltgewandten Unternehmers Rafe Connelly ablehnen! Denn ein Familiengeheimnis steht zwischen ihnen, das sie ihm nicht enthüllen kann. Bis Rafe sie mit einer Reise für alle Sinne überrascht …


  • Erscheinungstag 15.08.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769000
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Windy City – windige Stadt – wie man Chicago auch nannte, wurde ihrem Namen wieder einmal gerecht, als jemand zum zweiten Mal versuchte, Charlotte umzubringen.

Zumindest glaubte sie, dass man es auf ihr Leben abgesehen hatte. Ihr Mantel flatterte im Wind, als sie ausgestreckt auf der Kühlerhaube eines parkenden Wagens lag, das Herz vor Panik wild hämmernd, mit einem schmerzhaften Pochen in der Hüfte und brennenden Waden. Sicher konnte sie sich aber nicht sein. Vielleicht hatte der Fahrer sie tatsächlich einfach nicht gesehen.

„Sind Sie okay, Lady?“

Sie blickte in das besorgte Gesicht eines großen Schwarzen mit einem goldenen Ring in der Nase, einem Piercing in der Augenbraue, mit Lederjacke und einer Kappe der Chicago Cubs auf dem offenbar kahlen Kopf. Weitere Passanten waren stehen geblieben, gafften und schimpften. Sie fing Gesprächsfetzen auf – „Verrückte Fahrer!“ und „Muss blau gewesen sein …“ und „Wo ist die Polizei, wenn man sie braucht?“

Nicht hier, glücklicherweise. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war die Polizei.

„Es ist nichts passiert“, beruhigte sie die Besorgten und die Neugierigen und rutschte von der Kühlerhaube herunter. „Danke der Nachfrage.“ Der Wagen hatte sie nur leicht getroffen. Dank des Windes.

Charlotte hatte die Straße überqueren wollen, bei Grün natürlich. Sie ging grundsätzlich nie bei Rot. In einer Hand hatte sie eine leere Brötchentüte gehalten, die sie in die nächste Mülltonne werfen wollte. Eine Windböe hatte ihr die Tüte aus der Hand gerissen. Charlotte hatte sich nach ihr umgedreht – und dabei den Wagen gesehen.

Er kam direkt auf sie zugefahren, obwohl die Ampel für ihn Rot zeigte. Er schien sogar noch schneller zu werden in dem kurzen Moment, als sie die Gefahr erkannt und reagiert hatte.

„Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte der Mann mit der Chicago-Cubs-Kappe und dem Nasenring. Eine kräftige Frau riet ihr, die Polizei zu holen; eine andere empfahl ihr, ins Krankenhaus zu fahren; ein Mann legte ihr nahe, sich einen Anwalt zu nehmen, warum, sagte er aber nicht. Charlotte versicherte den Umstehenden noch einmal, dass ihr nichts passiert war.

Schützend legte sie die Hand auf ihren Bauch. Eine kaum spürbare Bewegung sagte ihr, dass alles in Ordnung war. Erleichtert atmete sie aus.

Ihr Rucksack. Oje, den durfte sie auf keinen Fall verlieren. Wo …? Sie ging in die Hocke, entdeckte ihn unter dem Wagen und zog ihn hervor. Ihre Arme fühlten sich an wie Spaghetti, die zu lange gekocht worden waren.

„Soll ich jemanden anrufen, der Sie abholt?“ Die Frage kam von dem Fan der Chicago Cubs.

„Danke, das ist nicht nötig.“

„Setzen Sie sich besser einen Moment hin. Sie sind ja kreidebleich. Außerdem bluten Sie.“

Fast hätte sie ihre guten Manieren vergessen. Sie hasste es, wenn so viel Aufhebens um sie gemacht wurde. „Ich bin immer blass. Und um die Kratzer kümmere ich mich bei der Arbeit.“

„Haben Sie es noch weit?“

„Nur die Straße hinauf, ins Hole-in-the-Wall.“

Er warf einen bedenklichen Blick in die Richtung, den sie absolut nachvollziehen konnte. Das Lokal war ein Schandfleck in einer Gegend, die einmal ein solides Arbeiterviertel gewesen war, mit der es jetzt aber steil bergab ging. Der Stadtteil war schäbig, schmutzig, fast ein Elendsquartier … genau das, was sie mit viel Mühe hinter sich gelassen hatte.

„Sie sollten jetzt nicht arbeiten“, bemerkte er mit dieser ganz speziellen männlichen Arroganz, die an ihrem Stolz kratzte wie Fingernägel auf einer Tafel.

„Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, aber das ist nicht nötig.“

Sie machte sich humpelnd auf den Weg, in der Hoffnung, dass er den Hinweis verstand und sie in Ruhe ließ.

Fehlanzeige. Der Mann hielt mit ihr mit. „Jetzt machen Sie sich nicht ins Hemd, ich will Sie nicht anbaggern. Ich mache mir nichts aus kleinen blonden Mädchen mit großer Klappe.“ Er schüttelte den Kopf. „Obwohl … für jemanden, der in einem so miesen Lokal arbeitet, haben Sie eine ziemlich gewählte Ausdrucksweise.“

Ihr unerwünschter Begleiter hatte eine angenehme tiefe Stimme mit einer überraschenden Resonanz. „Singen Sie?“, fragte sie unvermittelt.

Er sah sie verwirrt an. „Warum?“

Sie seufzte. „Ihre Stimme erinnert mich nur an einen Tenor, den ich ‚Nessun Dorma‘ habe singen hören.“

„Sie hören sich Opern an, aber arbeiten im Hole-in-the-Wall?“

„Sie erkennen eine Arie aus Puccinis Oper Turandot, aber piercen Ihren Körper?“

„Ganz schön schlagfertig“, bemerkte er. „Warum arbeiten Sie in diesem Loch?“

„Als Buße für meine Sünden.“ Nur zu wahr. Aber ich werde die Dinge bald in Ordnung bringen, versprach sie sich zum wiederholten Mal. Irgendwie.

Sie erreichten die Stufen, die hinab in die Küche des Lokals führten. Sie dankte ihrem Begleiter so höflich wie möglich, humpelte die Treppe hinunter und stieß die Tür auf.

Die Küche war ein langer, enger, völlig überfüllter Raum. Der Koch, ein älterer Mann, der wenig von Körperhygiene hielt, sah sie griesgrämig an. „Das wird aber auch Zeit! Sieh zu, dass du in die Gänge kommst. Zeno ist schlecht gelaunt.“

Charlotte humpelte zu dem Kabuff, in dem die Angestellten ihre Sachen abstellen konnten. Verdammt, sie musste wirklich aufpassen, dass sie ihren Job nicht gefährdete. Das Hole-in-the-Wall hatte – trotz aller unübersehbaren Mankos – drei Vorteile.

Erstens war es zu Fuß von der Abstellkammer aus zu erreichen, die sie derzeit bewohnte. Zweitens reagierte Zeno allergisch auf Zigarettenrauch, deshalb durfte im Lokal nicht geraucht werden. Und drittens nahm er es mit dem Papierkram und den Bestimmungen nicht so genau – ein absoluter Nachteil, was die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften betraf, aber ein Vorteil für sie persönlich. Er hatte die erfundenen Referenzen nicht überprüft, die sie bei der Bewerbung angegeben hatte, und er hatte ihre Sozialversicherungskarte nicht angezweifelt – glücklicherweise, denn es war nicht ihre.

Ein Mann, der in seinem Lokal ein illegales Wettbüro unterhielt, sollte die Bestimmungen in seinem legalen Geschäft gewissenhafter einhalten, dachte sie, während sie ihren Rucksack unter dem Tisch verstaute. Sie zog den Mantel aus und warf einen angewiderten Blick auf das schäbige, unförmige Teil, als sie es aufhängte. Denk nicht an den wunderschönen neuen hellen Wollmantel, der im Garderobenschrank in deinem Apartment hängt, dachte sie. In deinem alten Apartment.

„Du bist spät dran“, knurrte eine tiefe Stimme an der Tür. „Die Schicht beginnt um fünf, und nicht dann, wenn es dir genehm ist, hier aufzutauchen.“

Sie wirbelte herum und blickte mürrisch zur Tür. Zeno stand dort und starrte sie finster an. Er war ein Mann mit einem unsympathischen Äußeren. Dank seinem dicken Bauch, den dichten Augenbrauen und dem stoppeligen Kinn führte er die Liste aller ekligen und fiesen Buchmacher an.

Pass auf, was du sagst, ermahnte sie sich und holte den staubigen Erste-Hilfe-Kasten vom obersten Regal. „Ich wäre an der Ampel fast umgefahren worden.“

„Zu spät ist zu spät. Beim nächsten Mal wirst du gefeuert.“

„Es wäre noch später geworden, wenn der Wagen mich voll erwischt hätte.“ Gereizt öffnete sie eine Flasche mit Desinfektionsmittel. „Und nein, mir ist nichts passiert. Danke der Nachfrage.“

„Wenn nichts passiert ist, dann beweg endlich deinen Hintern und nimm die Bestellungen entgegen.“

„Sobald ich das Blut abgewischt habe. Ich bin mir sicher, dass es die Hygienevorschriften verletzt, wenn ich einen Gast mit meinem Blut vollschmiere.“ Halt endlich den Mund, schalt sie sich.

„Vielleicht habe ich bei deiner Einstellung vergessen zu erwähnen, dass ich aufmüpfiges Benehmen hasse. Es heißt ‚Ja, Sir. Nein, Sir. Sofort, Sir.‘ Verstanden, du dämliche … Was zum Teufel willst du?“ Er drehte sich zu der Kellnerin um, die hinter ihn getreten war. Eine junge Frau mit sanften Rehaugen namens Nikki – „mit zwei K und I“ hatte sie zu Charlotte gesagt, als sie miteinander bekannt gemacht worden waren. Wie Charlotte war sie blond. Alle Kellnerinnen, die für Zeno arbeiteten, waren blond. Nikki allerdings gehörte zu der Sorte Blondinen, über die gern Witze gerissen wurden.

„Mr Jones möchte mit Ihnen sprechen“, sagte Nikki nervös. „Tisch zwölf.“

„Warum hast du das nicht gleich gesagt? Und du“, er deutete mit dem Zeigefinger auf Charlotte, „du hast noch genau fünf Minuten Zeit. Sonst bist du gefeuert.“

Sie versuchte „Ja, Sir“ zu sagen, doch die Worte wollten nicht über ihre Lippen kommen. Also nickte sie steif. Zeno warf ihr einen letzten finsteren Blick zu, dann stapfte er davon.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Nikki mit großen Augen.

„Ich hatte auf dem Weg hierher einen kleinen Unfall.“ Charlotte schlüpfte aus den Schuhen und griff dann unter ihren Rock, um die ruinierte Strumpfhose auszuziehen. Sie warf sie in den Mülleimer, zog die Schuhe wieder an und nahm ihren Bestellblock.

„Denk an die Schürze“, erinnerte Nikki sie.

„Sie ist pink. Und Pink steht mir nicht.“

„Wir müssen eine Schürze tragen.“

„Ich weiß.“ Nikki war in Ordnung – ein bisschen schwer von Begriff und ohne Rückgrat, aber nett.

„Hast du Angst, dass man dir die Schwangerschaft ansieht, wenn du die Schürze umbindest?“

Charlotte erstarrte. „Ich … wovon sprichst du?“

„Ach, komm schon! Man sieht es noch nicht sehr, aber einen kleinen Bauch hast du schon. Und wenn Serena heimlich eine Zigarette in der Küche raucht, dann wirst du ganz grün im Gesicht. Bei meiner Schwester Adrienne war das genauso, als sie mit meinem Neffen schwanger war.“

Charlotte begann wieder zu atmen, wagte jedoch nicht, sich umzudrehen. „Zeno ist auch allergisch auf Zigarettenrauch, und ich bin mir sicher, er ist nicht schwanger.“

Nikki kicherte. „Wenn doch, wären es Drillinge. Bei dem Bauch! Wie weit bist du?“

Seufzend drehte Charlotte sich um. Wegen einer pinkfarbenen Schürze flog sie auf. „Fünfter Monat. Bitte, wenn Zeno das herausfindet, dann …“

„Als wenn ich Zeno etwas verraten würde. Wofür hältst du mich?“

„Entschuldige. Ich habe einfach Angst. Ich brauche diesen Job.“

„Dann beeilen wir uns jetzt besser.“ Nikki gab ihr einen leichten Schubs in Richtung Treppe.

„Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, wenn man allein ist“, sagte Nikki. „Hat der Vater des Kindes dich sitzen gelassen?“

War eine Reise auf die andere Seite des Landes dasselbe wie Sitzenlassen? Vielleicht nicht, denn er wusste nichts von dem Kind. Plötzlich war Charlotte todmüde. Alles lief falsch, und sie schien nichts daran ändern zu können.

Nicht alles, dachte sie. Brad befand sich in Sicherheit. „Wir sollten hier nicht darüber sprechen“, sagte sie. „Du verrätst mich vielleicht nicht, aber wenn uns irgendjemand belauscht …“

„Wie diese Serena.“ Nikki nickte so energisch, dass ihre platinblonden Locken hüpften. „Sie würde dich sofort verpetzen.“

Charlotte stieß die Schwingtür auf. „Stimmt. Welchen Bereich habe ich heute Abend?“

„Vier. Serena hat zwei, ich eins und … he, was ist los?“

„Nichts.“ Sie hoffte es zumindest. „Der große Typ mit dem rasierten Kopf und der Chicago-Cubs-Kappe in meinem Bereich. Der gerade telefoniert. Hast du ihn hier schon einmal gesehen?“

Nikki reckte den Hals. „Ich glaube nicht. Warum?“

Verdammt. Warum hatte sie ihm gesagt, wo sie arbeitete? „Er hat gesagt, dass er keine kleinen blonden Mädchen mag“, murmelte sie.

„Wer? Dieser Typ? Er ist eigentlich ganz süß.“ Nikki lächelte. „Vielleicht mag er große blonde Mädchen.“

War es wirklich ein Zufall gewesen, dass er gerade in dem Moment da gewesen war, als sie fast überfahren worden war? Panik stieg in ihr auf. Charlotte wusste nicht, was sie tun sollte. Weglaufen oder bleiben? Sie holte tief Luft.

„Wollen wir tauschen? Dann kannst du herausfinden, ob er große Blondinen lieber mag als kleine.“

Die nächste halbe Stunde lang beschäftigte sie sich irgendwie. Doch ihre Nerven lagen blank. Ihr Bewunderer – falls er einer war – machte keine Anstrengung, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Warum war er hier? Er war kein Stammgast, und er hatte auch nicht mit Zeno gesprochen. Also war er nicht hier, um auf Pferde oder sonst etwas zu wetten.

Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Nachdem sie zwei Hamburger, ein Pastrami-Brötchen und ein French-Dip-Sandwich an Tisch drei in ihrem Bereich gebracht hatte, trat sie zu dem Chicago-Cubs-Fan.

„Okay“, sagte sie und versuchte, ihren schnellen Herzschlag zu ignorieren. „Ich will jetzt wissen, warum Sie mir hierher gefolgt sind.“

„Bin ich nicht.“ Er klopfte auf den Boden der Ketchupflasche. „Sie bilden sich zu viel ein. Ich war hier in der Gegend, ich war hungrig, also habe ich beschlossen, etwas zu essen. He, könnten Sie mir noch etwas Ketchup bringen? Hier ist nichts mehr drin.“

Automatisch nahm sie die Flasche. „Ich glaube Ihnen nicht.“

„Das ist mir egal. Holen Sie mir jetzt Ketchup oder nicht?“

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Schon gut, Dix. Jetzt übernehme ich.“

Im Traum war manchmal ein Fahrstuhl unkontrolliert mit ihr in die Tiefe gerast. Genauso fühlte Charlotte sich in diesem Moment. Für einen Moment hatte sie ein flaues Gefühl im Magen, dann verwandelte sich ihre Ungläubigkeit in Angst und Schuld. Und – Gott möge ihr beistehen – Begierde.

Sie schloss die Augen. „Rafe“, flüsterte sie.

„Auf Anhieb erkannt.“ Seine Stimme war herzlich und ihr schmerzlich vertraut, der Griff an ihrer Schulter fest. „Das kann nur bedeuten, dass du mich nicht ganz vergessen hast. Auch wenn dir andere Dinge entfallen sind.“

Langsam drehte sie sich um. Er ließ die Hand sinken.

Er trug einen langen schwarzen Ledermantel. Seine Jeans stammten wahrscheinlich von einem Textildiscounter, doch das dunkelblaue Hemd bestand aus feinster ägyptischer Baumwolle. Rafe liebte das luxuriöse Material. Das hatte er ihr einmal anvertraut. Sein welliges braunes Haar war wie üblich zu lang und zerzaust. Es sah aus, als hätte der Wind damit gespielt.

Oder eine Frau. Auch das wäre denkbar.

Er gehört nicht hierher, dachte sie voller Panik. Er sollte nicht hier sein, nicht an einem Ort wie diesem. Er war verdammt noch mal zu perfekt für einen Ort wie diesen.

Sie straffte die Schultern. „Ich nehme an, du willst mit mir sprechen. Aber das muss warten, bis meine Schicht zu Ende ist.“

„Du irrst dich.“ Er nahm ihre Hand und zog Charlotte mit sich in Richtung Tür.

„Rafe.“ Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entreißen. „Hast du den Verstand verloren? Ich kann jetzt nicht mit dir gehen.“

„Natürlich kannst du das.“ Ohne seine Schritte zu verlangsamen, schlängelte er sich durch das enge Lokal.

„Verdammt, du bist schuld, wenn ich gefeuert werde.“

„Meinst du, das interessiert mich?“

„Was zum Teufel ist hier los?“ Zeno baute sich vor Rafe auf und sah ihn finster an.

Charlotte hätte sich nie vorstellen können, dass Zeno einmal zu einer Art Retter werden könnte. „Dieser Idiot zerrt mich zur Tür!“

„Ich will hier keinen Ärger haben.“ Zeno warf ihr einen vernichtenden Blick zu, als sei es allein ihre Schuld, dass dieser verrückt gewordene Mann versuchte, sie zu verschleppen. „Egal, was für ein Problem Sie mit ihr haben, es wird warten müssen, bis sie mit der Arbeit fertig ist.“

„Sie arbeitet nicht länger für Sie“, informierte Rafe den Mann ruhig.

„Natürlich werde ich das.“ Sie versuchte erneut, Rafe ihre Hand zu entreißen. Doch sein Griff war eisenhart.

Rafe sprach weiter, als hätte sie nichts gesagt. „Sie sollte nicht hier arbeiten. Nicht in ihrem Zustand.“

„In welchem Zustand?“, fragte Zeno.

Sag es ihm nicht, flehte Charlotte ihn stumm an. Sag es ihm bitte nicht!

Rafe zog die Augenbrauen hoch. „Sie wissen nicht, dass sie schwanger ist?“

„Sie ist was?“ Zeno ging um sie herum. „Du verlogenes Biest. Trägst du deshalb diese grässlichen Sweatshirts?“ Er griff nach dem Saum ihres Sweatshirts, zog es hoch und legte die Hand an ihren leicht gewölbten Bauch.

Rafe ließ Charlottes Hand los und versetzte Zeno einen gut platzierten Kinnhaken. Der ältere Mann riss erstaunt die Augen auf, dann brach er zusammen.

Rafe rieb sich die Faust. „Anfassen verboten“, knurrte er. Dann nahm er Charlotte wieder an der Hand und zog sie mit sich.

2. KAPITEL

„Hast du den Verstand verloren?“, schrie sie, als er sie aus der Tür zog. „Du hast gerade meinen Chef niedergeschlagen!“

„Er ist nicht mehr dein Chef.“

Sie versuchte, vernünftig mit Rafe zu reden. „Es ist kalt. Mein Mantel … meine Sachen … ich brauche meine Sachen.“ Vor allem benötigte sie ihren Rucksack. Sie durfte ihn nicht verlieren.

„Mein Wagen steht um die Ecke. Die Heizung funktioniert.“

„Du kannst mich nicht einfach so abschleppen! Das ist … gesetzwidrig.“

„So?“ Er stoppte und drehte sich so abrupt um, dass sie gegen ihn prallte.

Mit der freien Hand klatschte sie gegen seine Brust, was verhinderte, dass ihre Körper aufeinandertrafen. Der Ledermantel fühlte sich kühl und weich unter ihren Fingern an. Seine Brust war hart. Genau wie sein Blick. Einen Mundwinkel hatte er sarkastisch nach oben gezogen, doch er lächelte nicht. Sie erinnerte sich, wie sich seine Lippen auf ihren anfühlten, und wich hastig zurück.

„Wenn du meinst, dass ich etwas Illegales tue, dann ruf doch die Polizei.“ Der Mundwinkel zeigte noch weiter nach oben, als sie stumm blieb. „Das habe ich mir gedacht. Und jetzt komm.“

Wie Rafe einen Parkplatz genau dort gefunden hatte, wo er ihn brauchte, war ihr ein Rätsel, aber es war typisch für den Mann. Glück, Können, Karma – egal, woran man glaubte, Rafe hatte mehr davon, als ein Mann haben sollte. Er hatte einfach alles: Geld, ein attraktives Äußeres, Erfolg im Beruf und eine liebevolle Familie. Er müsste verwöhnt sein, oberflächlich, langweilig. War er aber nicht. Er war faszinierend. Unkompliziert, unkonventionell, kontaktfreudig, großzügig.

Diese Vollkommenheit war das Ärgerlichste an dem Mann.

„Steig ein.“ Er hielt ihr die Tür auf.

Seufzend stieg sie ein. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Gefeuert war sie bereits, sie hatte also nichts mehr zu verlieren. Da konnten sie es genauso gut auch hinter sich bringen. Es würde nicht angenehm werden. Das war ihr klar. Aber sie hatte in ihrem Leben schon viele unangenehme Momente erlebt. Diesen würde sie auch noch überstehen.

Das Auto – kein schnittiger Sportwagen, wie man es von einem Mann wie Rafe erwarten könnte, sondern eine Familienkutsche – war neu und teuer. Und es war ihr sehr vertraut. Sie strich mit der Hand über den kühlen Ledersitz und dachte unwillkürlich an das letzte Mal, dass sie in diesem Wagen gefahren war.

Rafe setzte sich hinters Lenkrad, zog die Tür zu und ließ den Motor an. Aus den Lautsprechern erklang laute Musik – eine Art Rockmusik mit schrillen Gitarren, dröhnenden Bässen und monoton stampfender Begleitung. Aus den Belüftungsschlitzen strömte kalte Luft. Der Wagen besaß zweifellos eine hervorragende Heizung, aber der Motor war noch nicht warm. Fröstelnd schlang Charlotte die Arme um den Körper.

Rafe stellte die Musik ab. Stille breitete sich aus. Er sah sie an, verzog das Gesicht, öffnete ungeachtet des Verkehrs wieder die Tür, stieg aus und zog seinen Mantel aus. Wortlos warf er ihn ihr zu und stieg wieder ein.

Charlotte bedeckte sich mit dem Mantel wie mit einer Decke. Das Futter war noch warm von Rafes Körper und roch nach ihm. Leder, Mann, Erinnerungen … Wie unberechenbar er war. Erst zerrte er sie gegen ihren Willen mit sich, dann gab er ihr seinen Mantel, damit sie nicht fror.

Seine Stimme klang ruhig. „Es ist von mir, nicht wahr?“

Charlotte wusste sofort, was er meinte. Sie schloss die Augen, doch es half nicht. Er war hier, er fragte, und sie musste ihm und den Tatsachen ins Gesicht sehen. „Ja.“

„Ist dir je der Gedanke gekommen, dass ich es gern erfahren hätte? Dass ich ein Recht darauf habe, es zu wissen?“

„Ich wollte es dir sagen. Sobald … bei nächster Gelegenheit.“

„Und wann wäre das gewesen? Wolltest du mir eine Mitteilung schicken, wenn mein Sohn mit der Highschool fertig ist? Wolltest du mich dann vielleicht um die Studiengebühren anpumpen?“

Sie senkte den Blick. Unter dem Mantel presste sie die Hände gegeneinander. „Es könnte ein Mädchen sein“, murmelte sie.

„Was?“

Sie hob den Kopf und blickte ihn finster an. „Es könnte deine Tochter sein, die ihren Schulabschluss macht. Nicht dein Sohn.“

„Junge, Mädchen. Was spielt das für eine Rolle? Der Punkt ist, dass du mit meinem Kind schwanger bist, und dass du weggelaufen bist. Du hast einen Job in dieser Spelunke, lebst von der Hand in den Mund, bist stundenlang auf den Beinen und läufst dann spätnachts allein nach Hause. In dieser Gegend!“

Sie verzog die Mundwinkel mit bitter-galligem Humor. Sie war in Gegenden wie diesen aufgewachsen. „Ich kann auf mich aufpassen.“

„Bisher ist es dir ja auch gelungen. Aber ist dir eigentlich klar, dass die Mafia hinter dir her ist?“

Sie schluckte und sagte nichts.

„Verdammt schade, wie es für dich gelaufen ist.“ Er drehte sich in seinem Sitz zur Seite und lehnte sich gegen die Tür, damit er Charlotte betrachten konnte. Mit den Fingerspitzen trommelte er ruhelos auf die Rückenlehne des Sitzes. „Der Verrat an meinem Vater hätte dir ein hübsches Sümmchen einbringen sollen, doch es ist nicht so gelaufen, wie du dachtest, nicht wahr? Sie haben dich reingelegt.“ Er schüttelte in gespieltem Mitleid den Kopf. „Du solltest dir in Zukunft deine Geschäftspartner sorgfältiger aussuchen.“

„So war es nicht“, sagte sie leise.

„Nein? Wie war es dann? Erzählst du es mir?“

Sie hatte geahnt, dass das Gespräch mit ihm unangenehm werden würde. Sie war jedoch nicht auf den Gedanken gekommen, dass er glauben würde, sie hätte es für Geld getan. Sie hatte gedacht, er würde sie besser kennen.

„Ich habe bei der Polizei ausgesagt. Deshalb haben sie es auf mein Leben abgesehen.“

Er seufzte und hörte auf zu trommeln. Lange sagte er nichts, sondern sah sie einfach nur an.

Sie hob das Kinn und erwiderte seinen Blick. Und war gefangen von den schönen, ebenmäßigen Zügen seines Gesichts. Tief liegende dunkle Augen, eine gerade, perfekt geformte Nase und ein Mund, der zum Lachen und Küssen gemacht war.

„Dix hat gesagt, dass dich heute Abend jemand fast überfahren hätte.“

Dix? Ach ja, ihr mürrischer guter Samariter. „Der Mann mit der Cubs-Kappe. Er hat dich also angerufen. Arbeitet er für dich?“

„Dix ist ein Freund, und ja, er arbeitet für mich. Er hat mir geholfen, dich zu finden. Nachdem ich es lange vergeblich versucht hatte.“

Sie verdrehte die Augen. „Du hast dir ja wirklich große Mühe gegeben.“

„Ich habe angerufen. Du hast nie zurückgerufen.“

Autor

Eileen Wilks
Eileen Wilks hat in neun Städten in drei Ländern gelebt. Aber den Großteil ihres Lebens verbrachte sie in Fantasiewelten in ihrem Kopf. Manchmal auch mit Menschen, die nur in ihrer Fantasie leben. Sie heiratete sehr jung und erlangte bereits vor ihrer Autorenkarriere verschiedene Berufsausbildungen nachdem sie viele Jahre als alleinerziehende...
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