Die Westmorelands - Romane 25-30

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Sobald die Eifersucht erwacht

"Verrat es mir: Wie bekomme ich einen Mann rum?" Stern Westmoreland traut seinen Ohren nicht, als seine beste Freundin JoJo ihn um Rat fragt. Sie steht auf einen Kunden ihrer Autowerkstatt, er aber sieht in ihr nur die burschikose Mechanikerin im Blaumann. Natürlich weiß Stern, wie JoJo sich stylen muss! Mit Frauen kennt er sich schließlich aus. Doch als sie verführerisch weiblich vor ihm steht, flammt in ihm plötzlich Eifersucht auf. Ein schrecklicher Gedanke, dass ein Fremder langsam den Reißverschluss ihres sexy Kleides öffnet und zärtlich ihre nackte Haut berührt …

Falsches Spiel - echte Küsse

Eine raue Stimme, ein athletisch gebauter Körper und strahlende Augen - der Typ ist einfach zum Verlieben. Ups! Gerade verlieben wollte Kinderärztin Trinity Matthews sich auf keinen Fall, schließlich sollen die inszenierten Dates mit Adrian Westmoreland nur einem aufdringlichen Kollegen zeigen, dass sie vergeben ist. Aber schon nach dem ersten prickelnden Abend mit diesem Traummann an ihrer Seite sehnt Trinity sich nach mehr als nur gespielten Küssen. Ein Wunsch, den Adrian ihr zu gern erfüllt … bis der skrupellose Rivale die junge Frau zu einer fatalen Entscheidung zwingt!

Trau dich: Es ist Liebe!

Eine dreiwöchige Mittelmeerkreuzfahrt? Jillian freut sich wahnsinnig über das Geschenk ihrer Eltern. Doch endlich auf Reisen, traut sie ihren Augen nicht! An Bord des Luxusliners trifft sie auf Aidan - ihren Ex! Zufall oder Schicksal? Jillian ist sich nicht sicher, aber eins wird ihr schnell klar: Noch immer bringt Aidan ihr Herz zum Pochen, und noch immer sehnt sie sich mit jeder Faser ihres Körpers nach seinen Zärtlichkeiten. Berauscht vom mediterranen Urlaubsflair, landet Jillian erneut in Aidans Armen - und in seinem Bett! Hat ihre Liebe doch noch eine Chance?

Nach allen Regeln der Liebeskunst

Hungrig, leidenschaftlich, verführerisch … Allein bei der Erinnerung an Baileys Küsse spürt Walker Rafferty heiße Erregung. Doch die sexy Schönheit weckt nicht nur seine Begierde. Sie hat auch etwas an sich, das sein Herz berührt - und ihn zutiefst beunruhigt. Denn seit Jahren lebt Walker eisern nach der Regel: Lass nicht zu, dass jemals wieder eine Frau tiefe Gefühle in dir weckt! Am besten reist er schnellstens zurück nach Hause. Denn Bailey Westmoreland wird ihm bestimmt nicht bis nach Alaska folgen. Schließlich liebt sie ihre Heimat über alles, oder?

Wenn die Leidenschaft zurückkehrt

Vor fünf Jahren hat Crystal ihre große Liebe Bane Westmoreland heimlich geheiratet - dann verschwand er spurlos und brach ihr damit das Herz! Nun steht er überraschend vor ihr. Glaubt er ernsthaft, Crystal kann ihm verzeihen? Am liebsten würde die junge Wissenschaftlerin ihn wegschicken. Aber die Wahrheit ist: Sie will ihn noch immer. Und sie braucht ihn. Bei ihren Forschungen hat sie eine Entdeckung gemacht, die mächtige Feinde auf den Plan gerufen hat. Sie schwebt in Gefahr. Nur ihr Noch-Ehemann kann sie retten - und so heiß wie damals lieben?


  • Erscheinungstag 26.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734831
  • Seitenanzahl 770
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Brenda Jackson

Die Westmorelands - Romane 25-30

IMPRESSUM

LIEBE, LÜGEN – HAPPY END? erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2013 by Brenda Streater Jackson
Originaltitel: „Canyon“
erschienen bei: Harlequin Books, Toronto
in der Reihe: DESIRE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA
Band 1857 - 2015 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Peter Müller

Abbildungen: feedough / Thinkstock

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733772901

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Am liebsten wäre Canyon Westmoreland aus dem geparkten Wagen ausgestiegen und hätte sich ein paar Minuten lang die Füße vertreten, aber dann ließ er es doch lieber. So viel hatte er immerhin aus den Serien im Fernsehen gelernt: Wenn man jemanden beschattete, musste man im Verborgenen bleiben und sich so unauffällig wie möglich verhalten. Tatsächlich fühlte er sich wie ein Ermittler in einem Krimi. Denn er wollte endlich herausfinden, warum Keisha Ashford ihn so hartnäckig links liegen ließ.

Natürlich wusste er, was grundsätzlich hinter ihrer Ablehnung steckte: Sie glaubte, dass er sie mit einer anderen Frau betrogen hatte. Aus diesem Grund hatte sie auch vor drei Jahren die Stadt verlassen und jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Inzwischen war sie zwar nach Denver zurückgekehrt. Trotzdem dachte sie immer noch, jedes Recht der Welt zu haben, ihn wie Luft zu behandeln.

Mit diesem Spielchen muss langsam mal Schluss sein, dachte Canyon.

Sie waren beide Wirtschaftsanwälte. Über ihren Beruf hatten sie sich ursprünglich kennengelernt – und dieser Beruf brachte es nun mit sich, dass sie sich immer mal wieder über den Weg liefen. Seit sie vor zehn Monaten nach Denver zurückgekommen war, hatten sie sich mehrfach im Auftrag ihrer Firmen am Verhandlungstisch gegenübergesessen. Und es wurmte ihn mächtig, dass sie in diesen Situationen stets so tat, als würden sie sich gar nicht kennen. Als hätten sie keine gemeinsame Vergangenheit.

Schon ein paarmal hatte er ihr eine Aussprache vorgeschlagen, damit sie die Angelegenheit ins Reine bringen konnten. Doch Keisha hatte ihn jedes Mal zurückgewiesen.

Und mittlerweile reichte es ihm. Er wollte die Sache ein für alle Mal klären. Keinen Tag länger sollte sie mehr denken, dass er sie betrogen hatte.

Deshalb saß er jetzt hier im Auto vor der Anwaltskanzlei, in der sie arbeitete. Canyon wollte ihr unbemerkt bis nach Hause folgen und sie dort zur Rede stellen. Er fand, er hatte ein Recht auf Klärung.

Seine Brüder Stern und Riley hatten ihn vor dieser Vorgehensweise gewarnt: Keisha könnte ja durchaus die Polizei rufen, wenn sie sich von ihm verfolgt oder belästigt fühlte. Canyon hoffte jedoch einfach, dass sie seine Annäherung nicht so auffassen würde. Um Himmels willen, er wollte sie schließlich nicht stalken! Er wollte sich nur mit ihr aussprechen.

Nervös sah er auf die Uhr. Weil er nicht wusste, wann sie Feierabend machte, hatte er sich frühzeitig hier postiert. Inzwischen wartete er seit über einer Stunde. Er hatte auf seiner Arbeit im Familienunternehmen Blue Ridge Land Management extra früher freigenommen, um sie bloß nicht zu verpassen.

Gerade wollte er im Autoradio einen anderen Sender einstellen, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche und runzelte die Stirn, als er auf das Display schaute. Es war sein Bruder Stern. Der Zeitpunkt war ungünstig, aber er nahm das Gespräch an. „Was gibt’s denn, Stern?“, meldete er sich.

„Ich wollte mal hören, ob sie dich schon verhaftet haben.“

„Quatsch. Die werden mich auch nicht verhaften.“

„Sei dir da nicht so sicher. Keine Frau lässt sich gerne stalken.“

Canyon bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Was soll der Unsinn? Ich stalke sie nicht.“

Stern lachte auf. „Du liegst vor ihrer Firma auf der Lauer und willst ihr heimlich nach Hause folgen. Wie würdest du das nennen?“

Unruhig rutschte Canyon auf dem Fahrersitz hin und her. Vom langen Sitzen war sein linkes Bein eingeschlafen. „Ich bräuchte ihr nicht heimlich zu folgen, wenn sie mir verraten hätte, wo sie wohnt.“

„Ganz offensichtlich will sie nicht, dass du es weißt“, gab sein Bruder zurück. „Ihr Zuhause ist ihre Privatsphäre. Wenn du da eindringst, dürfte ihr das nicht gefallen.“

Canyon öffnete den Mund, um darauf zu antworten. In dem Moment beobachtete er, wie Keisha in Begleitung einer anderen Frau das Gebäude verließ. Auf dem Weg zu ihren Autos unterhielten die Frauen sich angeregt. Beide waren gut aussehend, aber Canyon hatte nur Augen für Keisha. Sie ist immer noch wunderschön, dachte er. Genau wie damals.

Ihr dunkles Haar, ihre rassige Figur – das war Verführung pur. Als er sie nun eingehender betrachtete, stellte er jedoch fest, dass Keisha sich zumindest ein wenig verändert hatte. Bildete er sich das ein, oder waren ihre Hüften tatsächlich runder und ihre Brüste voller …?

Selbst wenn es so war: Es stand ihr nicht schlecht. Keisha Ashford sah einfach umwerfend aus.

Manches änderte sich eben nie. Zum Beispiel sein Verlangen nach dieser Frau. Nach dieser Frau, die ihn nicht ausstehen konnte.

Nur allzu gut konnte er sich noch an früher erinnern, als das anders gewesen war. Es hatte Zeiten gegeben, als sie ihn gemocht – ja, sogar geliebt – hatte. Die beste Phase seines Lebens, wenn er so darüber nachdachte. Eigentlich war er seinerzeit davon ausgegangen, frühestens mit fünfunddreißig zu heiraten. Plötzlich war Keisha in sein Leben getreten, und alles hatte sich geändert. Schnell war er bereit gewesen, ihr die große Frage zu stellen. Doch dann war diese Lüge einer anderen Frau dazwischengekommen. Und alles war aus gewesen.

Canyon seufzte auf. Warum konnte er nur den Blick nicht von ihr lassen? Dieser Po, diese Beine …

„He, Canyon, bist du noch dran?“

Ach, richtig, Stern war ja noch in der Leitung. „Ja, ja, ich bin noch dran. Aber ich muss jetzt los. Keisha ist gerade aufgetaucht. Ich muss hinterher.“

„Sei bloß vorsichtig, Brüderchen. Es ist lange her, dass ein Westmoreland im Knast gewesen ist. Du kannst dich bestimmt noch daran erinnern.“

Canyon atmete tief durch. Natürlich, das würde er nie vergessen. Bisher hatte nur ein Westmoreland jemals hinter Gittern gesessen: Sein jüngerer Bruder Brisbane – in Denver auch unter seinem Spitznamen Badass Bane bekannt – hatte in seiner Jugend jede Menge Mist gebaut. Das war zum Glück Vergangenheit. Heutzutage diente Bane seinem Land als knallharter Elitesoldat bei der Navy.

„Mach dir mal keinen Kopf, Stern. Ich will Keisha doch nichts antun, ich will bloß ein klärendes Gespräch.“

„Und trotzdem war sie schon einmal drauf und dran, eine einstweilige Verfügung gegen dich zu erwirken, damit du dich ihr nicht mehr nähern darfst. Hör mal, Canyon. Ich weiß, das geht mich eigentlich nichts an, aber …“

„Ja, ja, ich weiß schon, Stern. Ich soll nichts tun, was unsere Familie in Verruf bringen könnte.“

Nachdem Keisha sich von der anderen Frau verabschiedet hatte, ging sie alleine zu ihrem Auto. Ihr Gang war noch so atemberaubend sexy wie früher. Als Model hätte sie auf jedem Laufsteg der Welt eine tolle Figur gemacht. Doch gleichzeitig strahlte sie auch die kühle Professionalität einer erfolgreichen Anwältin aus.

„Eins noch, Canyon …“

„Jetzt nicht, Stern. Keine Zeit. Ich ruf dich später an.“

Canyon drückte das Gespräch weg, ohne die Augen von Keisha abzuwenden. Sie schaute sich nach allen Seiten um, bevor sie in ihren Wagen stieg. Zum Glück hatte er hinter einigen anderen Autos geparkt, sodass sie ihn nicht entdeckt hatte.

Bewusst ließ er ihr ein wenig Zeit, um den Wagen anzulassen und sich aus der Parklücke zu manövrieren. Als Canyon gerade losfahren wollte, setzte jedoch das Auto vor ihm zurück. Canyon stieg in die Bremsen. „Verflixt“, stieß er leise hervor. „Muss der Kerl ausgerechnet jetzt …?“

Auf keinen Fall durfte er Keisha verlieren. Und so hängte Canyon sich an die schwarze Limousine, die sich wiederum hinter Keishas Auto hielt. Nach ein paar Häuserblocks kam ihm die Situation allmählich verdächtig vor. Es sah ganz so aus, als ob der Fahrer der Limousine Keisha ebenfalls verfolgte!

Und das war gar nicht so unwahrscheinlich. Als Jurist machte man sich schließlich nicht immer nur Freunde. Warum sollte Keisha da eine Ausnahme sein? Gab es vielleicht jemanden, der sich an ihr rächen wollte? Oder hatte es ein Verbrecher auf ihr Auto abgesehen?

Als Keisha stadtauswärts fuhr und der Wagen ihr weiterhin folgte, schrillten bei Canyon alle Alarmglocken. Das konnte kein Zufall mehr sein! Leider konnte er nicht erkennen, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer saß. Die Scheiben des Autos vor ihm waren getönt. Allerdings konnte er das Nummernschild lesen. Das würde ihm weiterhelfen!

Mit einem Knopfdruck aktivierte er die Freisprechanlage und wurde automatisch mit der Telefonzentrale des familieneigenen Unternehmens verbunden.

„Hallo, Mr Westmoreland“, begrüßte ein Mitarbeiter ihn. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ja, Samuel. Bitte verbinden Sie mich mit Pete Higgins.“

Pete arbeitete bei der Polizei in Denver und war eng mit Canyons Cousin Derringer befreundet.

„Einen Moment bitte, Mr Westmoreland.“

Es dauerte nicht lange, dann ertönte Petes Stimme: „Deputy Higgins.“

„Hallo, Pete, hier spricht Canyon. Könntest du eine Autonummer für mich prüfen?“

„Warum?“

Die Frage war natürlich berechtigt, trotzdem reagierte Canyon gereizt. „Weil der Fahrer eine Frau verfolgt.“

„Und woher weißt du das?“

„Ich … ich weiß das, weil ich sie auch verfolge.“

„Oh. Und warum tust du das?“

„Jetzt hör mal zu, Pete. Entweder tust du mir den Gefallen oder du lässt es.“

„Nein, du hörst mir zu, Canyon. Wer eine Frau verfolgt, kann mit dem Gesetz in Konflikt kommen – du genauso wie jeder andere. Aber na schön, gib mir die Autonummer durch.“

Canyon nannte sie ihm. Insgeheim fragte er sich, warum Keisha anscheinend nicht bemerkte, dass sie verfolgt wurde – sogar von zwei Autos.

„Das ist ja interessant“, murmelte Pete.

„Was denn?“

„Das Nummernschild wurde als gestohlen gemeldet. Heute Vormittag erst. Das sehe ich hier im Computer. Wo bist du?“

„Ich überquere gerade die Kreuzung zwischen Firestone Road und Tinsel in Richtung Purcell Park Road.“

„Das ist ja ganz am anderen Ende der Stadt“, stellte Pete fest.

„Ja“, erwiderte Canyon einsilbig und überlegte, ob Keisha sich absichtlich so weit von den Westmorelands entfernt wie nur möglich einquartiert hatte.

„Fährt die verfolgte Frau ein teures Auto?“, fragte Pete.

„Einen ziemlich neuen BMW. Warum?“

„Vielleicht hat der Verfolger es auf ihren Wagen abgesehen. Ich mache mich auf den Weg in eure Richtung. Du folgst den beiden am besten weiter, deinen Wagen erkenne ich dann ja. Aber mach keine Dummheiten.“

„Bis später“, gab Canyon knapp zurück und legte auf. Wahrscheinlich würde er den beiden Autos nicht einfach bloß hinterherfahren können. Was passierte, wenn Keisha erst bei sich zu Hause ankam? Er entschloss sich, vorher einzugreifen.

Keisha bewegte sich im Takt der Musik aus dem Autoradio, während sie sich gleichzeitig auf den Verkehr konzentrierte. Ganz allmählich fiel die Anspannung von ihr ab.

Es war ein harter Tag gewesen.

Bereits um zehn Uhr morgens hatte sie den ersten Gerichtstermin gehabt. Danach war ihr kaum Zeit für einen kleinen Snack geblieben, bis um dreizehn Uhr der nächste Termin gefolgt war. Gegen fünfzehn Uhr war sie ins Büro zurückgekehrt. Dort hatte man sie sofort in ein Meeting gezerrt, das sie ganz vergessen hatte. Sie war wirklich heilfroh, dass diese Arbeitswoche vorüber war – obwohl das Wochenende ebenfalls sehr turbulent werden würde.

Immerhin konnte sie mit der Bilanz ihrer Woche zufrieden sein. Sie hatte drei Fälle gewonnen und wusste, dass ihre Chefs Leonard Spivey und Adam Whitlock sehr zufrieden mit ihr waren.

Vor drei Jahren war Leonard sehr enttäuscht gewesen, als Keisha kurzfristig gekündigt hatte. Sie hatte Denver verlassen wollen, um nach Texas heimzukehren. Aber weil sie eine der besten Anwältinnen der Firma gewesen war, hatte er ihr ein gutes Arbeitszeugnis ausgestellt. Und als sie drei Jahre später nach Denver zurückgekehrt war, hatte er sie mit Freuden wieder eingestellt.

Manche Dinge ergaben erst im Nachhinein einen Sinn. Als Keisha nach Texas gezogen war, hatte sie schnell einen Job bei einer Kanzlei in Austin gefunden. Wäre sie damals nicht nach Hause zurückgekommen, hätte sie vielleicht gar nichts von dem Brustkrebsdrama um ihre Mutter mitbekommen.

So hatte Keisha ihrer Mutter zum Glück in dieser schweren Zeit beistehen können. Die beiden hatten sich immer sehr nahegestanden. Lynn Ashford war die beste alleinerziehende Mutter gewesen, die man sich nur hatte vorstellen können. Nachdem Keishas leiblicher Vater seine Vaterschaft angezweifelt hatte, war Lynn aus ihrer Heimatstadt Austin fortgezogen und hatte sich mit ihrer Tochter in Baton Rouge niedergelassen. Nach dem Tod ihres Großvaters waren ihre Mutter und sie dann zurück nach Austin gezogen, um sich um Keishas Großmutter zu kümmern. Keisha war fünfzehn Jahre alt gewesen.

All das war nicht leicht gewesen: Um ihre Familie versorgen zu können, hatte Keishas Mutter lange Zeit in zwei Jobs gearbeitet. Doch mit unendlich viel Fleiß und Willenskraft hatte sie es geschafft. Auch ohne Mann. Und Keisha hatte daraus den Schluss gezogen, dass sie es im Zweifelsfall ebenso schaffen würde.

Es schmerzte sie, wenn sie an den Mann dachte, durch den es dann tatsächlich so gekommen war.

Canyon Westmoreland.

Schon bei ihrem allerersten Aufeinandertreffen hatte Keisha sich unsterblich in ihn verliebt. Alles war wunderbar gewesen, bis sie eines Tages gehört hatte, dass er sie betrog. Mit vielem hätte sie leben können, aber nicht mit Untreue. Vertrauen war ihr in einer Beziehung stets besonders wichtig. Wenn das fehlte, hatte alles keinen Zweck mehr – nicht einmal eine Romanze, die so verheißungsvoll begonnen hatte. Ganz offensichtlich hatte sie sich in Canyon Westmoreland getäuscht.

Inzwischen waren drei Jahre vergangen, und Keisha lebte wieder in Denver. Die Kanzlei in Austin, für die sie gearbeitet hatte, war in einen Riesenskandal verwickelt gewesen und zu guter Letzt sogar geschlossen worden. Keisha hatte sich also einen neuen Job suchen müssen. Um nicht noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen, hatte sie sich auf ihre alte Kanzlei Spivey and Whitlock in Denver besonnen. Dort hatte man sie mit Kusshand wieder aufgenommen.

Keisha vermisste natürlich ihre Mutter, die sie in Austin zurückgelassen hatte, aber sie brauchte das Geld. Schließlich hatte sie nicht nur sich selbst zu versorgen. Ihr war von vornherein klar gewesen, dass sie beruflich hin und wieder auf Canyon treffen würde. Damit sie ihm nicht auch noch privat ständig über den Weg lief, hatte sie sich so weit weg wie möglich von den Westmorelands einquartiert.

Sie kannte die ganze bewegende Geschichte der Westmorelands. Canyons Eltern sowie seine Tante und sein Onkel waren bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Insgesamt fünfzehn Kinder waren als Waisen zurückgeblieben. Sie alle hatten jedoch zusammengehalten und waren auch zusammengeblieben – was gar nicht so einfach zu bewerkstelligen gewesen war, weil damals einige Familienmitglieder noch unter sechzehn gewesen waren. Doch gemeinsam hatten die jungen Westmorelands alles gemeistert und lebten dank der Familienfirma Blue Ridge mittlerweile sogar im Reichtum.

Canyons Eltern hatten sieben Söhne: Dillon, Micah, Jason, Riley, Canyon, Stern und Brisbane. Seine Tante und sein Onkel hatten sogar acht Kinder gehabt: fünf Jungen – Ramsey, Zane, Derringer und die Zwillinge Aiden und Adrian – sowie die drei Mädchen Megan, Gemma und Bailey. Soweit Keisha wusste, hatten die meisten der Westmorelands einen Collegeabschluss und waren allesamt beruflich erfolgreich. Manche arbeiteten für das Familienunternehmen, manche hatten einen anderen Beruf ergriffen, der sie mehr interessierte. Die meisten von ihnen hatte Keisha in der Zeit, in der sie mit Canyon zusammen gewesen war, kennengelernt – und zwar auf dem jährlichen Westmoreland-Ball. Der war ein Großereignis in der Stadt, und die Einnahmen und Spenden dieses Society-Events kamen jedes Mal mehreren Wohltätigkeitsorganisationen zugute.

Es wimmelte in Denver von Westmorelands, aber sie konnte immer nur an den einen denken. Canyon.

In intimen Stunden hatte sie ihn manchmal zärtlich „Grand Canyon“ genannt – den großen Canyon. Und das nicht ohne Grund …

Noch immer bekümmerte es sie, an diese Zeiten zurückzudenken. Sie hatte ihn geliebt und geglaubt, dass er sie auch liebte. Sie hatte ihm ihr Herz und ihr Heim geöffnet. Nach einem halben Jahr war er bei ihr eingezogen. Und sie hatte gedacht, ihre Liebe sei für die Ewigkeit. Doch er hatte sie bitter enttäuscht.

Plötzlich ertönte das plärrende Geräusch einer Hupe. Erschrocken sah Keisha in den Rückspiegel. Was ist denn da los?

Die Fahrer der beiden Wagen hinter ihr schienen sich einen gefährlichen Zweikampf zu liefern. Offenbar versuchte der Fahrer des burgunderroten Autos, die schwarze Limousine von der Straße zu drängen.

Mit diesen beiden Verrückten will ich nichts zu tun haben, dachte sie bei sich. Sie gab Gas und überließ die Streithähne ihrem Schicksal.

Flüchtig schaute Keisha auf die Uhr am Armaturenbrett. Sie wollte so schnell wie möglich ihr Fahrtziel erreichen. Dort wartete schließlich jemand auf sie.

Befriedigt registrierte Canyon, dass der Fahrer der schwarzen Limousine die Flucht ergriff. Er war dem Wagen sehr nahe gekommen. Wegen der getönten Scheiben hatte er jedoch nicht erkennen können, wer am Steuer saß.

Aus der Ferne konnte er gerade noch Keishas Wagen ausmachen. Er setzte die Verfolgung fort und hielt dabei gebührenden Abstand, damit sie ihn nicht bemerkte. In dieser Ecke von Denver war er schon lange nicht mehr gewesen. Allerdings wusste er, dass sich hier einiges tat. Neue Wohnsiedlungen wurden gebaut, wodurch auch neue Restaurants und Einkaufsgelegenheiten hinzukamen.

Jetzt bog Keisha rechts ab. Sie hielt vor einem Gebäude, das durch ein farbenprächtig bemaltes Schild als Kindertagesstätte ausgewiesen wurde. Canyon runzelte die Stirn. Was wollte Keisha denn bei einem Kindergarten? Na ja, vielleicht tat sie einer Arbeitskollegin einen Gefallen und holte deren Kind ab.

Er parkte in einiger Entfernung und beobachtete, wie sie glücklich lächelnd in dem Haus verschwand. Ja, sie hatte eindeutig gute Laune. Hoffentlich blieb es auch so, wenn sie erst erfuhr, dass er sie bis nach Hause verfolgt hatte.

Gerade wollte er einen anderen Sender im Autoradio einstellen, als sein Handy klingelte. Hoffentlich nicht wieder Stern, dachte er. Auf dem Display sah er, dass es Bailey war. Seine Cousine war die Jüngste der Westmoreland-Sippe hier in Denver. Ebenso wie Bane war sie als Jugendliche ziemlich wild gewesen und öfter in Schwierigkeiten geraten.

Er nahm das Gespräch an. „Was gibt’s, Bay?“

„Zane ist wieder da. Er ist heute angekommen.“

Canyon nickte. Sein Cousin Zane hatte vor etwas mehr als drei Wochen die Stadt verlassen. Zunächst hatte Canyon gedacht, es handelte sich um eine normale Geschäftsreise. Dann hatte er erfahren, dass sein Cousin hinter einer Frau her war, mit der er einmal eine Affäre gehabt hatte. Die junge Dame hieß Channing Hastings. Insgeheim rechneten einige der Westmorelands damit, dass Zane mit einem Ehering am Finger zurückkehrte.

„Und? Hat er geheiratet?“, wollte Canyon wissen.

„Noch nicht. Aber er und Channing überlegen, ob sie genau zu Weihnachten heiraten sollen.“

Nachdenklich schüttelte Canyon den Kopf. Für ihn war es schwer vorstellbar, dass der eingefleischte Junggeselle Zane wirklich heiraten wollte.

„Zane als Ehemann“, meinte er. „Hätte nicht gedacht, dass ich das noch erleben würde.“

„Na, ich freue mich, dass er zur Vernunft gekommen ist“, gab Bailey zurück und fügte hinzu: „Vergiss nicht unser Essen heute Abend.“

An jedem zweiten Freitag trafen sich alle Westmorelands aus Denver bei Canyons Bruder Dillon zum gemeinsamen Abendessen. Die Frauen übernahmen das Kochen, und die Männer brachten gesunden Appetit mit. Anschließend spielten die Männer Poker, und die Frauen taten, was immer ihnen in den Sinn kam.

„Könnte sein, dass ich etwas später komme“, erwiderte Canyon. Er konnte ja noch nicht abschätzen, wie sein Zusammentreffen mit Keisha laufen würde. Vielleicht holte sie tatsächlich das Kind einer Arbeitskollegin aus der Kita ab. Falls sie es zum Babysitten mit nach Hause nahm, würde er nicht stören wollen. Doch immerhin wusste er dann, wo sie wohnte. Bei nächster Gelegenheit würde er eben wiederkommen, um mit ihr zu reden. Und auf jeden Fall würde er ihr auch mitteilen müssen, dass ein Unbekannter sie verfolgt hatte.

„Warum?“

Canyon runzelte die Stirn. „Warum was?“

„Warum du vielleicht später kommst. Dillon hat erwähnt, dass du heute früher von der Arbeit abgehauen bist.“

Warum müssen Frauen bloß immer so neugierig sein? dachte Canyon. Er klopfte ein paarmal mit dem Fingernagel auf das Handy und rief dann: „Die Verbindung ist auf einmal so schlecht, Bailey! Wir unterhalten uns später weiter.“

Gerade legte er auf, als Keisha das Gebäude verließ. Sie lächelte immer noch; er betrachtete das als ein gutes Zeichen. An der Hand hielt sie einen kleinen Jungen, der ungefähr zwei Jahre alt sein musste.

Als Canyon das Gesicht des Jungen sah, zuckte er zusammen. „Was zum Teufel …!“, stieß er hervor. Das Kind war Denver, dem dreijährigen Sohn seines Bruders Dillon, wie aus dem Gesicht geschnitten. Hätte Canyon nicht genau gewusst, dass Denver zu diesem Zeitpunkt bei seiner Mutter zu Hause war, hätte er den Jungen glatt für seinen Neffen gehalten!

Es rieselte ihm eiskalt den Rücken herunter. Es gab nur eine einzige plausible Erklärung, warum das Kind haargenau wie ein Westmoreland aussah. Unwillkürlich umklammerte Canyon das Lenkrad noch fester.

Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er ausgestiegen und auf Keisha zugelaufen war. Aber den Blick, den Keisha ihm zuwarf, würde er sicher niemals vergessen. Eine Mischung aus Überraschung, Schuldgefühl und Reue.

Je näher er kam, desto mehr veränderte sich ihre Miene. Bald strahlte sie puren Beschützerinstinkt aus. Keisha drückte ihren Sohn – ihren gemeinsamen Sohn, da war Canyon sich sicher – fest an sich. „Was willst du denn hier, Canyon?“

Kochend vor Wut blieb Canyon vor ihr stehen. Nur mit Mühe konnte er sich zusammenreißen. Der kleine Junge schaute ihn erschrocken und misstrauisch an.

Canyon sah Keisha tief in die Augen. Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste er hervor: „Würdest du mir vielleicht verraten, warum du mir unseren Sohn verheimlicht hast?“

2. KAPITEL

Keisha holte tief Luft. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Schon oft hatte sie sich gefragt, wie Canyon wohl reagieren würde, wenn er von seinem Sohn erfuhr. Würde er abstreiten, der Vater zu sein – wie ihr Vater es bei ihr getan hatte?

Sie beantwortete seine Frage nicht, sondern stellte eine Gegenfrage. „Hätte es für dich irgendeinen Unterschied gemacht?“

„Zu wissen, dass ich einen Sohn habe?“, gab er empört zurück. „Wie kannst du nur so etwas fragen? Raus damit: Warum hast du es mir verschwiegen?“

Verstört klammerte ihr Sohn sich an sie. Keisha wusste, dass sie Canyon ein klärendes Gespräch schuldig war – aber nicht hier und nicht jetzt.

Sie entgegnete: „Ich muss Beau erst einmal nach Hause bringen und …“

„Beau?“

„Ja“, bestätigte sie. „Mein Sohn heißt Beau Ashford.“

„Was den Nachnamen angeht, könnte sich das noch ändern“, murmelte Canyon vor sich hin.

Keisha atmete durch. „Wie gesagt, Canyon: Ich bringe Beau erst nach Hause, mache ihm was zu essen und …“

„Wie du willst“, unterbrach er sie. „Aber ich komme mit.“

Das würde ihm so passen! „Jetzt hör mir mal zu, Canyon, ich …“

Plötzlich kam die Kita-Besitzerin Pauline Sampson aus dem Gebäude und ging auf sie zu. Pauline war vor fünf Jahren eine von Keishas ersten Mandantinnen gewesen und war obendrein eine Freundin von Mr Spiveys Frau Joan. Sie lächelte zwar freundlich, schien aber ebenso besorgt wie neugierig zu sein.

„Ich habe zufällig vom Fenster aus gesehen, dass Sie noch hier sind, Keisha“, sagte Pauline. „Ich wollte nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist.“

In Ordnung? Das konnte man so oder so sehen. Doch auf jeden Fall hatte Keisha keine Lust, in dieser Situation lange Erklärungen abzugeben. „Alles bestens, Pauline. Trotzdem danke für Ihre Aufmerksamkeit.“ Sie hatte kein Interesse daran, Canyon und Pauline einander vorzustellen. Es überraschte sie allerdings auch nicht sehr, als Canyon nun die Initiative ergriff.

Freundlich lächelnd reichte er Pauline die Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Pauline. Ich bin Canyon Westmoreland, Beaus Vater.“

Pauline zog eine Augenbraue hoch. „Westmoreland?“

„Ja, genau. Westmoreland.“

Pauline musterte ihn interessiert. „Sind Sie mit Dillon Westmoreland verwandt?“

Canyons Lächeln wurde breiter. „Allerdings. Dillon ist mein ältester Bruder.“

„Wie klein die Welt doch ist“, meinte Pauline amüsiert. „Dillon und ich sind zusammen auf die Highschool gegangen und sitzen gemeinsam im Aufsichtsrat einiger Unternehmen hier in der Stadt.“

„Da freue ich mich gleich noch viel mehr, Sie kennenzulernen“, erwiderte Canyon und sah auf die Uhr. „Aber wenn Sie uns bitte entschuldigen würden: Keisha und ich müssen Beau nach Hause bringen, damit er rechtzeitig sein Abendessen bekommt.“

„Kein Problem“, antwortete Pauline strahlend und blickte Keisha an. „Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.“

Wenn es etwas nicht wird, dann ein schönes Wochenende, schoss es Keisha durch den Kopf. „Danke. Ihnen auch, Pauline.“

Sie würde Canyon nicht ausreden können, sie nach Hause zu begleiten. Das war Keisha klar. Er wollte Antworten – und zwar nicht erst morgen oder nächste Woche, sondern sofort.

Nachdem Pauline wieder im Haus verschwunden war, wollte Keisha sich auf den Weg zu ihrem Wagen machen. Sie zuckte zusammen, als Canyon sich zu Beau hinunterbeugte und ihn auf den Arm nahm. Ihr Sohn war Fremden gegenüber sehr schüchtern. Sie rechnete fest damit, dass er jede Sekunde in Tränen ausbrechen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil: Zutraulich schlang Beau die Arme um den Nacken des ihm fremden Mannes.

„Ich trage ihn für dich zum Auto“, sagte Canyon.

„Er hat zwei gesunde Beine, er kann selber laufen.“

„Das weiß ich, aber ich möchte ihn gerne tragen. Gönn mir doch die Freude.“

Keisha verspürte nicht die geringste Lust, zu Canyons Wohlbefinden beizutragen. Sie wollte schlicht und einfach nichts mit ihm zu tun haben. Vater oder nicht: Wenn er dachte, er könnte sich auf diese Weise in ihr und Beaus Leben hineinmogeln, war er auf dem falschen Dampfer. Canyon hatte vor drei Jahren seine Chance gehabt. Und er hatte alles vermasselt.

Keisha sah die Dinge eben anders als ihre Mutter Lynn. Die war der Meinung, dass ein Mann das Recht hatte, von seiner Vaterschaft zu erfahren. Seinerzeit hatte sie es auch Kenneth Drew mitgeteilt, als sie mit Keisha schwanger gewesen war. Allerdings hatte er davon nichts wissen wollen. Unter dieser Zurückweisung hatte Keisha nicht nur in ihrer Kindheit, sondern bis ins Erwachsenenalter hinein gelitten. Und diese bittere Erfahrung hatte sie ihrem Sohn ersparen wollen.

Als sie beim Auto angekommen waren, öffnete sie die hintere Tür. Sie überließ es Canyon, Beau in den Kindersitz zu verfrachten. Zu ihrer großen Überraschung protestierte der Kleine und wollte zurück auf Canyons Arm.

„Anscheinend mag er dich“, murmelte Keisha süßsäuerlich.

„Westmorelands wissen eben, dass sie zusammengehören“, erklärte Canyon mit einem triumphierenden Lächeln.

Keisha sagte dazu nichts. Eins war ihr jedoch klar: Canyon wollte ihr damit durch die Blume zu verstehen geben, dass er fand, sein Sohn müsse seinen Namen tragen.

„Ab sofort werde ich immer für dich da sein, Partner“, sagte er zu dem Jungen.

Das wird sich noch zeigen, dachte Keisha. Kommt nämlich ganz darauf an, welche Umgangsrechte ich dir überhaupt zugestehe, Freundchen!

Als hätte ihr Sohn alles verstanden, sprach Beau nun zum ersten Mal zu Canyon. Der Kleine wies mit dem Finger auf sich und meinte: „Beau.“ Dann deutete er auf Canyon. „Und du?“

Canyon lächelte beglückt. Anstatt seinen Namen zu nennen, antwortete er nun betont laut, damit Keisha es garantiert hörte: „Dad.“

Mit geradezu feierlichem Ernst wiederholte Beau: „Dad.“

Canyon lachte auf. „Genau: Dad.“ Er schloss die Autotür und drehte sich zu Keisha um.

„Du kannst offenbar gut mit Kindern umgehen“, kommentierte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Dillon hat einen Sohn namens Denver, der ein bisschen älter als Beau ist. Mit dem beschäftige ich mich oft. Die beiden sehen sich übrigens zum Verwechseln ähnlich – wenn man davon absieht, dass Denver etwas größer ist.“

Jetzt war es Keisha, die mit den Schultern zuckte. Bestimmt übertrieb Canyon, was die Ähnlichkeit anging. „Weil du ja auf einer Aussprache bestehst, kannst du mit zu mir nach Hause kommen“, sagte sie. „Aber ich versorge Beau wie gewöhnlich, als ob du nicht da wärst. Da mache ich keine Ausnahme.“

„Das hätte ich auch nicht von dir verlangt.“

Sie wollte gerade um das Auto herum zur Fahrerseite gehen, als er sie ganz behutsam am Arm berührte. Schlagartig wurde ihr heiß. Canyon strahlte so viel Männlichkeit aus! Eigentlich hatte sie geglaubt, nach all der Zeit dagegen immun zu sein. Offensichtlich war das ein Irrtum …

„Keisha?“

Krampfhaft versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. „Ja, was denn?“

Er sah ihr tief in die Augen. „Könnte es sein, dass du aus irgendwelchen Gründen verfolgt wirst?“

„Von dir, oder was meinst du?“

„Nein, nicht von mir.“ Verlegen schob Canyon die Hände in die Hosentaschen. „Ich bin dir hinterhergefahren, seit du deine Arbeitsstelle verlassen hast. Doch ich war nicht der einzige. Eine schwarze Limousine war auch hinter dir her. Als es mir zu bunt wurde, habe ich dem Unbekannten Angst eingejagt. Ich wollte verhindern, dass der Fahrer rauskriegt, wo du wohnst. Er ist dann verschwunden.“

„Ach ja, ich habe was im Rückspiegel gesehen. Aber ich habe es nicht auf mich bezogen. Du warst also der Fahrer des roten Wagens?“

„Ja, genau. Ich habe mich schon bei der Polizei erkundigt und …“

„Bei der Polizei?“

„Ja. Ich kenne über Derringer jemanden, der bei der Polizei arbeitet. Der hat mich darüber informiert, dass das Nummernschild des Wagens als gestohlen gemeldet wurde. Er hat sich vorhin noch mal kurz gemeldet und mir mitgeteilt, dass sie immer noch auf der Suche nach dem Auto sind.“

Keisha hatte Derringer bisher nur ein einziges Mal getroffen – auf dem Ball der Westmorelands. Sie hatte jedoch schon umso mehr von ihm gehört. Bevor er geheiratet hatte und treusorgender Ehemann geworden war, hatte er einen Ruf als großer Frauenheld gehabt. Dieser Ruf ging allerdings noch mehreren anderen Westmorelands voraus.

„Ich weiß wirklich nicht, wer mich verfolgen sollte und warum. Und da wir gerade beim Thema sind: Warum hast du mich verfolgt?“

„Weil ich dich in den vergangenen Monaten mehrfach um eine Aussprache gebeten habe und du mich immer hast abblitzen lassen. Jetzt weiß ich natürlich, warum.“

„Hör mal, ich will das hier nicht auf offener Straße diskutieren. Lass uns das bei mir zu Hause bereden.“

„Gut, ich fahre hinter dir her.“

Canyon wartete, bis Keisha eingestiegen war. Danach lief er zu seinem Auto. Erst als er hinter dem Steuer saß und sich anschnallte, wurde ihm die Tragweite dessen bewusst, was er in den letzten Minuten erfahren hatte.

Er hatte einen Sohn. Einen Sohn, von dem er bis heute nichts geahnt hatte!

Keisha fuhr los. Hatte Canyon etwa recht? War sie wirklich von einem Unbekannten verfolgt worden? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Keiner der Fälle, an denen sie arbeitete, war so wichtig, als dass es jemand auf sie abgesehen haben könnte. Vielleicht hatte jemand ihr das Auto rauben wollen? Auch kein sehr beruhigender Gedanke. Es lief ihr kalt den Rücken herunter.

Als sie vor einer roten Ampel warten musste, schaute sie sich kurz um. Keisha wollte sichergehen, dass mit Beau alles in Ordnung war. Sie konnte immer noch nicht fassen, wie schnell er Zutrauen zu Canyon gefasst und wie schnell er ihn akzeptiert hatte.

Und wie schnell Canyon ihn akzeptiert hatte.

Er hatte nicht einmal einen Vaterschaftstest verlangt. Ihm hatte der Umstand genügt, dass Beau angeblich dem Sohn seines Bruders so ähnlich sah. Bisher verhielt er sich ohnehin erstaunlich vernünftig. Aber sie kannte ihn gut genug: Canyon konnte sich äußerlich ruhig, freundlich und gelassen geben, während es in seinem Inneren kochte und brodelte.

Sie betätigte den Blinker und bog auf die Ausfallstraße ein, die zu ihrem Haus führte. Im Rückspiegel entdeckte sie Canyon, der ihr hinterherfuhr. Es kam ihr vor, als würde er sie keine Sekunde aus den Augen lassen – sie persönlich, nicht nur ihren Wagen. Mit einem Mal wurde ihr heiß, und sie konnte sich nur mit Mühe aufs Fahren konzentrieren.

Ja, bei Canyon reichte ein Blick, und sie war wie verzaubert. So war es seit dem verhängnisvollen Tag vor knapp vier Jahren gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Wie ein Film lief das Geschehen von damals noch einmal vor ihrem inneren Auge ab …

„Entschuldigen Sie, ist der Platz noch frei?“

Keisha blickte von den Unterlagen hoch, in die sie vertieft gewesen war. Sie konnte kaum fassen, was sie da sah. Was für ein Prachtexemplar von Mann!

Er war weit über einen Meter achtzig groß, hatte dunkles Haar und breite Schultern. Das ganze Superluxuspaket steckte in einem teuren Anzug. Gepflegt und männlich zugleich – so etwas begegnete einem nicht alle Tage!

„Also, ist er …?“

Die Nachfrage riss sie aus ihren Träumereien. „Ist wer was?“

„Der Platz. An Ihrem Tisch. Ob er noch frei ist. Alle anderen scheinen besetzt zu sein.“

Sie schaute sich in der Kantine des Gerichts um und stellte fest, dass der Mann recht hatte. „Ach so, ja, der ist noch frei.“

„Darf ich mich dann zu Ihnen setzen?“

Sie dürfen gerne alles mit mir machen, hätte sie fast erwidert. Stattdessen lächelte sie ihn nur an und sagte freundlich: „Natürlich, setzen Sie sich.“

Selbst die Art, wie er Platz nahm, hatte eine unnachahmliche Eleganz. In weniger als einer Stunde hatte sie einen Gerichtstermin, und normalerweise hätte sie sich gestört gefühlt. Doch dieser Mann war es wert.

„Mein Name ist Canyon Westmoreland“, stellte er sich vor. „Und Sie sind …?“

„Keisha. Keisha Ashford.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Sie verlor sich in seinem Blick. Ihr Blut begann zu kochen.

„Und, was machen Sie so? Sind Sie Anwältin oder Anwaltsgehilfin?“

Sie zog eine Braue hoch. „Spielt das eine Rolle?“

Gleichmütig zuckte er mit den Schultern. „Für mich nicht. Ich sitze hier mit einer wunderschönen Frau am Tisch. Da werde ich mich sicher nicht beklagen!“

Geschmeichelt lachte sie auf. „Na, Sie sind ja locker drauf.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

Keisha kannte den Mann nicht, doch er war ihr vom ersten Moment an sympathisch. Ein Blick auf seinen Ringfinger verriet ihr, dass er nicht verheiratet war. „Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich bin Anwältin.“

„Und ich bin Anwalt“, gab er freundlich zurück.

„Das hätten Sie mir gar nicht zu sagen brauchen, das sieht man sofort“, entgegnete sie.

Langsam beugte er sich zu ihr hinüber. „Das müssen Sie mir eingehender erklären. Aber später und nicht hier.“

Oha, dachte sie. Eine geschickte Anmache. Normalerweise ginge mir das zu schnell, aber bei ihm …

Statt auf seinen Vorschlag einzugehen, wechselte sie das Thema: „Canyon ist ein ungewöhnlicher Name.“

„Meine Eltern fanden ihn offenbar passend“, erwiderte er lächelnd. „Wie es aussieht, bin ich nämlich im Grand Canyon gezeugt worden. Muss eine wilde Nacht gewesen sein.“

Sie neigte den Kopf zur Seite. „Haben Ihre Eltern Ihnen das so erzählt?“

„Nein, aber ich habe ein paarmal mitbekommen, wie sie darüber gescherzt haben. Sie haben sich über viele Jahre hinweg gern daran erinnert.“

„Und jetzt nicht mehr?“

Betrübt schlug er die Augen nieder. „Meine Eltern sind vor über fünfzehn Jahren gestorben. Bei einem Flugzeugunglück.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Danke. Wie gesagt, es ist lange her. Also, was meinen Sie: Wollen wir uns später auf einen Drink treffen? Es gibt hier in der Nähe ein nettes Lokal namens Woody’s.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Wie wär’s um fünf? Hoffentlich gewinnen wir beide unsere Fälle – dann haben wir Grund zum Feiern.“

„Das wäre schön“, gab sie zurück. „Ich werde da sein.“

Er erwiderte ihr Lächeln und sah dabei so sexy aus, dass ihr ganz anders wurde. „Wunderbar. Ich freue mich auf nachher, Keisha Ashford.“

„Und ich mich erst“, platzte sie heraus. Ein wenig mehr damenhafte Zurückhaltung hätte ihr vielleicht besser zu Gesicht gestanden. Aber sie konnte nicht anders, so überwältigt war sie von ihm …

„Mommy …“

Die Stimme ihres Sohnes riss Keisha jetzt aus ihren Gedanken. Bis eben hatte er ganz ruhig in seinem Kindersitz gesessen und sich mit seinem Spielzeug beschäftigt. Normalerweise redete er sehr viel, aber heute war er irgendwie anders. Ob das Zusammentreffen mit Canyon etwas damit zu tun hatte?

„Ja, Beau?“

„Dad weg?“

Lag Enttäuschung in seiner Stimme? Es war eine große Umstellung für ihn gewesen, von Texas nach Denver umzuziehen. Der Kleine war sehr an seine Großmutter gewöhnt gewesen und vermisste sie sehr. Damit hatte er Keisha das Leben nicht gerade leichter gemacht.

„Er sitzt im Auto hinter uns.“

Im Rückspiegel beobachtete sie, wie Beau sich in seinem Kindersitz umdrehte und durch die Heckscheibe schaute. „Warum, Mommy?“

„Warum was?“

„Warum anderes Auto?“

Oje, das konnte noch schwierig werden! Wenn Canyon wieder fort war, würde sie ihrem Sohn einiges zu erklären haben. „Weil er sein eigenes Auto hat.“

„Kommt er Hause?“

„Ja.“ Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, erläuterte sie: „Aber nur zu Besuch. Er hat sein eigenes Zuhause.“

„Besuch?“

„Ja, Beau, nur Besuch.“

Er erwiderte nichts, sondern wandte sich wieder seinem Spielzeug zu. Keisha würde ihm gleich etwas zu essen machen, ihn baden und ihn danach ein wenig spielen lassen, bevor es Zeit fürs Bettchen war. Was das Schlafen anging, hatte sie mit ihm Glück. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern legte er sich freiwillig hin, ohne einen Aufstand zu machen. Es schien fast, als würde er geradezu darauf bestehen, jede Nacht seine acht Stunden Schlaf zu bekommen.

Erneut blickte sie in den Rückspiegel. Canyon hielt sich dicht hinter ihr. Es kam ihr beinahe so vor, als würde er sie direkt ansehen.

Sie liebte ihn nicht mehr, da war sie sich sicher. Ihre Liebe war nicht abrupt erloschen, sondern ganz allmählich, nach und nach. Und dieser lange Prozess war an jenem späten Nachmittag eingeleitet worden, als sie früher als sonst heimgekommen war. Ausgerechnet an diesem Tag hatte sie Canyon eigentlich von ihrer Schwangerschaft erzählen wollen. Und dann hatte sie ihn gesehen – mit Bonita. In einer mehr als verfänglichen Situation!

Ja … und damit war es zwischen ihnen aus gewesen. Sie war nicht der Typ Frau, der sich betrügen ließ. Seitdem war Canyon Geschichte für sie, und sie schaute nur noch nach vorn. Und niemals zurück.

Wenige Minuten später bog sie in die Einfahrt zu ihrem Haus ein. Die Wohnsiedlung war erst vor Kurzem erbaut worden; hier lebten viele junge Ehepaare und auch alleinerziehende Mütter und Väter. Keisha hatte bereits einige Nachbarn kennengelernt und verstand sich gut mit ihnen. Sie wohnte gern hier.

Nun parkte sie und stieg aus. Kaum war sie um das Auto herumgegangen, als Canyon vor ihr stand. Müde betrachtete sie ihn. „Ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn du nicht darauf bestehen würdest, das Ganze heute noch durchzusprechen.“

„Wir kriegen leider nicht immer, was wir wollen, Keisha.“

Sie seufzte auf und öffnete die Autotür, um Beau aus seinem Kindersitz zu holen.

„Lass mal, das mache ich“, sagte Canyon.

Sie ließ ihn gewähren, denn in Beaus Gegenwart wollte sie keinen Streit mit ihm anfangen. Später würde sie ihm jedoch einiges klarmachen müssen. Sicher, er war Beaus Vater. Trotzdem würde sie nicht zulassen, dass er sich in ihr Leben drängte.

Sie zog die Schlüssel aus der Tasche und ging zur Haustür. Canyon folgte ihr mit Beau auf dem Arm. Am liebsten hätte sie ihn daran erinnert, dass ihr Sohn selber laufen konnte. Allerdings wollte sie die Stimmung nicht unnötig aufheizen.

Keisha schloss auf und trat in den Flur. Plötzlich hielt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Sie stand inmitten eines einzigen Durcheinanders.

Jemand hatte bei ihr eingebrochen!

3. KAPITEL

Canyon überblickte die Lage sofort und reagierte prompt. „Hier, nimm Beau und setz dich mit ihm wieder ins Auto“, wies er Keisha an.

Anschließend rief er Pete an. „Hallo, hier spricht Canyon. Die Frau, die vorhin verfolgt wurde … Man hat bei ihr eingebrochen.“

„Gib mir die Adresse. Ich bin noch in der Gegend. Rührt nichts an, bis ich da bin.“

Canyon wandte sich um und war nicht überrascht, dass Keisha seiner Aufforderung nicht Folge geleistet hatte. „Welche Adresse ist das hier?“

Sie schwieg. An ihrer starren Miene erkannte er, dass sie unter Schock stand.

„Keisha …?“

Mit leerem Blick sah sie ihn an. „Ja?“

„Die Adresse. Ich brauche deine Adresse.“

Sie nannte sie ihm schließlich und klang dabei wie ein Roboter. Canyon gab sie gleich an Pete weiter.

„Mommy …“

Canyon bemerkte, wie Keisha zusammenzuckte. Sie hatte hier für sich und Beau ein neues Zuhause, einen Rückzugsort geschaffen. Und nun hatte jemand ihre Privatsphäre missachtet und war gewaltsam in ihr Heim eingedrungen!

„Wir sollten nicht in der Tür stehen bleiben, Keisha“, sagte Canyon leise. „Die Polizei ist schon auf dem Weg. Wir warten am besten im Auto. In der Wohnung dürfen wir sowieso nichts anrühren.“

Keisha wusste, dass er recht hatte. Bis zum Eintreffen der Polizei konnten sie nichts tun. Also setzte sie Beau wieder in den Kindersitz und lenkte ihn mit seinem Spielzeug ab. Währenddessen telefonierte Canyon auf seinem Handy. Sprach er noch einmal mit der Polizei?

„Ja, Keisha geht es so weit gut“, berichtete Canyon seinem ältesten Bruder Dillon. Er hatte ihm stichwortartig alles berichtet – inklusive der großen Überraschung, dass er einen Sohn hatte.

„Die ganze Familie sitzt hier gerade beim Essen zusammen“, meinte Dillon. „Ich gehe mal davon aus, dass ich denen noch nichts von deinem Sohn erzählen soll.“

Canyon atmete tief durch. „Nein, nein, das mache ich selbst. Pete ist auf dem Weg hierher. Wenn wir hier fertig sind, nehme ich Keisha und Beau mit. Sie können unmöglich in diesem Haus bleiben, solange wir nicht wissen, was hinter dem Einbruch steckt. Meinen Wagen lasse ich stehen. Ich bräuchte allerdings jemanden, der ihn später abholt und zu meinem Haus bringt.“

„Das kann ich übernehmen, deine Ersatzschlüssel habe ich ja. Ich werde mir nachher ein Taxi rufen. Aber … wird Keisha denn damit einverstanden sein, mit dir irgendwohin zu fahren?“

Entnervt wischte Canyon sich übers Gesicht. Nein, damit würde sie wohl kaum einverstanden sein. Jedenfalls nicht sofort. Keisha konnte ziemlich widerspenstig sein; das hatte sie vermutlich von ihrer Mutter geerbt, die sie alleine großgezogen hatte. Eigentlich hatte er Keishas Willensstärke und ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit stets bewundert. Doch in diesem Fall verhielt sich die Sache anders. Sie trug ja nicht nur die Verantwortung für sich, sondern auch für Beau. Ihren Sohn.

Ihren gemeinsamen Sohn.

Er hatte tatsächlich einen Sohn. Was für ein merkwürdiges Gefühl das war! „Du hast recht, Dil, sie wird Schwierigkeiten machen. Aber ich bin mir sicher, dass der unheimliche Verfolger und dieser Einbruch etwas miteinander zu tun haben. Das kann kein Zufall sein. Meine einzige Trumpfkarte ist, dass sie auch an Beau denken muss. Wenn er nicht wäre, würde sie wahrscheinlich komplett auf stur schalten.“

In dem Moment trafen drei Polizeiautos ein. Im ersten entdeckte Canyon Pete am Steuer. „Dil, ich muss Schluss machen. Pete ist gerade gekommen. Ich rufe dich später noch mal an.“

Verstört blickte Keisha den Polizisten an. „Was soll das heißen, der Täter hatte es auf mich persönlich abgesehen?“

Pete lehnte sich gegen den Küchenschrank. „Nach Ihrer Aussage ist ja nichts gestohlen worden. Nicht mal das Glas mit Goldmünzen auf ihrem Frisiertisch im Schlafzimmer, das nun wirklich nicht zu übersehen ist. Kein normaler Einbrecher hätte das stehen lassen. Daraus kann ich nur schließen, dass der Einbrecher es auf Sie persönlich abgesehen hat. Er will Ihnen Angst machen.“

Keisha konnte das alles nicht begreifen. Sie war bloß froh, dass sich ihre Nachbarn, die selbst zwei kleine Kinder hatten, um Beau kümmerten. Die ganze Aufregung hätte ihn zu sehr belastet.

Zusammen mit Canyon und Pete hatte Keisha Zimmer für Zimmer inspiziert. Es war ein Bild des Schreckens gewesen. Chaos überall. Stühle und sogar das Sofa waren umgestoßen worden, Zeitschriften lagen auf dem Boden verstreut. In der Küche hatte der unbekannte Übeltäter Mehl verteilt, sodass alles wie von Schnee bedeckt aussah. Kein Zimmer war unbehelligt geblieben, nicht einmal Beaus Kinderzimmer. Etliche seiner Spielzeuge waren zerstört worden. Auch in Keishas Schlafzimmer sah es schlimm aus: Ihre Kleidung – inklusive ihrer Dessous! – war aus den Schränken gerissen und auf den Fußboden geworfen worden.

Da nichts gestohlen worden war, konnte dieser verheerende Einbruch tatsächlich nur eine Botschaft sein. Eine Warnung, eine Drohung. Aber wovor? Und warum?

„Bitte denken Sie noch einmal genau nach, Miss Ashford. Betreuen Sie nicht vielleicht doch gerade einen Fall, mit dem Sie irgendjemanden gegen sich aufgebracht haben könnten?“

Keisha fiel beim besten Willen nichts ein. Auch in der Vergangenheit hatte sie keinen Fall bearbeitet, der solche Rachegelüste hätte auslösen können. In letzter Zeit hatte sie mit einer Ausnahme alle Fälle gewonnen, und nie war jemand durch sie in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten.

„Nein, mir fällt wirklich nichts ein, Deputy Higgins.“

Pete nickte und steckte seinen Notizblock ein. „Falls Ihnen später noch was in den Sinn kommt, rufen Sie mich jederzeit an. Ich übergebe die Angelegenheit an einen Detective, der sich mit Ihnen in Verbindung setzen wird. Wir müssen außerdem die Sache mit dem Auto im Auge behalten, das Sie verfolgt hat.“

„Du glaubst also auch, dass das eine mit dem anderen etwas zu tun hat?“, fragte Canyon.

„Das ist durchaus möglich. Vielleicht wüssten wir mehr, wenn ich den Verfolgerwagen erwischt hätte. Aber ich kam zu spät dort an, wo er sich nach unseren Kalkulationen etwa hätte aufhalten müssen: Du hattest ihn ja schon verjagt. Hätte mir gleich klar sein müssen, dass ein Westmoreland sich nicht an das hält, was man ihm sagt.“

„Was passiert ist, ist passiert“, murmelte Canyon und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wie geht’s jetzt weiter?“

„Wir fahnden weiter nach dem Wagen. Ich werde die Videos der Überwachungskameras auf der Strecke auswerten, vielleicht kommt dabei ja was raus. Wir wissen zwar, dass es eine schwarze Ford-Limousine war und dass das Nummernschild gestohlen war. Aber möglicherweise entdecken wir auf den Videos noch irgendwelche Eigenheiten, anhand derer wir den Wagen ausfindig machen können. Ich will unbedingt die Person finden, die dahintersteckt.“

„Ich auch.“

Keisha und Pete schauten Canyon an. Es waren weniger die Worte selbst, als vielmehr der Tonfall, in dem er sie ausgesprochen hatte. Leise, ruhig, aber bedrohlich. Das überraschte Keisha nicht. Schließlich hatte sie miterlebt, wie er bei der Inspektion der Zimmer immer zorniger geworden war. Vor allem, als er die Zerstörung in Beaus Kinderzimmer und in ihrem Schlafzimmer gesehen hatte.

Pete kommentierte Canyons Aussage nicht weiter und wandte sich stattdessen an Keisha: „Ich würde Ihnen dringend davon abraten, heute Nacht hierzubleiben. Wer auch immer der Eindringling ist: Er war raffiniert genug, Ihre Alarmanlage außer Gefecht zu setzen. Und er könnte wiederkommen.“

„Natürlich bleibt sie nicht hier“, schaltete Canyon sich ein, bevor Keisha sich dazu äußern konnte. „Sie kommt mit zu mir. Und da bleibt sie fürs Erste auch.“

„Gute Idee“, meinte Pete, als wäre die Angelegenheit damit geklärt.

War sie für Keisha aber noch lange nicht. „Immer langsam“, protestierte sie und blickte Canyon aus zusammengekniffenen Augen an. „Natürlich bleibe ich nicht hier. Aber ich gehe in ein Hotel.“

„Kommt gar nicht infrage“, widersprach Canyon.

Kämpferisch stemmte sie die Hände in die Hüften. „Und ob das infrage kommt.“

„Tut es nicht.“

„Tut es doch.“

Pete räusperte sich verlegen. „Ich bin sicher, da wird sich eine Lösung finden. Wie gesagt, Miss Ashford: Wenn Ihnen noch was einfallen sollte, rufen Sie an. Der Detective, der Ihren Fall übernehmen wird, heißt Ervin Render.“ Damit verabschiedete Pete sich schnell und überließ die beiden Streithähne sich selbst.

Kaum war er aus der Tür, setzte Keisha erneut an: „Sag mal, was bildest du dir ein? Warum sollte ich bei dir wohnen, wenn ich in ein Hotel gehen kann? Mal ganz davon abgesehen, dass dich das Ganze sowieso nichts angeht!“

Sie klang so aggressiv, dass ihr wohl jeder andere Mann ihren Willen gelassen hätte. Aber nicht Canyon. Tief sah er ihr in die Augen. „Wenn es nur um dich ginge und nicht auch um unser Kind, könntest du von mir aus tun, was du willst, Keisha. Wahrscheinlich jedenfalls. Denn deine Entscheidung vor drei Jahren hat mir ja gezeigt, wie wenig du mir vertraust. Du hast tatsächlich geglaubt, dass ich dir zuerst meine Liebe gestehe und danach mit einer anderen Frau schlafe – noch dazu in deinem Bett. Dass du mir so etwas zugetraut hast, hat mich sehr verletzt.“

Sie ballte die Fäuste. „Für wie dumm hältst du mich eigentlich, Canyon? Ich weiß, was ich gesehen habe!“

Wütend betrachtete er sie. „Ja, was hast du denn gesehen? Hast du gesehen, wie ich es mit Bonita treibe? Wie sie in meinen Armen liegt oder ich in ihren? Nein. Du hast gesehen, wie ich nach dem Duschen mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Badezimmer gekommen bin. Und wie ich dann Bonita entdeckt habe, die in deinem Bett lag.“

„Sie war nackt“, zischte Keisha ihn an.

„Das hat mich genauso überrascht wie dich. Ich habe dir doch erzählt, was passiert ist. Ich bin nach dem Sport in dein Apartment gegangen, um zu duschen. Ein paar Minuten später ist Bonita aufgetaucht. Sie hatte sich mit ihrem Verlobten Grant Palmer gestritten und wollte sich wohl bei dir ausheulen. Weil du nicht da warst, habe ich ihr zur Beruhigung etwas zu trinken angeboten. Sie meinte, ich solle doch auch etwas trinken, und das habe ich getan. Anschließend hat sie sich bei mir bedankt und mich gebeten, noch eine Weile bleiben zu dürfen. Sie erklärte mir, sie sei zu aufgewühlt, um sofort nach Hause zu fahren. Für mich war das in Ordnung, aber ich wollte trotzdem kurz unter die Dusche. Und daraufhin sagte sie: ‚Tu das. Wenn du fertig bist, bin ich bestimmt schon weg.‘“

Canyon atmete durch und fuhr fort: „Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, dass sie sich in der Zwischenzeit nackt in dein Bett gelegt hatte. Als ich aus dem Badezimmer kam, habe ich dich schon mit vorwurfsvollem Blick dastehen sehen. Ich habe dir die Wahrheit gesagt, aber du hast mir nicht geglaubt. Du hast dich lieber auf die Lügengeschichte deiner Freundin Bonita verlassen.“

„Warum hätte sie mich anlügen sollen? Immerhin wollte sie Grant heiraten.“

„Tja, das Rätsel musst du wohl für dich alleine lösen. Bonita kann uns keine Auskunft mehr geben.“

„Leider nicht. Sie ist ja tot.“ Bonita war im vergangenen Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

„Außerdem sollten wir unsere Zeit nicht mit diesen alten Geschichten verschwenden“, sagte Canyon streng. „Wir müssen über Beau reden. Über meinen Sohn, den du mir, verdammt noch mal, verheimlicht hast. Und wenn du gerne in ein Hotel ziehen möchtest, obwohl irgendjemand es auf dich abgesehen hat – bitte schön, meinen Segen hast du. Aber du wirst nicht meinen Sohn dorthin mitnehmen.“

Zornig trat sie einen Schritt auf ihn zu. „Du willst über meinen Sohn bestimmen? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“

„Sein Vater. Und jetzt bitte ich dich, deinen unbegründeten Hass auf mich mal eine Minute zu vergessen. Überleg mal, ob ihr beide nicht in Westmoreland Country am besten aufgehoben seid. Würdest du dich hier in diesem Haus wirklich noch sicher fühlen?“

„Ich habe doch gesagt, dass ich mir ein Hotelzimmer nehme.“

„Und wenn der große Unbekannte rausfindet, wo du eingecheckt hast? Du weißt doch nicht einmal, wer hinter dem Ganzen steckt. Wenn du unbedingt dein eigenes Leben riskieren willst, tu dir keinen Zwang an. Aber nicht das von Beau.“

Keisha biss sich auf die Unterlippe. Wollte Canyon ihr nur aus Eigennutz Angst machen? Nein, bestimmt nicht. Sie brauchte sich bloß umzusehen, um zu erkennen, wozu der Täter fähig war. Solange der Verbrecher nicht enttarnt war, musste sie für Beaus Sicherheit sorgen. Und eins war ihr klar: Beim großen, starken Canyon waren sie beide sicher.

Doch wie würde sie mit der Situation klarkommen? Das Gefühlschaos war vorprogrammiert. Canyon würde ihr ständig vorbeten, dass er sie nicht betrogen hatte. Aber sie hatte es schließlich mit eigenen Augen gesehen!

Und was Bonita gesagt hatte, wog ebenso schwer. „Eigentlich wollten wir gar nicht miteinander schlafen“, hatte sie damals unter Tränen hervorgestoßen. „Es ist einfach so passiert …“

Bis zu dem Punkt mit dem Drink deckte sich Bonitas Aussage mit der von Canyon. Die Geschichte ihrer Freundin war danach allerdings ganz anders weitergegangen. Bonita hatte ihr gestanden, dass sie noch mehr getrunken hätten und es schließlich zum Sex auf dem Wohnzimmerteppich gekommen sei. Canyon sei dann duschen gegangen und habe Bonita gebeten, im Bett auf ihn zu warten.

Bonita nackt im Bett, Canyon halbnackt aus der Dusche kommend – das war doch wohl mehr als eindeutig.

Natürlich hatte Canyon das Unschuldslamm gespielt. Doch das hatte Keisha ihm damals nicht abgekauft, und das tat sie auch heute nicht. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder die leeren Weingläser und Bonitas Kleider, die überall auf dem Boden verstreut gelegen hatten. All diese Beweise stützten eher Bonitas Version der Ereignisse.

Ihre Freundin war wohl kaum ein so raffiniertes Luder gewesen, um all das zu inszenieren! Oder?

„Keisha, es wird spät“, unterbrach Canyons Stimme ihre Gedanken. „Wir müssen allmählich los.“

Keisha dachte nach. Konnte es überhaupt gut gehen, mit Canyon unter einem Dach zu wohnen? Doch im Grunde waren sie beide trotz allem vernünftige Menschen. Und das Allerwichtigste war schließlich die Sicherheit ihres Sohnes.

„Na gut, eine Nacht“, willigte sie zögernd ein. „Für eine Übernachtung erkläre ich mich einverstanden.“ Sie musste an das Durcheinander in ihrem Haus denken, das beseitigt werden musste. „Oder vielleicht notfalls zwei Nächte. Maximal zwei.“

Canyon runzelte entnervt die Stirn. „Gut, wie du willst. Aber mein Angebot ist unbegrenzt gültig. Ihr könnt so lange bleiben, wie ihr wollt. Da draußen läuft ein Irrer herum, und ich werde alles tun, damit ihr sicher seid.“

Trotzig hätte sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen, dass sie seine Hilfe nicht brauchte. Doch das wäre eine Lüge gewesen. Bei all diesen Unsicherheiten, bei all den im Dunkeln lauernden Gefahren waren Beau und sie tatsächlich auf Canyons Unterstützung angewiesen. Wenigstens für ein, zwei Tage.

4. KAPITEL

„Fühl dich wie zu Hause.“

Keisha betrat Canyons Haus und glaubte zu träumen. Das war kein Haus, das war ein wahrer Palast!

Es war schon dunkel gewesen, als sie angekommen waren. Dennoch hatte sie das beleuchtete Schild gesehen, das nach Westmoreland Country wies. Und dann war dort dieses andere ebenfalls beleuchtete Schild gewesen, das zu seinem Anwesen zeigte. Erst als das Riesengebäude im Scheinwerferlicht aufgetaucht war, hatte ihr zum ersten Mal der Atem gestockt.

Der Bau hatte sich noch in der Planungsphase befunden, als sie seinerzeit die Stadt verlassen hatte. Die Vorgeschichte kannte sie; Canyon hatte sie ihr einmal erzählt. Nach dem Tod der Eltern hatten er und seine Brüder jeweils hundert Morgen Land geerbt, die jedem von ihnen zum fünfundzwanzigsten Geburtstag zugeteilt worden waren. Die einzige Ausnahme hatte Dillon gebildet: Als ältester Sohn hatte er das Familienanwesen mit dreihundert Morgen erhalten.

Canyon und mehrere seiner Brüder waren zunächst vollauf damit zufrieden gewesen, zusammen mit Dillon im Hauptgebäude zu wohnen. Doch dann hatte Dillon geheiratet. Die Brüder hatten sich daraufhin entschlossen, auf ihrem Land jeweils selbst ein Haus zu errichten. Zunächst hatte Canyon es damit nicht eilig gehabt. Nach dem Auszug bei Dillon waren er und sein Bruder Stern zunächst zu ihrem Bruder Jason gezogen, der genug Platz hatte. Später hatte Canyon dann bei Keisha gewohnt.

„Und, gefällt’s dir?“

Nachdenklich schaute sie sich um. „Kann ich dich was fragen, Canyon?“

„Schieß los.“

„Wozu braucht ein alleinstehender Mann so ein riesiges Anwesen?“

Er lächelte versonnen, und ihr wurde ganz heiß. „Manchmal sind sozusagen die Augen größer als der Magen. Vier meiner Brüder und ich haben quasi gleichzeitig unsere Häuser geplant und erbaut. Jeder von uns hatte den Ehrgeiz, etwas Einmaliges, Unverwechselbares zu errichten. Wenn du mein bescheidenes Häuschen schon für groß hältst, solltest du erst mal die der anderen sehen.“

Sie musste lachen und streckte die Hand nach Beau aus, der in Canyons Armen schlief.

Er übergab ihr den Jungen. „War nett von deinen Nachbarn, sich nach der Sache mit dem Einbruch um Beau zu kümmern.“

„Ja, die sind wirklich in Ordnung“, bestätigte Keisha. Janice und Everett Miles hatten Beau zu essen gegeben, ihn gebadet und ihm einen Schlafanzug von ihren Kindern geliehen.

Mit dem schlafenden Kind auf dem Arm bewunderte Keisha nun das Haus, das für eine Einzelperson viel zu groß war. Es war exquisit eingerichtet – wie für einen König … und für die dazugehörige Königin. Die Möbel waren hochwertig, und die Raumdekoration war geschmackvoll. Bei allem Luxus wirkte es keinesfalls protzig.

„Offenbar hast du einen Top-Innenarchitekten gehabt“, kommentierte sie.

Canyon schaltete gerade die Lichter ein. Er blickte über die Schulter zu ihr hinüber und lächelte. „Das ist das Werk meiner Cousine Gemma“, erklärte er. „Eigentlich hätte sie innerhalb der Verwandtschaft ja einen Freundschaftspreis machen können – hat sie aber nicht. Sie hat sich an ihren Brüdern und Cousins eine goldene Nase verdient und hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei.“

„Sie hat es aber auch wirklich gut gemacht. Ich weiß nicht, was du bezahlt hast. Doch das hier war es auf jeden Fall wert.“

„Sie hat für gute Arbeit gutes Geld bekommen. Sehr gutes Geld. Ich glaube fast, sie hat uns mehr abgeknöpft als anderen Kunden. Vermutlich dachte sie, wir haben’s ja. Und wer würde schon die Rechnung seiner Cousine infrage stellen?“

Er sagte das alles mit Humor, und ihm war deutlich anzumerken, wie gern er seine Cousine in Wirklichkeit hatte. Das hatte Keisha immer an ihm und seiner Verwandtschaft gemocht: wie nahe sie sich standen und wie eng sie zusammenhielten. Von Canyon hatte sie alles über seine Familie erfahren. Trotzdem hatte sie sich aus freien Stücken entschieden, seine Verwandten lieber nicht näher kennenzulernen. Denn so gerne sie mit Canyon zusammen war, so grandios der Sex war: Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Beziehung von Dauer wäre. Ursprünglich hatte sie angenommen, dass es nur um das Körperliche ging.

Doch im Laufe der Zeit waren sie sich auch auf anderer, auf geistiger Ebene immer nähergekommen. Nach rund einem halben Jahr hatte sie ihm schließlich vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen. Das Zusammenleben hatte prächtig funktioniert, bis … ja, bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem er sie betrogen hatte.

„Ich habe mehrere Gästezimmer, aber leider keines mit Kinderbett“, sagte er plötzlich und riss sie damit aus ihren Gedanken.

„Ach, das macht nichts. Dann schläft er eben bei mir im Bett.“

Canyon nickte. „Okay. Komm bitte mit.“

Eine Wendeltreppe führte sie nach oben. Keisha fand die Räumlichkeiten aus dieser Perspektive noch beeindruckender. Alle Einrichtungsgegenstände harmonierten perfekt miteinander. Da merkt man die Hand einer Frau, dachte Keisha. Ein Mann hätte das nicht so gut hingekriegt.

„Mein Haus ist allerdings leider nicht kindersicher.“

Darauf erwiderte sie nichts. Was spielte das für eine Rolle? Sie würde mit Beau ja sowieso nicht lange bleiben.

Oben angekommen geleitete er sie über einen Gang, öffnete eine der Türen und ließ sie eintreten. Der Anblick des Gästezimmers überwältigte sie fast.

„Dies hier ist das blaue Zimmer“, sagte er.

Die Wände waren himmelblau gestrichen, als Kontrast dazu waren die Gardinen vor den Fenstern wölkchenweiß. Auch der Bezug auf dem riesigen Bett war in Blau-Weiß gehalten. Zwei Nachttischchen mit weißen Lampen und ein mit weißem Leder bezogenes Sofa rundeten die Einrichtung ab.

„Es ist wunderschön“, lobte sie.

„Oh, vielen Dank.“

Sie ging zum Bett, schlug die Überdecke zurück und legte Beau vorsichtig in die Mitte. Er schlief so ruhig und süß. Wie ein Engel. Er war zu jung und konnte noch nicht begreifen, wie sehr das Leben seiner Mutter innerhalb weniger Stunden durcheinandergewirbelt worden war.

„So habe ich es auch immer gemacht.“

Keisha zuckte bei den Worten zusammen. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Canyon ihr bis zum Bett gefolgt war. „Was?“

„So habe ich mich früher immer zum Schlafen hingelegt. Mit dem Gesicht auf den Händen.“

Sie lächelte. „Er macht im Schlaf auch dieselben Geräusche wie du.“

„Ich? Was denn für Geräusche?“

Diese Geräusche, bei denen mir sofort heiß geworden ist, wenn ich nachts mal zwischendurch aufgewacht bin, dachte sie. Kein Schnarchen, eher ein wohliges Stöhnen, als ob du gerade einen schönen Traum durchlebt hast.

„Was für Geräusche?“, wiederholte er.

„Ach, egal“, gab sie zurück und rieb sich den Nacken. So hatte sie nicht ins Wochenende starten wollen. Sie hatte sich für Samstag und Sonntag so viel vorgenommen. Deshalb hatte sie den Freitagabend eigentlich auf der Couch verbringen und sich einen spannenden Film ansehen wollen. Stattdessen war wie jetzt hier – im Haus des Mannes, mit dem sie nie mehr engeren Kontakt hatte haben wollen.

Gelegentlicher beruflicher Kontakt hatte sich nicht vermeiden lassen, seit sie nach Denver zurückgekehrt war. Denn ihre Kanzlei vertrat auch mehrere Klienten, die zur Kundschaft von Canyons Firma gehörten. Nur ungern erinnerte sie sich an den Tag, als sie sich zum ersten Mal seit der Trennung gegenübergesessen hatten. Sie waren sich im Gerichtssaal begegnet, als Vertreter gegnerischer Parteien.

An diesem Tag – und an den folgenden – hatte sie ständig daran denken müssen, wie er sie betrogen hatte. Und dann hatte er tatsächlich den Nerv gehabt, sie zum Essen einzuladen. Er hatte „Gesprächsbedarf“ gesehen – so hatte er sich ausgedrückt. Selbstverständlich hatte sie entrüstet abgelehnt. Der ersten Einladung war später eine zweite gefolgt, eine dritte und so weiter. Jedes Mal hatte sie ihn zurückgewiesen, doch er hatte nicht aufgegeben und war in seinem Bitten sogar hartnäckiger geworden. Der Gipfel war natürlich gewesen, als er sie heute verfolgt hatte, um eine Aussprache durchzusetzen!

Andererseits war sie froh gewesen, ihn an ihrer Seite zu haben, als sie den Einbruch entdeckt hatte. Er hatte besonnen und tatkräftig reagiert, wozu sie durch den Schock nicht in der Lage gewesen war.

„Es ist kein Kinderbett mit Gitterchen. Ich hoffe, er rollt nicht raus.“

Keisha musste lachen. „Keine Sorge, Beau schläft durch. Wie ein Stein. Er ist auch keines von diesen Kindern, die nachts aufstehen und herumwandern. Außerdem machen wir zur Sicherheit die Tür zu.“

„Gut, das beruhigt mich. Wenn du dich nicht zu kaputt fühlst, könnten wir ja noch nach unten gehen und einige Dinge bereden.“

Sie fand es sehr rücksichtsvoll von ihm, dass er ihr die Wahl ließ. Zugleich wusste sie jedoch, dass eine Aussprache überfällig war. Sie wollte die Angelegenheit hinter sich bringen. „Okay.“

Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie dicht er bei ihr stand. Für ihren Geschmack viel zu dicht, denn seine Nähe erregte sie. Diese Erregung überraschte sie nicht weiter: Canyon hatte nun mal diese Wirkung auf Frauen. Sie hatte es damals bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Kantine des Gerichts gleich gespürt. Und bei jeder weiteren Begegnung.

„Ich muss aber vorher mal für kleine Mädchen“, meinte sie verlegen lächelnd.

„Jedes Gästezimmer hat ein angrenzendes Badezimmer“, erklärte er. „Wir sehen uns in ein paar Minuten unten.“ Damit verließ er den Raum und schloss die Tür.

Als sie seine Schritte auf den Treppenstufen hörte, atmete sie tief durch. Seinerzeit hatte sie sich entschieden, Canyon nichts von Beau zu sagen. Mit dieser Entscheidung hatte sie sich durchaus wohlgefühlt. Doch jetzt drohte die Aussprache. Und sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie anschließend anders darüber denken würde.

Canyon stand am Wohnzimmerfenster und blickte hinaus. Es war bereits stockdunkel, aber er wusste ja, was sich da draußen befand: hundert Morgen besten Landes, das er geerbt hatte.

Schon als Kind hatte ihm dieses Stück Land am besten gefallen. Von hier hatte man den perfekten Ausblick auf Whisper Creek Canyon. Er musste nicht an Gemma’s Lake sein – dem See, der nach seiner Großmutter benannt war – und ebenso wenig in der Nähe der anderen Wiesen und Täler und Gewässer, die die Schönheit von Westmoreland Country ausmachten. Nein, hier, genau hier, hatte er schon immer sein wollen.

Fast wehmütig dachte er an früher zurück, als er mit seinem Vater, seinem Onkel, seinen Brüdern und seinen Cousins auf die Jagd gegangen war. Sie waren übers Land geritten und hatten in der Nähe des Canyons kampiert. Und wenn die anderen in der Nacht längst geschlafen hatten, war er meist noch wach gewesen. Voller Bewunderung hatte er nach oben geschaut, zum Himmel, zu den funkelnden Sternen. Er war überzeugt davon gewesen, dass nur ganz besondere Sterne diesen Flecken Erde erhellten. Seine Sterne. Wann immer er im Laufe der Jahre Probleme gehabt hatte, war ein Blick hinauf genug gewesen: Dann waren ihm die Antworten eingefallen, nach denen er gesucht hatte.

Hierher hatte er sich auch zurückgezogen, nachdem seine Eltern mitsamt seiner Tante und seinem Onkel bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren. Und hier hatte er nach Bestätigung gesucht, als er in seiner Collegezeit mit seinem Medizinstudium gehadert hatte und stattdessen Jura studieren wollte.

Ursprünglich hatte er vorgehabt, in die Fußstapfen seines Bruders Micah zu treten und Arzt zu werden. Nach zwei Jahren hatte er jedoch erkannt, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er war zwischen vermeintlicher Pflichterfüllung und seinen Bedürfnissen hin und hergerissen gewesen.

Dillon hatte sofort gespürt, dass seinen Bruder etwas beschäftigte, als dieser in den Frühjahrsferien nach Hause gekommen war. Und er war es auch gewesen, der Canyon vorgeschlagen hatte, das Studium eine Zeit lang zu unterbrechen und zu Hause nach den Antworten zu suchen, die er brauchte. So hatte Canyon sich für ein Semester beurlauben lassen.

In dieser Zeit hatte er bei seinem Bruder Riley gewohnt und tagsüber entweder Ramsey mit den Schafen oder Zane, Derringer und Jason mit den Pferden geholfen. An den Wochenenden hatte er dann hier gezeltet und nachgedacht.

Mit dem Beginn des nächsten Semesters hatte er schließlich mit dem Segen seiner Familie von Medizin zu Jura gewechselt. Natürlich gab es mit der Verwandtschaft auch mal Streit. Doch wenn es um wirklich wichtige Dinge ging, hielten sie stets zusammen und halfen einander.

Und noch eine wichtige Entscheidung hatte Canyon seinerzeit hier unter dem Sternenzelt getroffen: die Entscheidung, Keisha um ihr Jawort zu bitten. Als sie eines Abends aus beruflichen Gründen fort gewesen war, hatte er sich auf den Weg hierher gemacht. Es hatte bereits festgestanden, dass er hier ein Haus bauen würde; im Kopf hatte er schon eifrig geplant. Und plötzlich hatte er die Erkenntnis gehabt, dass Keisha hier als seine Frau mit ihm leben sollte. Es war wie eine Eingebung gewesen.

Im Gegensatz zu manchen seiner Brüder und Cousins hatte er kein Problem damit, sich zu verlieben. Einige von ihnen schreckten davor zurück, weil sie seit dem furchtbaren Flugzeugunglück unter Verlustängsten litten. Andererseits hatte er sein Singledasein durchaus genossen. Canyon hatte nicht damit gerechnet, dass er so bald die richtige Frau finden würde.

Aber unter den Sternen war es ihm vollends bewusst geworden. Er würde Keisha einen Heiratsantrag machen; er hatte es kaum erwarten können, dass sie von ihrer Reise zurückkehrte. Und dann war sie früher als geplant nach Hause gekommen – und war hereingeplatzt, als Bonita nackt in ihrem Bett gelegen hatte. Natürlich hatte sie da das Naheliegende vermutet, und Bonita hatte ihren Verdacht auch noch bestätigt. Doch das war eine miese Lüge gewesen!

Diese Lüge hatte alles kaputt gemacht. Und bis heute wusste Canyon nicht, warum Bonita ihre Freundin Keisha so schamlos belogen hatte.

Plötzlich riss ein Geräusch ihn aus seinen Gedanken. Keisha kam die Treppe herunter. Er nahm das Weinglas mit, das er vorsorglich schon gefüllt hatte, und ging ihr entgegen. „Hier, ich glaube, das kannst du brauchen“, sagte er.

Sie trank einen Schluck. „Oh, der ist richtig gut. Wo hast du ihn her?“

„Mein Cousin Spencer und seine Frau haben ein Weingut in Kalifornien. Das Gut gehört schon seit Langem Chardonnays Familie und …“

„Chardonnay?“

„Ja, Spencers Frau heißt Chardonnay.“

„Die Eltern besaßen ein Weingut und haben ihre Tochter Chardonnay genannt?“

Canyon lachte auf. „Ja, genau wie den Wein. So ähnlich wie meine Eltern mich nach dem Ort meiner Zeugung benannt haben.“ Er hielt kurz inne. „Wie bist du überhaupt auf den Namen Beau gekommen?“

Sie ließ sich auf dem Treppenabsatz nieder.

„Du brauchst dich da nicht hinzuhocken“, meinte er. „Ich habe ein sehr bequemes Sofa.“

Keisha schüttelte den Kopf. „Nein, nein, es ist gut so.“ Nach einem weiteren Schluck Wein erklärte sie: „Beaus voller Name ist Beaumont. Nach meinem Onkel, dem einzigen Bruder meiner Mom. Er ist gestorben, als ich noch ein kleines Kind war. Mom und Onkel Beau hatten sich immer sehr nahegestanden. Als ich schwanger war und einen Namen brauchte, hat sie mich gefragt, ob ich den Kleinen nach ihrem Bruder nennen würde. Das habe ich dann auch gemacht.“

Canyon lehnte sich gegen das Treppengeländer. „Wann hast du gemerkt, dass du schwanger bist?“

Sie nippte noch einmal an ihrem Glas und sah ihn an. „Ich war schon überfällig, als ich auf die Dienstreise nach Tampa gefahren bin. Dort habe ich mir gleich einen Schwangerschaftstest besorgt.“ Sie machte eine kleine Pause. „Wegen meiner Schwangerschaft bin ich auch früher als geplant nach Hause gekommen. Ich fand das so wichtig, dass ich es dir nicht am Telefon mitteilen wollte. Aber dann … habe ich dich ja mit Bonita vorgefunden.“

Canyon krampfte sich vor Wut der Magen zusammen. Bis eben hatte er geglaubt, Keisha und er könnten alles friedlich klären. Und nun das: Sie hatte bereits gewusst, dass er Vater wurde, als sie ihn verlassen hatte! Und aus ihrer Enttäuschung heraus – ihrer unberechtigten Enttäuschung, wohlgemerkt! – hatte sie es ihm verschwiegen. Das war zu viel! Er konnte seinen Zorn kaum bändigen.

„Komm mit, wir gehen in die Küche. Beau soll nicht wach werden, falls es etwas lauter wird.“

Keisha folgte ihm durch das Esszimmer. Auch die Küche war riesig und mit den modernsten Elektrogeräten ausgestattet. Das meiste hatte er sicher noch nie benutzt; sie wusste, dass er ebenso ungern selbst kochte wie sie.

Canyon setzte sich an den Küchentisch und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen. Eigentlich hätte sie lieber gestanden. Als sie seine finstere Miene bemerkte, setzte sie sich jedoch schnell. Trotzig fragte sie: „Hast du sonst noch Fragen, Canyon?“

Er lief rot an. „Ob ich noch Fragen habe? Da kannst du drauf wetten!“

Als würde er um Fassung ringen, holte er tief Luft. „Ich werde jetzt nicht noch tausendmal beteuern, dass an diesem Tag – und überhaupt – nichts zwischen Bonita und mir gewesen ist. Du glaubst ja lieber einer Lügnerin. Und um ehrlich zu sein: Inzwischen ist mir das auch egal. Denn wenn du mir wirklich zutraust, dass ich dich so schamlos betrogen habe, dann hast du meine Liebe gar nicht verdient.“

Deutlich schwangen Zorn und Empörung in seiner Stimme mit. Plötzlich kamen Keisha Zweifel. Hatte sie ihm unrecht getan? Hatte vielleicht Bonita gelogen, und er war unschuldig?

Eigentlich konnte das kaum sein. Bonitas Geschichte hatte absolut glaubwürdig geklungen. Und warum hätte sie sich so etwas ausdenken sollen? Dennoch …

„Hast du mich so sehr gehasst, dass du mir zur Strafe meinen Sohn vorenthalten wolltest?“, unterbrach er ihre Gedanken.

Schuldbewusst blickte sie zu Boden. „Wir waren ja schließlich nicht mehr zusammen, und …“

„Und was?“, hakte er nach, als sie nicht weitersprach.

„Na ja, ich habe darüber nachgedacht und … und irgendwie dachte ich, du würdest deine Vaterschaft sowieso anzweifeln, wenn ich dir von dem Kind erzähle.“

Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er sie. „Das ist totaler Unsinn, das weißt du genau“, sagte er mit eisiger Stimme. „Warum hätte ich denken sollen, dass das Kind nicht von mir ist? Im Gegensatz zu dir hatte ich vollstes Vertrauen. Das ist also nur eine faule Ausrede, Keisha. Und was noch schlimmer ist: Du bist seit fast einem Jahr wieder in Denver, und wir sind uns aus beruflichen Gründen mehrfach begegnet. Und trotzdem hast du mir nie verraten, dass ich einen Sohn habe. Hatte ich in deinen Augen etwa nicht das Recht, davon zu erfahren?“

Sie war fest entschlossen, ganz ehrlich zu ihm zu sein. „Nein. Was du getan hattest, war unverzeihlich. Damit hattest du alle Rechte auf mich und mein Kind verspielt. Außerdem wollte ich nicht, dass du dich wegen meiner Schwangerschaft mir gegenüber verpflichtet fühltest. Gegenüber einer Frau, die du ja offensichtlich nicht liebtest.“

Es wirkte beinahe bedrohlich, als er sich zu ihr vorbeugte. „Aber ich habe dich geliebt. Das habe ich dir immer wieder gesagt.“

Auch sie kam ihm näher, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Deine Taten haben mir gezeigt, dass deine angebliche Liebe nur eine Lüge war.“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu beherrschen. „Du hast mir meinen Sohn zwei Jahre lang vorenthalten, weil du geglaubt hast, ich hätte dich betrogen. Das ist unverzeihlich, Keisha. Irgendwann und irgendwie wird dir aufgehen, dass du einer Lüge aufgesessen bist. Dass du dich in mir getäuscht hast. Und wenn es so weit ist, solltest du mal gründlich darüber nachdenken, was du mir angetan hast. Und was du Beau angetan hast.“

Jetzt war sie es, die ihn böse anfunkelte. „Beau hat ja mich gehabt.“

„Ach ja? Und du warst für ihn Mutter und Vater in Personalunion, was?“

„Wenn’s drauf ankommt und kein Mann da ist, tut eine Frau eben, was sie zu tun hat. Hat meine Mutter auch geschafft.“

„Aber ich wäre da gewesen. Du hast mir nur nicht die Chance dazu gegeben.“ Er stützte den Kopf in die Hände. „Allmählich verstehe ich, was dahintersteckt, Keisha. Dein Vater hat dich nicht gewollt. Deshalb bist du davon ausgegangen, dass ich mein Kind nicht akzeptieren würde. Stimmt’s? Das nehme ich dir aus zwei Gründen übel. Einerseits, weil du mir nicht vertraut hast. Und andererseits, weil du mich einfach für einen solchen Schuft wie deinen Vater gehalten hast.“

Seine Worte schmerzten sie. Ganz langsam erhob sie sich. „Ich hätte heute Abend nicht herkommen dürfen. Das war ein Fehler.“

„Du hast jede Menge Fehler gemacht, Keisha. Hierherzukommen war keiner davon. In einem Punkt bin ich mir ziemlich sicher: Irgendwann bemerkst du, dass du mir unrecht getan hast. Du hast an mir gezweifelt und mir meinen Sohn verheimlicht.“ Er legte eine Kunstpause ein. „Aber eins schwöre ich dir: Du bringst Beau und mich nicht mehr auseinander.“

„Was … was soll das heißen?“

„Du hast mich schon verstanden. Wenn du mein Kind von mir fernzuhalten versuchst, zerre ich dich vor Gericht und kämpfe ums Sorgerecht. Und zwar ums alleinige Sorgerecht.“

Mit offenem Mund starrte sie ihn an. „Du wärst imstande, mir mein Kind wegzunehmen?“

„Hast du es mit mir nicht genauso gemacht? Was hast du mir nicht alles weggenommen! Die Schwangerschaft durfte ich nicht miterleben, ich konnte nicht bei Beaus Geburt dabei sein. Wie gerne hätte ich seine ersten Schritte gesehen und seine ersten Worte gehört! All das hast du mir genommen. Deshalb lautet meine Antwort: Ja. Ja, ich würde dir Beau wegnehmen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und es würde mir gelingen, denn ich habe die Mittel dazu. Wer Krieg will, kann Krieg bekommen.“

Nervös strich sie sich übers Haar. „Ich will doch gar keinen Krieg. So ein Riesenstreit ist bestimmt nicht die Lösung, Canyon.“

„Da bin ich ganz deiner Meinung. Trotzdem solltest du wissen, wozu ich imstande bin, wenn es sein muss.“ Er stand auf. „Detective Render hat übrigens angerufen, als du oben gewesen bist. Er kommt morgen gegen Mittag vorbei, um mit dir zu sprechen.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ach ja, Pam hat auch angerufen. Du weißt schon, Dillons Frau.“

„Ja, ich weiß. Und?“

„Wir sind morgen zum Frühstück eingeladen. Um neun.“

„Canyon, ich glaube nicht …“

„Schätzchen, im Moment ist es mir ziemlich egal, was du glaubst oder was du nicht glaubst. Es ist eindeutig an der Zeit, dass meine Familie meinen Sohn kennenlernt.“

Entschlossen schaute sie ihn an. „Na schön, ich komme mit. Aber ich werde ihnen nichts vormachen.“

„Was denn vormachen?“, fragte er gefährlich leise. „Dass wir uns lieben? Dass wir eine heile Familie sind? Dass du mich nicht abgrundtief hasst, weil du glaubst, ich hätte dich betrogen? Nein, Keisha, das wäre das Letzte, was ich will. Du sollst niemandem vormachen, dass du mich liebst. Denn ich werde bestimmt auch niemandem vormachen, dass ich dich liebe.“

Keishas Herz schlug so heftig, dass es schmerzte. Also würde seine Familie nun erfahren, wie sehr er sie hasste. „Na schön“, erwiderte sie schwach. „Es ist spät geworden. Ich will ins Bett. Wärst du noch so nett, die Sachen aus dem Auto zu holen?“

Auf der Fahrt zu Canyons Anwesen hatten sie noch das Nötigste besorgt, weil Keisha nichts aus ihrer Wohnung hatte mitnehmen wollen. Nach dem Einbruch war ihr dort alles verschmutzt und besudelt erschienen.

Morgen würde sie den Rest einkaufen, bevor sie mit Beau in einem Hotel abstieg. Gleich nachdem sie mit Detective Render gesprochen hatte. Denn es stand fest, dass sie so schnell wie möglich umziehen würde.

Noch eine Nacht in einem Haus mit Canyon – das war für sie die reinste Horrorvorstellung!

Etwa eine Stunde später ging Canyon hoch in sein Schlafzimmer, aber an Schlaf war nicht zu denken. Die Wut hielt ihn wach. Wie hatte Keisha es wagen können, ihm so viel wegzunehmen? Ihr Vertrauen, ihre Liebe. Sogar den gemeinsamen Sohn. Und all das, weil sie einer Lügnerin mehr Glauben schenkte als ihm!

Plötzlich klingelte sein Handy. „Hallo?“, meldete er sich.

„Hallo, ich bin es, Dillon. Ich hoffe, du warst noch wach. Wollte nur kurz fragen, ob alles in Ordnung ist.“

Canyon richtete sich im Bett auf. Nach dem Tod ihrer Eltern, ihrer Tante und ihres Onkel war Dillon zum Vormund für alle minderjährigen Westmorelands ernannt worden. Auch die älteren hatten ihn als Vaterersatz betrachtet. Diese Rolle war für ihn nicht immer leicht gewesen. Mit Schaudern dachte Canyon daran zurück, wie die Zwillinge Adrian und Aiden sowie Bane und Bailey in ihren Pubertätsjahren jede Menge Probleme gemacht hatten.

Obwohl seitdem viele Jahre vergangen waren und alle Westmorelands längst erwachsen waren, war Dillon so etwas wie das heimliche Familienoberhaupt geblieben. Wer Rat oder Hilfe brauchte, konnte sich auf ihn verlassen. Er merkte genau, wenn einer der „Kleinen“ in Schwierigkeiten steckte. So gesehen kam sein Anruf nicht völlig unerwartet.

„Ja, alles in Ordnung, Dillon“, antwortete Canyon. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Momentan wenigstens. Wie es morgen aussieht, ist eine ganz andere Frage. Wenn man bedenkt, wie Keisha und ich zueinander stehen …“

„Wie steht ihr denn zueinander?“

Canyon seufzte tief. „Sie hasst mich, und ich hasse sie.“

„Hass ist ein sehr starkes Wort, Canyon. Ich glaube nicht, dass du irgendjemanden wirklich hassen könntest. Das liegt gar nicht in deiner Natur. Vielleicht magst du mal jemanden nicht. Aber sicherlich hasst du niemanden.“

Nachdenklich zog Canyon die Stirn in Falten. Sein großer Bruder schien ihn wieder einmal besser zu kennen als er sich selbst. „Schon gut, schon gut, du hast recht. Ich hasse sie nicht. Aber ich mag sie nicht.“

„Nein. Weil du sie nämlich liebst.“

Canyon verdrehte die Augen. „Ich habe sie mal geliebt. Doch sie hat diese Liebe zerstört.“

„Wodurch, wenn ich fragen darf?“

„Verdammt, Dillon, ich habe einen Sohn. Einen Sohn, den sie mir verheimlicht hat. Sie hätte so viele Gelegenheiten gehabt, mir reinen Wein einzuschenken; sie hat es nicht getan. Kein Anruf, keine E-Mail, kein Brief. Und sie fühlt sich mit diesem Verhalten im Recht, weil ich sie ja angeblich betrogen habe. Das glaubt sie tatsächlich heute noch. Und deshalb ist sie der Meinung, ich hätte überhaupt keine Rechte, was unseren Sohn angeht. Ich habe die ersten zwei Jahre seines Lebens verpasst. Die hat sie mir genommen. Kannst du dir vorstellen, die ersten zwei Jahre im Leben deines Sohnes Denver verpasst zu haben?“

Einen Moment lang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann sagte Dillon leise: „Nein, das kann ich nicht.“

Dillon wäre jedoch nicht Dillon gewesen, wenn diesem Zugeständnis nicht in der nächsten Sekunde ein vernünftiger Rat gefolgt wäre – egal, ob er in diesem Moment gewünscht war oder nicht.

„Du solltest die Angelegenheit mal von der anderen Seite betrachten“, sagte er.

„Wie meinst du das?“, erkundigte sich Canyon.

„Was, wenn sie sich entschieden hätte, das Kind nicht zu bekommen?“

Canyon schloss die Augen. Für ihn ein schrecklicher Gedanke! „Dann … dann würde ich sie richtig hassen.“

„Mit anderen Worten: Wie sie’s macht, ist es verkehrt.“

„Verflixt, Dillon! Nimm sie nicht auch noch in Schutz!“

„Nein, das tue ich nicht. Denk trotzdem ruhig mal drüber nach. Keisha hat gedacht, du hättest sie betrogen. Und wenn du ehrlich bist, musst du eins zugeben: Alle Indizien haben gegen dich gesprochen. Dazu die Aussage dieser Bonita …“

„Ja, aber Keisha hätte mir vertrauen müssen!“

„Drehen wir den Spieß mal um. Stell dir vor, du wärst unerwartet früh nach Hause gekommen und hättest alles so vorgefunden: ein nackter Mann in deinem Bett, Keisha nur mit einem Handtuch bekleidet. Was hättest du gedacht?“

„Ich …“

„Schlaf gut, Canyon. Ich freue mich darauf, morgen dich und deine kleine Familie zu begrüßen.“

Seine kleine Familie!

„Gute Nacht, Dil.“ Er legte auf und strich sich übers Gesicht. Danke für deine Weisheiten, Dil! Jetzt würde Canyon erst recht nicht schlafen können.

5. KAPITEL

„Aufwachen, Mommy.“

Keisha zwang sich, die Augen zu öffnen, und blinzelte. Ihr Sohn schaute sie fröhlich lächelnd an. Er hatte die ganze Nacht brav durchgeschlafen. Zärtlich umarmte sie ihn.

Der Kleine lachte. „Großes, großes Bett, Mommy.“

„Ja, sehr groß.“ Sie nahm Beau für eine Morgenwäsche mit ins Bad. Er war wirklich schlau für sein Alter, fand sie. Aus der Kindertagesstätte kannte sie andere Zweijährige, die noch nicht so weit waren wie er und nicht so gut sprachen.

Gerade kamen sie wieder aus dem Bad, als es an der Tür klopfte. Keisha warf sich rasch etwas über und rief: „Herein!“

Canyon trat ein.

Trotz der frühen Stunde sah er umwerfend aus. In den Jeans und dem Westernhemd wirkte er wie ein Cowboy aus einem Hollywood-Streifen – breitschultrig, muskulös und topfit. Unwillkürlich musste sie an früher denken. An die wilden Liebesnächte, wenn sie …

„Na, wie geht’s euch heute Morgen?“, fragte er.

Sie war froh, dass er ihren Gedankenfluss unterbrochen hatte. Schließlich wollte sie Vergangenes vergessen sein lassen.

Sein breites Lächeln verwunderte sie. Warum hatte er nur so gute Laune? Gestern Abend hatte das noch ganz anders ausgesehen!

Dann fiel es ihr ein. Natürlich, wegen Beau! Vor seiner Verwandtschaft wollte Canyon sich nicht verstellen, aber für seinen kleinen Sohn zog er freiwillig eine Show ab.

„Dad!“

Bevor sie den Kleinen zurückhalten konnte, stürmte er auf Canyon zu. Der lachte laut und hob seinen Sohn in die Luft, was Beau mit einem Freudenschrei quittierte.

Keisha konnte nicht fassen, wie schnell Canyon Beaus Vertrauen gewonnen hatte. Normalerweise fremdelte der Kleine eher. Und bis gestern war sein Vater ja ein Fremder für ihn gewesen.

Noch immer hielt Canyon seinen Sohn in den Armen. Dabei betrachtete er jedoch Keisha sehr eingehend, das bemerkte sie genau. Und es war keine Wut, die in seinen Augen aufblitzte. Es schien eher Begehren zu sein …

„Seid ihr beiden schon fit?“, wollte er wissen.

„Na ja, geht so. Du bist ja ziemlich früh dran.“

„Frühstück bei Dillon, hast du’s vergessen?“, meinte er und setzte Beau ab. „Du kommst doch mit? Oder hast du es dir etwa anders überlegt?“

Als ob er ihr eine Wahl ließe! „Wir kommen mit, aber du hast doch neun Uhr gesagt. Und jetzt ist es nicht mal sieben.“

„Der frühe Vogel fängt den Wurm. Ich bin schon um fünf aufgestanden und habe in meinem Fitnessraum trainiert. Und gleich geht’s auf einen kleinen Ausritt in den Canyon. Das mache ich jeden Samstagmorgen.“

„Großes Bett, Dad.“ Beau streckte die Arme aus, und Canyon musste lachen.

„Meins ist sogar noch größer“, erwiderte er schmunzelnd.

„Größer?“, fragte Beau staunend.

„Kaum zu glauben, was?“, gab Canyon zurück. Danach sagte er sich zu Keisha: „Ich lasse euch mal eine Stunde Zeit, damit ihr euch fertig machen könnt. Und anschließend führe ich euch ein bisschen im Anwesen herum.“

„Das ist nicht nötig“, winkte Keisha ab.

„Oh doch. Beau wird in Zukunft eine Menge Zeit bei mir verbringen. Deshalb will ich dir zeigen, dass ein kleines Kind hier völlig sicher ist.“

Er hatte das durchaus freundlich gesagt und dabei gelächelt. Doch Keisha war die Entschlossenheit in seinem Blick nicht entgangen. Was er gestern gesagt hatte, hatte er genauso gemeint. Er würde sich seinen Sohn nicht wegnehmen lassen.

„Also gut“, lenkte sie ein. „Wenn du zurückkommst, sind wir fertig.“

Er zog eine Braue hoch und schien erstaunt zu sein, dass sie so schnell nachgegeben hatte. Aber sie war ja nicht dumm. Sie wollte ihre Energie nicht auf Nebenkriegsschauplätzen verschwenden. „Komm, Beau, ziehen wir uns an.“

„Dads großes Bett sehen, Mommy.“

Das hätte sie auch gerne gesehen! Aber das war in diesem Moment unwichtig. „Später, Beau“, erklärte sie ihrem Sohn. „Wir müssen uns zuerst anziehen, weil dein Daddy nachher mit uns wegfährt.“

Verwirrt schaute er sie an. „Mein Daddy?“

„Ja“, antwortete sie.

Offensichtlich hatte Beau das Wort Dad als Canyons Eigennamen aufgefasst, nicht als Bezeichnung für Vater. Doch das Wort Daddy für Vater – das kannte er aus der Kindertagesstätte, wenn seine Spielgefährten abgeholt wurden. Nun strahlte der Kleine Canyon an. „Großes Bett sehen, Daddy-Dad.“

Canyon lachte schallend. „Das kriegst du noch zu sehen, Kleiner, aber nicht jetzt.“ Damit wandte er sich an Keisha: „Danke.“

Dein Daddy, hatte sie gesagt. Das wusste er wirklich zu schätzen. Und heute würde er Beau seiner Familie vorstellen. Bei dem Gedanken wurde er richtig aufgeregt.

Nach einer Stunde kehrte er von seinem Ausritt zurück. Er war immer noch ein wenig verunsichert, doch zugleich erfüllte ihn eine tiefe innere Ruhe. Übers Land und durch den Canyon zu reiten hatte stets eine wunderbar erholsame Wirkung auf ihn. Die hundert Morgen waren nicht nur sein Erbe und sein Vermächtnis, sondern auch ein Quell des Trostes und der Erbauung für ihn. Und eines fernen Tages würde er das alles seinem Sohn hinterlassen.

Beau.

Wie merkwürdig es war, plötzlich einen Sohn zu haben. Aber wie beglückend! Ihn zu sehen, ihn zu berühren, mit ihm zu lachen – Canyon empfand die Vatergefühle geradezu als berauschend. Und wie er Keisha bereits klargemacht hatte: Er würde sich sein Kind nicht wegnehmen lassen.

Es war zu früh, um einzuschätzen, wie sie mit seinen Forderungen umgehen würde. Für ihn zählte jedoch ohnehin nur, eine gute Beziehung zu seinem Kind aufzubauen. Und zwar ab sofort. Er hatte genug Zeit verloren.

Mit Keisha würde er sich irgendwie arrangieren müssen, auch wenn es ihm sicher nicht leichtfiel. Zwei Jahre hatte er bloß wegen ihres Starrsinns verloren! Das machte ihn wütend! Dann musste er jedoch an Dillons Worte denken. Sie hätte sich auch gegen das Kind entscheiden können. Doch das hatte sie zum Glück nicht getan.

Als Canyon das Haus betrat, kamen Keisha und Beau gerade die Treppe herunter. Am liebsten wäre der Kleine seinem Vater sofort entgegengestürmt, aber Keisha hielt ihn an der Hand fest. „Nein, Beau. Immer daran denken: Stufe für Stufe. Nicht die Treppe hinunterrasen.“

„Ja, Mommy.“

Canyon konnte die Augen nicht von Keisha abwenden. Sie trug Jeans und eine schlichte Bluse und sah darin absolut umwerfend aus. Nach der Schwangerschaft hatte sie offenbar nicht alle Pfunde wieder verloren, aber er fand das gut so. Ihr Körper war eine Spur üppiger und dadurch sogar noch verlockender …

Sofort wischte er diesen Gedanken beiseite. Eine Beziehung zu einer Frau, die kein Vertrauen zu ihm hatte, kam überhaupt nicht infrage! Und Keisha hatte ja nun wirklich bewiesen, wie wenig sie ihm vertraute.

Kaum hatte Beau die letzte Treppenstufe bewältigt, lief er Canyon entgegen. „He, langsam, kleiner Mann“, ermahnte Keisha ihn. „Du kennst unsere Regel: Im Haus wird nicht gerannt.“

Der Kleine blieb stehen und blickte Keisha an. „Nicht unser Haus.“

Canyon lachte auf, verstummte bei Keishas finsterer Miene aber sofort wieder. „Egal, wem das Haus gehört, du Schlauberger“, sagte sie zu Beau, „es wird drinnen nicht gerannt. Haben wir uns verstanden?“

Ihr Sohn nickte fügsam, ging mit betont langsamen Schritten auf Canyon zu und breitete die Arme aus. „Hochnehmen, Daddy-Dad.“

„Da hast du ihm ja was Schönes angewöhnt“, kommentierte Keisha süßsäuerlich.

„Stört mich überhaupt nicht“, gab Canyon lachend zurück und hob Beau hoch. „Und nur damit du es weißt, kleiner Mann: Das Haus gehört dir auch. Und jetzt zeige ich euch alles.“

Wohnzimmer, Esszimmer und Küche kannte Keisha zwar schon, trotzdem schloss Canyon diese Räume in den Rundgang mit ein. „Am besten notierst du dir, was alles nicht kindersicher ist“, forderte er sie auf. „Ich lasse die Mängel dann beheben.“

„Ist gut“, erwiderte Keisha, während er sie die Wendeltreppe hinaufführte.

Als sie oben angekommen waren, streckte Canyon präsentierend den rechten Arm aus. „Hier befinden sich der zweite Wohnraum und ein paar weitere Zimmer für den einen oder anderen Zeitvertreib.“

Für den einen oder anderen Zeitvertreib? Was waren das wohl für Zimmer?

Sie sollte es gleich erfahren. Im ersten befand sich sein Fitnessraum, in dem er heute Morgen – eigentlich noch zu nachtschlafender Zeit – trainiert hatte. Keine Überraschung, dass er mit den modernsten Sportgeräten ausgestattet war. Den nächsten Raum nannte Canyon lächelnd sein „Spielzimmer“. Dort gab es neben einem großen Billardtisch unter anderem ein Dartboard sowie einen riesigen Flachbildfernseher.

„Sehr hübsch“, staunte Keisha. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er dort nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag entspannte.

„Und hier geht’s zu meinem Schlafzimmer“, erklärte er, als er die Führung fortsetzte und die schwere Doppeltür aus massiver Eiche öffnete.

„Großes, großes Bett, Mommy.“

Das war noch eine Untertreibung. Es war so ziemlich das größte Bett, das Keisha je gesehen hatte. Sicherlich eine Einzelanfertigung. „Ja, Beau, das ist wirklich groß.“

„Großes, großes Bett“, sang Beau vor sich hin.

„Ja, mein Schatz, ich habe es verstanden“, erwiderte sie lächelnd. „Dein Daddy hat ein großes, großes Bett.“

„Mal sehen, ob es dir auch weich genug ist“, meinte Canyon und ließ Beau auf die Matratze fallen.

Der Kleine sprang fröhlich lachend auf und ab. „Macht Spaß, Mommy. Komm. Mitspielen. Auf Daddy-Dads Bett.“

Canyons Bett? Oh nein. Damals war es zwar ein anderes Bett gewesen. Dennoch würde es nur Erinnerungen wecken. Berauschende Erinnerungen. Sie errötete. „Nein, nein, Beau. Lass mal. Ich schaue dir lieber zu, wie du deinen Spaß hast.“

Als Beau sich ausgetobt hatte, trat Keisha an das riesige Fenster. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick über den Canyon.

Plötzlich spürte sie, dass Canyon hinter ihr stand. Ihr Herz begann heftig zu pochen. Um sich von seiner Nähe abzulenken, sagte sie: „Eine wunderschöne Aussicht.“

„Ja, finde ich auch. Deswegen habe ich den Hausbau so geplant: Ich wollte jeden Morgen beim Aufwachen auf den Canyon schauen.“

„Deinen Gästen ist dieser Ausblick leider nicht vergönnt.“

Lächelnd zuckte er mit den Schultern. „Nein, die Gästezimmer gehen alle auf die Berge hinaus. Aber das ist doch auch nicht schlecht.“

Da musste sie ihm recht geben. Tatsächlich hatte sie sich am Morgen kaum von der beeindruckenden Bergwelt losreißen können. In Canyons Anwesen konnte man sich schon wohlfühlen …

„Kommt weiter. Ihr habt längst nicht alles gesehen.“

Die Besichtigungstour endete schließlich in einem großen Raum, der einen Swimmingpool beherbergte. Als sie den Poolraum verlassen hatten, schloss Canyon sorgfältig ab. „Also, ist dir etwas aufgefallen?“, fragte er Keisha.

„Wie meinst du das?“

„Ob dir etwas aufgefallen ist, was nicht kindersicher ist. Was ich ändern lassen müsste, wenn Beau die Wochenenden hier verbringt.“

Kein Zweifel, Canyon würde nicht lockerlassen. Er würde seine Vaterrechte einfordern, ob es ihr gefiel oder nicht. „Eigentlich ist alles so weit in Ordnung. Außer dem Pool vielleicht. Beau kann noch nicht schwimmen.“

„Kein Problem. Das bringe ich ihm bei. Nächste Woche fangen wir an. Mit Schwimmflügeln natürlich, die trägt er dann immer, sobald er im Poolraum ist.“

Keisha biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte keinen Streit anfangen. Selbstverständlich war sie froh, dass Canyon und Beau sich so gut verstanden. Aber sie wollte sich auch nicht einfach unterbuttern lassen.

Immerhin besaß sie das Sorgerecht, auch wenn sie nach der Geburt Canyon als Vater angegeben hatte. Das hatte sie auf Drängen ihrer Mutter getan: Sie hatte Kenneth Drew damals nicht als Keishas Vater vermerken lassen und bereute diesen Schritt noch heute.

„Ich bin gar nicht so übel als Schwimmlehrer“, sagte Canyon, als sie das Wohnzimmer erreichten. „Aber das weißt du ja. Dir habe ich das Schwimmen ja auch beigebracht.“

Oje, musste er sie daran erinnern? Der Schwimmunterricht hatte in einem der Seen auf dem Gebiet von Westmoreland Country stattgefunden und hatte sich sehr in die Länge gezogen: Zwischendurch hatten sie dabei sämtliche Möglichkeiten erprobt, sich im Wasser zu lieben. Allein bei dem Gedanken daran wurde Keisha ganz heiß. Und Canyon erging es ähnlich, wie sie bemerkte.

Um sich und ihn von den erregenden Fantasien abzulenken, kam sie auf das Haus und die Kindersicherheit zurück. „Vielleicht mache ich später noch mal alleine einen Rundgang durchs Haus und prüfe, ob dem Kleinen wirklich nichts gefährlich werden kann. Manchmal übersieht man auf den ersten Blick ja etwas.“

„Ja, gerne, gar kein Problem. Ich möchte alles richtig machen. Und ich will auf keinen Fall, dass du dich sorgst, wenn er hier bei mir ist.“

„Oh, ich werde mich trotz allem sorgen, Canyon“, gestand sie ihm. „Aber das darfst du bitte nicht persönlich nehmen. So sind Mütter nun mal. Und du wirst erleben, dass du als Vater ebenso reagieren wirst.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Obwohl manche Männer diese Rolle ernster nehmen als andere.“ Sie lächelte. „Ich habe mir sogar ständig Sorgen gemacht, wenn meine Mom auf ihn aufgepasst hat. Ich habe sie so oft angerufen, dass sie völlig genervt war.“

Canyon zog eine Braue hoch. „Deine Mutter hat ihn also tagsüber versorgt, während du gearbeitet hast?“

„Die ersten acht Monate, ja. Sie hat sich dafür extra von ihrem eigenen Job beurlauben lassen.“

Er hatte Keishas Mutter nie persönlich kennengelernt, aber ein paarmal am Telefon mit ihr gesprochen. Die beiden hatten nicht nur ein sehr enges Verhältnis, sondern teilten auch ihren Unabhängigkeitswillen. Keisha hatte ihm erzählt, wie ihr Vater seine Vaterschaft abgestritten und ihre Mutter sie allein großgezogen hatte.

Nun schaute Keisha auf ihre Armbanduhr. „Wir sollten bald los, wenn wir nicht zu spät …“ Erschrocken hielt sie inne, als Canyon mit einem Mal ihre Hand ergriff und die Uhr anstarrte.

„Du hast sie also behalten“, stieß er hervor. Diese Uhr hatte er ihr zum Geburtstag geschenkt. Wenige Wochen später hatte Keisha sich von ihm getrennt.

„Natürlich. Hattest du gedacht, ich würde sie wegschmeißen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt war mir dieser Gedanke gekommen.“ Eher widerstrebend ließ er ihre Hand los. „Dein Puls ist ganz schön schnell. Bist du nervös, weil Detective Render heute Nachmittag vorbeikommt?“

„Stimmt, ich bin ein bisschen nervös. Aber nicht deswegen.“

„Weshalb denn?“

„Wegen deiner Familie.“

„Was ist mit meiner Familie?“

Sie holte tief Luft. „Wir haben uns doch darauf geeinigt, dass wir deinen Verwandten nichts vorspielen wollen. Und ich habe das Gefühl, dass sie ebenso offen sein werden.“

Er kratzte sich am Kopf. „Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.“

Sie senkte die Stimme, damit Beau nichts mitbekam. „Ich weiß, dass du dich mit deiner Familie gut verstehst, Canyon. Du und ich, wir sind ja nicht gerade im Frieden auseinandergegangen. Ich bin sicher, deine Familie weiß das. Keine Frage, dass dem süßen kleinen Beau alle Herzen zufliegen werden, aber …“

„Aber was?“

„Ganz ehrlich: Ich weiß nicht recht, ob ich dort willkommen bin. Es wäre normal, dass sich alle auf deine Seite schlagen und mein Verhalten nicht gutheißen. Alleine, dass ich dir Beau vorenthalten habe … Für die bin ich doch die Böse.“

„Das sehe ich absolut nicht so“, widersprach Canyon. „Das sind erwachsene Leute – die meisten hast du ja mal kurz kennengelernt. Sie sind durchaus imstande, sich eine eigene Meinung zu bilden. Außerdem halten wir Westmorelands es so, dass wir uns nicht in die Angelegenheiten der anderen einmischen.“ Er dachte einen Moment nach und lächelte. „Wobei Ausnahmen natürlich die Regel bestätigen. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Vermutlich glauben sie sogar eher, dass du etwas gegen sie hast. Als wir noch zusammen gewesen sind, hast du ja die meisten Gelegenheiten verstreichen lassen, meine Familie besser kennenzulernen.“

Sie errötete leicht und schlug verschämt die Augen nieder. Damit hat er recht. Sie hatte sich tatsächlich von seinen Verwandten ferngehalten. Aber nicht, weil sie etwas gegen sie gehabt hatte.

Keishas eigene Familie war sehr klein, und deshalb hatte ihr die große Zahl an Geschwistern und Cousins geradezu Angst gemacht. Aber als sie mit Canyon auf den Ball gegangen und dort vielen von seinen Verwandten begegnet war, hatten alle sie freundlich behandelt. Und Keisha hatte sie ebenso ausnahmslos sehr nett gefunden. An diesem Abend hatten seine Schwägerin und seine angeheirateten Cousinen sie sogar zu einem Essen eingeladen. Bevor es dazu gekommen war, hatten Canyon und sie sich jedoch getrennt.

„Ich war drauf und dran, sie besser kennenzulernen“, erklärte Keisha. „Aber du weißt ja, was dann passiert ist.“

Er kniff die Augen zusammen. „Oh ja, das weiß ich. Du hast einer Lügnerin mehr geglaubt als mir.“

Gerade wollte sie gereizt etwas erwidern. In dem Moment bemerkte sie, wie etwas an ihrer Hose zerrte. Es war Beau. Er sah zuerst sie und danach Canyon mit großen Augen an und fragte: „Noch mal Bett springen?“

Canyon hob den Kleinen hoch. Sicher hätte er seiner Bitte Folge geleistet und den Jungen auf seinem Bett hüpfen lassen. Doch Keisha kannte diese Spielchen. So klein Beau auch war: Er wusste bereits, wie man jemanden um den Finger wickelte. In Canyon hatte er ein leichtes Opfer gefunden, und das wollte sie ihm nicht durchgehen lassen.

„Nein, Beau“, sagte sie mit fester Stimme. „Jetzt nicht.“ Anschließend wandte sie sich an Canyon: „Ich bin fertig. Wir können los.“

„Die Ähnlichkeit ist echt verblüffend“, staunte Pam Westmoreland und betrachtete den kleinen Jungen in Canyons Armen fasziniert. „Unglaublich, findest du nicht auch?“, fragte sie ihren Ehemann.

Dillon lächelte. „Ja, anscheinend setzen sich die Gene der Westmorelands immer durch. Gleich bei unserer allerersten Begegnung waren Cousin Dare und ich uns im Klaren, dass wir verwandt sind. Wir waren uns einfach so ähnlich.“

Canyon lächelte. „Keisha glaubt bestimmt, wir übertreiben, was die Ähnlichkeit angeht. Ich kann’s gar nicht erwarten, bis sie Denver sieht. Wo steckt er denn?“

„Der ist irgendwo hinten mit Bailey“, antwortete Dillon grinsend. „Bailey beschäftigt sich gern mit ihm. Dadurch hat sie einen Vorwand, um sich selbst noch mal wie ein Kind zu verhalten. Aber nun kommt erst mal rein. Willkommen bei uns, Keisha.“

„Vielen Dank“, erwiderte Keisha und sah sich um. Das Haus war noch größer als das von Canyon. Dillon lebte mit seiner Familie im Stammhaus der Westmorelands, das Canyons Urgroßvater erbaut hatte. Als ältestes Kind der derzeitigen Generation hatte Dillon es mitsamt der dreihundert Morgen Land geerbt, die dazugehörten.

„Ich freue mich so, dich wiederzusehen, Keisha“, meinte Pam und umarmte sie.

Keisha erwiderte die Umarmung etwas unsicher. All diese Küsschen, all diese Umarmungen, die bei den Westmorelands ständig ausgetauscht wurden – so etwas war ihr fremd und deshalb ein wenig unangenehm. Sie verstand sich mit ihrer Mutter zwar sehr gut. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie sich ständig in den Armen lagen.

„Canyon hat uns von dem Einbruch und der Verwüstung in deinem Haus erzählt. Furchtbar, ganz furchtbar. Wenn wir dir irgendwie helfen können …“

„Vielen Dank.“ Keisha spürte, dass Pams Angebot ernst gemeint war, und sie wusste es zu schätzen. Pam Westmoreland war eine wunderschöne Frau, die früher einmal als Schauspielerin gearbeitet hatte. Canyon schwärmte immer davon, wie perfekt sie zu seinem Bruder passte.

„Wo stecken die anderen?“, fragte Canyon. „Ich habe vorne schon ihre Autos gesehen, aber …“

„Die sind alle hinten“, sagte Dillon. „Draußen auf der Veranda und im Garten. Das Wetter war so schön, und deshalb wollten wir nicht drinnen hocken. Ich habe übrigens niemandem das mit Beau verraten. Das willst du ihnen sicher selbst mitteilen.“

Keishas Magen krampfte sich zusammen. Wie würden all diese Menschen reagieren, wenn sie von ihrem Sohn erfuhren? Bestimmt würden sie ihn automatisch als Familienmitglied akzeptieren und sie dagegen ausgrenzen, weil sie ihnen den Kleinen vorenthalten hatte.

„Jillian ist auch da“, berichtete Pam lächelnd. „Darüber freue ich mich besonders.“

„Jillian ist Pams Schwester“, erklärte Dillon. „Sie ist vierundzwanzig und studiert in Louisiana Medizin. Ihr großer Traum ist es, Neurochirurgin zu werden. Wegen der Entfernung sehen wir sie nicht sehr häufig. Umso schöner ist es jetzt für uns.“

Dillon führte sie durchs Haus nach hinten in den Garten. Von der Veranda hatte man einen beeindruckenden Blick auf einen großen See, der Keisha fast den Atem raubte. Plötzlich fühlte sie, wie Canyon ihre Hand ergriff. Sicher bemerkt er einfach, wie nervös ich bin, dachte sie. Er will mir signalisieren, dass er mir beisteht. So viel Hilfsbereitschaft hätte ich gar nicht von ihm erwartet …

„He, Leute! Schaut mal, wer endlich eingetroffen ist“, verkündete Dillon.

Keisha hatte befürchtet, dass alle sie anstarren würden. Doch da hatte sie sich getäuscht. Die gesamte Verwandtschaft schien sich nur auf Beau zu konzentrieren.

„Hallo, ihr alle!“, rief Canyon in die Menge. „Die meisten von euch haben Keisha ja schon mal getroffen. Und heute möchte ich euch unseren gemeinsamen Sohn vorstellen. Er heißt Beau.“

Mit einem Mal war es mucksmäuschenstill. Alle schauten Beau an. Mit solchen Neuigkeiten hatte mit Sicherheit keiner von Canyons Verwandten gerechnet. Aber irgendwie übertreiben die ein bisschen, dachte Keisha. Sie musterten ihn mit so überraschten Mienen, als wäre er das achte Weltwunder.

In dem Moment lief ein kleiner Junge auf Dillon zu. „Daddy! Daddy! Guck mal, was Megan mir geschenkt hat!“

Keisha sah den Jungen an – und ihr blieb fast das Herz stehen. „Mein Gott“, flüsterte sie.

Jetzt verstand sie das Erstaunen der anderen.

Der Junge hätte Beaus Zwilling sein können!

6. KAPITEL

„Ich habe dir ja gesagt, dass die Ähnlichkeit verblüffend ist“, flüsterte Canyon Keisha ins Ohr. Sie erschauerte wohlig, als sie seinen Atem auf ihrer Haut spürte.

Nun stürmten alle auf die Neuankömmlinge los. Sie begrüßten Keisha herzlich, umarmten und küssten sie. Und der kleine Beau war natürlich der Hahn im Korb. Er genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde.

Keisha war überrascht, dass niemand die Frage stellte, warum man erst jetzt von Beaus Existenz erfuhr. Wahrscheinlich sagen sie sich, dass das Canyons Angelegenheit ist, dachte Keisha. Und dass er die Angelegenheit schon richtig regelt.

„Wie alt ist er?“, wollte Bailey wissen.

„Ein bisschen über zwei Jahre.“

Bailey blickte zwischen Beau und Denver hin und her. „Denver ist fast vier. Vom Größenunterschied abgesehen sehen sie tatsächlich völlig gleich aus. Einfach unglaublich.“

Das fand Keisha auch. Wie Zwillinge, nur zeitversetzt. Und da es gerade um das Thema Zwillinge ging …

Die Westmoreland-Zwillinge kamen zu ihr und lächelten verschmitzt. Keisha konnte nicht anders, als zurückzulächeln. „Oh, hallo Aiden und Adrian.“ Sie zog eine Braue hoch und betrachtete erst den einen, dann den anderen. „Oder ist es andersrum? Adrian und Aiden?“

„Das ist unser kleines Geheimnis“, erwiderte Adrian. Oder Aiden.

„So, jetzt gehört Keisha aber erst mal uns Frauen“, mischte sich Ramseys Frau Chloe ein. Sie nahm Beau auf den Arm, und Bailey schnappte sich Denver. Die beiden Kinder musterten sich fasziniert. Sie waren von der Ähnlichkeit ebenso verblüfft wie die Erwachsenen.

„Endlich hat Denver einen männlichen Spielkameraden“, meinte Dillon lächelnd. „Er hat sich schon beklagt, dass Susan immer nur Mädchenkram machen will.“ Susan war die Tochter von Ramsey und Chloe und ein paar Monate jünger als Denver.

„Das kann ja was werden, wenn die beiden Jungs erst einmal gleich groß sind“, sagte Megan lachend. „Hoffentlich führen sie die Leute wegen ihrer Ähnlichkeit dann nicht so an der Nase herum wie Aiden und Adrian früher.“

„Das machen die beiden doch heute noch“, warf Riley Westmoreland ein, der sich zu ihnen gesellt hatte. „Keisha, ich möchte dir meine Verlobte Alpha Blake vorstellen.“

Alpha umarmte Keisha herzlich. „Schön, dich kennenzulernen.“

„Ich freue mich auch.“

„Könnte ich vielleicht meinen Sohn zurückhaben?“, fragte Canyon und streckte die Arme nach Beau aus.

„Wenn’s unbedingt sein muss“, erwiderte Chloe lächelnd und übergab ihm den Jungen.

Beau strahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Daddy-Dad.“

Canyons Bruder Jason runzelte die Stirn. „Daddy-Dad?“

„Das ist eine lange Geschichte“, sagte Canyon schmunzelnd. Suchend schaute er sich um. „Wo ist eigentlich Zane?“

„Ach, er und Channing wollten ausschlafen. Sie kommen sicher später noch.“

Canyon nickte. Die Westmoreland-Frauen hatten Keisha in eine Ecke des Gartens geführt. Er beobachtete, wie sie sich angeregt mit ihnen unterhielt. Eigentlich war sie ja eher zurückhaltend. Aber die Frauen aus seiner Familie gaben ihr keine Chance, sich in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen.

„He, Canyon, alles in Ordnung?“, fragte Stern seinen Bruder.

„Ja, sicher. Warum sollte nicht alles in Ordnung sein?“

Stern zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Nur so. Wollte bloß sichergehen.“ Er hielt einen Moment inne. „Keisha sieht richtig gut aus heute.“

Canyon blickte seinen Bruder skeptisch an. „Keisha sieht immer richtig gut aus. Such dir lieber ein anderes Opfer für deine Beobachtungen.“

Stern lachte auf. „Was ist los? Sind wir heute etwas gereizt?“

Kurzerhand nahm Canyon Beau auf den anderen Arm. Er wollte sich nicht provozieren lassen. In dem Moment traf Canyons Cousin Zane mit seiner Verlobten Channing ein. Alle begrüßten das Paar, und Channing konnte natürlich nicht widerstehen, Beau zu nehmen. Als sie mit dem Kleinen zu den anderen Frauen hinüberging, nahm Zane Canyon beiseite.

„Wie ich sehe, hast du deine Probleme auch ohne meine Hilfe in den Griff gekriegt“, meinte Zane und schaute zu Keisha.

Canyon verdrehte die Augen. Vor ein paar Wochen hatte er Zane angerufen und ihm sein Leid geklagt. Er hatte es nicht länger hinnehmen wollen, dass Keisha seine Bitten um eine Aussprache zurückwies. Damals hatte er den Plan entwickelt, sie nach Hause zu verfolgen. „Ja, aber es ist nicht so, wie du denkst.“

„Na ja. Ich schätze, dass du früher oder später zur gleichen Erkenntnis kommst wie ich: Wenn sie einmal die Richtige für dich war, wird sie immer die Richtige für dich sein.“

Canyon wollte widersprechen, aber Zane hatte sich bereits abgewandt und lief zu Ramsey und Dillon hinüber. Verärgert beschloss Canyon, sich um seinen Sohn zu kümmern. Schließlich wollte er so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen.

Keisha hatte Zweifel gehabt, ob sie sich mit den Westmoreland-Frauen verstehen würde. Doch es lief prächtig. Alle waren so offen und freundlich zu ihr, dass sie sich sofort in den Kreis aufgenommen fühlte. So war es damals auch auf dem Ball gewesen.

Noch immer dachte sie gern an das große Ereignis zurück. Canyon hatte sie nicht nur seinen Verwandten aus Denver vorgestellt, sondern auch denen, die aus Atlanta, Montana und Texas angereist waren. Und alle hatten sie sofort akzeptiert. Wenn Canyon mich zu der Feier mitnimmt, hat das etwas zu bedeuten, hatte sie gedacht. Bald darauf war die Sache mit Bonita passiert, und alles war aus gewesen.

Keisha blickte zum Hof hinüber. Dort beaufsichtigte Canyon seinen Sohn, während der sich auf einer Kinderrutsche vergnügte. Außerdem gab es eine Schaukel, einen Sandkasten und andere Spielgeräte. Alles war durch einen hohen Zaun vom See getrennt.

Beau lachte und juchzte fröhlich. Er hatte sichtlich Spaß. Als Canyon nun zu ihr herüberschaute, sahen sie sich für einen kurzen Moment direkt in die Augen. Beide schienen gleichzeitig zu spüren: Da war etwas zwischen ihnen. Es gab noch Gefühle, eine gegenseitige Anziehung. Und beiden war mehr als unwohl bei dieser Erkenntnis.

Sogleich konzentrierte Keisha sich wieder auf das Gespräch mit den Frauen. Sie fühlte sich von allen akzeptiert – mit einer Ausnahme. Bailey waren ihre Zweifel deutlich anzumerken. Die anderen waren offenbar der Meinung, dass Canyon und Keisha ihre Probleme unter sich ausmachen mussten, und bezogen keine Stellung. Bailey dagegen schien das anders zu sehen. Als Jüngste der Westmorelands hatte sie den kleinen Beau zwar sofort ins Herz geschlossen. Doch erst heute von seiner Existenz zu erfahren, hatte sie anscheinend verärgert.

Vielleicht dachten aber auch alle wie Bailey und konnten sich nur besser verstellen. War das möglich?

Als hätte Pam ihre Gedanken gelesen, ergriff sie plötzlich Keishas Hand. Freundlich sagte sie: „Wir freuen uns, dass du nun Teil der großen Familie bist, Keisha.“

Keisha musste schlucken. So nett Pams Worte auch gemeint waren, sie musste etwas klarstellen. „Eigentlich gehöre ich nicht richtig dazu. Canyon und ich sind ja kein Paar.“

Pam machte eine wegwerfende Handbewegung. „Beau ist ein Westmoreland, und du bist seine Mutter – also gehörst du dazu.“

Keisha hätte dem widersprochen. Sie war sich außerdem sicher, dass auch Canyon Pam in diesem Punkt nicht zustimmen würde. Doch sie wollte das Thema lieber nicht in dieser Runde ausdiskutieren und schwieg. Verlegen nippte sie an ihrem Orangensaft.

„Und, wie gefällt dir Canyons Haus?“, erkundigte sich Bailey plötzlich.

So fragt man Leute aus, dachte Keisha. In Wirklichkeit will sie doch nur wissen, ob ich die Nacht bei ihm verbracht habe. Die anderen waren vermutlich zu höflich, um es so direkt auszusprechen. Wahrscheinlich interessierten sich alle dafür, wie Canyon das mit Beau herausgefunden hatte. Doch das sollte er ihnen selber erzählen … wenn er es denn wollte.

Was ihre Beziehung – oder Nicht-Beziehung – zu Canyon anging, wollte Keisha allerdings keine Zweifel aufkommen lassen. Sie hatten nichts mehr miteinander, und das sollten alle wissen.

„Ich finde Canyons Haus wunderschön“, beantwortete sie Baileys Frage und fügte hinzu: „Und ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich nach der Katastrophe bei mir zu Hause für eine Nacht bei sich aufgenommen hat.“

Chloe zog eine Braue hoch. „Was ist denn passiert?“

Keisha runzelte die Stirn. Hatte Canyon seiner Familie gar nicht gesagt, warum sie bei ihm übernachtet hatte? „Jemand hat bei mir eingebrochen und alles verwüstet.“

„Was?“ Die Frauen waren völlig schockiert.

„Ja, das war ein Riesenschreck für mich.“ Keisha berichtete von den Ereignissen.

„Und die Polizei hat keine Ahnung, wer dich verfolgt hat und wer bei dir eingedrungen ist?“, fragte Lucia, die Frau von Canyons Cousin Derringer, sichtlich empört.

„Bislang nicht“, erwiderte Keisha. „Ein Detective namens Render kommt heute Mittag bei Canyons Haus vorbei, um alles noch einmal genau mit mir durchzugehen.“

„Ervin Render?“, meinte Megan. „Den kenne ich. Rico hat sich bei einigen von seinen Fällen mit ihm ausgetauscht. Er hält ihn für einen fähigen Mann.“ Rico Claiborne war Megans Ehemann und arbeitete als Privatdetektiv.

„Das beruhigt mich. Ich will nämlich heute in ein Hotel umziehen. Da fühle ich mich wohler, wenn ich weiß, dass die Sache in guten Händen ist.“

„Meinst du, dass du in einem Hotel wirklich sicher bist?“, gab Jasons Frau Bella zu bedenken. „Solange niemand den Täter kennt …“

„Und es wurden keine Wertgegenstände gestohlen?“, fragte Bailey nach.

Keisha schüttelte den Kopf. „Nein. Schmuck, Münzen – alles ist noch da. Offenbar wollte der Einbrecher mich einschüchtern.“

Zum ersten Mal hatte Keisha den Verdacht selbst ausgesprochen. Es rieselte ihr eiskalt den Rücken herunter. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum ihr jemand Angst einjagen wollte. Doch ganz eindeutig gab es da jemanden, der einen Grund dafür zu haben glaubte.

Inzwischen hatten sich noch viele andere kleine Kinder aus der großen Westmoreland-Familie zu Beau auf den Spielplatz gesellt. Canyon ließ seinen Sohn in der Obhut von Pams Schwester Paige zurück, ging in die Küche und holte sich aus dem Kühlschrank ein eiskaltes Bier. Eigentlich war es für Alkohol viel zu früh, aber er brauchte etwas Stärkeres als Orangensaft, um sein Begehren zu betäuben. Wann immer er zu Keisha hinüberblickte, fühlte er sexuelle Erregung in sich aufsteigen. Warum musste sie nur so verdammt sexy aussehen? Am liebsten wollte er zu ihr hinüberlaufen, sie in seine Arme nehmen und küssen. Doch das war unmöglich.

Canyon beschloss, zunächst das Badezimmer aufzusuchen und danach das Bier mit nach draußen zu nehmen. Kaum hatte er die Küche verlassen und den Flur erreicht, hörte er Stimmen. Einer plötzlichen Eingebung folgend blieb er stehen und lauschte.

Aiden seufzte auf und schaute Jillian tief in die Augen. „Wir müssen ihnen endlich reinen Wein einschenken, Jill. Diese Geheimnistuerei ist nichts für mich.“

„Für mich auch nicht. Aber du hast mir doch versprochen, dass wir warten, bis ich mit dem Medizinstudium fertig bin. Und du hast gemeint, du würdest das verstehen.“

„Ja. Mittlerweile sehe ich die Sache allerdings etwas anders. Ich glaube, Dillon und Pam haben kein Problem damit, dass wir uns verliebt haben.“

„Aber sicher kannst du dir da nicht sein. Aus ihrer Sicht sind wir verwandt. Dein Cousin hat meine Schwester geheiratet, und dadurch sind wir …“

„Dadurch sind wir verschwägert, nichts weiter“, unterbrach Aiden sie verärgert. „Verschwägert ist nicht dasselbe wie verwandt.“

„Dillon sagt doch ständig zu Nadia, Paige und mir, dass wir Teil der Westmoreland-Familie sind.“

„Ja, weil er deine Schwester geheiratet hat. So gesehen gehörst du natürlich zur Familie. Aber du bist keine Blutsverwandte – nur darum geht es. Für mich warst du immer die Frau, die ich liebe … die ich will. Und das wird sich auch nie ändern, Jill.“

„Dann versprich mir, dass du noch ein bisschen wartest, Aiden. Ich will nicht schuld sein, dass ein Riss durch die Familie geht.“

„Das wird nicht passieren.“

„Vielleicht doch“, widersprach Jillian und unterdrückte ein Schluchzen. „Das Risiko will ich einfach nicht eingehen. Kannst du das nicht verstehen?“

„Bitte nicht weinen, Baby. Gut, ich warte noch. Du bist es mir wert.“

„Oh, Aiden …“

Eigentlich wollte er sie ganz sanft und vorsichtig küssen. Doch kaum spürte er ihre Lippen auf seinem Mund, konnte Aiden sein Verlangen nicht mehr beherrschen. Er zog Jillian an sich und küsste sie voller Leidenschaft.

„Verdammt“, murmelte Canyon und schlich schnell davon.

Wann hatte diese heimliche Liebschaft angefangen? Verflixt, er wollte lieber nicht dabei sein, wenn Dillon und Pam es herausfanden. Dillon würde vielleicht nicht so viel dazu sagen, weil er eine ähnliche Situation ja von Bane und Chrystal kannte. Aber Pam würde es sicher nicht so gut aufnehmen.

Jillian war siebzehn gewesen, als Dillon Pam geheiratet und sie und ihre Schwestern nach Westmoreland Country gebracht hatte. Canyon, die Zwillinge und Stern waren aufs College gegangen und daher die meiste Zeit nicht da gewesen, Bane hatte bereits in der Navy gedient. Wann und wie hatten Jillian und Aiden also zusammengefunden? In den Ferien?

Auf jeden Fall schien die Sache zwischen den beiden ernst zu sein. Das konnte Canyon für Aiden auch nur hoffen. Jeder wusste, dass Pam mit Argusaugen über ihre drei Schwestern wachte, und Aiden hatte bisher eher den Ruf eines Casanovas gehabt. Wenn Pam den Eindruck bekam, dass Aiden bloß mit Jillian spielte, würde es heftigen Ärger geben.

Im ersten Moment wollte Canyon Aiden zur Seite nehmen und mit ihm ein Gespräch unter Männern führen. Aber er hatte zurzeit selbst genug Schwierigkeiten. Warum sollte er sich zusätzlich die Probleme anderer aufladen?

Er trat wieder hinaus in den Garten, wo Keisha sich immer noch mit den Westmoreland-Frauen unterhielt. Ihre Mienen verrieten ihm, dass sie über ein ernstes Thema sprachen.

Bei einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es schon fast elf war. Detective Render würde gegen zwölf bei ihm zu Hause eintreffen. Er holte Beau vom Spielplatz, nahm ihn auf den Arm und lief zu den Frauen hinüber.

„Tut mir leid, wenn ich euch unterbrechen muss“, sagte er freundlich lächelnd. „Aber Keisha, Beau und ich müssen jetzt gehen. Wir haben noch einen Termin.“

„Ja, es wird wirklich höchste Zeit“, bestätigte Keisha. „Dann bis demnächst, ihr alle.“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Canyon, lass nicht zu, dass sie in ein Hotel zieht!“, rief Bailey plötzlich.

„Nein, mache ich nicht.“

Keisha sah Canyon entnervt an, doch der reagierte nicht. Wie dreist war das denn? Er hatte schließlich nicht darüber zu bestimmen, ob sie ins Hotel zog oder nicht! Aber sie wollte ihn auch nicht bloßstellen, indem sie ihm vor den anderen eine Szene machte.

„Ich finde, wir sollten shoppen gehen“, warf Megan plötzlich ein, als ob das die Lösung für alle Probleme wäre. Als die anderen sie verwundert anstarrten, zuckte sie mit den Schultern und erläuterte: „Keisha hat doch sicher nur das Nötigste mitgenommen. Und bei ihr zu Hause ist alles verwüstet. Da braucht sie bestimmt ein paar neue Klamotten …“

„Ja, das stimmt“, pflichtete Bella ihr bei. „Egal, ob sie bei Canyon bleibt oder nicht.“

„Ich bin auch dabei“, schaltete sich Kalina, die Frau von Canyons Bruder Micah, ein. „Bei der Gelegenheit kann ich mir ein paar neue Umstandskleider kaufen.“

„Tolle Idee“, lobte Lucia.

Die Einzige, die nicht völlig begeistert war, war Keisha. Sie wollte lieber noch nichts versprechen. „Ich würde sagen, wir reden morgen noch mal darüber“, schlug sie vor. Dann brachen Canyon und sie zusammen mit dem kleinen Beau auf.

7. KAPITEL

Keisha hatte Beau für sein Mittagsschläfchen ins Bett gelegt und sah angespannt auf die Uhr. In wenigen Minuten würde Detective Render eintreffen. Pete hatte sich bislang nicht gemeldet. Sie ging daher davon aus, dass die Polizei noch über keine neuen Erkenntnisse verfügte.

Auf der Heimfahrt zu seinem Haus war Canyon verdächtig still gewesen. Keine Kommentare über das Familienfrühstück, keine Fragen. Entweder hatte er den Kopf voll mit seinen eigenen Problemen, oder er ignorierte sie absichtlich. Am liebsten hätte sie ihn ebenfalls einfach ignoriert, doch das war ihr nicht gelungen. Canyon war so beeindruckend, so männlich …

Sie schaute noch einmal nach Beau, der seelenruhig schlief. Er hatte sich mit den anderen Kindern mächtig ausgetobt und jede Minute genossen. Schon auf der Heimfahrt war er vor Erschöpfung fast eingeschlafen.

Sie musste zugeben, dass auch ihr das Familientreffen Spaß gemacht hatte. Obwohl Canyon und sie ja eigentlich miteinander auf Kriegsfuß standen, hatten seine Verwandten sich ihr gegenüber freundlich und liebevoll gezeigt. Sie hatte sich wirklich willkommen gefühlt.

Die Einladung der Frauen zum Shoppen wollte sie allerdings nicht annehmen. Wenn Detective Render wieder verschwunden und Beau aufgewacht war, würde sie ihre wenigen Sachen packen und in ein Hotel ziehen. Gleich am Montag würde sie ihren Chef Mr Spivey anrufen und ihm berichten, was passiert war. Dann würde sie sich ein paar Tage freinehmen, um in ihrem Haus für Ordnung zu sorgen.

Nur Bailey war an diesem Morgen nicht so freundlich wie die anderen zu ihr gewesen. Immerhin hatte die ganze Sache Canyons Cousine jedoch so beunruhigt, dass sie von einem Umzug ins Hotel abgeraten hatte. Andererseits hatte sie sich dabei vielleicht mehr um Beau gesorgt als um Keisha.

Um sich abzulenken, trat Keisha nun ans Fenster und blickte auf die beeindruckende Bergwelt hinaus. Als sie kurz nach unten in den Hof schaute, entdeckte sie neben der Scheune Canyon, der gerade seinen Sattel putzte. Er hatte ihr seinerzeit nicht nur das Schwimmen, sondern auch das Reiten beigebracht. Wahrscheinlich konnte er es gar nicht abwarten, beides auch seinen Sohn zu lehren.

Als ob Canyon ihren Blick gespürt hatte, hob er plötzlich den Kopf und sah zum Fenster hinauf. Ihre Blicke trafen sich, und Keisha blieb fast das Herz stehen. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass er noch immer verärgert war. Zugleich verriet ihr seine Miene, dass er noch etwas anderes als Wut auf sie empfand.

Er sah so gut aus, er war so männlich! Wenn sie an früher dachte, wurde ihr ganz anders. Unwillkürlich tauchten Bilder der vergangenen Zärtlichkeiten vor ihrem inneren Auge auf. Wie er ihre Bluse öffnete, wie er den Verschluss ihres BHs löste, wie er ihre Brustspitzen mit der Zunge liebkoste …

Komisch. Wann immer sie sich an ihre gemeinsame Zeit erinnerte, drehte sich alles um Sex. Warum war das so?

Wahrscheinlich, weil es in ihrer Beziehung vor allem um Sex gegangen war – obwohl sie auch durchaus auf andere Weise Spaß miteinander gehabt hatten. Aber der Sex war immer das Größte gewesen. Canyon konnte sie allein mithilfe seiner Hände, seiner Lippen und seiner Zunge zum Höhepunkt bringen. Am allerschönsten war es für Keisha jedoch gewesen, ihn in sich zu spüren. Wenn er in sie eindrang und sich voller Leidenschaft bewegte. Unvergesslich!

Ja, wirklich unvergesslich. Im wahrsten Sinne des Wortes. In den vergangenen drei Jahren hatte sie oft nachts wach gelegen und voller Verlangen an ihn denken müssen. Die körperliche Sehnsucht nach ihm war fast unerträglich gewesen.

Nach Canyon hatte sie keinen anderen Mann mehr gehabt, weil keiner ihr begehrenswert erschienen war – nicht mal ein kleines bisschen. Umso mehr spielten ihre Hormone jetzt verrückt, nachdem sie wieder engeren Kontakt zu ihm hatte. Und das betraf nicht nur ihren Körper: Auch ihre Seele spielte verrückt. Dabei hatte sie sich geschworen, nie wieder einen Mann an sich heranzulassen.

Vor allem nicht diesen Mann.

Plötzlich unterbrach Canyon den Blickkontakt. Von oben verfolgte Keisha die Richtung, in die er sah. Ein Auto kam angefahren. Sie schaute auf die Uhr: Es war genau zwölf. Detective Render war eingetroffen.

Nachdem alle sich einander vorgestellt hatten, ließ Canyon sich im Wohnzimmer in einen der Sessel fallen. Keisha saß auf dem Sofa, die Hände angespannt in den Schoß gelegt, und Render nahm gegenüber von ihr in einem anderen Sessel Platz. Höflich hatte er bereits an der Tür gefragt, ob er die Vernehmung aufzeichnen dürfe. Keisha hatte nichts dagegen gehabt. Der Mann, der etwa Ende vierzig sein musste, wirkte seriös und völlig auf seinen Job konzentriert. Als Erstes sprach er Datum, Ort und Grund der Befragung in das Aufnahmegerät.

Normalerweise hätte die Polizei wegen eines relativ harmlosen Vorfalls – zumindest verglichen mit Mord und Totschlag – wohl kaum einen ihrer besten Leute geschickt. Aber Sheriff Harper war gut mit Dillon befreundet, Pete war der beste Freund von Derringer, und Render und Rico hatten einander oft gegenseitig geholfen. All das reichte offenbar aus, um dem Fall absolute Priorität einzuräumen.

Canyon schaute zuerst zu Render, dann zu Keisha. Im selben Moment sah sie zu ihm hinüber. Ihre Blicke trafen sich. Es war, als baute sich eine unsichtbare tiefe Verbindung auf. Tiefer als je zuvor. Und der Grund dafür war der kleine Junge, der eine Etage über ihnen im Bett lag und schlief. Früher waren sie nur ein Liebespaar gewesen. Heute waren sie Eltern – und diese Verbindung konnte keiner von ihnen lösen, selbst wenn er es gewollt hätte.

„Gut, Miss Ashford, fangen wir an“, sagte Detective Render. „Zunächst einmal habe ich gute Neuigkeiten. Wir haben das Auto gefunden, das Sie gestern verfolgt hat, und auch den Fahrer. Wir haben ihn schon eingehend verhört.“

Canyon sprang aus seinem Sessel auf. „Wer ist es?“

„Ein Mann namens Shamir Ingram. Er hat ein ellenlanges Vorstrafenregister. Durch die Bilder auf den Überwachungsvideos konnten wir das Auto identifizieren. Als ein Officer den Wagen dann während seiner normalen Streife entdeckte, hielt er ihn an. Ingram fuhr immer noch mit dem gestohlenen Nummernschild herum.“

„Warum hat er Keisha verfolgt?“, wollte Canyon wissen.

Fast gleichzeitig fragte Keisha: „Ist er auch in mein Haus eingebrochen?“

Render ließ den Blick von Canyon zu Keisha wandern und wieder zurück. „Entschuldigen Sie, Mr Westmoreland, könnten Sie sich zu Miss Ashford auf die Couch setzen? So habe ich Sie beide im Auge und muss nicht ständig den Kopf hin und her drehen.“

„Kein Problem“, lachte Canyon und nahm ganz dicht neben Keisha Platz.

Render erklärte: „Ingram behauptet, jemand hätte ihn bezahlt, damit er Miss Ashford verfolgt.“

„Und wer?“

„Das ist das Problem: Genau das will er uns nicht sagen.“

„Ist er verrückt geworden?“

„Sieht fast so aus. Wir haben sein Handy konfisziert und einen Durchsuchungsbefehl für sein Apartment beantragt. Das hilft uns hoffentlich weiter.“ Dann wandte Render sich direkt an Keisha: „Der Mann gibt an, dass er Ihnen Angst einjagen sollte. Er wurde angewiesen, Sie von hinten anzufahren und von der Straße zu drängen. Mit dem Einbruch und dem Vandalismus in Ihrem Haus hat er angeblich nichts zu tun. Er vermutet, dass damit jemand anders beauftragt wurde.“

„Ich glaube ihm kein Wort“, stieß Canyon wütend hervor.

„Ich schon“, erwiderte Render. „Ich habe ihn ja selbst verhört. Als er die Geschichte mit dem Haus hörte, war er ehrlich überrascht. Und er bekam richtig Angst, dass wir ihm das auch noch anhängen.“

„Und trotzdem will er Ihnen nicht verraten, wer ihn angeheuert hat?“, fragte Keisha.

„Nein. Er beteuert, seinen Auftraggeber nie getroffen zu haben. Die Instruktionen habe er von einer dritten Person erhalten.“

„Und wie heißt diese dritte Person?“

„Auch dazu schweigt er.“

Canyon beugte sich vor. „Lassen Sie mich ein paar Minuten mit diesem Typen allein. Danach wird er singen. Und zwar wie ein Kanarienvogel.“

Render lachte. „Seien Sie sich da nicht so sicher. Beulen und Blutergüsse mögen zwar unangenehm sein. Aber was würde den Mann wohl erwarten, wenn durchsickert, dass er gegenüber der Polizei ausgepackt hat? So etwas hat man in der Unterwelt nicht so gerne.“ Er sah Keisha an. „Um weiterzukommen, muss ich Ihnen also einige sachdienliche Fragen stellen. Irgendjemand will Ihnen Angst machen, und wir müssen rauskriegen, wer und warum.“

Keisha nickte. „Gut, schießen Sie los.“

Render prüfte noch einmal, ob das Aufnahmegerät richtig funktionierte. „Miss Ashford, vor drei Jahren sind Sie aus Denver fortgezogen. Warum?“

Keisha runzelte die Stirn. „Was hat das mit der ganzen Geschichte zu tun?“

„Ich muss so viel wie möglich wissen. Alles könnte von Bedeutung sein.“

Keisha nickte. „Na schön. Ich … ich war zu der Erkenntnis gekommen, dass ich nicht mehr in Denver leben wollte.“

Was für eine ausweichende Antwort, dachte Canyon, der natürlich den wahren Grund kannte. Ob sich Render damit zufriedengibt?

„Und dennoch sind Sie vor einiger Zeit zurückgekehrt“, setzte Render dagegen.

„Ja, das stimmt. Ich hatte meinen Job verloren. Als mein ehemaliger Chef aus Denver davon hörte, hat er mich angerufen und mir ein gutes Angebot gemacht.“

Verblüfft starrte Canyon sie an. „Warum hast du denn deinen alten Job verloren?“

„Das wollte ich auch gerade fragen, Mr Westmoreland“, sagte Render grinsend. „Also, Miss Ashford: Warum?“

„Die Kanzlei musste schließen“, gab Keisha nervös zurück.

Render zog eine Braue hoch. „Ist sie pleitegegangen?“

Keisha schüttelte den Kopf. „Nein. Die texanische Rechtsanwaltskammer hat die Schließung angeordnet.“

„Warum?“, fragten beide Männer gleichzeitig.

Canyon schaute zu Render und murmelte: „Entschuldigung.“

Render lächelte ihn an und fixierte wieder Keisha. „Warum hat die Rechtsanwaltskammer die Schließung angeordnet?“

Keisha seufzte. „Es hat sich herausgestellt, dass die fünf Inhaber der Kanzlei krumme Dinger gedreht haben. Sie haben Hauskäufern, die ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten, vorschnell geraten, einer Zwangsvollstreckung zuzustimmen beziehungsweise sich nicht juristisch dagegen zur Wehr zu setzen. Diese Dienste haben sie sich auch noch teuer bezahlen lassen: zu höheren Sätzen als üblich. Irgendwann kam heraus, dass sie von den kreditgebenden Banken Schmiergelder angenommen hatten. Die Banken konnten sich so die Häuser unter den Nagel reißen – zu einem so niedrigen Preis, dass sie trotz der Immobilienkrise beim Wiederverkauf einen saftigen Gewinn machten.“

„Wer hat die Sache auffliegen lassen?“, erkundigte sich Render.

„Es gab Vermutungen, aber niemand weiß, wer es war.“

„Wurde jemand angeklagt?“, fragte Render.

„Ja, alle fünf. Mein ehemaliger Chef hier in Denver hat von dem Skandal gelesen. Natürlich war ihm klar, dass mich nach der Geschichte wohl kaum jemand in Austin oder überhaupt in Texas einstellen würde.“

„Warum nicht?“

„Ich hatte zwar mit der Sache nichts zu tun, das wurde eindeutig festgestellt. Doch für eine korrupte Kanzlei tätig gewesen zu sein bleibt an einem hängen. Da war das Angebot meines alten Chefs wie ein Rettungsanker.“

Canyon schwieg. Das erklärte alles. Ständig hatte er überlegt, warum Keisha eigentlich zurückgekehrt war. Und einen Grund hatte er schon zuvor ausschließen können: Sie war sicher nicht zurückgekommen, weil sie das Gefühl gehabt hatte, dass Beau seinem Vater näher sein sollte.

„Wie lange ist das Ganze her?“, wollte Render wissen.

„Zehn Monate.“ Keisha dachte kurz nach. „Sie glauben doch nicht, dass es eine Verbindung zu den Vorkommnissen hier gibt, oder?“

„Warum sollte ich das nicht glauben?“

„Dafür gibt es mehrere gute Gründe.“

„Ach ja? Die würde ich gerne hören.“

Keisha nickte und lehnte sich zurück. „Okay. Erstens liefen diese krummen Geschäfte bereits, bevor ich in die Kanzlei kam. Ich war einer von drei neu eingestellten Anwälten und hatte mit keinem dieser Fälle zu tun. Zweitens: Die fünf, die angeklagt wurden, waren Partner. Ihnen gehörte die Kanzlei gemeinsam. Die anderen beiden Junganwälte und ich waren nur Angestellte, und in die Vorgänge an der Führungsspitze wurden wir nie eingeweiht. Drittens: Warum sollte irgendein Beteiligter mir Angst einjagen wollen? Woran sollte er mich hindern wollen? Und wer sollte dahinterstecken?“

Render lächelte. „Ich habe nie gesagt, dass ich einen Zusammenhang sehe. Sie haben erwähnt, dass es mehrere Gründe geben würde, die gegen eine solche Verbindung sprechen. Die wollte ich mir gerne anhören. Denn solange wir im Dunkeln tappen, sammle ich alle Fakten, die ich bekommen kann.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Im ersten Moment erscheint diese Verbindung tatsächlich unwahrscheinlich. Trotzdem habe ich eine Frage dazu. Die Anwälte wurden also angeklagt. Aber ich vermute mal, dass es noch keine Gerichtsverhandlung gegeben hat, oder?“

„Woher wissen Sie das?“, fragte Keisha überrascht.

Er lachte auf. „Wir reden hier über Juristen.“ Erschrocken hielt er sich die Hand vor den Mund. „Ach so, entschuldigen Sie bitte. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie beide ja auch Juristen sind.“ Dann fuhr er fort: „Ich rede hier natürlich nur über böse Juristen. Die würden alles daransetzen, eine eventuelle Verurteilung so lange wie möglich hinauszuzögern. Und die gewonnene Zeit könnten sie nutzen, eventuelle Belastungszeugen einzuschüchtern …“

Entsetzt starrte Keisha den Detective an. „Aber ich habe sie nicht auffliegen lassen. Ich weiß doch gar nichts Belastendes.“

Render lächelte. „Das wissen die ja nicht. Was mich zu der Frage bringt: Wurden die beiden anderen Nachwuchsanwälte vielleicht auch drangsaliert? Haben Sie noch Kontakt zu Ihren ehemaligen Kollegen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben bloß zusammengearbeitet, mehr nicht. Die beiden waren Singles und sind gern ausgegangen, während ich als alleinerziehende Mutter die Abende mit meinem Kind zu Hause verbracht habe.“

„Könnte ich bitte ihre Namen bekommen? Dann werde ich checken, ob ihnen etwas Ähnliches passiert ist.“

Keisha nannte ihm die Namen.

Render lehnte sich zurück. „Falls uns das nicht weiterbringt: Sprechen wir mal über die Fälle, die Sie seit Ihrer Rückkehr nach Denver betreut haben.“

„Alle? Das waren eine ganze Menge.“

„Na ja, begrenzen wir es auf die, bei denen es auf der einen oder anderen Seite böses Blut gegeben hat.“

Drei Stunden später erhob sich Ervin Render und streckte sich. „Jetzt habe ich wirklich jede Menge Informationen.“

Das sah Keisha genauso. Der Detective hatte sie so ausgequetscht, dass sie kaum noch wusste, wo ihr der Kopf stand. Mittlerweile war sie schon so weit, dass sie jeden verdächtigte, mit dem sie als Anwältin je zu tun gehabt hatte. Zwischendurch war Beau wach geworden. Der Kleine spielte auf dem Wohnzimmerteppich und betrachtete immer wieder fasziniert Canyons großes Aquarium, das neben dem Bücherregal stand.

„Falls ich noch Fragen haben sollte, rufe ich hier an“, sagte Render.

„Versuchen Sie es lieber unter meiner Handynummer, weil ich hier nicht länger wohne.“

„Ach nein? Wo werden Sie denn sein?“

„Wahrscheinlich in einem Hotel, bis mein Haus wieder auf Vordermann gebracht ist. Ist das ein Problem?“

Der Detective zuckte mit den Schultern. „Für mich nicht. Höchstens für Sie.“

„Was soll das heißen?“, mischte sich Canyon ein.

Render steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wir wissen nicht, wer Ingram angeheuert hat, um Miss Ashford Angst zu machen – oder wer den Einbruch verübt hat. An Miss Ashfords Stelle würde ich nirgends alleine hingehen.“

Das hörte Keisha gar nicht gerne! Und sie wollte nicht, dass Canyon so etwas zu hören bekam. „Ich bin eine vielbeschäftigte Frau, Detective“, entgegnete sie. „Ich will mich nicht irgendwelchen Einschüchterungsversuchen beugen.“

„Das sollen Sie auch nicht“, gab der Kriminalist zurück. „Aber Sie sollten sich nicht freiwillig zur Zielscheibe machen, Miss Ashford. Sie sollten sich lieber bedeckt halten, bis wir herausgefunden haben, wer hinter dem Ganzen steckt.“

„Das geht nicht“, widersprach Keisha. „Ich habe einen Beruf und viele Termine.“

„Und Sie haben einen Sohn. Den möchten Sie doch gerne aufwachsen sehen, oder? Ich kann Ihnen nichts vorschreiben. Aber ich würde Ihnen empfehlen, sich eine Woche Urlaub zu nehmen und das Haus nur in Begleitung zu verlassen.“

Keisha hielt die Luft an. „Wollen Sie etwa andeuten, dass mich jemand …?“

„Ich will gar nichts andeuten, ich zeige bloß alle Möglichkeiten auf. Wir kennen den Täter nicht und können nicht einschätzen, wozu diese Person fähig ist. Bis die Sache aufgeklärt ist, sollten Sie sich nur mit Menschen umgeben, denen sie hundertprozentig vertrauen können. Denken Sie darüber nach. Sie brauchen mich nicht zur Tür zu bringen, ich finde selber raus.“

Canyon brachte den Kriminalbeamten trotzdem zur Tür, während Keisha entnervt ihren Nacken massierte. Sie musste einfach in ein Hotel gehen! Noch eine Nacht unter Canyons Dach – das ging gar nicht!

Als Canyon das Wohnzimmer betrat, wollte sie ihm ihren Entschluss mitteilen. Er ließ sie jedoch nicht zu Wort kommen. „Du hast gehört, was Render gesagt hat“, betonte er. „Deshalb bleibst du hier. Das ist nicht verhandelbar.“

Damit machte er auf dem Absatz kehrt und verließ wortlos das Zimmer.

Verärgert folgte Keisha ihm bis in die Küche. Sie blieb im Türrahmen stehen, damit sie gleichzeitig ein Auge auf Beau im Wohnzimmer haben konnte.

„Du hast mir überhaupt nichts vorzuschreiben“, sagte sie leise – wegen Beau –, aber energisch. „Ich ziehe aus.“

„Du bleibst. Du hast den Detective gehört. Warum bist du so ein Sturkopf?“

„Ich bin überhaupt kein Sturkopf. Aber ich kann hier nicht bleiben.“

„Gib mir einen guten Grund, warum du nicht hierbleiben kannst.“

Es gab einen sehr guten Grund: Canyon wirbelte ihren Hormonhaushalt durcheinander und erinnerte sie an ihre vergangenen heißen Nächte. Aber das konnte sie ihm natürlich nicht sagen.

„Also?“ Erwartungsvoll sah er sie an.

„Na ja … Es könnte ja sein, dass du mit jemandem zusammen bist und dass diese Person … also … dass diese Frau es nicht so gerne sieht, wenn ich hier bin.“

Er starrte sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Nein, ich bin mit niemandem zusammen. Und selbst wenn: Glaubst du ernsthaft, dass ich dieser Person zuliebe das Leben meines Sohnes in Gefahr bringen würde? Oder das Leben der Mutter meines Sohnes?“

Keisha musste schlucken. War sie bloß die Mutter seines Kindes für ihn? Früher war sie einmal mehr für ihn gewesen. Bevor er sie mit einer anderen Frau betrogen hatte.

„Ich kann hier nicht bleiben, Canyon, und du kannst mich nicht dazu zwingen.“

„Du hast mir immer noch keinen Grund dafür genannt, Keisha. Wie gesagt, ich bin mit keiner Frau zusammen. Das Haus ist riesig, das weißt du. Du hättest hier dein Reich, ich hätte meines. Wovor hast du Angst?“

„Ich habe vor gar nichts Angst“, gab sie gereizt zurück.

Entnervt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte. „Nimm bitte Vernunft an. Natürlich kannst du in ein Hotel ziehen, aber das hätte nur Nachteile. Beau hat hier mehr Platz, er ist hier sicherer. Warum willst du ihn von mir fernhalten? Hasst du mich so sehr?“

Seine Worte schmerzten sie. Das musste sie richtigstellen. „Nein, ich hasse dich überhaupt nicht, Canyon. Ich gebe es zu: Als ich dich verlassen habe, bin ich verletzt und wütend gewesen. Ich fühlte mich betrogen. So ist das eine Zeit lang geblieben. Aber dann … ist eines Tages etwas passiert.“

„Was denn?“

Sie atmete tief durch. „Ich habe gespürt, wie sich das Baby bewegte. Unser gemeinsames Baby. Da konnte ich irgendwie nicht mehr wütend auf dich sein. Denn egal, wie schlecht es zwischen uns ausgegangen war: Du hattest mir etwas gegeben, das du mir nie mehr wegnehmen konntest.“

Canyon strich sich übers Kinn. „Willst du mich deshalb nicht in deine und Beaus Welt lassen? Weil du befürchtest, ich würde ihn dir wegnehmen?“

Misstrauisch betrachtete sie ihn. „Du … du hast gestern so etwas gesagt.“

„Wir haben beide gestern Dinge gesagt, die uns heute leidtun, Keisha. Ich will dir Beau nicht wegnehmen. Ich will ihn mit dir teilen. Aber im Moment ist das Allerwichtigste: Ich will euch beide schützen. Bitte lass das zu. Bleibt mindestens eine Woche bei mir, danach sehen wir weiter. Bis dahin hat Detective Render hoffentlich mehr herausgefunden. Vielleicht ist die Gefahr dann vorbei, und du kannst nach Hause.“

„Und falls nicht?“

„Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist.“

Am liebsten hätte Keisha rundweg abgelehnt. Eine Woche unter seinem Dach zu leben würde sie in den Wahnsinn treiben! Aber durfte sie Beau in Gefahr bringen, bloß weil sie ihre Hormone nicht unter Kontrolle hatte?

Nein, sie liebte ihren Sohn mehr als ihr Leben. Sie musste seine Sicherheit gewährleisten. Und dazu brauchte sie Hilfe.

Die Hilfe von Canyon.

Sicher war sie im Moment nicht gerade sein Lieblingsmensch. Aber er würde alles tun, um seinen Sohn zu beschützen.

„Also gut“, willigte Keisha schließlich ein und sah Canyon tief in die Augen. „Beau und ich bleiben eine Woche.“

8. KAPITEL

Keisha erhob sich aus dem Bett. Obwohl sie todmüde war, konnte sie nicht schlafen. Leichte Kopfschmerzen plagten sie, und tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Seit Renders Befragung verdächtigte sie insgeheim alles und jeden.

Ob vielleicht doch einer ihrer ehemaligen Chefs aus der Kanzlei in Texas dahintersteckte? Hielt einer von ihnen sie für die Verräterin und wollte sich an ihr rächen? Oder was war mit dem kniffligen Fall, den sie im vergangenen Jahr vertreten hatte? Sie hatte damals beweisen können, dass ihr Klient der rechtmäßige Eigentümer eines Grundstücks war, auf dem ein großes Autohaus stand.

Der Autohausbesitzer hatte dem Eigentümer angeboten, das Land zu pachten. Ihr Klient war damit jedoch nicht einverstanden gewesen. Zunächst hatte er allen Ernstes verlangt, das Autohaus abzureißen. Das hätte für den Geschäftsmann den Ruin bedeuten können. Bryant Knowles hatte sie daraufhin beschuldigt, sie habe ihrem Klienten geraten, sich nicht mit der Gegenseite zu verständigen. Das stimmte zwar nicht, aber davon hatte sie Knowles nicht überzeugen können. Am Schluss war ein Kompromiss ausgearbeitet worden, der beide Seiten zufriedengestellt hatte. War es möglich, dass Knowles trotzdem noch heute wütend auf sie war?

Keisha blickte zu Beau hinüber. Wenigstens einer von ihnen konnte ruhig schlafen.

Nachdem sie sich zum Bleiben entschlossen hatte, war Canyon weggefahren. Er hatte Kinderschutzgitter für die Treppen und tausend andere Dinge gekauft, um das Haus kindersicher zu machen. Keisha hatte währenddessen Pam angerufen und sich für den Folgetag zum Shopping mit ihr verabredet. Denn da Beau und sie nun doch länger blieben, brauchten sie dringend neue Sachen.

Als Canyon zurückgekehrt war, hatte er für alle Essen aus einem Restaurant mitgebracht. Neben seinen sonstigen Einkäufen hatte er außerdem jede Menge Spielzeug für Beau dabei. Und in den folgenden Nachmittagsstunden hatte er alle Sicherheitsvorrichtungen angebracht, damit der Kleine sich nirgends verletzen konnte.

Keisha zog sich nun ihren Morgenmantel über, begab sich nach unten und schloss das Kinderschutzgitter vor der Treppe hinter sich. Bis auf die Nachtlichter, die Canyon installiert hatte, war alles dunkel. Dennoch fand sie den Weg in die Küche ohne Probleme. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und das Mondlicht schien herein.

Als es das Haus noch nicht gegeben hatte, war hier alles bewaldet gewesen. Canyon hatte sie einmal mit an diesen Ort genommen. Sie hatten im Auto unterm Himmelszelt gesessen … und sich geliebt. Es hatte sich ungeheuer romantisch angefühlt.

Jetzt stand hier Canyons Anwesen. Wahrscheinlich genau an der Stelle, an der sie sich geliebt hatten. Der Nachthimmel sah aus dieser Richtung jedenfalls genauso aus.

„Na, konntest du auch nicht schlafen?“

Keisha fuhr herum. Canyon hatte die Küche betreten. Er trug nur eine Pyjamahose, sonst nichts. Wie er so dastand – mit nacktem Oberkörper und vom Mondlicht beschienen –, sah er wie eine griechische Götterstatue aus. Ihr wurde schlagartig heiß. Sie spürte, wie ihre Erregung wuchs. „Nein, ich konnte auch nicht schlafen. Ich habe ein bisschen Kopfschmerzen.“

„Oh.“

Die Sache mit den Kopfschmerzen kannte er noch von früher. Keisha bekam sie gelegentlich, wenn auf der Arbeit nicht alles so lief, wie sie es sich vorgestellt hatte.

„Komm, setz dich“, forderte er sie auf und zog einen Stuhl unter dem Küchentisch vor.

Sie betrachtete zuerst den Stuhl, dann Canyon. Sie wusste genau, was er vorhatte. Immer wenn sie früher Kopfschmerzen gehabt hatte, hatte er ihr die Schläfen massiert und den Schmerz wie durch Zauberei zum Verschwinden gebracht. Sie hatte keine Ahnung, wie er es angestellt hatte. Aber es hatte jedes Mal geholfen.

„Keisha?“

Keisha überlegte. Kopfschmerzen oder nicht: Jede Berührung von ihm barg ein zu großes Risiko. Doch während sie nun darüber nachdachte, wurden die Schmerzen stärker. Fast wie willenlos ließ sie sich auf dem Stuhl nieder.

„Mach die Augen zu und entspann dich“, sagte er mit tiefer, beruhigender Stimme.

Sie stöhnte wohlig auf, als sie den sanften Druck seiner Finger spürte. Schon ließ der Schmerz nach.

Er beugte sich zu ihr hinunter. „Na, geht’s schon besser?“ Auf ihrer Wange spürte sie seinen warmen Atem.

Keisha brachte keinen Ton heraus, sondern nickte nur. Der Schmerz mochte vergehen, doch dafür stellte sich eine gewisse Wehmut ein. Sie musste an das letzte Mal denken, als er ihr so die Schläfen massiert hatte. Das war vor etwas mehr als drei Jahren gewesen. Damals hatte sie einen schwierigen Fall vor Gericht gehabt und war mit starken Kopfschmerzen nach Hause gekommen. Canyon hatte ihr wie heute eine zärtliche Massage gegeben, und alles war wieder gut gewesen. Doch der Unterschied zu heute war: Anschließend waren sie beide so aufgeheizt und erregt gewesen, dass sie sich leidenschaftlich geliebt hatten.

„Du kannst die Augen wieder aufmachen. Wenn du noch eine Tablette nimmst, fühlst du dich morgen früh so gut wie neu.“

Morgen früh war morgen früh, aber jetzt war jetzt. Und gerade fühlte sie sich … sehr, sehr erregt.

„Schönen Dank, Canyon.“

„Habe ich gerne gemacht.“

Sie erhob sich vom Küchenstuhl. „Du hast wirklich magische Hände“, murmelte sie und hätte sich sofort am liebsten auf die Zunge gebissen.

Erfreut lächelte er sie an. „Findest du?“

Seine Stimme war so sexy!

„Ja.“

Er lachte leise. „Schön, dass du immer noch zu schätzen weißt, was ich mit meinen Händen alles kann.“

Musste er das jetzt sagen? „Ja, äh … Ich geh mal wieder hoch.“

„Alles klar.“

Sie bewegte sich keinen Millimeter. Warum gehe ich denn nicht? schoss es Keisha durch den Kopf. Warum stehe ich hier wie angewurzelt? Warum sieht er mich so an, warum kann ich meinen Blick nicht von ihm lassen, warum …?

Später wusste sie nicht mehr, wie genau es dazu gekommen war. Fest stand nur, dass es geschah. Er nahm sie in die Arme und zog sie an sich. Sie konnte es kaum erwarten, seine Lippen auf ihren zu spüren. Dann war es endlich so weit. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und genoss das aufreizende Spiel seiner Zunge.

Ihre Bewegungen wurden immer leidenschaftlicher, während sie den Kuss vertieften. Schon beim ersten Mal war ihr bewusst geworden, dass kein Mann so gut küssen konnte wie Canyon. Das war seine Bestimmung, seine Gabe. Und sie ließ sich nur zu gerne davon beglücken.

Hatte sie sich nicht geschworen, ihn nie mehr so nahe an sich heranzulassen? Nie mehr sollte er sie umarmen, sie küssen, sie zum Stöhnen bringen. Doch im Moment geschah genau das. Und sie war machtlos dagegen.

Ihr wurde heiß und immer heißer. Hitze durchflutete ihren Körper und sammelte sich in ihrem Schoß. Canyon presste sich an sie, sodass er sie mit seiner erregten Männlichkeit zwischen den Schenkeln berührte. Als ob er dorthin gehörte. Als ob es ihm vorherbestimmt war, dort zu sein. Wenn er jetzt mehr von ihr wollte, würde sie der Versuchung nicht widerstehen können. Sie würde bereitwillig und mit Freuden …

Urplötzlich unterbrach er den Kuss und löste sich von ihr. Es geschah so abrupt, dass sie fast die Balance verloren hätte. Schnell hielt er sie wieder fest. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was um ein Haar geschehen wäre. Was sie beinahe zugelassen hätte. Sie musste weg von ihm, musste Distanz schaffen. Sofort!

„Ich lege mich wieder hin“, sagte sie und verließ die Küche. „Danke für die Schläfenmassage.“

In dem Moment ertönte seine Stimme: „Du kannst mir vertrauen, Keisha.“

Sie wandte sich um. „Was?“

„Du hast bestimmt Kopfschmerzen bekommen, weil du zu viel über mögliche Gefahren nachgegrübelt hast. Deshalb wollte ich dir versichern, dass du mir vertrauen kannst. Ich passe auf, dass weder Beau noch dir etwas geschieht. Darauf kannst du hundertprozentig bauen.“

Ihm vertrauen? Dem Mann vertrauen, der sie mit einer anderen betrogen hatte? Prüfend musterte sie ihn. In der unergründlichen Tiefe seiner Augen sah sie etwas, das ihre Zweifel schwinden ließ. Er würde dafür sorgen, dass weder ihr noch Beau etwas zustieß. Ja, in dieser Hinsicht konnte sie ihm hundertprozentig vertrauen.

Sie nickte wortlos. Dann lächelte sie zaghaft, drehte sich um und ging.

Keisha war längst verschwunden, doch Canyon stand noch immer in der Küche und dachte nach. Das eben hätte nicht passieren dürfen, sagte er sich im Stillen. Ich konnte vorhin schon nicht schlafen – jetzt ist an Schlaf erst recht nicht mehr zu denken.

Die Verlockung war schier überwältigend gewesen! Aber was nicht sein durfte, durfte eben nicht sein.

Schließlich holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Eigentlich hätte er etwas Stärkeres gebraucht, um sich zu beruhigen, aber zur Not tat es auch das. Es war ein harter Tag gewesen. Wie es aussah, würde auch die Nacht nicht übermäßig angenehm werden.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es Mitternacht war. Er hätte geschworen, es wäre schon viel später. Aber man konnte schon mal das Zeitgefühl verlieren, wenn man in Keishas Gegenwart immer einen kühlen Kopf bewahren musste. Detective Render hatte sie ganz schön nervös gemacht. Kein Wunder. Wie sollte sie ruhig bleiben, wenn irgendjemand üble Verbrecher auf sie angesetzt hatte?

Vor seiner Einkaufstour hatte Canyon noch einen Zwischenstopp bei seinem Bruder eingelegt, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Dillon war ebenfalls der Meinung gewesen, dass Keisha in Westmoreland Country am besten aufgehoben war. Sie hatten verabredet, dass jemand aus dem Familienclan auf sie aufpassen würde, wenn Canyon mal nicht zur Stelle sein konnte.

Canyon nahm einen Schluck Bier. Noch immer spürte er Keishas Geschmack auf den Lippen. Würde er je seinen Seelenfrieden finden, was diese Frau anging? Es sah nicht so aus. Jetzt würde sie mindestens noch eine Woche hier sein, und das hatte er sich selbst eingebrockt.

Innerlich fühlte er sich hin und her gerissen. Diese Frau hatte ihm fälschlich unterstellt, sie betrogen zu haben. Diese Frau hatte ihm seinen Sohn vorenthalten. Und dennoch: Wenn es darauf ankam, würde er sein Leben geben, um sie zu beschützen.

9. KAPITEL

„Was hältst du davon, Keisha?“ Lucia hielt ein Paar Kinderjeans und ein dazu passendes Mini-Holzfällerhemd hoch.

Das Outfit sah niedlich aus. Keisha konnte sich ihren Sohn gut darin vorstellen. „Ja, gefällt mir. Aber ich glaube, er braucht es eine Nummer größer.“ Beau war zwar erst zwei Jahre, aber recht groß für sein Alter.

„Ich schaue mal nach“, erwiderte Lucia eifrig.

Keisha lächelte versonnen. Gleich fünf Frauen aus dem Westmoreland-Clan halfen ihr beim Shopping. Obendrein wurden sie von Canyons Bruder Stern als Aufpasser begleitet. Stern hielt sich dezent im Hintergrund, hatte aber alles im Blick. Er war nur zwanzig Monate jünger als Canyon und ebenfalls als Anwalt in der Familienfirma Blue Ridge tätig.

Noch immer verwunderte es Keisha, mit welcher Bereitwilligkeit alle sie in den Familienkreis aufgenommen hatten – nur weil sie Beaus Mutter war. Sie hatte das Gefühl, als könnten die fünf Frauen sehr schnell ihre besten Freundinnen werden. Dabei war sie nach der Enttäuschung mit Bonita vorsichtig geworden, was neue Freundschaften betraf. Bonita, dieses Luder, das ihr Canyon ausgespannt hatte!

„Meinst du, dass wir genug Sachen für Beau haben?“, fragte Pam.

„Eigentlich schon viel zu viel“, gab Keisha schmunzelnd zurück.

„Ach was, du hast doch Canyon gehört“, warf Chloe ein. „Er hat gesagt, dass du alles kaufen sollst, was du willst.“

Ja, das hatte sie gehört. Allerdings hatte es sie nicht besonders erfreut. Canyon hatte ihr seine Kreditkarte förmlich aufdrängen wollen, doch sie hatte abgelehnt: „Ich kann Beau alleine einkleiden. Dafür brauche ich dein Geld nicht.“ Ihren Widerspruch hatte er mit einem Lächeln quittiert und ihr die Karte in die Tasche ihrer Bluse gesteckt. „Mach mir einfach die Freude und kauf etwas Hübsches ein.“

„Nimm seine Großzügigkeit ruhig an, Keisha“, riet Pam ihr mit einem freundlichen Lächeln. „Ich glaube, er braucht das Gefühl, etwas für Beau zu tun.“

„Er hat gestern schon genug für Beau getan“, hielt Keisha dagegen und seufzte. „Er hat ihm jede Menge Spielzeug mitgebracht. Spielzeug, das er gar nicht braucht.“

Autor

Brenda Jackson
<p>Brenda ist eine eingefleischte Romantikerin, die vor 30 Jahren ihre Sandkastenliebe geheiratet hat und immer noch stolz den Ring trägt, den ihr Freund ihr ansteckte, als sie 15 Jahre alt war. Weil sie sehr früh begann, an die Kraft von Liebe und Romantik zu glauben, verwendet sie ihre ganze Energie...
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